120 KRIMIS - Walther Kabel - E-Book
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120 KRIMIS E-Book

Walther Kabel

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Beschreibung

Walther Kabels '120 KRIMIS' ist eine Sammlung von fesselnden Kriminalgeschichten, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Atem halten. Der Autor präsentiert eine Vielzahl von raffinierten Fällen und kniffligen Rätseln, die geschickt gelöst werden müssen. Kabels literarischer Stil ist präzise und detailreich, wodurch er die Atmosphäre jeder Geschichte lebendig werden lässt. Diese Sammlung von Krimis ist ein Meisterwerk des Genre und ein Must-Read für alle Liebhaber von Spannungsliteratur. Walther Kabel beweist sich in '120 KRIMIS' als Meister des mysteriösen und verstrickten Plots, der den Leser bis zur letzten Seite gefangen hält. Seine Geschichten sind brillant konzipiert und bieten ein unvergessliches Leseerlebnis. Durch seine langjährige Erfahrung als Schriftsteller und Krimiautor konnte Kabel eine Sammlung von Kriminalgeschichten schaffen, die sowohl spannend als auch anspruchsvoll sind. '120 KRIMIS' ist ein Buch, das jeden Leser fesseln und begeistern wird. Von klassischen Whodunits bis zu modernen Thrillern bietet dieses Buch eine Vielzahl von Erzählungen, die die Leser bis zur letzten Seite mitfiebern lassen. Für alle Fans von Spannungsliteratur ist '120 KRIMIS' ein absolutes Muss und ein Garant für unzählige spannende Lesestunden.

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Seitenzahl: 9645

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Walther Kabel

120 KRIMIS: Die Hand des Toten, Das Kreuz auf der Stirn, Im Schatten der Schuld, Die Mumie der Königin Semenostris, Irrende Seelen, Die Insel der Seligen, Der Piratenschoner, Dämon Rache…

Books

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2017 OK Publishing

Inhaltsverzeichnis

Kriminalromane
Das Geheimnis eines Lebens
Das Dogmoore-Wappen
Das Geheimnis um die Ginsterschlucht
Der Schlingensteller
Der Ring der Borgia
Auf falscher Fährte
Spuren im Neuschnee
Die Lahore-Vase
Der hüpfende Teufel
Der Tempel der Liebe
Das Haus am Mühlengraben
Die Liebespost
Das Gift des Vergessens
Im Schatten der Schuld
Der Universal-Erbe
Die Stimme des Blutes
Das Haus des Hasses
Der Mann im Sessel
Die blaue Königin
Der Doppelgänger
Der Kobrakopf
Der Obstkahn am Elisabethufer
Der Stein der Wangerows
Die Antenne im fünften Stock
Irrende Seelen
Kursfürstendamm Nummer 304
Thomas Bruck, der Sträfling
Die Einsiedler vom schwarzen Berge
Die Basar-Hyäne
Das Geheimnis des Chemikers
Das namenlose Schiff
Eine Millionärslaune
Die Ladygaunerin
Fünf Finger am Fenster
Die Diebin
Der aber werfe den ersten Stein
Um Millionen
Nic Pratt – Amerikas Meisterdetektiv
Die Hand des Toten
Die gelbe Wachskerze
Der tote Missionar
Detektiv Schaper
Das stille Haus
Falsches Geld
Das graue Gespenst
Das Katzenpalais
Die Mumie der Königin Semenostris
Der Tote in der Burgruine
Harald Harst-Krimis
Zwei Taschentücher
Das Geheimnis des Czentowo-Sees
Der Mord im Sonnenschein
Der Fakir von Nagpur
Der weiße Elefant des Singar Chani
Die Rätselbrücke
Die Rose von Rondebosch
Der Piratenschoner
Der Spangenschuh der Lady Broog
Das Geheimnis der Kabine 24
Die Steinhütte am Buarbrä
Das Rätsel der Trollhätta-Insel
Das Gespenst des Skien-Museums
Lord Plemborns Verbrechen
Die Schreckensnacht im Hotel Dahlen
Die Leiche im Gletschertunnel
Die herrenlose Motorjacht
Sechs leere Briefbogen
Das Licht in der Eiche
Der Obstkahn am Elisabeth-Ufer
Der Wolfshund des Herrn Krabarty
Die Motorjacht ohne Namen
Die Insel der Seligen
Die große Null
Der Sultan von Padagoa
Der Fakir ohne Arme
Das Kranichnest
Das Kreuz auf der Stirn
Der Spiritistenklub
Die drei Päckchen
Der rätselhafte Gast
Lydia Salnavoors Testament
Traudes Hochzeitsabend
Amalgis Ahnengalerie
Dämon Rache
Einer von der Hammonia
Die schwarzen Katzen
Der neue Graf von Monte Christo
Das Eiland der Toten
Auf dem See des Schweigens
Wie Doktor Amalgi starb
Die Millionenerbin
Doktor Amalgis Vermächtnis
Timitri, das Leichenschiff
Robbenfang
Fürst Spinatri
Das Urwaldrätsel
Jakob Maschel, der Hausierer
Die unerforschte Stadt
Die Geheimnisse der Prinz Albert-Berge
Pension Dr. Buckmüller
Vier Tote
Dr. Haldens Patient
Das Ende einer Mainacht
Drei Löwen
Moderne Verbrecher
Dämon Chanawutu
Wer?!
Salon Geisterberg
Die Talmifabrik
Das Tor des Todes
Ein Glaubensfanatiker
Der Stern von Kabinur
Die Mühle des Mr. Mac Tuppy
Die leuchtende Eule
Der alte Gobelin
Banditen des Olymp
Der weiße Maulwurf
Das alte Fräulein Födösy
Die weiße Schlange
Allan Garps letzte Stunde
Der Kongreß der Stummen
Die Kaschemme Mutter Binks
Der seltsame Milliardär
Der Mann von gestern
Der Bluffer
Das Geheimnis um die „Marga“

Kriminalromane

Inhaltsverzeichnis

Das Geheimnis eines Lebens

Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel

1. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

In das Arbeitszimmer des Ingenieurs Wieland flutete durch das breite Fenster der warme Junisonnenschein hinein und zeichnete auf dem glänzenden Fußboden und dem vor dem Schreibtisch liegenden Eisbärfell leuchtende, unregelmäßige Vierecke. Ein einzelner Strahl hatte sich auf das Haupt der jungen Frau verirrt, die zusammengekauert in einem der Sessel nahe dem Fenster saß. Dieser Strahl ließ die dunkelblonden Flechten ihres Haares im goldigen Glanze schimmern und bildete eine eigenartige Krone über Maria Wielands weißer Stirn.

In dem Zimmer herrschte eine drückende Stille. Die drei Personen, die mit ihren Sorgen in den kleinen Raum geflüchtet waren, empfanden dieses Schweigen nur zu deutlich wie ein unbekanntes, näherschleichendes Unheil. Da erhob sich Karl Wieland mit ungeduldiger Bewegung und begann erregt auf und ab zu gehen. Sein von einem elegant gestutzten Vollbart umrahmtes, gutmütiges Gesicht war verdüstert, und wenn er zu seiner Gattin hinüberblickte, gruben sich die Falten auf seiner Stirn regelmäßig tiefer ein.

Endlich blieb er vor ihr stehen und sagte halblaut, mit seltener Härte im Ton:

»Ich werde trotz Deiner Bitten die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen. Denn so geht das nicht weiter. Ich, – wir alle, reiben uns bei diesen Sorgen auf. Irgend etwas muß geschehen!«

Marie Wieland schwieg, und ihr Gatte schaute zu ihr herab und schüttelte dann wehmütig den Kopf.

»Mia,« bat er wieder, »habe doch Vertrauen zu mir! Willst Du denn unser Glück durch einen unbegreiflichen Trotz zerstören! Siehst Du denn nicht ein, daß mich Dein Benehmen – mißtrauisch machen muß! – Mia, denke doch an die vier Jahre unserer bisher so selten harmonischen Ehe –«

Ein wildes Schluchzen unterbrach ihn. Die junge Frau hatte die beringten Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte fassungslos, weinte, daß ihr schlanker Körper zuckte und bebte. – Der Ingenieur stand dabei, und ein tiefer Seufzer rang sich aus seinem bekümmerten Herzen los. Dann wandte er sich seiner Schwester zu, die mit trostlosen Augen am Kamin lehnte.

»Begreifst Du das alles, Anna?« meinte er traurig. Und seine blonde Schwester warf nur einen vorwurfsvollen Blick auf die Weinende.

Da richtete sich Maria auf. Mit zitternder Stimme klang’s in Tönen, die einen Stein hätten rühren können.

»Karl – nur das nicht – Nur das nicht. Ich flehe Dich an: Geh’ nicht zur Polizei! Der Papa wird ja zurückkommen, schreiben – depeschieren. Mein Gott, was soll ich nur sagen, damit das eine nicht geschieht –« – Wieder das Wimmern der weinenden Frau, und dazu die durch den Teppich gedämpften Schritte des rastlos auf und ab gehenden Mannes. – Dann kam Anna Wieland langsam vom Kamin auf die Weinende zu und umfaßte sie liebevoll.

»Es ist doch zu deinem Besten, Mia, – begreifst du denn das nicht! – Dein Vater ist’s, um den wir uns Sorgen machen, ihn wollen wir Dir doch wiedergeben, den wir alle lieb haben. Und jeder Tag, jede Stunde der Verzögerung vergrößert nur unsere Angst, kann dem Verschwundenen vielleicht auch Schaden bringen. Es muß ihm doch etwas Ernstliches zugestoßen sein, sonst hätte er uns nicht drei Tage ohne jede Nachricht gelassen.« Und in dem sie die Schwägerin fest an sich zog, bat sie weiter: »Mia, schenke doch wenigstens Karl Vertrauen! Du mußt doch irgendeinen Grund dafür haben, daß Du die Hilfe der Behörden so – so ängstlich von Dir weißt! – Mia, sag’s doch wenigstens Deinem Mann allein, ich will mich ja nicht in Deine Geheimnisse eindrängen. Aber er, – was soll er nur von Dir denken –«

»Quält mich doch nicht – Hab doch Erbarmen!« – Wie ein wilder Schrei klang’s durch das Zimmer. Maria Wieland war aufgesprungen und zu ihrem Mann hingeeilt. An seiner Brust weinte sie weiter. Und er strich ihr liebkosend über das volle Haar, flüsterte ihr leise, zärtlich etwas zu. Langsam beruhigte sie sich. Und der blonde Riese, der sie um Kopfeslänge überragte, führte sie jetzt behutsam zu dem Sessel zurück und sagte dann weich:

»Auch ich will nicht weiter in Dich dringen. Aber so lasse ich die Dinge nicht fort gehen. Ich werde mich an Dreßler wenden. Er wird raten. – Oder willst du auch das nicht, Liebling?« – Sie nickte nur.

»Ich treffe ihn jetzt um die Mittagszeit sicher zu Hause an. Ob er mich aber sehr freundlich empfangen wird?!« – Da sagte Anna Wieland in ihrer ruhigen, kühl überlegenen Weise:

»Dreßler ist nicht der Mann, der es uns verargt, daß wir ihn in den letzten Tagen vernachlässigt, ihn auch nicht ins Vertrauen gezogen haben. Er, der gute Menschenkenner, hat uns ja schon gestern sehr deutlich gesagt, daß uns irgend etwas ängstigen müsse, daß wir anders seien als sonst. Wenn Du jetzt zu ihm hingehst, Karl, wird er Dich empfangen wie immer. Auch ich meine, daß er der einzige ist, der uns helfen kann.«

Die junge Frau drückte wie in stummer Abbitte zärtlich die Hand ihres Mannes. Ermattet lag sie zusammengesunken in dem tiefen Sessel. Und jetzt, wo Karl Wieland in dem hellen Tageslicht ihr verweintes Gesicht sah, schrak er beinahe zusammen, so sehr hatten die Sorgen der letzten Tage die frische Farbe aus den sonst so liebreizenden Zügen verdrängt. Um die dunklen Augen lagerten tiefe Schatten, und ein ungesundes Grau um den schöngezeichneten Mund ließ die kaum Vierundzwanzigjährige um ein Jahrzehnt gealtert erscheinen. Da beugte er sich über sie und drückte einen leisen Kuß auf ihre Stirn.

»Mut, Liebling! Dreßler ist ja auf allen Gebieten beschlagen, warum sollte er uns nicht auch in dieser Sache raten können!«

Der Privatgelehrte Dr. phil. Hans Dreßler bewohnte seit zwei Jahren Haustor Nr. 16 die erste Etage. – Erste Etage klingt recht großartig. Wer aber die schmalen Häuser da unten am Ende der Dämme kennt, weiß, daß die meisten Wohnungen dort nur aus zwei, höchstens drei mittelgroßen Zimmern bestehen. Dreßlers erste Etage bestand aus Küche, Nebengelaß, Entree und zwei Zimmern, gehörte also zu der bescheidensten Sorte jener Behausungen. Trotzdem fühlte sich der Besitzer dieser Räume in ihnen mehr als wohl. Allerdings in der letzten Zeit, seitdem sein Verkehr mit Wieland immer reger geworden war, wollte es ihn bisweilen doch nicht mehr so ganz in seinem Junggesellenheim gefallen. Oft genug hatte er es sich in einsamen Stunden ausgemalt, wie anders seine Häuslichkeit aussehen könnte, wenn – ja, wenn die blonde Anna Wieland als Hausfrau darin schalten würde. – Bei dem Gedanken war’s aber vorläufig geblieben. Denn dem Doktor, der sich mit seinen sechsunddreißig Jahren schon uralt vorkam, dünkte es beinahe ein Verbrechen, der kaum zwanzigjährigen Schwester des Freundes seine Zuneigung irgendwie zu zeigen. So war er denn jetzt schon ein langes Jahr bei Wielands ein- und ausgegangen, ohne daß er in seinen Zukunftsträumen über das erwähnte »Würde« irgendwie hinausgekommen wäre. Und sicherlich mußte schon etwas Besonderes geschehen, um Hans Dreßler aus der Rolle des guten Freundes, die er nur gezwungen spielte, in die eines aufrichtigen Liebhabers hineinzuzwingen. –

Des Doktors Studierzimmer lag nach der Straße zu und hatte zwei große Fenster, durch die dem Tageslicht freier Zutritt zu diesem mehr als merkwürdigen Raume gegeben war. Denn Dreßlers Studierzimmer war zugleich Laboratorium, Bibliothek und – Raritätenkabinett. Vor dem rechten Fenster stand ein langer Tisch, dessen einst weiße Platte jetzt von Säuren zerfressen und mit Brandflecken dicht bedeckt war. Auf diesem Tisch hatten Gestelle mit Gläsern und Flaschen in allen Größen und Formen ihren Platz neben blinkenden Destilierkolben und zwei großen Gaskochern. Die Gummischläuche der Gasleitung liefen darüber hin wie schmutziggraue Schlangen, und die freien Drahtenden der elektrischen Leitung lagen wie Schlingen zwischen diesem Durcheinander von Gläsern und sauber gehaltenen Apparaten, Mikroskopen, feinen Wagen und vielem anderen. Neben diesem Tische in einem mächtigen, rotgebeizten Schrank war Dreßlers Bibliothek untergebracht, besser gesagt diejenigen Bücher, die er notwendig brauchte. Denn der größere Teil seines papiernen Besitzes lagerte auf dem Boden in großen Kisten. In dem Schranke standen anscheinend in wirrem Durcheinander dünne Broschüren neben einer neuen Klassikerausgabe, dicke Lehrbücher der Chemie neben Büchern von dem Werte des »Seestern 1906«. Die andere Hälfte des Zimmers war sozusagen versuchsweise als Empfangszimmer herausstaffiert. An der Wand, dem Bücherschranke gegenüber, ragte ein Paneelsofa in die Luft, dessen Dimensionen sich in dem überfüllten Raum recht merkwürdig ausnahmen. Davor ein großer Tisch, bedeckt mit Zeitschriften und Zeichnungen, weiter zwei steiflehnige Sessel einer längst schlafengegangenen Mode. Und an den Wänden – ein Liebhaber exotischer Reiseerinnerungen hätte daran stundenlang besichtigen können! – auf Wandbrettern ausgestopfte Vögel, altchinesische Rüstungen, Waffen, Felle, Schlangenhäute, dazwischen hin und wieder ein grinsender Totenschädel neben einem in Spiritus aufbewahrten Präparat. Kurz und gut, weniger stilgerecht hätte selbst ein von keinerlei Kultur angekränkelter Hottentotte seine Hütte kaum herauszuputzen können. Und dabei lagerte über dem Ganzen dieser eigenartige Geruch, der uns in jeder Apotheke entgegenschlägt, dieses Gemisch von den Ausströmungen von Säuren, Arzneien, hier nur noch vermengt mit dem süßlichen Duft von Zigaretten, deren Stummel überall umhergestreut waren.

Der Besitzer all dieser Herrlichkeiten war zurzeit nicht heimisch. Aber in dem Arbeitszimmer hantierte dafür ein anderes Wesen desto eifriger umher und versuchte auf der Hälfte »Empfangszimmer« etwas Ordnung herzustellen. Es war ein kleines, unscheinbares Weiblein mit faltigem, gelbem Gesicht, das jetzt gerade unter häufigem zornigen Knurren die Zigarettenasche von dem etwas fadenscheinigen Teppich fegte. Das Alter dieses dienstbaren Geistes festzustellen, wäre eine Aufgabe für einen großen Menschenkenner gewesen. Das Gesicht war das einer Sechzigjährigen, und dazu paßte auch der runde Rücken und der recht spärliche, in ein dünnes Zöpfchen geflochtene Haarwuchs. Doch an den sechzig Jahren wurde man sofort wieder irre, wenn man die flinken Bewegungen und das emsige Schaffen des Weibleins beobachtete. Mit großer Schnelligkeit gelang es ihr, der linken Zimmerseite ein einigermaßen würdiges Aussehen zu geben. Die Bücher und Zeitschriften wurden eiligst zusammengerafft und auf einen freien Stuhl am Fenster gelegt. So war wenigstens der Sofatisch frei. Dann wandelte sich der »Empfangssalon« in kürzester Zeit wie auf ein Zauberwort in ein Eßzimmer um: Den Sofatisch bedeckte ein schneeweißes Tischtuch, darauf lag ein Gedeck, standen Teller, eine Menage, eine angebrauchte Flasche Rotwein mit Glas, – alles zierlich verteilt und nett hergerichtet. Und während das Weiblein so mit Aufräumen beschäftigt war, mußte es recht häufig diese Arbeit unterbrechen und in die Küche eilen, wo ein junges Huhn, mit Speckscheiben belegt, lustig im Schmortopf brodelte.

Als Dr. Dreßler pünktlich wie immer zwei Minuten vor eins in die Straße mit dem merkwürdigen Namen »Haustor« einbog, nachdem er sich auf einem längeren Spaziergang durch den Steffenspark und die Große Allee von den Anstrengungen der Vormittagsarbeit erholt hatte, sah er schon von weitem vor seinem Hause den Inhaber des Parterre-Ladens stehen. Als er sich jetzt näherte, kam ihm Jakob Wenzel eilfertig entgegengetrippelt und, sein schwarzes Samtkäppchen ziehend, sagte er vertraulich:

»Morgen, Herr Doktor! – Jetzt hab’ ich sie!« Und dabei blinzelten seine kleinen pfiffigen Äuglein in eitel Triumph. – Dreßler hatte ihm die Hand geschüttelt und fragte sofort:

»Wirklich?! – Dann zeigen Sie –« Da unterbrach er sich. In der Ferne schlug eine Turmuhr hallend eins. Der Doktor schüttelte bedauernd den Kopf.

»Also nach Tisch komm’ ich sofort zu Ihnen herunter. Jetzt geht es nicht. Ich darf meine Kascha nicht warten lassen!« – Und Jakob Wenzel kurz zunickend, verschwand er schnell in der Haustür.

2. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Zu Doktor Dreßlers etwas philisterhaften Gewohnheiten gehörte auch der tägliche Nachmittagsschlaf. Daß er heute, nachdem Kascha nur noch die traurigen Knochenreste des Brathuhnes hinausgetragen hatte, nicht sofort den in seinem Schlafzimmer stehenden Diwan aufsuchte, daran waren eigentlich Wielands schuld. Vormittags auf dem Spaziergang war er die Gedanken an die Familie seines Freundes nicht losgeworden. Gedanken, die sich um die seit Tagen im Wielandschen Hause deutlich bemerkbare allgemeine Verstimmung drehten. Und wenn er auch auf dem Heimwege dann an anderes dachte, an seine neuesten chemischen Versuche und an den Auftrag, den er Jakob Wenzel gegeben hatte, so drängte sich die Sorge um das Wohlergehen der ihm so nahestehenden Menschen doch immer wieder in den Kreis seiner Betrachtungen ein. Und dasselbe teilnehmende Interesse hielt auch Dreßler jetzt nach Tisch in seinem Arbeitszimmer fest.

Er hatte es sich bequem gemacht, einen leichten Hausrock angezogen und die braunen Schnürschuhe mit leichten Morgenschuhen vertauscht. So ging er geräuschlos in dem mit so wenig Geschmack eingerichteten Raume auf und ab, qualmte dichte Wolken aus seiner Zigarette in die Luft und versuchte irgend eine Erklärung für diese merkwürdige Änderung in dem Verhalten seiner Bekannten herauszuklügeln – vergebens. Er fand auch nicht den geringsten Anhalt für irgend eine Vermutung. Schließlich warf er verdrossen den Zigarettenstummel in den nächsten Aschbecher und zündete mit einem Streichholz eine der auf dem Holztisch am Fenster stehenden offenen Gasflammen an. Aber selbst die Arbeit brachte ihm nicht die gewünschte Ablenkung. Denn während er jetzt ein Retortengläschen über der leise zischenden Flamme hin und her drehte und beobachtete, wie die grünen Kristalle langsam darin zerschmolzen, überlegte er nochmals die Vorfälle der letzten drei Tage. Man hatte ihm am Dienstag abend bei Wielands erzählt, daß der Vater der jungen Frau, Michael Durgassow, plötzlich nach Königsberg gereist sei, um einen Spezialisten seines Nierenleidens wegen zu konsultieren. Dieser Entschluß mußte dem alten Herrn doch sehr plötzlich gekommen sein, denn am Tage vorher hatte noch niemand von dieser Fahrt gesprochen. Und – eigentümlich, seit Dienstag, gerade seit Dienstag lagerte auch diese Verstimmung über dem Hause des Freundes. Zwar hatte man ihm gesagt, daß man sich lediglich um die Gesundheit des alten Herrn sorge. Aber er war ein zu feiner Beobachter, als daß ihm nicht Verschiedenes aufgefallen wäre, was ihn noch stutziger machen mußte. So besonders die verweinten Augen der beiden Damen und ihr ängstliches Bemühen, seinen teilnehmenden Fragen auszuweichen.

Das schrille Anschlagen der Flurglocke unterbrach den Doktor in seinen Gedanken. Er stellte das Gläschen beiseite und ging selbst öffnen. Vor ihm stand Karl Wieland mit selten ernstem, sorgenvollem Gesicht. Nach kurzer Begrüßung nötigte Dreßler seinen Gast in einen der hohen, altmodischen Sessel.

»Du siehst nicht gut aus, Karl,« meinte er teilnehmend. »Überarbeitet, wie –?«

Der blonde Riese schüttelte traurig den Kopf.

»Wenn’s das allein wäre!« – Und, nach einer Pause: »Ich komme, um mir von Dir Rat zu holen, Dreßler, – Rat in einer sehr ernsten und – sehr sonderbaren Angelegenheit.«

Der Doktor zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.

»Du hast es ja selbst schon gemerkt,« fuhr Wieland zögernd fort, »daß bei mir daheim nicht alles so ist wie es sein sollte, hast es uns ja auch gesagt, und wir – hm, verzeih schon, wir haben Dich da – mit einer Unwahrheit abgespeist, ja, mit einer Lüge, weil wir eben hofften, daß mein Schwiegervater inzwischen etwas von sich hören lassen würde.«

Dreßler zuckte die Schultern. »Ich verstehe Dich nicht, Karl – Du mußt Dich schon etwas klarer ausdrücken.« Damit setzte er sich dem Freunde gegenüber in den anderen Sessel.

»Wir haben Dich, wie gesagt, grob belogen. Durgassow ist nicht nach Königsberg gefahren, sondern seit Dienstag – verschwunden!« – Wieland hatte jetzt alle Verlegenheit abgestreift. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Sein Geheimnis schnell los zu werden und dann von dem Freunde sich einen Rat zu erbitten.

Dreßler hatte sich in seinem Sessel mehr erstaunt als erschreckt aufgerichtet.

»Verschwunden? – Wie soll ich das verstehen?«

»Wörtlich, – leider wörtlich!« meinte Wieland traurig. »Verschwunden, ohne uns nur eine Zeile zurückzulassen, ohne uns in diesen drei Tagen irgend eine Nachricht über seinen neuen Aufenthaltsort zu geben. – Kannst du dir das erklären –?«

Er erhielt keine Antwort. Dreßler hatte wie mechanisch der Schale eine frische Zigarette entnommen und sie ebenso mechanisch angezündet. Sein bartloses Gesicht hatte einen sehr nachdenklichen Ausdruck angenommen. Eine ganze Weile verging so. Man hörte nur das Ticken der Schwarzwälderuhr und das ferne Läuten einer elektrischen Straßenbahn.

Schließlich fragte Dreßler kurz: »Wo und wann hast du Durgassow zum letzten Mal gesehen?«

»Wir, das heißt Anna, meine Frau und ich, waren Dienstag abend in dem Hubermann’schen Konzert. Der Papa hatte sich uns nicht anschließen wollen. Er sagte, er fühle sich etwas matt und wolle daher ausruhen. Wir gingen auch noch in seine Wohnung hinauf und verabschiedeten uns von ihm. Nach dem Konzert besuchten wir für kurze Zeit den Ratskeller und kamen gegen zwölf nach Hause. Als unser Stubenmädchen dann meinem Schwiegervater wie immer am nächsten Morgen um neun Uhr den Kaffee brachte, klopfte sie vergeblich, und –«

»Schon gut. Verzeih’, daß ich Dich unterbreche, lieber Freund. Aber wir kommen schneller zum Ziel, wenn ich Dich jetzt das mir wichtig Erscheinende abfrage. Hier – bitte bediene Dich zunächst –« Damit hielt er seinem Gaste die Zigarettenschale hin. Als Wieland ablehnen wollte, sagte Dreßler ruhig:

»Rauche nur – es ist besser so! Man regt sich weniger auf, wenn die glimmende Zigarette etwas von den Gedanken für sich beansprucht. – So – und nun zur Sache. – Also seit drei Tagen kein Brief, keine sonstige Nachricht; ebensowenig wißt Ihr etwas von irgendwelchen Reiseplänen Durgassows?«

Wieland nickte nur. – Auch die weiteren Fragen des Freundes konnte er meist nur mit kurzem Ja oder Nein beantworten. – Das, was Dreßler auf diese Weise über das rätselhafte und plötzliche Verschwinden des alten Herrn feststellen konnte, war wenig genug. Zwar äußerte sich Wieland dahin, es sei ihm seit längerer Zeit so vorgekommen, als ob Durgassow irgend eine geheime Sorge bedrücke. Aber selbst dieser geringe Fingerzeig genügte in keiner Weise, um daran anknüpfend mit irgendwelchen Nachforschungen beginnen zu können. Michael Durgassow war seit Dienstag abend, – das war als feststehend anzunehmen, – ohne irgend eine Spur zu hinterlassen, verschwunden, hatte in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch sein Bett nicht mehr benutzt und nicht einmal beim Verlassen seiner Wohnung die in das Treppenhaus führende Tür verschlossen. In seiner Wohnung fehlte nichts, woraus man auf eine plötzliche Abreise hätte schließen können, – kein Koffer, keine Handtasche. Der alte Herr war, bekleidet mit einem dunklen Jackettanzug, ebensolchem Paletot und schwarzem, weichen Filzhut, davongegangen. Wann er am Dienstag abend oder in der Nacht das Haus verlassen hatte, konnte bisher nicht ermittelt werden.

»Ihr habt doch hoffentlich in Durgassows Wohnung nichts geändert, nicht etwa ausfegen lassen?« fragte Dreßler jetzt, nachdem er nachdenklich eine ganze Weile vor sich hingestarrt hatte.

»Nein – es ist alles so geblieben. Nichts ist angerührt worden. Ich habe die Zimmer abgeschlossen und die Schlüssel hat Maria an sich genommen.«

»Die Schlüssel –?«

»Ja, wir haben noch einen zweiten Schlüssel von seiner Wohnung, falls die Mädchen in seiner Abwesenheit aufräumen wollten.«

»So. Ja, richtig. Eure Dienstboten! Sie glauben also, daß Durgassow plötzlich verreist ist?«

»Sicherlich. Wir haben uns in ihrer Gegenwart stets zusammengenommen und uns unsere Befürchtungen nicht anmerken lassen. Sie werden denken, daß mein Schwiegervater in Königsberg bei einem Arzte weilt und unsere Unruhe für die Sorge um seinen Gesundheitszustand halten –«

»Was sie denken, ist schließlich gleichgültig. Denn über kurz oder lang müssen sie ja doch die Wahrheit erfahren. Wenn Euch erst die Polizei ins Haus kommt, dann –« Dreßler unterbrach sich, da Wieland abwehrend die Hand erhoben hatte und jetzt hastig hervorstieß:

»Das darf nicht geschehen, muß eben vermieden werden! Die Polizei muß aus dem Spiel bleiben!« – Als er des Doktors erstaunten Blick fühlte, sprach er schnell weiter:

»Hans, Du bist mein einziger, mein bester Freund! Sieh – ich habe Dir ja noch nicht alles erzählt, Dir gerade das verschwiegen, was mich am meisten beunruhigt. Maria hat – irgendwelche Heimlichkeiten vor mir! Ja – sieh mich nicht so zweifelnd an. Es ist wirklich so. Denn als ich gestern nach dem Polizeipräsidium gehen und die Hilfe der Behörde in Anspruch nehmen wollte, da hat sie mich beinahe fußfällig gebeten, es nicht zu tun. Und heute, als ich mittags heimkam, wiederholten sich dieselben Szenen. Was ich davon denken soll, was die unerklärliche Scheu vor der Polizei bedeutet – ich finde keine Lösung dafür. Und sie, meine Frau, schweigt! Durch keine Mittel, weder im Guten noch im Bösen ist sie zum Reden zu bringen. Sie sagt nur immer: »Quält mich doch nicht so, habt Erbarmen mit mir!««

Dreßlers Gesicht war während dieser sich überstürzenden Sätze merkwürdig steinern geworden. Jetzt stand er auf und meinte in seiner ruhigen Art: »Auch das wird sich aufklären. Aber nun zuerst ein offenes Wort: Auch Du bringst dieses merkwürdige Verhalten deiner Frau mit dem Verschwinden ihres Vaters irgendwie in Verbindung, nicht wahr?«

Wieland bejahte seufzend: »Erst hielt ich es nur für eine Laune,« meinte er ehrlich. »Seit heute mittag bin ich aber doch anderer Ansicht geworden. Ich fürchte – ja, Hans, fürchte jetzt fast, daß Maria mehr von Durgassows Verschwinden weiß, als sie zugeben will. Bin ich unter diesen Umständen nicht wirklich zu bedauern?! Alles hätte ich ja ertragen, nur nicht diese Entfremdung zwischen Maria und mir. Und die besteht jetzt schon, so sehr wir uns auch Mühe geben, die traurige Tatsache voreinander zu verheimlichen.«

Dreßler schüttelte leicht den Kopf.

»Über all diese Dinge kann ich unmöglich schon jetzt ein Urteil abgeben. Ich werde jetzt mit Dir gehen und erst einmal die Zimmer Deines Schwiegervaters besichtigen. Vielleicht finde ich irgend eine Spur. Und nun entschuldige mich einen Moment; ich will mich nur zum Ausgehen fertig machen.« –

Dr. Hans Dreßler war nicht nur ein Menschenkenner, sondern auch, – wenn’s darauf ankam, ein sehr guter Schauspieler. Eine Probe seines Könnens hatte er soeben abgelegt. Er hatte über Frau Marias eigenartiges Verhalten bereits seine besonderen Gedanken. Und nur um dem Freund die Seelenruhe nicht zu rauben, hatte er ihn mit allgemeinen Redensarten abgespeist. Er kannte die Frau seines Freundes, wußte, daß sie trotz der mädchenhaften Weichheit ihres Charakters eine große Selbstbeherrschung und viel weibliche Klugheit besaß. Und als er sich jetzt langsam den Paletot anzog, überkam ihn ein sonderbar unbehagliches Gefühl. Es war ihm, als ob ihn eine innere Stimme warnte: »Mische Dich nicht in diese Angelegenheit, laß die Dinge ihren Lauf gehen!« – Aber dann schämte er sich dieser kleinmütigen Regung, ergriff schnell seinen Hut und ging in das Arbeitszimmer hinüber, wo Wieland auf ihn wartete.

3. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wielands bewohnten die erste Etage eines der hohen, am Kassubischen Markt gelegenen Häuser der alten Handelsstadt Danzig. Damals, als der blonde Ingenieur sich ernstlich um die Hand der schönen Maria Durgassow zu bewerben begann, war sein erstes gewesen, seine Schwester, mit der er seit dem Tode der Eltern zusammenlebte, seiner Herzensauserwählten vorzustellen. Und zu seiner Freude hatte er bald gemerkt, daß die beiden im Alter nur wenig verschiedenen Mädchen sich schnell zu einander hingezogen fühlten. Und die ruhige, geistvolle Anna Wieland hatte dann später an der temperamentvollen Schwägerin wirklich eine gute Freundin gefunden. Nie war es in den vier Jahren der Wieland’schen Ehe zu irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Frauen gekommen.

Die blonde Anna, die im Gegensatz zu ihrem Bruder eine schnell entschlossene Natur war, bewohnte von den acht Zimmern der Etage zwei, deren eines sie sich als Atelier eingerichtet hatte. Sie verfügte über ein nicht unbedeutendes Talent, und ihre Bilder waren oft genug in den Schaufenstern der größeren Kunsthandlungen Danzigs ausgehängt und wurden auch – was mehr wert war – in der Presse anerkennend besprochen und die Hauptsache! – viel gekauft. Jedenfalls konnte sie mit Hilfe dieses künstlerischen Nebenerwerbes ein ganz behagliches Leben führen, zumal sie außerdem noch ein kleines Vermögen von ihren Eltern her besaß.

In der zweiten Etage desselben Hauses hatte der Vater der jungen Frau von einem kinderlosen Ehepaar die beiden Vorderzimmer gemietet. Hier hauste Michael Durgassow inmitten einer großen Bibliothek und einer Menge alter, vergilbter Handschriften, die er mit großem Eifer sammelte, – gleichgültig, in welcher Sprache sie abgefaßt waren. Der alte Herr hatte es mit seinem Zartgefühl verstanden, sich seinen Kindern immer nur zeitweise zu widmen, ohne ihnen je zur Last zu fallen. Seine Mahlzeiten nahm er meist außer dem Hause ein. Nur den Morgen- und den Nachmittagskaffee schickte ihm seine Tochter durch das Stubenmädchen täglich nach oben. – Durgassow war ein Mann von einer alles umfassenden Bildung. Nicht nur daß er fünf Sprachen völlig beherrschte, auch auf den Gebieten der Technik und Literatur zeigte er sich äußerst bewandert. Außerdem gestattete ihm sein großes Vermögen, ganz seinen gelehrten Liebhabereien nachzugehen.

In dieses wirklich in jeder Weise harmonische Zusammenleben der vier in demselben Hause vereinten Menschen brachte das plötzliche Verschwinden Michael Durgassows die erste Störung hinein. Und Dr. Dreßler war’s, der hier jetzt raten und helfen sollte. – Nachdem die beiden Freunde des Doktors Haus verlassen hatten, war zwischen ihnen weiter kein Wort gewechselt worden. Schweigend schritten sie durch die Straßen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. –

Dreßler begrüßte die beiden Damen nur kurz und bat sich sofort den Schlüssel zu der Wohnung Durgassows aus. Langsam stieg er die Treppe empor. Begleitung hatte er sich verbeten. Als er die Flurtür aufgeschloßen und das Arbeitszimmer betreten hatte, schlug ihm eine dumpfe Luft entgegen. Mit großer Gewissenhaftigkeit begann er dann die Untersuchung der beiden Räume. Nichts blieb unberührt, nichts entging seinen forschenden Blicken. Besonders lange hielt ihn der große Diplomatenschreibtisch auf, über dessen Platte Zeitungen und Papiere ausgestreut lagen. – Nach ungefähr einer Stunde schien es in den beiden Zimmern für ihn nichts Interessantes mehr zu geben. Er schloß die Wohnung wieder ab und ging zu Wielands hinunter. Um seine Lippen spielte dabei ein triumphierendes Lächeln.

In dem Arbeitszimmer des Hausherrn saßen sich dann die beiden Freunde gegenüber. Dreßler hatte die Damen sehr höflich, aber auch sehr bestimmt gebeten, sie vorerst allein zu lassen, da es noch manches zu besprechen gäbe, was für Frauenohren nicht geeignet wäre.

»Du hast also nichts gefunden, daß die Angelegenheit auch nur etwas klärt?« fragte Wieland jetzt enttäuscht.

»Nichts ist zuviel gesagt. Ich meinte nur, daß ich keine direkte Spur entdeckt habe, die zu dem Verschwundenen hinweist. Ich habe dafür aber etwas anderes beobachtet.« – Er zauderte unschlüssig und warf einen besorgten Blick auf den Ingenieur, der nervös auf seinem Stuhl hin und her rückte.

»Und das ist? – So spricht doch, spann mich nicht so auf die Folter!« fuhr Wieland leicht gereizten Tones auf.

»Ja, Karl, ich glaube jetzt auch, daß Deine Frau Dir gegenüber nicht ganz aufrichtig ist.«

»Hast du Beweise dafür?«

»Ja! – Du hattest mir doch gesagt, daß oben in Durgassows Zimmern alles so geblieben ist, wie Ihr es am Dienstag morgen vorgefunden habt. Das kann aber nicht sein, da zweifellos vor ganz kurzer Zeit von dem Schreibtisch Deines Schwiegervaters zwei Papiere fortgenommen sind.«

»Verzeih’ schon, kannst Du Dich da nicht täuschen? Wie willst Du außerdem mit so großer Sicherheit behaupten, daß es gerade zwei Papiere gewesen sind, weiter, daß sie überhaupt dort vorher gelegen haben?«

»Das sind viele Fragen auf einmal, lieber Freund. Ich könnte Dir die Antwort leicht geben. Aber, – eine andere Frage vorher: Hast du den Schlüssel zu Deines Schwiegervaters Wohnung stets bei Dir getragen?«

»Nein! Wie Du ja selbst gesehen hast, gab ihn Maria mir, die ihn an sich genommen hatte.«

»So – so! Ein weiterer Beweis für die Richtigkeit meiner Vermutung. – Jedenfalls wird sich’s bald zeigen, daß ich in allen Punkten recht habe. Ich werde in Deiner Gegenwart jetzt im Laufe des Gesprächs an Deine Frau eine diesbezügliche Frage richten, und dann kannst Du ja selbst sehen, ob sie dabei völlig harmlos bleibt. Beobachte sie scharf, aber unauffällig!«

Wieland war aufgesprungen und rang verzweifelt die Hände.

»Hans, darüber komme ich nie hinweg, nie! Maria hat also wirklich Heimlichkeiten vor mir!

Das fasse ich nicht, begreife ich nicht!«

»Ruhe, Karl, Ruhe! Noch wissen wir ja nicht, welche Gründe Marias Verhalten derart beeinflußt haben.«

»Ruhe! – Du verlangst Unmögliches. Bei allem ruhig zu bleiben, dazu gehören Nerven wie Taue so stark! Und die habe ich nie gehabt. Wenn ich bedenke, was alles in diesen drei Tagen auf mich eingestürmt ist, – Sorgen, Zweifel, Befürchtungen! – Und kein Ende abzusehen – im Gegenteil! Vielleicht habe ich das Schlimmste sogar noch vor mir!«

»Kein Ende, meinst Du?« sagte Dreßler ärgerlich. »Allerdings kein Ende, wenn Du Dich nicht zusammennimmst und Dein Geschick nicht wie ein Mann trägst! Ich denke, daß gerade diese Zweifel an der Aufrichtigkeit Deiner Frau Dich fähig machen müßten, mit Überlegung jedes Für und Wider abzuwägen. Wenn Du aber in dieser Weise fortfährst, dein Unglück nutzlos zu bejammern, so schädigst Du Dich selbst dadurch am allermeisten. Nimm mir dieses offene Wort nicht übel. Aber ich habe unter Freundschaft auch stets gegenseitige Ehrlichkeit verstanden!«

Der blonde Hüne war am Fenster stehen geblieben, und Dreßler glaubte zu bemerken, wie jetzt ein Zittern durch Wielands gewaltigen Körper ging. Da trat er neben ihn und legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter.

»Vielleicht war ich eben zu schroff, Karl.«

»Laß nur!« kam’s gepreßt heraus. »Du wirst schon Recht haben mit Deiner Ehrlichkeit. Ich habe falsch gehandelt in dieser Sache. Wäre ich sofort zu Dir gekommen, – sofort, nachdem uns die Abwesenheit Durgassows zu ängstigen begann, dann – dann –«

»Dann wäre vielleicht manches anders geworden,« fügte Dreßler hinzu. »Aber diese Enttäuschungen währen Dir wohl doch nicht erspart geblieben. – Doch genug davon. Die Hauptsache ist, daß wir beide jetzt fest zusammenhalten, daß Du mir fernerhin ohne Scheu alles anvertraust und mir jede, auch die kleinste Beobachtung wiedererzählst. Denn, – ich weiß nicht, wie ich dieses Feinempfinden eigentlich bezeichnen soll, – so ein gewisses Ahnungsvermögen sagt mir, daß, wenn Deine Frau sprechen wollte oder – dürfte, ich sehr bald herausbekäme, wohin Dein Schwiegervater sich gewandt hat. Doch, um nun endlich weiterzukommen, würdest Du mir ganz kurz einmal erzählen, wie und unter welchen Umständen du Durgassow hier kennen lerntest, weiter auch, was Du von seiner Vergangenheit weißt.« – Wieland hatte sich inzwischen wieder in den Sessel gesetzt und begann nun das wenige in seiner Erinnerung aufzufrischen, was ihm von dem früheren Leben seines Schwiegervaters bekannt war. Indessen stand Dreßler am Fenster und schaute bald auf die Straße hinab, bald wandte er sich wieder an den Freund, um dessen Erzählung mit einer Frage zu unterbrechen. Als Wieland schwieg, da seine Erinnerungen erschöpft waren, meinte der Doktor kopfschüttelnd: »Also auch hier keine Handhabe! Ich hatte gehofft, daß Durgassows Vergangenheit irgend ein interessantes, auffälliges Begebnis enthalten würde, das uns vielleicht auf eine Spur hinweisen könnte. Aber diese alltägliche Lebensgeschichte!« Dreßler zuckte die Achseln und zog dann sein Notizbuche hervor, um einige Zeilen hineinzuschreiben.

Wenn er soeben dem Freunde mit so gleichgültiger Miene gesagt hatte, daß ihm in Durgassows Lebensgeschichte nichts aufgefallen sei, so war’s die Unwahrheit gewesen. Dreßlers Gedanken arbeiteten jetzt mit einer wunderbaren Schnelligkeit und Genauigkeit, die die wirrste Aufeinanderfolge von Tatsachen und bedeutungslosen Erscheinungen schnell in einen bestimmten Rahmen zu bringen und logisch zu ordnen wußte. – Eine Weile herrschte in dem elegant möblierten Zimmer ein bedrückendes Schweigen. Plötzlich rief der Doktor mit merkwürdiger Erregung:

»Komm’ schnell einmal her. Kennst du den Mann, der dort in der Haustür steht, den da mit dem grauen Pelerinenmantel?«

Wieland war neben den Freund an das Fenster getreten. »Nein, - ich kenne ihn nicht. Weshalb interessiert er Dich? Ich habe ihn bisher nie gesehen.«

»Merkwürdig, – also ein Unbekannter, der für die Fenster Deines Schwiegervaters Interesse hat! Denn schon vorhin, als ich oben in Durgassows Zimmer war, habe ich den Mann beobachtet. Er starrte wie jetzt, allerdings möglichst unauffällig, zu den Fenstern empor. Schade nur, daß ich hier augenblicklich nicht fort kann, sonst möchte ich mir den Burschen schon einmal genauer ansehen. – Und nun, Wieland, rufe, bitte, Deine Frau.« –

»Sie besinnen sich also genau, daß seit Mittwoch niemand anders als Sie und Wieland die Zimmer Ihres Vaters betreten hat,« fragte Dreßler Frau Maria im Laufe des nun folgenden Gespräches.

»Ausgeschlossen, lieber Doktor,« meinte sie treuherzig. »Ich hatte ja die Schlüssel stets bei mir!«

»Und wann sind Sie allein zum letzten Mal oben gewesen?« Er betonte das »allein« kaum merklich.

Ohne Scheu antwortete sie schnell: »Ich? Heute vormittag! Als Karl Sie holen ging, war ich in Papas Zimmern, um die Fenster zu öffnen und frische Luft einzulassen.«

»Und haben Sie oben nichts anderes getan, liebe Freundin, – ich meine, nichts berührt, verschoben?« Dreßler schien der Antwort nicht viel Bedeutung beizulegen, denn er schaute gleichgültig zu der gemalten Zimmerdecke empor.

»Nichts angerührt habe ich, – nichts,« erklang die Antwort merkwürdig hastig. »Es sollte doch auch alles liegen bleiben, weil –«

»Ja – sollte!« sagte Dreßler, als ob er für sich spräche. Und dann sah er Frau Maria fest in das schöne Gesicht und fuhr fort:

»Schade – schade!« Dabei schüttelte er wie bedauernd den Kopf.

»Warum sagen Sie schade, lieber Freund?« In dieser Frage lag’s aber wie aufsteigendes Mißtrauen. – Des Doktors Augen ließen nicht von der Frau ab.

»Ich meinte das nur in Bezug auf meine bisher so gut wie ergebnislosen Bemühungen. – Doch, Frau Maria, gestatten Sie jetzt, daß ich Sie um einen kleinen Dienst bitte. Würden Sie mir wohl –« – Hier wurde Dreßler durch ein Klopfen unterbrochen. Das Stubenmädchen kam und meldete, daß ein Geschäftsfreund Herrn Wieland zu sprechen wünsche. – Als Wieland das Zimmer verlassen hatte, trat Dreßler schnell dicht an die im Sessel Sitzende heran.

»Frau Maria,« sagte er leise, »würden Sie mir jetzt wohl einiges aus der Lebensgeschichte Ihres Vaters erzählen, was Ihr Gatte nicht weiß und nie erfahren wird, wenn ich’s so einrichten kann.«

Sie schaute zu ihm auf, versuchte in ihre Züge den Ausdruck des Erstaunens zu legen. Und doch, – hilflose Angst sprach aus ihren Augen, und um ihre Lippen zuckte es wie von verhaltenen Tränen.

»Frau Maria,« bat Dreßler wieder so eindringlich. »Sie wissen mehr von der Vergangenheit Ihres Vaters, als Sie vorgeben. Ihr Vater,« seine Stimme sank zum Flüstern herab, »Ihr Vater ist vor seinen Feinden geflohen, vor Feinden, deren Haß er sich in früheren Jahren zugezogen hat, – in einer Zeit, wo er nicht so – ruhig und harmlos lebte, wie er’s hier in Danzig tat.«

Maria Wieland hatte sich erst halb aufgerichtet und sank dann wieder wie haltlos zusammen, während ihre entsetzten Augen Dreßler folgten, der langsam einen Schritt zurückgetreten war und jetzt leicht an den Schreibtisch gelehnt vor ihr stand. Eine geisterhafte Blässe lag auf ihrem feinen Gesicht. Und stockend nur kam’s über ihre Lippen:

»Sie wissen?«

Dreßler nickte nur. – Frau Maria bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen. Unter ihren schlanken Fingern drang jetzt ein qualvolles Stöhnen hervor. Aber der, der sie unausgesetzt beobachtete, schien mitleidslos.

»Wollen Sie mir nicht auch das geben, was Sie von der Schreibtischplatte in dem Arbeitszimmer Ihres Vaters fortgenommen haben, um es – mir vorzuenthalten,« sagte er langsam. – Da schien’s, als ob die junge Frau ihre ganze Energie zusammennahm. Ihre Hände sanken herab, sie erhob sich schnell und trat auf Dreßler zu.

»Ich habe nichts fortgenommen – nichts!« Wie ein Zischen klangen diese Worte, die eine mühsam verhaltene Wut hervorzudrängen schien. »Nichts – Verstehen Sie mich, Herr Doktor! Und was Sie da eben von der Vergangenheit meines armen Vaters faselten, das – das ist alles Unsinn – Unsinn!«

Die Worte überstürzten sich förmlich. Dann ging Maria Wieland schnell zur Tür. Hier wandte sie sich nochmals um und, wie der Eingebung des Augenblicks folgend, rief sie Dreßler zu:

»Ich will nicht, daß Sie sich in unsere Angelegenheiten mischen, will es nicht!«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Dreßler war allein. Wie betäubt stand er eine ganze Weile regungslos da. – Was war das soeben gewesen? Hatte er recht gehört, gesehen? War in diese Frau plötzlich ein anderer Geist gefahren? Und warum das alles, warum? – Er begann gedankenvoll auf dem dicken Teppich hin und her zu gehen. – Wer war diese Frau, die ihm jetzt in Feindschaft gegenübertrat, jetzt, wo er an den Schleiern rühren wollte, nein, mußte, die ihre Vergangenheit verhüllten?

Und wieder überkam Dreßler dieses unbestimmte Gefühl, diese Vorahnung, die uns so oft vor Unangenehmem zu warnen scheint. Was hatte er im Grunde genommen davon, wenn er diesen Rätseln weiter nachspürte? Darüber konnte er ja nicht im Zweifel sein, weswegen Frau Maria ihm soeben mit diesem offenbaren Haß begegnet war. Sie fürchtete ihn eben als einen Menschen, dem sie die Fähigkeit zutraute, ihr ein gefährliches Geheimnis entreißen zu können. Und um ein solches mußte es sich hier handeln, mußte! Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß die bisher so harmlos fröhliche, lebenslustige Maria sich so urplötzlich derart in ihrem ganzen Sichgeben verändern konnte! Ja, war es nicht wirklich für ihn das beste, die weitere Entwicklung der Dinge als Unbeteiligter zu beobachten und sich nicht der Gefahr auszusetzen, bei dieser Gelegenheit vielleicht auch noch den Freund, der sich nur zu leicht von seiner Gattin beeinflussen ließ, zu verlieren?

Minutenlang erwog Dreßler diese Möglichkeiten, all diese Für und Wider, ohne mit sich ins reine zu kommen. Und als Wieland und Maria jetzt das Zimmer wieder betraten, war er noch immer unschlüssig. Was ihn dann erst zu einem festen Entschluß kommen ließ, war das mehr als sonderbare Verhalten der Frau seines besten Freundes, denn Maria, die sich kurz vorher mit einem beinahe haßerfüllten Blick jede weitere Einmischung von seiner Seite verbeten hatte, sagte jetzt mit einer Stimme, die so bittend und weich klang:

»Verzeihen Sie mir, lieber Freund, daß ich vorhin etwas erregt war. Entschuldigen Sie meine Heftigkeit mit meiner nervösen Überreiztheit, bitte, bitte!« Sie streckte ihm dabei ihre schmale, weiße Hand hin. Aber er durchschaute die Komödie, und ein Blick traf sie, der ihr seine Meinung deutlicher sagte als eine lange Aussprache. Trotzdem war er klug genug, einige höfliche Redensarten zu machen, die zu nichts verpflichteten. Gleich darauf verabschiedete er sich dann unter dem Vorgeben, er wolle ungesäumt die Aufklärung der rätselhaften Angelegenheit in die Hand nehmen. Man möge vorerst jedoch nicht fragen, was er vorhabe. Er würde schon, wenn es Zeit dazu wäre, sprechen. Und als ihn Dreßler an der Flurtür beim Abschied hastig daran erinnerte, daß er doch Maria noch, wie verabredet, habe auf die Probe stellen wollen, erwiderte er nur zweideutig:

»Das hat sich von selbst erledigt, Karl. Ich bin nach reiflichem Nachdenken zu einem anderen Resultat gekommen. Warte ab. Vielleicht kann ich Dir schon morgen Genaueres sagen. Auf Wiedersehen also!« –

Als Dreßler das Wielandschen Haus verlassen hatte, blieb er wie absichtslos vor der Haustür stehen, zog sein silbernes Zigarettenetui hervor und zündete sich umständlich eine Zigarette an. Dabei schaute er jedoch die Straße nach beiden Seiten hinunter. Aber von dem Manne in dem grauen Pelerinenmantel, der sich so lebhaft für die Fenster der Wohnung Durgassows interessiert hatte, war nichts mehr zu sehen. Doch Dreßler, dessen Argwohn der Unbekannte in hohem Maße erregt hatte, gab das Umherspähen nicht so schnell auf. Langsam ging er bis zur nächsten Ecke und bog in die Querstraße ein, um aber schon nach wenigen Schritten kehrtzumachen. Da erblickte er auch wieder den Grauen, der sich bis jetzt fraglos in einem Hausflur verborgen gehalten hatte.

Dreßler ging jetzt, ohne ihn irgendwie zu beachten, vorüber. Er mußte herausbekommen, ob dieser wildfremde Mensch vielleicht irgend ein Interesse an seiner Person nahm. Tat er dies, so konnte Dreßler daraus leicht weitere Schlüsse ziehen. In gemächlichem Schritt setzte der Doktor seinen Weg fort, passierte wieder den Kassubischen Markt und ging dann weiter durch die Töpfergasse nach dem Holzmarkt zu. Der in dem grauen Pelerinenmantel blieb getreulich hinter ihm, wie er bald vorsichtig feststellte. Da huschte ein leises Lächeln über sein frisches Gesicht. Und triumphierend konnte er sich eingestehen, daß er sich in seiner ersten Vermutung nicht geirrt hatte. Dieser Fremde stand vielleicht in irgend einem Zusammenhange zu dem rätselhaften Verschwinden Durgassows. Ohne Absicht hatte der Mann sicher nicht so unermüdlich diese heimlich spähenden Blicke zu den Fenstern des alten Herrn emporgeschickt. Nun hieß es nur, die Spur des Unbekannten nicht verlieren.

Dreßler war schnell mit seinem Plane fertig. Als er in die Hauptverkehrsstraße, die Langgasse, gekommen war, trat er in ein Papiergeschäft und ließ sich verschiedene Sorten Schreibpapier vorlegen. Er entschied sich für einen Karton Büttenpapier. Dann fragte er, ob er das Telephon für einen Augenblick benutzen könnte, und wenige Minuten darauf wußte Jakob Wenzel, der kleine Antiquitätenhändler, dessen Laden unter Nr. 1224 an dem Fernsprecher angeschlossen war, genau Bescheid. Hierauf nahm Dreßler den sauber eingewickelten Karton unter den Arm und verließ mit freundlichem Gruß das Geschäft.

Eine halbe Stunde später – Dreßler war während dieser Zeit anscheinend ziellos durch die Straßen gebummelt – begegnete er in der Langgasse auf der linken, weniger belebten Seite Jakob Wenzel, seinem Hausgenossen. Aber dieser schien plötzlich von einer Bekanntschaft mit dem Doktor nichts wissen zu wollen. Ohne zu grüßen, schritt er vorüber, machte dann aber bald Kehrt und folgte Dreßler in einiger Entfernung. Dabei musterte er mit seinen kleinen, schlauen Äuglein vorsichtig die vor ihm Hergehenden. Und schnell hatte er auch den Gesuchten gefunden. Kaum zwei Schritte vor ihm ging jetzt ein Mann in einem grauen Pelerinenmantel, der einen schwarzen, weichen Filzhut tief in die Stirn gedrückt hatte.

Jakob Wenzel nickte befriedigt. Er verlangsamte seine Schritte noch mehr, so daß sich die drei, der Doktor, der Graue und der kleine Händler, jetzt in einiger Entfernung folgten. Aber dieses interessante Spiel sollte bald ein Ende finden. Denn Dreßler betrat jetzt das auf dem Langen Markt gelegene Cafee Hohenzollern. Geduldig faßte der Graue davor Posten und wartete. Jakob Wenzel aber stand drüben hinter der Reihe der Taxameter, wartete auch und grinste so schadenfroh. Eine halbe Stunde verging. Ersterer ging in das Restaurant, erfuhr hier aber auf seine in etwas gebrochenem Deutsch gestellte Frage, daß der von ihm beschriebene Herr bereits vor reichlich zehn Minuten durch den anderen Ausgang nach der Hundegasse zu das Lokal verlassen habe. Mißmutig machte sich der Graue wieder davon. Er ahnte nicht, daß der vorsichtige Antiquitätenhändler ihm geduldig auf den Fersen blieb.

4. Kapitel

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Dreßler war, nachdem er sich seines Verfolgers in geschickter Weise entledigt hatte, nach Hause gegangen. Als er hier kaum seine Entreetür aufgeschlossen hatte, kam auch schon Kascha eilfertig aus der Küche herbeigetrippelt und raunte ihm leise zu:

»Herr Doktor, ist sich eine Dame da. Sie wartet in Studierstube.«

»Eine Dame?« fragte Dreßler erstaunt, aber ebenso leise.

»Ja – Dame. Ist die gnädige Frau Wieland, Herr Doktor!«

Das hatte Dreßler allerdings nicht erwartet. Mit kühler Höflichkeit begrüßte er sodann Maria, die ihm mit verlegenem Gesicht entgegentrat. Als sie Platz genommen hatte, fragte er ganz unvermittelt mit rücksichtsloser Offenheit, indem er sie dabei scharf fixierte:

»Sie wollen mir jetzt das ausliefern, was Sie mir heute nachmittag vorenthalten haben, nicht wahr?«

Der hilflose Zug in dem Gesicht der schönen Frau trat jetzt noch mehr hervor. Und während Tränen ihr in die Augen stiegen, flehte sie leise:

»Haben Sie doch Erbarmen mit mir!«

Dreßler war aufgestanden und, dicht an sie herantretend, sagte er etwas freundlicher:

»Beruhigen Sie sich, liebe Freundin. Ich werde Ihnen helfen. Nur Vertrauen müssen Sie zu mir haben, volles Vertrauen! Ich kenne Sie ja lange genug, um hoffen zu können, daß keine – verwerflichen Motive Sie zu dieser Geheimniskrämerei verleitet haben. Und jetzt geben Sie mir bitte die volle Wahrheit ohne jede Einschränkung, teilen mir auf meine Fragen alles mit, was Sie wissen und vielleicht in letzter Zeit beobachtet haben.«

Marias Tränen versiegten langsam. Ihr Widerstand war völlig gebrochen.

5. Kapitel

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»Herr Doktor, ich bin wirklich meines Vaters wegen in Sorge. Er ist schon seit Nachmittag von Hause fort, und jetzt, – ja, es ist gleich 10 Uhr. Ich bin es gar nicht gewöhnt, daß er mich verläßt, ohne mir den Zeitpunkt seiner Rückkehr wenigstens ungefähr anzugeben. Und heute eilte er in so merkwürdiger Hast von dannen, nachdem er mit jemandem ein längeres Telephongespräch geführt hatte. Er rief mir nur noch zu: »Adieu, Kind! Wann ich heimkehre, weiß ich nicht,« und dann war er auch schon fort.«

»Ich kann Ihre Sorgen völlig zerstreuen«, sagte Dreßler zu dem schmächtigen Geschöpfchen, das ihm gegenüber an dem Tisch in Jakob Wenzels Wohnzimmer saß. »Ich weiß zufällig, daß er in einer geschäftlichen Angelegenheit in der Stadt zu tun hat. Er wird zweifellos bald wiederkommen. Jedenfalls brauchen Sie ihn nicht allein zu erwarten, Fräulein Wera, – falls Sie gestatten, daß ich noch bleibe,« fügte er höflich hinzu.

Über das blasse Gesichtchen der verwachsenen Tochter Jakob Wenzels huschte eine flüchtige Röte.

»Bitte, Herr Doktor, bleiben Sie nur. Ich unterhalte mich sehr gern mit Ihnen, das wissen Sie ja.«

Es war ein eigenartiges Verhältnis, in dem Doktor Dreßler zu den Bewohnern der Parterreräume seines Hauses stand. Als er vor zwei Jahren hier einzog, hatte er sich in der ersten Zeit nicht viel um sie gekümmert. Dann brachte es ein Zufall mit sich, daß in dem Schaufenster von Jakob Wenzels Laden eines Tages eine mit eingelegter Arbeit reich verzierte Beduinenflinte auftauchte. Dreßler kaufte die Waffe, und bei dieser Gelegenheit merkte er, einen wie kunstverständigen Sinn der kleine Händler besaß. Nicht nur alte Möbel und allerlei Raritäten wußte dieser sehr genau ihrem Werte nach abzuschätzen, sondern auch seine Allgemeinbildung gingen weit über die sonstigen Kenntnisse seiner Zunftgenossen hinaus. Dabei besaß Jakob Wenzel einen erstaunlichen Lerneifer, den sein einziges, leider verwachsenes Kind immer wieder anzuregen wußte. – Wera Wenzel, die ihre Mutter früh verloren hatte, war so selbstständig erzogen, wie dies nur die eigentümlichen Lebensbedingungen in den drei Parterrezimmern von Haustor Nr. 16 mit sich bringen konnten. Ihr Vater, dessen einzige Freude sie war und der in ihr das Bild der verstorbenen Gattin fast abgöttisch weiterliebte, hatte sich das Geld vom Munde abgespart, um seinem einzigen Kinde eine gute Erziehung geben zu können. Und die Tochter dankte ihm diese Aufopferung mit einer geradezu rührenden Gegenliebe.

Zwischen Dreßler und Wera Wenzel bildete sich mit der Zeit ein Freundschaftsverhältnis heraus, wie man es selten zwischen zwei so grundverschiedenen Naturen finden wird. Wera, – Wera Wenzel! Wie seltsam hatte Dreßler dieser Name berührt, als er ihn zuerst hörte. Wera! Ein Weib blond, mit Nixenaugen und einem verführerischen Lächeln um einen süßen Mund, – so hatte er sich das Bild eines Mädchens mit diesem Namen in seiner Phantasie stets gezeichnet. – Und diese Wera, – klein, blaß, mager – und doch in dem schmalen Gesichtchen mit den großen Augen einen Zug, aus dem eine große Seele, ein feinempfindendes, tiefveranlagtes Gemüt sprach.

Eines Tages, – Dreßler konnte die Frage nicht unterdrücken, – hatte er Jakob Wenzel ausgeforscht, warum er seinem Kinde gerade diesen Vornamen gegeben habe. Und da war über den kleinen Trödler die Erinnerung an seine schönste Zeit gekommen. – Jakob Wenzel hatte noch heute eine große Vorliebe für das Theater. Und diese stammte aus der Vergangenheit her, aus jener Zeit, wo er, kaum achtzehnjährig, den Kontorschemel mit den Brettern, die die Welt bedeuten, vertauscht hatte. Er war damals einfach auf und davon gegangen, um sich einer reisenden Schauspielertruppe anzuschließen. Seine Augen leuchteten noch begeistert, wenn er wieder einmal auf jene Tage zu sprechen kam, wo er in einer der kleinen Posenschen Städte mitgeholfen hatte, eine Einnahme von durchschnittlich fünfzig Mark pro Abend zu erzielen. Und der frühere Schmierenschauspieler, damals Viktor Sorani, jetzt Jakob Wenzel, hatte sich schon in jenen Zeiten schauspielerischen Ehrgeizes gesagt, daß, falls ihm später einmal Familie beschieden sein sollte, seine Tochter nur Wera und sein Junge nur Egon heißen dürfe. Als er sich das vornahm, war er kaum zwanzig Jahre alt und mit 60 Mark Gage pro Monat bei der Truppe Gebrd. Seiler als zweiter Liebhaber und jugendlicher Komiker engagiert. Und als ihm, dem Vierzigjährigen, seine Frau dann wirklich ein Töchterlein schenkte, da nannte er sie Wera, – nach Wera, der Heldin irgend eines Birch-Pfeifferschen Rührstückes.

Doktor Dreßler saß heute nicht zum ersten Mal in dem kleinen, so behaglichen Wohnzimmer, das überall die Spuren weiblicher Sorgfalt und feinen Geschmackes zeigte. Für Jakob Wenzel, den Antiquitätenhändler, war dieser Raum mit seinen eleganten Möbeln, den teuren Stichen und dem großen Teppich, dessen Muster zu dem Bezug der Sessel ebensogut wie zu der blaugrauen Tapete paßte, eigentlich viel zu vornehmen. Jedenfalls hätte ein Besucher des kleinen Ladens, in dem auf Wandbrettern und in hohen Gestellen tausend Dinge, vom getragenen Militärrock bis zum alten, aus Elfenbein geschnitzten Schachspiel einfach alles vorhanden war, nie vermutet, hinter diesem Laden und einem ebenso vollgepfropften Korridor ein so anheimelndes Gemach zu finden, das so ganz eine Welt für sich bildete und in dem zwei Menschen ein einsames und doch zufriedenes Leben führten.

Der Doktor hatte, nachdem Frau Wieland ihn verlassen, mit großer Sorgfalt sich die Ereignisse dieses Tages mit all ihren Einzelheiten notiert, trotzdem er ein sehr gutes Gedächtnis besaß. Dann erst sprach er mit ebenso großem Eifer dem Abendessen zu, das Kascha ihm in der schnell wieder zum Speisezimmer umgewandelten anderen Seite seiner Studierstube aufgetischt hatte.

Inzwischen war es neun geworden, und Dreßler verspürte allmählich, wie seine Nerven nach all den Aufregungen zu streiken begannen. Was half es ihm, daß er seine Gedanken von diesen Geschehnissen abzulenken versuchte, daß er sich an seinem Arbeitstisch zu schaffen machte und dazu eine Zigarette nach der anderen rauchte. Sein Denken drehte sich ja doch immer wieder um denselben Mittelpunkt: Um den rätselhaften Fall Michael Durgassow. – Schließlich flüchtete er sich dann hinunter in Jakob Wenzels Behausung. Und was er selbst nicht vermocht hatte, die blasse Wera brachte es fertig. Er vergaß Michael Durgassow und die Sorgen seiner Freunde wenigstens für kurze Zeit.

Die beiden plauderten jetzt so angeregt von diesem und jenem, dann, nach einer Pause im Gespräch, bat Dreßler in seiner liebenswürdigen Art:

»Sie könnten mir etwas vorspielen, Fräulein Wera, ich träume so gern dabei.«

Ohne Zögern erhob sie sich und schlug den Deckel des Pianos zurück. Einige Akkorde anschlagend, fragte sie, sich halb zu ihm hinwendend:

»Ernst oder heiter, Herr Doktor?«

»Ernst – dämonisch, geheimnisvoll,« meinte er lächelnd und nickte ihr zu.

Sie setzte sich und sann wenige Augenblicke nach. Dreßler aber vertauschte ganz leise seinen bisherigen Platz mit einem Schaukelstuhl, in den er sich behaglich zurücklehnte.

Dann spielte sie den »Feuerzauber« aus der Walküre. Und wieder, wie schon so oft, kam dem Manne der Gedanke, welchen Schatz von Talenten dieser schmächtige, verunstaltete Mädchenkörper in sich barg. Er lauschte, schloß die Augen. Da kam die Sehnsucht über ihn, – wie stets, wenn er Musik hörte, diese Sehnsucht nach einem großen Glück, das für ihn doch nur Anna Wieland heißen konnte.

Und die, die in ihm diese Sehnen nach dem geliebten Weibe durch die Macht der Töne geweckt hatte, saß da und legte ihren ganzen, stets so still verborgenen Glückshunger in ihr Spiel. Plötzlich brach das Brausen der Töne mit einem schrillen Diskantton ab. Erstaunt öffnete Dreßler die Augen. Und was er sah, wunderte ihn mehr als die Überraschungen des Tages. – Wera Wenzel hatte die Arme auf die Klaviatur gestützt und ihr Gesicht in den Händen verborgen. Sie weinte, daß ihr zarter Körper hin und her geschüttelt wurde. Und trotzdem hörte man nichts als ein leises, leises Wimmern.

Dreßler war aufgestanden und hinter sie getreten.

»Fräulein Wera, - was haben Sie denn? Was quält sie?« – Da stand sie jäh auf. Und mit einer Energie, die sie unter Tränen lächeln ließ, sagte sie: »Seien Sie nicht böse, Herr Doktor. Aber bisweilen packt es mich so wunderbar bei den Klängen dieser Musik. Sie würden’s Hysterie nennen, Sie, der Mann mit den Stahlnerven.«

»Und meinen Sie, daß der Mann mit den Stahlnerven kein – Empfinden hat?« fragte er fast verletzt. Da drehte sie sich von ihm weg und trocknete ihre Augen.

»Doch, ich glaub’ es schon,« klang’s wehmütig zurück. – »Aber jetzt nehmen Sie bitte wieder Platz,« fuhr sie schnell fort. »Und hier – hier sind auch Zigaretten. Ihre Schwärmerei!« – Dabei lachte sie beinahe spitzbübisch. »Wenn Sie’s nicht entsetzt, zünde ich mir auch eine Papyros an, so – danke!«

Wieder saßen sie sich gegenüber an dem runden Mitteltisch. Aber die zwanglose Unterhaltung von vorhin wollte nicht mehr in Fluß kommen. Dreßler war nicht bei der Sache. Er dachte an anderes. – Sollten Weras Tränen etwa einer aussichtslosen Neigung gegolten haben, sollte etwa er selbst derjenige sein, den die arme Verwachsene liebte? – Und Dreßler, der vorzügliche Menschenkenner, der jede, selbst die leiseste Gemütsregung bei anderen bemerkte, verfolgte jetzt mit stillem Bedauern diese Gedanken weiter, während er dem jungen Mädchen zerstreut zuhörte. So manches fiel ihm jetzt erst in Weras ganzem Benehmen ihm gegenüber auf, was er bisher kaum beachtet hatte. Kleinigkeiten waren es nur, und doch ergaben sie, nunmehr in ihrer Gesamtheit aneinander gereiht, eine sichere Beweiskette für seine Vermutung. Kein Zweifel: Wera Wenzel, die ihm jetzt in so anschaulicher Weise von dem intimen Reiz und dem hohen künstlerischen Wert der Zoppoter Waldfestspiele erzählte, welche zu besuchen er bisher verabsäumt hatte, liebte ihn seit langem. Und bei dieser Erkenntnis stieg in Hans Dreßlers den weichsten Regungen so leicht zugänglichem Herzen ein tiefes Mitleid auf.

Zum Glück – denn jetzt war ihm das weitere Alleinsein mit ihr nur eine Qual – hörte er bald darauf die schlecht geölte Haustür in ihren Angeln kreischen und dann einen schnellen Schritt auf dem Flur. »Es ist Ihr Vater, Fräulein Wera,« meinte er scharf hinaushorchend. »Ich erkenne seine Art zu Gehen sofort. – Richtig, da ist er schon.«

Jakob Wenzel schien bei dem Anblick Dreßlers durchaus nicht angenehmen überrascht zu sein. Aber die Falte, die sich für einen Moment in seine Stirn eingegraben hatte, glättete sich ebenso schnell, und, seine Verwirrung geschickt verbergend, streckte er dem Besucher zur Begrüßung die Hand hin.

»Guten Abend, Herr Doktor. – Guten Abend, Wera.«

Er küßte seine Tochter flüchtig auf die Stirn, so flüchtig trotz der langen Abwesenheit, daß das junge Mädchen ihn ganz erstaunt anblickte. Schon wollte er sich zu den beiden an den Tisch setzen, rief dann aber noch schnell Wera ins Nebenzimmer, nachdem er sich bei Dreßler entschuldigt hatte, und fragte sie leise:

»Habt Ihr etwa über die – Statue gesprochen?«

»Nein, kein Wort.«

»Und hast du dem Doktor gegenüber auch nichts über meinen Bruder erwähnt?«

»Nein, weder ihm noch sonst jemanden gegenüber. Aber was soll dies alles, Vater?«

Wenzel atmete bei dieser Antwort sichtlich erleichtert auf und ging dann ins Wohnzimmer zurück, ohne Weras Frage weiter zu beachten.

»Sie werden neugierig sein, was ich ausgerichtet habe,« begann er dann sofort von der Angelegenheit zu sprechen, die Dreßler augenblicklich am meisten interessieren mußte. »Wir können die Sache ruhig in Gegenwart meiner Tochter verhandeln, Herr Doktor. Wera ist verschwiegen wie das Grab. Ich pflege vor ihr keine Geheimnisse zu haben.«

»Sollen Sie auch gar nicht, lieber Wenzel,« erklärte Dreßler zustimmend. »Also beginnen Sie!«

Der kleine Händler zögerte etwas. In seinem ganzen Gebaren zeigte sich auch jetzt noch eine gewisse Unruhe, etwas Fahriges, Unsicheres, das dem Doktor aber merkwürdigerweise entging. Nur Wera musterte ihren Vater immer wieder verstohlen mit prüfenden Blicken.

»Ja, leider sind meine Bemühungen ganz ergebnislos gewesen,« begann Wenzel jetzt hastig. Er vermied es beim Sprechen jedoch, Dreßler anzusehen, starrte vielmehr andauernd vor sich hin auf das feine Gewebe der Tischdecke.

»Ich bin dem Mann in dem grauen Pelerinenmantel, wie Sie es gewünscht hatten, überall hin gefolgt. Zunächst suchte der Unbekannte, nachdem er Ihre Spur verloren hatte, ein Restaurant auf und ließ sich etwas zu essen geben. In dem Lokal – es war das Restaurant Deutsches Haus am Holzmarkt – blieb er bis gegen 8 Uhr. Ich benutzte die Zeit, um gleichfalls etwas zu mir zu nehmen. Dann brach der Fremde auf und bestieg einen Wagen der elektrischen Bahn und fuhr nach dem Vorort Neufahrwasser hinaus. Hier in den menschenleeren Straßen des Hafenplatzes gestaltete sich die weitere Verfolgung recht schwierig. Trotzdem blieb ich immer hinter ihm, ließ ihn nicht aus den Augen. Aber – auch dies half nichts. Denn mit einem Mal war der Mann in einer der engen, auf den Hafen mündenden Gassen und zwar in der Herberstraße spurlos verschwunden. Ich suchte noch eine gute halbe Stunde, um wenigstens das Haus herauszufinden, in das er so schnell geschlüpft war. Aber alles umsonst. Da mußte ich wohl oder übel nach Danzig zurückkehren.«

Dreßler war durch diesen Bericht keineswegs entmutigt.

»Wenn wir nur wissen, daß der Fremde sich in Neufahrwasser aufhält, dann werden wir ihn schon finden, lieber Wenzel. Jedenfalls danke ich Ihnen bestens für Ihre Unterstützung. Sie haben aber nunmehr ein Recht von mir zu erfahren, warum ich eine so lebhafte Teilnahme für den Grauen zeige. Selbstverständlich rechne ich auf Ihre volle Diskretion. Sie werden ja bald selbst sehen, daß die Sache mit größter Verschwiegenheit zu behandeln ist.«

Darauf erzählte er den beiden alles, was er über den Fall Durgassow bisher in Erfahrung gebracht hatte. Und als es nichts mehr zu erwähnen gab, fügte er freundlich hinzu: »Mir wäre es nun sehr angenehm, lieber Wenzel, wenn Sie mir auch fernerhin helfen wollten. Es gibt bei dieser Angelegenheit sicher noch eine ganze Menge zu tun, was ich unmöglich allein erledigen kann. Vielleicht macht es Ihnen auch Spaß, einmal so ein wenig Detektiv zu spielen. Darf ich mich also an Sie wenden, falls ich eine zuverlässige Person nötig habe?«

»Aber gern, sehr gern, Herr Doktor,« entgegnete der kleine Händler eifrig. »Jeden Augenblick stehe ich zu Ihrer Verfügung. Mich interessiert die Sache außerordentlich. Ich glaube, gerade das Geheimnisvolle würde wohl jeden reizen. Außerdem, ich bin Ihnen ja auch sehr zu Dank verpflichtet, Herr Doktor. Sie haben mir manchen guten Kunden zugeführt.«

»Halt, da fällt mir eben ein,« rief Dreßler lebhaft, »daß wir ja noch ein Geschäft miteinander abzuwickeln haben. Sie sagten mir doch, als wir uns heute mittag vor der Haustür begegneten, daß die Buddha-Statue glücklich angelangt ist. Wenigstens deutete ich mir Ihre Worte: »Jetzt hab’ ich sie!« in diesem Sinne.«

Jakob Wenzel nickte.

»Die Statue ist wirklich da. Ich hoffe, sie wird Ihren Erwartungen entsprechen. Es ist alte Arbeit, das sieht man auf den ersten Blick. – Wera, geh’ und hole bitte die Statue. Sie steht in dem Mittelspind im Laden. Hier sind die Schlüssel.«

Dreßler konnte das seltene Stück, das den aus Elfenbein geschnitzten altmexikanischen Gott Vitzliputzli in der charakteristischen Haltung mit über der Brust gekreuzten Armen darstellte und vielleicht zwanzig Zentimeter hoch war, gar nicht genug bewundern.

»Hat Ihr Bruder Ihnen vielleicht auch geschrieben, wo er die Statue erworben hat?« fragte Dreßler dann den Antiquitätenhändler, indem er die Elfenbeinschnitzerei, die offenbar Jahrhunderte alt war, noch immer mit den begeisterten Augen des Sammlers betrachtete.