1974 - Dietrich Schulze-Marmeling - E-Book

Beschreibung

Ein Stück deutscher Fußball-Geschichte: Die WM 1974 und ihre legendärsten Momente Was für ein Freudentaumel, als Franz Beckenbauer 1974 den Pokal gen Himmel reckt! Der verdiente 2:1-Sieg gegen die Niederländer war der krönende Abschluss einer Fußball-WM in Deutschland, die Geschichte geschrieben hat. Rund 50 Jahre danach erweckt das Expertenduo Dahlkamp/Schulze-Marmeling das historische Fußballfieber zu neuem Leben. Sie erzählen von Spielerlegenden wie Johan Cruyff oder Berti Vogts und lassen ihre ganz persönlichen Fußballhighlights Revue passieren. Dabei nehmen sie auch politische und gesellschaftliche Ereignisse in den Blick, die die Deutschen abseits der Stadien in Atem hielten. - Fußball-Weltmeisterschaft der Superlative: Die WM 1974 in Deutschland - Ein Highlight der WM-Geschichte: Von strahlenden Siegern und überragenden Fußball-Legenden - Die 70er Jahre abseits des grünen Rasens: Von Glamrock bis Guillaume-Affäre - In bester Erzähltradition von "71/72", Bernd Beyers erfolgreichem "Fußballbuch des Jahres" - Ein Geschenk für Fußballfans, WM-Nostalgiker und Geschichtsinteressierte Die ganze Geschichte der Fußball-WM 74: Ein Turnier in aufregenden Zeiten Nicht nur in den Stadien ging es 1974 hoch her. Neben dem Terror der RAF und dem Rücktritt Willy Brandts prägten Aufbruchstimmung und neue musikalische Trends die bundesdeutsche Gesellschaft. Mit großartiger Erzählkunst verknüpfen die Autoren WM-Historie, politische Geschehnisse und Kulturgeschichte zu einer stimmigen Rückschau auf ganz besondere Zeiten. Herausgekommen ist ein WM-Buch, das nicht nur die Herzen eingefleischter Fußball-Fans höherschlagen lässt!

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Dietrich Schulze-Marmeling, Hubert Dahlkamp

1974

Die WM der Genies

SCHULZE-MARMELING / DAHLKAMP

1974

DIE WM DER GENIES

VERLAG DIE WERKSTATT

1. Auflage 2023

© Verlag Die Werkstatt GmbH, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:ISBN 978-3-7307-0660-2 (Print)

ISBN 978-3-7307-0678-7 (Epub)

Lektorat: Simon Kraßort, Erwin Puschkarsky

Gesamtherstellung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.werkstatt-verlag.de

INHALT

PROLOG

1973

1974

X. FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT

DAS FINALE

NACHSPIELZEIT

EPILOG

LITERATUR

DANKSAGUNG

AUTOREN

„Der beste Fußball wird nicht mehr am Zuckerhut gespielt, sondern an Maas und Rhein.“

Franz Beckenbauer

„Ich glaube nicht, dass sie gewonnen haben. Ich glaube, wir haben verloren. Immerhin haben die Niederlande den besten Fußball des ganzen Turniers gezeigt. Die Mannschaft hat Millionen zum Träumen gebracht und der Welt neue Hoffnung auf eine Zukunft mit kunstvollem Offensivfußball gegeben.“

Johan Cruyff

PROLOG

AM ANFANG WAR DIE PRÄMIE

Beinahe wäre die Operation Titelgewinn für die DFB-Elf schon vorbei gewesen, bevor sie überhaupt begann. Spieler und DFB-Führung haben sich zerstritten. Zum neuen Selbstbewusstsein der Profis gehört auch, an den Geldern zu partizipieren, die Vereine oder Verbände dank der Künste ihrer Spieler einstreichen können. Vorbei die Zeit, in der die Gehälter der Bundesligaspieler auf 1.200 DM gedeckelt waren. Die Grenze ist, auch als Folge von Bestechungsskandalen, vor zwei Jahren aufgehoben worden; seither fordern die Spieler Gehälter auf internationalem Niveau. Auch bei einer Weltmeisterschaft.

Sepp Maier: „Wir hätten die Prämie vorher mit dem DFB aushandeln sollen. Aber als wir ins Trainingslager gingen, waren wir sicher, dass uns die Herren nicht hängen lassen. Da haben sie uns die gleiche Prämie wie in Mexiko 1970 angeboten, 30.000 Mark. Das klingt vielleicht nach einer Menge Geld. Aber wenn man bedenkt, dass man sechs Wochen weg ist von daheim und damit auch von allen anderen Prämien, allen Nebengeschäften, dann ist das nicht mehr viel. Außerdem lasen wir Zeitung. Da stand, dass die Italiener für den Titel 120.000 Mark kassieren würden.“

Berti Vogts: „Der DFB hatte sich zunächst gar nicht zu Prämien geäußert. Nun ging es immer näher zum ersten Spiel, da hat der Mannschaftsrat, zu dem ich mit Günter Netzer und Paul Breitner gehörte, diskutiert. Der DFB hat uns ein Angebot gemacht, das war zum Lachen. Dann hat der Franz Beckenbauer nach Rücksprache mit uns mit Neuberger (Anm. d. A.: gemeint ist Hermann Neuberger, Vizepräsident des DFB und WM-Organisationschef) ein Gespräch geführt. Das Angebot war 30.000 DM. In der Gruppe hieß es dann: Das kann doch nicht wahr sein. Wir haben mit der Mannschaft gesprochen, da waren die Jungen, also Breitner und Bonhof, die haben gesagt, das müssen schon so 50.000 oder 60.000 sein. Das war damals unheimlich viel Geld. Es gab damals ja nicht die Sponsorengelder wie heute. Die sind ja viel höher als die Prämien, die der DFB offiziell ausschüttet. Wir hatten damals Sponsorengelder von 10.000 oder 12.000 DM. Als Vertreter der Liga war noch der Präsident von Borussia Mönchengladbach bei den Verhandlungen dabei, Dr. Beyer, der hat uns auch noch einige böse Worte gesagt.“

Dem Bundestrainer, Helmut Schön, sei das alles peinlich gewesen, erinnert sich Vogts weiter: „Er mochte das nicht. Er wusste natürlich, dass das Zeitalter des Geldes angebrochen war. Aber er wusste nichts über die Summen. Da war Bayern München natürlich weit voraus; wir in Gladbach haben für die Meisterschaft 15.000 bekommen. Für uns war es merkwürdig, wenn die Bayern jetzt bei 50.000 sagten: zu wenig, zu wenig. Da waren die Bayern-Spieler schon in anderen Regionen angekommen, insbesondere Uli Hoeneß und Paul Breitner, die da den Franz unter Druck gesetzt haben.“

Die Spieler fordern schließlich im Falle eines Titelgewinns 100.000 DM, bieten als Kompromiss 75.000 an. Die Stimmung ist gereizt, eine Einigung scheint unmöglich. Um dem DFB-Argument der Nichterfüllbarkeit ihrer Forderungen zu begegnen, regt Breitner an, den offiziellen Ausrüster Adidas mit ins Boot zu nehmen. Für den Sportartikelhersteller laufen die Spieler schließlich von morgens bis abends Reklame. Bei der WM 1970 gab es von Adidas 10.000 DM „Schuhgeld“. Nun soll es das Doppelte sein. Und wenn nicht? „Dann überpinseln wir die weißen Werbestreifen mit schwarzer Farbe“, kolportiert das Boulevardblatt Bild. Aber Adidas winkt ab. Schließlich habe man mit dem DFB einen Ausstattervertrag unterzeichnet, der dem Verband 175.000 DM garantiere. Im Falle eines WM-Sieges würden daraus sogar 220.000. Eine mögliche Zusatzprämie sei deshalb allein Sache des Verbands.

Entschiedenster Gegenspieler der Mannschaft ist DFB-Delegationsleiter Heinz Deckert, dem die neumodische Einstellung der Spieler überhaupt nicht passt. Deckert, als Spielausschussvorsitzender für die Nationalelf zuständig, ist erzkonservativ wie manch andere seiner Kollegen im DFB-Vorstand, inklusive dessen Präsident Hermann Gösmann, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied. Während der Nazizeit hatte Gösmann als Vorsitzender des VfL Osnabrück im Vereinsblatt die „großgeschichtliche Tat“ der „Heimführung unserer österreichischen und sudetendeutschen Brüder ins großdeutsche Reich“ gepriesen. Vom Einmarsch in Frankreich berichtet er fasziniert: „Ganz Deutschland steht in Ergriffenheit vor dem Führer.“

Auch Deckert hatte während der NS-Zeit für eine Weile den braunen Horden der SA angehört. Im Entnazifizierungsverfahren nach Kriegsende gab er an, der SA nur „zur Tarnung“ beigetreten zu sein. Immerhin konnte er glaubhaft machen, dass die Nazis ihn als „politisch unzuverlässig“ eingestuft hatten. Wirklich verfolgt oder verurteilt haben sie ihn allerdings nicht, auch seinen Beamtenposten in der Stadtverwaltung ließen sie ihm. Deckert war als gläubiger Katholik wohl tatsächlich kein Nationalsozialist. Seine Selbsteinschätzung, die er im Entnazifizierungsverfahren ablieferte, wirkt allerdings grotesk überzogen: „Ich bin der Überzeugung, dass es wohl kaum einen Menschen gibt, der im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten schärfer und aggressiver gegen den Nationalsozialismus Stellung bezogen hat als ich.“

Nach dem Krieg trat Deckert der CSU bei und machte in seiner Heimatstadt Schweinfurt Karriere: Beruflich stieg er zum Stadtkämmerer auf, als Sportfunktionär zum Vorsitzenden des FC Schweinfurt 05. Beim DFB war er als stellvertretender Spielausschussvorsitzender schon bei der WM 1954 für die Nationalelf zuständig und betreute sie auch im legendären Trainingslager von Spiez. Dort sah er Fritz Walters Mannen „durch das disziplinierte Auftreten (…) unsere Heimat würdig vertreten“, wie er in einem Bericht für eine Schweinfurter Vereinszeitung schrieb. Natürlich feierte er darin auch das Wunder von Bern, wies aber noch auf eine „zweite Sensation“ hin: „Die vielen Tausende von deutschen Zuschauern, die sich vor Begeisterung schier überschlugen, zeigten den Schweizern nach Spielende, was Disziplin heißt.“

Eine Disziplin, die er 20 Jahre später bei der neuen Spielergeneration um Beckenbauer und Netzer schmerzlich vermisst. Als „Lagerleiter“ (so der Spiegel) hat er für den Frust seiner kasernierten Spieler kein Verständnis, und ihre Geldforderungen hält er schlicht für „Erpressung“ und „einen willkommenen Anlass, sich ordentlich aufzuplustern“, wie Sepp Maier kommentiert. Uli Hoeneß sagte später in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung über Funktionäre wie Deckert: „Die lebten noch in einer Welt, wo elf Freunde möglichst umsonst Fußball spielen. Sie begriffen nicht, dass sie es mit einer Generation zu tun hatten, die professioneller geworden war und sich nicht mehr alles aufoktroyieren ließ.“

Bild schlägt Alarm: „Krach ums Geld in Malente! DFB wollte alle rausschmeißen. Damit versuchten die Funktionäre die WM-Prämien zu drücken.“ Hermann Neuberger bestätigt gegenüber dem Boulevardblatt: „Ja, wir haben den Spielern freigestellt, wieder nach Hause zu fahren.“ Für den autoritären Knochen, dessen Führungsstil das Wirtschaftsmagazin Capital als „Diktatur und lückenlose Überwachung seiner Mitarbeiter“ beschreibt, sind „Spieler zu ersetzen, Funktionäre nicht“. Aussperrung also schon vor einem Streik? Möglich, aber maßlos überzogen.

Bild malt sich schon hämisch aus, wen Helmut Schön dann noch aufstellen könnte: Herbert Hein in der Verteidigung, Wolfgang Seel im Mittelfeld und Klaus Wunder als Mittelstürmer. Auch die Spieler überlegen, welche Kollegen der Verband wohl noch auf die Schnelle nach Malente holen könnte. Sepp Maier: „Aber außer von Werder Bremen hätten sonst keine guten Spieler nachnominiert werden können, da die meisten Klubs auf Freundschaftsreisen waren, in Amerika und in Asien. Der DFB war also auf uns angewiesen.“ Berti Vogts: „Es hieß: Okay, dann werden einige Spieler abreisen müssen, die nicht spielen wollen, wenn es keine höheren Prämien gibt. Dann kommen eben die übrigen Spieler aus dem 40er-Kader. Aber von denen waren viele schon im Urlaub, einige verletzt, deshalb haben wir uns ausgerechnet: Damit kann man uns nicht erpressen.“

Tatsächlich sind die Prämienforderungen der Spieler keineswegs überzogen, sie liegen im Trend der Zeit und entsprechen auch in der Rückschau der historischen Entwicklung: Für die Weltmeister von 1954 gab es 2.500 DM plus Fernseher und Motorroller, 1990 bereits 125.000 DM und 2014 schließlich 300.000 Euro, umgerechnet also fast 600.000 DM. Für einen Titelgewinn 2022 in Katar wurden sogar 400.000 Euro ausgelobt. Der Kicker zeigt für die Nationalspieler Verständnis: „Die 22 von Malente, allen voran Beckenbauer, haben in einer kritischen Phase klaren Kopf behalten und das getan, was im Geschäftsleben üblich ist.“

Als im Team über die Prämienforderung und die sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen abgestimmt wird, ist „die eine Hälfte fürs Nachhausefahren, falls die Prämie nicht gezahlt werden würde, die andere wollte trotzdem an der Weltmeisterschaft teilnehmen. Denen genügte das Dabeisein.“ So erzählt es Sepp Maier. Im Vorfeld der Abstimmung hat Deutschlands Nummer eins dafür gesorgt, dass seine beiden Vertreter, Wolfgang Kleff und Norbert Nigbur, für die Prämie stimmen. Maier: „Wenn alle drei Torhüter ausfallen würden, das hätte der Verband nie ausgleichen können.“

Mit dem Remis ist noch immer keine Entscheidung gefallen und die Diskussion geht weiter. Ab und an kommt Helmut Schöns Assistent Jupp Derwall herein, um sich über den Stand der Dinge zu informieren. Maier: „Jedes Mal, wenn er zu uns kam, hat ausgerechnet Paul Breitner geredet.“ Was noch Folgen für das Verhältnis zwischen Schön und Breitner zeitigen wird, doch dazu später.

Dank einer Intervention von Hermann Neuberger, der nicht weniger konservativ ist als Kollege Deckert, aber in finanziellen Dingen deutlich smarter, einigt man sich nach 15 Stunden. Berti Vogts: „Es gab dann eine Summe von 60.000, und wenn die Stadien alle ausverkauft sind – sie waren nicht alle ausverkauft –, dann können wir später noch einmal sprechen. Vor dem Finale in München gab es noch ein Gespräch, da hat der DFB 10 oder 15 draufgetan, dazu kam ein VW, jeder Spieler hat einen VW bekommen, in Schwarz-Grün, den Farben des DFB.“

Auch bei den Niederländern wird heftig über Geld gestritten. Und auch ihre Teilnahme gerät wenige Tage vor dem Anpfiff des Turniers in Gefahr. Der Amateurismus des Koninklijke Nederlandse Voetbal Bonds (KNVB) hat in der Nationalelf, der Elftal, seinen letzten Hort. Während bei den großen Klubs Ajax und Feyenoord längst der Professionalismus eingezogen ist, behandelt der Verband seine Nationalspieler unverändert wie Unmündige, die man nicht angemessen entlohnen muss.

Lange Zeit kassierten die Spieler nur lächerliche 200 Gulden pro Einsatz und waren nicht einmal gegen die Folgen von Verletzungen versichert. Superstar Johan Cruyff und sein Schwiegervater und Berater Cor Coster schimpfen die Verbandsoberen „Amateure“, die die Verantwortung dafür trügen, dass die Fußball-Weltmeisterschaft seit 1938 ohne die Niederlande stattfindet.

Der KNVB hat mit Adidas einen Trikotdeal abgeschlossen, von dem die Spieler erst erfahren, als sie das Kleidungsstück in die Hand gedrückt bekommen. Die Spieler, insbesondere Johan Cruyff, der bei Puma unter Vertrag steht, fühlen sich übergangen. Cruyff: „Sie dachten, sie müssten nicht mit uns reden, das Trikot würde ihnen gehören. Aber der Kopf, der oben herausschaut, gehört immer noch mir.“

Bei der WM wird Cruyff nicht wie seine Kollegen mit den berühmten drei Streifen auf dem Trikot auflaufen, sondern nur mit zwei.

Am 10. Juni 1974, zwei Tage vor der Abreise ins Mannschaftsquartier, erklärt Cruyff dem KNVB, dass die Mannschaft daheim bleiben würde, wenn die Prämien nicht deutlich erhöht werden. Das Angebot des Verbands sei lächerlich. Hastig sagt der Verband jedem Spieler rückwirkend Boni von bis zu 65.000 Gulden zu.

Die Generation Beckenbauer/Cruyff registriert den Unterschied zwischen Idealismus und Betrug, zwischen Ehre und Ausbeutung, zwischen Ehrlichkeit und Scheinheiligkeit. Als Cruyff in Verhandlungen von seinem Gegenüber belehrt wird, dass Geld doch gar nicht so wichtig sei, antwortet er in der ihm eigenen Schlagfertigkeit: Wenn Geld nicht wichtig sei, dann könne er ihm ja sein gesamtes Geld geben!

Allein mit Parolen, die an Pflicht und Ehre appellieren, ist diese Generation nicht mehr zu packen. Es ist die erste Generation, die sich von dumpfen nationalen Ehrbegriffen löst – in Deutschland wie in den Niederlanden.

Am 16 September 1965 feiert der erst seit wenigen Tagen 20-jährige Franz Beckenbauer sein Debüt im Nationaltrikot. Beckenbauer steht für eine Revolution auf dem Rasen: Der „letzte“ Mann ist nun ein Spielgestalter, als „freier Mann, der wie ein General das Spiel lenkt“, beschreibt der Journalist Thomas Hüetlin das Spiel des „Kaisers“. Beckenbauer: „Ich wollte Einfluss nehmen auf das gesamte Spiel, abwehren, aufbauen, Tore schießen.“

Die DFB-Funktionäre hätten den Hochbegabten um ein Haar verschmäht. Am 20. Oktober 1963 war der 18-jährige Beckenbauer Vater eines unehelichen Kindes geworden, weshalb ihn die Verbandsfunktionäre wegen seines „unmoralischen Lebenswandels“ zur Persona non grata erklärten. Beckenbauer wurde aus dem Kader für ein Spiel der DFB-Jugendauswahl gestrichen, aber Dettmar Cramer, verantwortlich für den DFB-Nachwuchs, und Noch-Bundestrainer Sepp Herberger legten erfolgreich Einspruch ein.

Über sein Nationalmannschaftsdebüt am 16. September 1965 in Stockholm und seinen Vorgänger Fritz Walter, Kapitän der deutschen Nationalelf beim „Wunder von Bern“ 1954, schreibt Beckenbauer später: „Ich merkte, dass wir doch ziemlich verschiedene Charaktere sind. Vielleicht ähnelte unsere Spielweise, unsere Technik einander; aber er besaß doch etwas von dem Mannschaftsgeist von 1954; er glaubte an Kameradschaft und Nationalehre. Für mich ist eine Fußballmannschaft eine Interessengemeinschaft. Titel sind dazu da, dass sie gewonnen werden. Das ist für mich nicht nur ein sportliches Ziel, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit.“ Und über das Kabinenritual seiner älteren Kollegen im DFB-Dress: „War ich nun im Stockholmer Rasunda-Stadion, oder befand ich mich in einem Theater? Sollte anschießend Fußball gespielt werden, meinetwegen für Deutschland und den Botschafter, für Uwe und Schimmi, auch für Schön und Cramer, vor allem aber für mich, oder sollte ein Theater aufgeführt werden?“

Günter Netzer und Paul Breitner legen später nach. „Vergesst doch das ganze Getue mit den elf Freunden auf dem Fußballplatz, das ist doch Kokolores,“ höhnt Netzer und erklärt der Bild am Sonntag: „Kameradschaft – im Profi-Fußball gibt es die nicht mehr.“ Paul Breitner wird nicht weniger deutlich: „‚Elf Freunde müsst ihr sein…‘ – ein Hirngespinst, vollkommener Blödsinn. Das ist ein Satz, der zu keiner Zeit seine Berechtigung hatte. Dieser Satz ist schlichtweg eine Lüge!“ Auf dem Platz spiele nun mal jeder für sich, auch in der Nationalmannschaft. Konsequenterweise sieht man beim Turnier keinen einzigen Spieler mitsingen, wenn vor dem Anpfiff die Nationalhymne intoniert wird. Man schaut gelangweilt bis gequält in die Gegend. Breitner schimpft sogar: „Diese Hymne vor den Länderspielen stört mich in der Konzentration!“ Auch würde er sogar seinen Hintern vermarkten, wenn dies nötig wäre.

Die betont individualistische und hedonistische Haltung der Profis passt zur politischen Landschaft der Bundesrepublik, wo die erste Euphorie der sozialliberalen Reformpolitik einer gewissen Ernüchterung gewichen ist und statt des Visionärs Willy Brandt nun der „Macher“ Helmut Schmidt regiert (den Fußball sowieso nicht interessierte). Aber in den Medien und bei den Zuschauern kommt diese Haltung nicht gut an.

Während in Deutschland Spieler wie Beckenbauer, Breitner, Hoeneß oder Netzer diesen Wandel personifizieren, ist es im Nachbarland vor allem Johan Cruyff. „Die Niederländer sind dann am besten, wenn sie System mit kreativem Individualismus kombinieren. Johan Cruyff ist der bedeutendste Repräsentant dieser Kombination. Er prägte das Land nach dem Krieg. Er war der Einzige, der die Sechzigerjahre wirklich verstand“, schreibt Hubert Smeets, ehemaliger Chefredakteur der Wochenzeitschrift De Groene Amsterdamer. Arie Haan, Cruyffs Mitspieler bei Ajax und in der Elftal, ist dem „König“ noch viele Jahre später dankbar: „Unsere Generation hat ‚Cruyffie‘, dem perfektesten Profi, alles zu verdanken. Er hat nicht nur den holländischen Fußball revolutioniert, sondern auch die Funktionärsmentalität verändert. Wir ernten heute täglich, was er durchsetzte.“

Sucht man bei der WM 1974 nach einem roten Faden neben dem Spielfeld, dann findet man den Generationskonflikt. Die Autoren wurden stark von den Siebzigern geprägt – weniger von ΄68. Sie nahmen an diesem Konflikt aktiv teil und waren in diesem hochgradig parteiisch. Nicht nur den Fußball betreffend, sondern auch die Politik und die Musik. Nicht nur am Fußball, sondern auch politisch und musikalisch interessiert, betrachteten sie die WM in einem größeren Kontext. Right or wrong – our generation! Die WM 1974 nimmt einen besonderen Stellenwert in ihrem Leben ein. Natürlich auch wegen des Fußballs, der gespielt wurde: „Totaalvoetbal“ bzw. „totaler Fußball“, vor allem gespielt von den Niederländern, aber mit Abstrichen auch von den Deutschen.

Wir beginnen unsere Erzählung mit dem Jahr 1973, als noch um die Qualifikation zur Endrunde gerungen wird.

1973

1. Januar 1973

Großbritannien tritt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei – wie auch die Republik Irland und Dänemark. Aus diesem Anlass organisiert die britische Regierung des konservativen Premiers Edward Heath eine Reihe von Veranstaltungen, die den Menschen die nicht besonders populäre Gemeinschaft schmackhaft machen sollen: Konzerte, Kunstausstellungen, aber auch ein Fußballspiel zwischen einem Team, das aus Briten sowie jeweils einem Spieler aus den anderen beiden EWG-Zugängen besteht und sich mit einer Auswahl der sechs alten Mitgliedstaaten misst.

Im Team der „Neuzugänge“ sind drei Weltmeister von 1966 dabei: Alan Ball, Bobby Charlton und Bobby Moore. Im Tor steht der für Tottenham Hotspur spielende Nordire Pat Jennings, im Sturm ist der Schotte Colin Stein vom FC Coventry unterwegs. Dänemark stellt den Gladbacher Henning Jensen, Irland John Giles, der für Leeds United spielt. Betreut wird das Team vom englischen Weltmeistertrainer Sir Alf Ramsey.

Im von Bundestrainer Helmut Schön betreuten Alt-EWG-Team stehen Italiens Keeper Dino Zoff, der französische Libero Marius Trésor, drei Niederländer vom amtierenden europäischen Champion Ajax Amsterdam, die Verteidiger Ruud Krol und Willem Suurbier sowie Mittelfeldmotor Johan Neeskens, und sechs Deutsche: Franz Beckenbauer und Gerd Müller (FC Bayern), Günter Netzer, Herbert Wimmer und Berti Vogts (Borussia Mönchengladbach) sowie Jürgen Grabowski (Eintracht Frankfurt). Das Alt-EWG-Mitglied Luxemburg wird nicht berücksichtigt.

Das Team der Neumitglieder gewinnt durch Tore von Stein und Jensen mit 2:0.

Die beteiligten Spieler bewerten die politische Bedeutung des Spiels unterschiedlich. Den Nordiren Jennings interessiert der EWG-Beitritt nicht, während sein südirischer Kollege John Giles der Auffassung ist, dass ein kleines Land wie die Republik „enge Handelsbeziehungen zu Europa“ benötige. Alan Ball vom FC Arsenal bewegt lediglich die Frage, „ob jetzt der Sommerurlaub mit meiner Familie billiger“ sein werde. Politisch korrekt und brav äußert sich Franz Beckenbauer: Die EWG sei „entscheidend“ für eine bessere Zusammenarbeit und ein friedliches Zusammenleben in Europa. Sieben der Spieler des „Sechser“-Teams stehen eineinhalb Jahre später im WM-Finale.

Das Interesse am Spiel ist ähnlich gering wie das an der EWG: An einem bitterkalten Januartag kommen nur 36.500 ins Londoner Wembleystadion.

Pünktlich zum Jahresbeginn 1973 stellt der Kicker seinen Lesern in mehreren Folgen ein Szenario vor, in dem es um die Frage geht: Was wäre, wenn zur WM einer der vier Eckpfeiler Maier, Müller, Beckenbauer oder Netzer ausfallen würde? Die Fachzeitschrift glaubt, dass ein Ausfall Netzers den Europameister am empfindlichsten treffen würde. Zwar räumt der Kicker ein, dass Overath Netzer bei einem Ausfall ersetzen könne, hegt aber Zweifel, ob der in der Nationalelf wenig überzeugende Kölner aus Netzers Schatten treten kann. Vage wird spekuliert, Overath könne „seine Moral wiederfinden“. Weiter rät der Kicker: „Vielleicht müsste er vergessen, dass er der Overath ist, (…) einfach das Trikot mit der Nummer 10 anziehen, nicht an Netzer denken (…) und drauf losspielen wie zu Beginn seiner Karriere. Die Rückkehr müsste ein neuer Anfang sein.“ Trotzdem, ein Ausfall Netzers wäre demnach vor allem deshalb am schmerzhaftesten, weil zu Overath zu diesem Zeitpunkt wenig Vertrauen herrscht. Für den Fall, dass Franz Beckenbauer, Sepp Maier oder Gerd Müller ausfallen würden, glauben die vom Kicker befragten Bundesliga-Trainer an adäquaten Ersatz: Jupp Heynckes für Müller, Bernd Cullmann für Beckenbauer und Norbert Nigbur für Maier. Wenngleich sie einräumen, dass dann auch eine Systemänderung notwendig sein könnte.

14. Januar 1973

In Bonn demonstrieren 15.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg. Die Veranstalter sprechen von bis zu doppelt so vielen Teilnehmern. Sie fordern u. a. die Einstellung der Bombardierungen, den Abzug der amerikanischen Truppen und Frieden für das Land. Organisiert wird dieser „Marsch durch Bonn“ von den Vietnamkomitees im gesamten Bundesgebiet.

15. Januar 1973

Die ARD entschließt sich nach langem Zögern, den Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ auszustrahlen, der die Situation und das Leben homosexueller Männer in der Bundesrepublik Anfang der Siebziger darstellt.

Das Volk der Bayern bekommt das Werk von Rosa von Praunheim allerdings nicht zu sehen, denn der Bayerische Rundfunk (BR) klinkt sich aus dem ARD-Verbund aus und zeigt stattdessen einen Rennfahrerfilm. Schon 1971 wird der Streifen während der Internationalen Filmfestspiele in Berlin präsentiert, 1972 läuft der Film im Rahmen der Documenta in Kassel.

16. Januar 1973

Erstmals wird um den europäischen Supercup gespielt. In Hinund Rückspiel misst sich der Europapokalsieger der Landesmeister mit dem Europapokalsieger der Pokalsieger. Die Initiative zu diesem neuen Wettbewerb kommt aus den Niederlanden, wo Anton Witkamp, Reporter des De Telegraph, wissen will, wer Europas wahrer Champion ist: Ajax Amsterdam oder die Glasgow Rangers?

Witkamp und Ajax-Boss Jaap van Praag tragen der UEFA ihre Idee vor, die aber eine Schirmherrschaft ablehnt. Denn gerade erst hat der Verband die Rangers wegen Ausschreitungen ihrer Fans mit einer einjährigen Europapokalsperre belegt. So beschließen die beiden Vereine, das Kräftemessen in eigener Regie zu veranstalten – aus Anlass des 100. Geburtstags des Glasgower Protestantenklubs.

Am 16. Januar 1973 empfangen die Rangers Ajax im Ibrox Park. Vor 58.000 Zuschauern gewinnen die Gäste durch Tore von Johnny Rep, Johan Cruyff und Arie Haan mit 3:1. Anschließend berichtet Ajax-Experte Otto Stubbe in der Bild: „Ich sah die Holländer nie so hochklassig, so zwingend spielen, wie in der ersten Halbzeit des Super-Europa-Cup-Finales in Glasgow gegen die Rangers. Wehrlos standen die Schotten dem stetigen Positionswechsel der Holländer gegenüber. Da waren die Angriffsspitzen Keizer oder Cruyff plötzlich in die Mitte gewechselt, und auf dem Flügel attackierten die Außenverteidiger Suurbier und Krol. Immer alles in Bewegung bei Ajax. Bayern München ist zu beneiden und zu bedauern. Zu beneiden deshalb, weil der Welt-Cup-Sieger dem Deutschen Meister das Münchener Olympia-Stadion füllen wird. Zu bedauern deshalb, weil Ajax eine Nummer zu groß ist für die Bayern.“

Zum Rückspiel am 24. Januar in Amsterdam kommen nur gut 26.000 in das kleine Ajax-Stadion De Meer. In der vom Westdeutschen Hans-Joachim Weyland geleiteten Partie gehen die Schotten zweimal in Führung, aber Arie Haan und Gerrie Mühren können jeweils ausgleichen. In der 79. Minute gelingt Cruyff die 3:2-Führung für Ajax, bei der es bis zum Schlusspfiff bleibt.

Eine Saison später übernimmt die UEFA offiziell die Verantwortung für den Supercup und erkennt Ajax als ersten Sieger nachträglich an.

27. Januar 1973

Die USA, Nordvietnam und Südvietnam unterzeichnen den Vertrag von Paris. Mit diesem werden jegliche Kriegshandlungen in Vietnam eingestellt und der Rückzug der US-Truppen eingeleitet. Damit erfüllt sich Paul Breitners „größter Wunsch“: „Eine Niederlage der Amerikaner in Vietnam.“

Nur wenige Monate nach der Geiselnahme während der Olympischen Spiele in München plant die palästinensische Terrororganisation „Schwarzer September“ einen Überfall auf ein Transitlager jüdischer Auswanderer in Schönau (Österreich). Die Operation scheitert jedoch bereits im Stadium der Vorbereitung. Zwei Terror-Teams, die Anfang 1973 getrennt nach Wien reisen, werden verhaftet.

Österreich wird als Ziel auserkoren, weil es als Transitland für die jüdische Emigration aus dem Ostblock nach Israel fungiert. 1968 hatte die systematische Auswanderung sowjetischer Juden begonnen. Zuvor hatte die UdSSR die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen.

Die Terroristen wollen mit ihrer Aktion „die Befreiung der in Israel inhaftierten Palästinenser erwirken“ und der Weltöffentlichkeit die Mitwirkung der Sowjets „bei der zionistischen Immigration aufzeigen“. Man habe ein österreichisches Ziel gewählt, weil das Land „sowjetischen Juden die Einwanderung nach Israel erleichtert“.

Wie beim Attentat von München 1972 kann sich der „Schwarze September“ auch in Österreich auf die Unterstützung einheimischer Rechtsextremisten verlassen. So wirken zwei Mitglieder der vom Österreicher Norbert Burger gegründeten Nationaldemokratischen Partei (NDP) bei der Vorbereitung der Aktion mit.

3. Februar 1973

Die Zuschauer der ZDF-Sendung „Das aktuelle Sportstudio“ erleben am Abend Revolutionäres: Zum ersten Mal führt dort mit Carmen Thomas eine Frau durch die Sendung. Als sie zum zweiten Mal das „Sportstudio“ moderiert, rät Carmen Thomas den Zuschauern: „Sie brauchen heute nicht zu gucken, weil eine große deutsche Zeitung schon weiß, wie ich heute sein werde.“ Gemeint ist die Bild am Sonntag, die schon vor Ausstrahlung der Sendung zu kaufen ist und einen Verriss der Moderation enthält.

Geschichte wird gemacht, es geht voran. Dies bekommt auch die Frankfurter Diskothek Number One zu spüren, als sie zur „Wahl der Miss-Teenager-Beine“ einlädt. Mit Schweinshaxen bewaffnet stürmen rund 50 Schülerinnen, Auszubildende, Studentinnen den Schuppen. Motto der Aktion: „Ihr verkauft hier unser Knie wie der Bauer ein Stück Vieh!“

14. Februar 1973

Die deutsche Nationalmannschaft verliert in München gegen Argentinien mit 2:3. Die Schön-Elf liegt sogar 0:3 zurück, ehe Heynckes und Cullmann verkürzen können. Dass Gerd Müller, Hoeneß und Netzer fehlen, ist spürbar, aber nicht der hauptsächliche Grund für die Pleite. Die Mannschaft agiert ohne Kraft, ohne Ideen, urteilt Karl-Heinz Heimann im Kicker. Auch von Überheblichkeit ist die Rede. Das 2:3 von München ist die erste Heimniederlage einer deutschen Nationalelf seit acht Jahren.

19. Februar 1973

Die neue Ostpolitik Willy Brandts befeuert auch einen längeren Disput zwischen deutschen und polnischen Wissenschaftlern über die Nationalität von Kopernikus. Jetzt wird festgelegt, dass der Astronom ab sofort als Pole anzusehen ist.

28. Februar 1973

Die Kommerzialisierung der Fußball-Bundesliga erhält ein Gesicht: Eintracht Braunschweig stellt als erster deutscher Profiverein die Trikots der Spieler für werbende Zwecke zur Verfügung. Sie werben für den vom Vereinsmäzen Günter Mast produzierten Kräuterlikör Jägermeister. Hierfür wird auch das Vereinslogo geändert. Aus dem Löwen im Wappen wird dem Jägermeister-Symbol ein täuschend ähnlicher Hirschkopf mit den Initialen E und B für Eintracht Braunschweig. Der DFB wird überrumpelt und kann nur noch durchsetzen, dass das Logo nicht wie beantragt 18, sondern nur 14 Zentimeter im Durchmesser betragen darf. Ende 1973 wird der DFB die Trikotwerbung bis in die unterste Amateurklasse freigeben, woraufhin der FC Bayern mit adidas, der Hamburger SV mit Campari, Fortuna Düsseldorf mit allkauf und der MSV Duisburg mit Brian Scott Trikotwerbeverträge abschließen.

1. März 1973

Die englische Band Pink Floyd veröffentlicht ihr achtes Album. Titel: „The Dark Side of the Moon“. Im Vergleich zu den bisherigen Alben der Gruppe wirkt die Neuerscheinung ein wenig kommerziell. Die von Roger Waters geschriebenen Texte widmen sich dem Druck des Alltagslebens sowie den Reaktionen auf diesen: Entfremdung, Verdrängung und Schizophrenie. Dabei wird Waters wohl vom Schicksal des Gründungsmitglieds Syd Barrett animiert. Der kreative Kopf der Band musste sie 1968 aufgrund psychischer Probleme verlassen. Außerdem geht es um den Verlust von Utopien, anonyme Machtstrukturen, die Macht des Geldes und den Wahnsinn des Krieges. Musikalisch beeindrucken vor allem das Gitarrenspiel von David Gilmour sowie die Inputs zweier Gäste: der Sängerin Clare Torry und des Saxophonisten Dick Parry.

Das Konzeptalbum avanciert zu einem Meilenstein der Rockund Popgeschichte und zu einem der weltweit meistverkauften Musikalben. „The Dark Side of the Moon“ hält sich über 700 Wochen in den Billboard Charts. Bis heute wurden über 50 Millionen Exemplare von dem Album verkauft. In der Bundesrepublik muss sich Pink Floyd allerdings Wim Thoelke und James Last geschlagen geben. Deren Alben „Wim Thoelke präsentiert 3x9“ bzw. „Non Stop Dancing“ sind 1973 noch erfolgreicher.

Bemerkenswert ist auch das von Storm Thorgerson gestaltete Cover der Platte. Es fehlen ein Bild und der Name der Band. Stattdessen zeigt das Cover vor schwarzem Hintergrund die Brechung eines zunächst weißen Lichtstrahls, der sich dann an einem Prisma in die Spektralfarben auffächert.

7. März 1973

Im Viertelfinale des Europapokals der Landesmeister empfängt Titelverteidiger Ajax Amsterdam Bundesliga-Tabellenführer Bayern München. Eine Halbzeit lang gelingt es den Gästen im Amsterdamer Olympiastadion, Cruyff & Co. durch eine geschickte Drosselung des Tempos in Schach zu halten. Zur Pause steht es 0:0. Bayern-Coach Udo Lattek hat als einer der Ersten erkannt, dass Johan Cruyff kein klassischer Mittelstürmer ist, sondern eher ein Mittelfeldspieler. So stellt Lattek nicht seinen Vorstopper Georg „Katsche“ Schwarzenbeck gegen Cruyff, sondern den Mittelfeldmann Franz „Bulle“ Roth. Dadurch wird das Ajax-Spiel in seiner Entfaltung zunächst erfolgreich gebremst.

Aber nach dem Wiederanpfiff werden die Bayern von Ajax niedergemäht – mit Tempofußball und Pressing. Der Korrespondent der in Zürich erscheinenden Zeitung Sport berichtet, Ajax habe „mit zehn Mann“ gestürmt. Ajax gewinnt vor 65.000 Zuschauern mit 4:0, die Tore erzielen zweimal Arie Haan (53., 64.), Gerrie Mühren (66.) und Johan Cruyff (88.). Es ist nicht die erste Klatsche, die die Bayern gegen Ajax kassieren. 1972 wurden die Münchner schon einmal deklassiert – in einem Freundschaftsspiel in München behielten Cruyff und Co. mit 5:0 die Oberhand.

Nach dem Spiel im Olympiastadion, wo Ajax viele seiner europäischen Spiele austrägt, tönt „König“ Johan Cruyff: „Wir sind nicht bis an unsere absolute Leistungsgrenze gegangen. Wir können noch stärker spielen.“ Lattek hat offenbar geglaubt, Cruyff und Co. hätten nur Luft und Kraft für 60 Minuten. Aber Ajax kann 90 Minuten lang auf Tempo spielen.

Ein frustrierter Sepp Maier, der einen rabenschwarzen Abend erwischt, schmeißt seine Torwart-Utensilien aus dem Fenster des Amsterdamer Hotels in die darunterliegende Gracht. Maier: „Die Holländer hatten besonders glatte Bälle. Deshalb habe ich die Innenseite meiner Handschuhe mit Schaumstoff verklebt. Es hat aber nicht geholfen, weil es an jenem Abend geregnet hat.“

Bester Mann im Ajax-Team ist ein großer blonder Deutscher: Libero Horst Blankenburg. Die Karriere des aus Heidenheim an der Brenz stammenden Blankenburg gehört wohl zu den bemerkenswertesten der deutschen Fußballgeschichte. In der Saison 1970/71 spielte er zunächst mit dem TSV 1860 München in der Regionalliga Süd. Dort wurde er von Bobby Harms angesprochen, Fitness-, Nachwuchs- und Co-Trainer von Ajax. Blankenburg erfuhr, dass die Niederländer nach einem Ersatz für Libero Velibor Vasovic Ausschau hielten. Harms: „Wir suchten keinen guten Libero oder einen mit Namen und Ruhm. Sondern einen, der zu unserer Idee des Fußballs passte.“

Am 14. Dezember 1970 wechselte Blankenburg zu Ajax. Der TSV 1860 kassierte für ihn 320.000 DM, zu diesem Zeitpunkt die größte Transfereinnahme in der Geschichte des Vereins. Ein deutscher Regionalligaspieler, der bis dahin in der Bundesliga auf lediglich 31 Einsätze gekommen war, wurde nun fester Bestandteil eines Ensembles, das die gesamte Fußballwelt in Erstaunen bis Begeisterung versetzte und als eines der besten in die Geschichte des Europapokals einging.

Der spielstarke Libero Blankenburg stand gegen stärkere Gegner hinter der Abwehr, gegen die schwächeren davor. Dem Journalisten Roger Repplinger erzählt er 2008: „Wir standen fünf Meter hinter der Mittellinie und stellten den Gegner abseits. Die Mannschaft war so stark, das hat so einen Spaß gemacht. Auch die offensive Spielweise. Großartig.“

Für Hennes Weisweiler kommt Blankenburg seiner Idealvorstellung vom Libero am nächsten, für Bobby Charlton ist er neben Johan Cruyff „der andere Weltklassespieler“ im großen Ajax-Team der Jahre 1970 bis 1973. Cruyff hält ihn für besser als Beckenbauer. Die Wertschätzung ist gegenseitig. Blankenburg über seinen berühmten Mitspieler: „Es gab viele Titel und große Momente. Der Größte aber war, als ich Cruyff das erste Mal Fußball spielen sah. Er konnte alles. Ich habe sie alle gesehen: Beckenbauer, Eusébio, Charlton, Best, Mazzola, Müller, Rivera. Keiner kommt an Johan heran.“

In Amsterdam freundete sich Blankenburg mit dem jüdischen Ajax-Rechtsaußen Sjaak Swart an. Ajax ist der Lieblingsklub der Amsterdamer Juden. Trotz seiner deutschen Herkunft hat Blankenburg keine Probleme in der Ajax-Kabine und mit den Fans des Klubs. Vielleicht auch, weil er mit etwaigen Vorbehalten offensiv umgeht: „Ich hatte eine große Klappe, konnte ja nichts für den Krieg und sagte den Jungs: ‚Hallo, hier ist der Deutsche, den ihr nicht abkönnt.‘“ Die Eltern eines Ehepaares, das in Blankenburgs Abwesenheit Haus und Kinder hütet, haben im KZ gesessen.

Aufgrund seines starken Auftritts gegen die Bayern wird Blankenburg in die Europaauswahl berufen – ohne ein einziges Länderspiel für die DFB-Elf bestritten zu haben. Aber Bundestrainer Helmut Schön signalisiert ihm, er solle an die WM 1974 im eigenen Land denken.

Die preiswert erworbene Ajax-Mannschaft ist von Jahr zu Jahr teurer geworden und übersteigt längst die finanziellen Möglichkeiten des Klubs. In der Saison 1972/73 wird ihr Wert mit elf Millionen Gulden beziffert. Absoluter Großverdiener ist Johan Cruyff mit einem Vertrag, der ihm für sieben Jahre ein Jahresgehalt von umgerechnet einer Million DM garantiert. Der Spiegel berichtet, dass er „durch Werbung mindestens noch einmal so viel“ verdiene, allein ein Vertrag mit Puma würde jährlich 250.000 DM auf sein Konto spülen. Und Cruyff wirbt nicht nur für Puma, sondern auch für Autos der Marke Citroën, Elektrogeräte von Philips, Milch und Herrenanzüge. Außerdem unterhält der Star eine gut dotierte Kolumne im De Telegraaf und streicht pro Interview einige tausend Gulden ein.

Aber auch die anderen Spieler verdienen nicht schlecht. Für den Gewinn des Europapokals schüttet Ajax eine Prämie von 25.000 DM pro Spieler aus. Spieler mit einem niedrigen Festgehalt können ihren Verdienst in einer erfolgreichen Saison auf 100.000 DM verdoppeln.

Da die Meisterschaftsspiele im kleinen Stadion De Meer nicht genügend Geld abwerfen, „verkauft“ van Praag das Team ins Ausland zu 15 bis 20 Freundschaftsspielen pro Saison. So werden zwei Auftritte in Griechenland mit einer Million DM vergütet.

Den FC Bayern plagen ähnliche Probleme. In der Bundesliga benötigt der Klub einen Schnitt von 35.000 Zuschauern zum Überleben. Als gegen Gegner wie Rot-Weiß Oberhausen und Eintracht Braunschweig eine Unterdeckung droht, bietet Bayern-Boss Wilhelm Neudecker den Fans ein Koppelgeschäft an: Ein Ticket gegen diese unattraktiven Gegner gilt als Anrechtsschein für das Europapokalspiel gegen Ajax. Neudecker denkt über eine Europaliga nach: „Nur wenn wir ständig gegen Mannschaften wie Ajax spielen, werden wir selbst Weltklasse sein. Wir brauchen auch im Fußball die EWG, und das kann nur die Europaliga sein.“

14. März 1973

Im internationalen Konzert der Staaten ist die Stimme der DDR immer deutlicher zu vernehmen. Viele Regierungen nehmen mit der Honecker-Administration diplomatische Beziehungen auf. Nur mit dem West-Nachbarn klappt es nicht reibungslos. In Dresden treffen sich der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR (DTSB) und der Deutsche Sportbund (DSB) der BRD. Gemeinsam wollen sie erörtern, wie die gegenseitigen Beziehungen verbessert werden können. Die Vertreter beider Verbände können sich aber nicht über den Status von West-Berlin einigen. Die Unterredung wird abgebrochen.

21. März 1973

Die Bayern empfangen Ajax zum Rückspiel im Europapokal der Landesmeister. 77.000 Zuschauer pilgern ins Münchner Olympiastadion. Der Journalist Ludger Schulze von der Süddeutschen Zeitung spricht vom „teuersten Privatspiel der Welt“. Denn 1,7 Millionen DM Einnahme bei einem Spiel, „bei dem der Sieger quasi schon feststand, das hatte es in der Tat noch nicht gegeben“.

Ohne Cruyff geht Ajax in München zwar bereits in der 8. Minute durch Piet Keizer in Führung, vorausgegangen ist ein heftiger Lapsus von Paul Breitner, aber Gerd Müller schießt noch vor der Pause (30., 40.) eine 2:1-Führung heraus, bei der es bis zum Schlusspfiff bleibt. Neudecker ist so gerührt, dass er seinen Angestellten trotz des Ausscheidens im Viertelfinale eine 5.000-DM-Prämie zahlt. Es ist Bayerns erster und einziger Sieg über das große Ajax um Johan Cruyff.

In Sachen Fußball hinkt Essen, die größte Stadt im fußballverrückten Ruhrgebiet, der Erstklassigkeit hinterher. Doch nun ist Rot-Weiss in der zweitklassigen Regionalliga souverän auf Bundesliga-Kurs. Für den Lokalrivalen Schwarz-Weiß sieht es in der Abstiegszone der gleichen Liga weniger gut aus.

Aber nicht nur die Essener Vereine sorgen für Gesprächsstoff. Die US-Sängerin Joan Baez ist auf Europa-Tour. In der Essener Gruga-Halle gibt sie ihr einziges Konzert in der Bundesrepublik. Der Kampf gegen Rassismus und der Protest gegen den in diesen Tagen mit einer US-Niederlage zu Ende gehenden Vietnamkrieg stehen im Zentrum ihrer Auftritte.

März 1973

Chile trennt sich vom deutschen Nationaltrainer Rudi Gutendorf. Der Verband betrachtet die Qualifikation für die WM als gefährdet. Auch Gutendorfs defensive Spielweise steht in der Kritik. Dass sich Gutendorf von seiner Frau Ute scheiden lässt, kommt in dem katholischen Land ebenfalls nicht gut an.

Die innenpolitische Situation im vom Arzt und demokratischen Sozialisten Salvador Allende regierten Land ist angespannt. Gutendorf schreibt später in seiner Autobiografie: „Die alltägliche Wirklichkeit in Chile: Überfälle, Entführungen, Straßenkämpfe, tödlicher Hass. Die chilenische Rechte kämpft mit Unterstützung der CIA gegen die sozialistische Regierung von Präsident Allende. (…) Sie motivieren die Lastwagenfahrer und kleinen Fuhrunternehmer zum Streik. Wenn in diesem Land nur 50 Lastwagen ausfallen, beginnt das Chaos. (…) Der Präsident steht unter Beschuss von allen Seiten. Der radikalen Linken gehen seine Reformen nicht weit genug, sie bombt auf eigene Faust. Für die Rechten ist er der leibhaftige Teufel. Niemand weiß, auf welcher Seite die Militärs stehen. Sie werden den Ausschlag geben.“

28. März 1973

Die deutsche Nationalmannschaft besiegt das Team der Tschechoslowakei mit 3:0. Es treffen Gerd Müller (2) und der Schalker Erwin Kremers. Anfangs gibt es Pfiffe gegen die Elf, am Ende sind die Zuschauer in Düsseldorf zufrieden, auch weil das Mittelfeld um Overath überzeugt.

Das Bundeskabinett beschließt eine Reform des Ehe- und Familienrechts. Bei einer Scheidung soll künftig das übliche Schuldprinzip durch das sogenannte Zerrüttungsprinzip ersetzt werden. (Für Trainerentlassungen in der Bundesliga gilt diese Gesetzesreform aber nicht.)

29. März 1973

Der letzte US-Soldat verlässt Südvietnam. Seit dem 8. Juni 1956 wurden 58.220 US-Soldaten in Vietnam getötet. Über die Hälfte davon waren 21 Jahre oder jünger, 18 hatten noch nicht ihr 18. Lebensjahr vollendet.

Mit dem Abzug der USA verschlechtert sich die militärische und wirtschaftliche Lage für das Land. Der Krieg mit dem Norden geht weiter, wird auf südvietnamesischer Seite noch über 76.000 Soldaten das Leben kosten und endet erst 1975 mit der vollständigen Besetzung des Landes durch Nordvietnam.

31. März 1973

Schalke 04 schwebt in höchster Abstiegsnot. Die Fans leiden und suchen neben den Schuldigen für die Misere nach Mitteln, um den Abstieg noch zu verhindern. Unter der Überschrift „Uns kann nur noch Mao retten!“ zitiert der Journalist Jupp Suttner im Kicker den Ratschlag eines Fans aus der Glückauf-Kampfbahn. Seine Strategie zur Verhinderung des Absturzes: „Kämpfen – verlieren, wieder kämpfen – wieder verlieren, nochmals kämpfen – nochmals verlieren … bis zum Sieg!“ Soll von Mao stammen, behauptet der blau-weiße Stratege. Replik eines mit ihm befreundeten Schalke-Fans: „Aber dann spielen wir nächstes Jahr mit gelben Trikots!“ Von Mao lernen, heißt nicht absteigen. In dieser Saison hält Schalke die Klasse.

2. April 1973

14 Monate vor dem Anpfiff der zehnten Fußball-Weltmeisterschaft beginnt der Kartenvorverkauf in Deutschland. Ohne die Gegner zu kennen, sind sofort alle Spiele mit deutscher Beteiligung, das Spiel um Platz drei und das Finale ausverkauft.

11. April 1973

Im Halbfinale des Europapokals empfängt Ajax Rekordsieger Real Madrid, von dessen alter Größe aber nicht mehr viel übriggeblieben ist. In Amsterdam gewinnt Ajax mit 2:1, mit Barry Hulshoff und Ruud Krol treffen zwei Abwehrspieler, wobei das Ergebnis die Überlegenheit von Cruyff & Co. nicht widerspiegelt.

Am 25. April, dem Tag des Rückspiels in Madrid, wird Cruyff 26 Jahre alt. Das Geburtstagskind präsentiert sich in blendender Verfassung. Ajax ist so souverän und überlegen, dass sich Gerrie Mühren während des Spiels eine Jongliereinlage leisten kann. Ajax gewinnt mit 1:0, das Tor des Abends markiert der Jongleur. Die spanische Presse hat den Eindruck, Ajax habe „mit mehr als elf Leuten“ gespielt.

7. Mai 1973

Vier Spieltage vor Saisonende steht Bayern München als deutscher Meister fest. Bei der anschließenden spontanen Feier gelingt es einigen Pressefotografen, Nacktfotos der Spieler zu schießen. Der Münchner Boulevard veröffentlicht die besten Aufnahmen und verkauft auch Fotos an diverse Illustrierte. Helmut Schön kommentiert nach Sichtung der Zeitungsfotos: „In München ist eben alles außergewöhnlich – sogar Pornofotos der Fußballspieler. Im Augenblick sollte man alles vermeiden, was dem Fußball schaden kann.“ Auch das Bayern-Präsidium reagiert: Es verhängt ein generelles Fotografierverbot in der Kabine.

9. Mai 1973

Und wieder verliert die deutsche Nationalmannschaft ein Testspiel. In München unterliegt sie Jugoslawien mit 0:1. Die Rahmenbedingungen an diesem Abend sind schlecht: Schön muss auf alle Gladbacher Spieler verzichten, denn Vogts und Co. müssen in derselben Woche im Europapokalfinale gegen den FC Liverpool ran. Lediglich 40.000 wetterfest gekleidete Zuschauer sind im Olympiastadion, denn in der Bayern-Metropole herrscht ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür lassen würde. Auf den Flügeln der Nationalelf ist tote Hose, weder Frankfurts Jürgen Grabowski noch der mittlerweile für Kickers Offenbach spielende Siggi Held vermögen es, offensive Akzente zu setzen. Einziger Lichtblick in einer ansonsten grauen Partie ist Sepp Maier. Unterhaltsam wird es erst eine Viertelstunde vor Schluss. Schwarzenbeck unterläuft im eigenen Strafraum ein Handspiel, den fälligen Elfmeter verwandelt Bajevic sicher.

Nur sieben Minuten später entscheidet der Referee auf Elfmeter für Deutschland, doch Müller vergibt die Chance zum Ausgleich. Sekunden vor dem Abpfiff hat Müller eine weitere dicke Möglichkeit, doch Keeper Enver Maric pariert mit einem Reflex den Drehschuss des Müncheners. Dennoch gibt sich Schön anschließend nicht enttäuscht und betont, dass Jugoslawien immer noch europäischen Spitzenfußball spielt. Und: „Wir hätten ebenso gut gewinnen können, wenn wir im Abschluss stark gewesen wären.“ Hans Weitpert, u. a. Verleger der Zeitschrift Jasmin – Die Zeitschrift für das Leben zu zweit (Themen „Die sexuellen Wünsche der Deutschen“, „Prominente bekennen: Das habe ich in meiner Ehe falsch gemacht“, „Warum ich meiner 16-jährigen Tochter die Pille gebe“), Honorarkonsul von Togo, Präsident des VfB Stuttgart und wegen seiner gefärbten Haare von den Fans „Lila Hans“ oder „Blaupinne“ genannt, sieht eine andere Ursache für die Niederlage: „Unser Mittelfeld hat es nicht geschafft. Damit erklärt sich alles andere.“ Rada Čajkovski, Jugoslawin und Ehefrau von Ex-Bayern-Trainer Tschick Čajkovski, kommt zu einem ganz anderen Schluss: „Hochverdient für unsere Mannschaft. Der Schiedsrichter hat Jugoslawien noch zwei Elfmeter vorenthalten.“

11. Mai 1973

In den Niederlanden wird der Sozialdemokrat Joop den Uyl Ministerpräsident. Den Uyl ist der erste sozialdemokratische Ministerpräsident seit 1958. Seither trugen die drei konfessionellen Parteien gemeinsam mit der wirtschaftsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) die Regierungsverantwortung.

Im Laufe der Sechzigerjahre verwandelt eine vielschichtige Revolution die bis dahin provinzielle und rückständige Nachkriegs-Niederlande in eines der progressivsten Länder Europas. Die konfessionellen Parteien verlieren ihre Machtstellung, neue Parteien wie die sozialliberale und radikaldemokratische D’66 entstehen, und die alten Eliten werden mit einer Kultur der Individualisierung, Emanzipation und Demokratisierung konfrontiert.

Friso Wielenga, von 1999 bis 2021 Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster: „In den 1960er-Jahren entstand allmählich ein anderer Typus Bürger. Individualisierung und Säkularisierung bereiteten der übersichtlichen politisch-gesellschaftlichen Einteilung ein Ende und unterminierten die versäulten* Macht- und Verhaltensmuster. Der mündig werdende Bürger suchte selbst nach Antworten und ließ sich immer weniger von Äußerungen der kirchlichen und politischen Autoritäten bevormunden. (…) Die stabile, versäulte und seit 1918 fast unveränderte politische Kräfteverteilung brach in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zusammen.“

Das massive Zerbröckeln des konfessionellen Machtblocks bei den Wahlen zwischen 1967 und 1972 ermöglicht es der Partij van de Arbeid (PvdA), die Initiative zu ergreifen und die progressiven Ideen, die sich in den Sechzigern entwickelt haben, in die Praxis umzusetzen.

Joop den Uyl kommt dank einer „linken“ Koalition aus PvdA, den linksliberalen Democraten 66 und der Politieke Partij Radikalen (PPR, eine Linksabspaltung der Katholieke Volkspartij) an die Macht. Diese gibt sich ähnlich reformfreudig wie die Regierung von Willy Brandt in den Jahren 1969 bis 1972 in der Bundesrepublik. Das Kabinett von Joop den Uyl ist das am weitesten links stehende Kabinett der Nachkriegsgeschichte.

Friso Wielenga: „‚Die Phantasie an die Macht‘, meinten viele, als den Uyl 1973 die Regierung übernahm. (…) Viele Niederländer fanden sich wieder im ersten Kabinett nach Ende der Versäulung, das übrigens aufgrund seines christlichen Untertons, mit dem viele Reformbotschaften verkündet wurden, doch eine religiöse Atmosphäre ausstrahlte. Den Uyl, selbst aus evangelischreformiertem Hause, schloss seine erste Regierungserklärung mit einem Zitat aus der Bibel: ‚Waar visie, waar uitzicht ontbreekt, daar kommt het volk om.‘ (Wo die Vision, wo der Weitblick fehlt, da kommt das Volk um.) Nicht ideologische Betrachtungen, sondern moralische Leidenschaft und Engagement waren für den niederländischen Reformschwung charakteristisch.“ Den Uyl prägt die niederländische Politik der Siebziger wie kein anderer Politiker.

12. Mai 1973

In Hamburg schlagen die Schön-Mannen Bulgarien mit 3:0. Die Tore fallen schon in der ersten Halbzeit und innerhalb von nur 13 Minuten. Zunächst treffen Franz Beckenbauer und Bernd Cullmann, anschließend unterläuft dem Bulgaren Stojan Jordanow ein Eigentor.

16. Mai 1973

In der europäischen Qualifikationsgruppe 9 besiegt Vize-Europameister UdSSR Frankreich mit 2:0 und wird vor der Republik Irland Sieger in einer Dreier-Gruppe. Um sich für die WM zu qualifizieren, müssen die Sowjets aber noch zwei Begegnungen gegen Chile bestreiten. Die südamerikanische Gruppe 3 besteht lediglich aus den Mannschaften Perus und Chiles, weshalb die FIFA beschließt, den Sieger dieser Gruppe in Hin- und Rückspielen gegen den Sieger der Europagruppe 9 antreten zu lassen.

Die interkontinentalen Kräftemessen zwischen der Sowjetunion und Chile werden für den 26. September 1973 in Moskau und den 21. November 1973 in Santiago de Chile angesetzt. Die UdSSR gilt als Favorit.

18. Mai 1973

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Leonid Breschnew kommt zum Staatsbesuch nach Deutschland. Als Gastgeschenk erhält der Autonarr einen neuen Mercedes, dem er allerdings bei seiner ersten Fahrt auf dem Bonner Petersberg ein neues, nicht so schönes Äußeres verleiht. Er fährt ihn zu Schrott.

10. Mai 1973

In den Finalspielen des UEFA-Pokals setzt sich der FC Liverpool gegen Borussia Mönchengladbach durch. Die Weisweiler-Schützlinge gewinnen das Rückspiel am 23. Mai auf dem Bökelberg mit 2:0, aufgrund der 0:3-Pleite im Hinspiel an der Liverpooler Anfield Road fehlt den Gladbachern aber ein Tor, um zumindest die Verlängerung zu erreichen.

Hennes Weisweiler und sein Liverpooler Kollege Bill Shankly pokern bis kurz vor dem Anpfiff mit der Mannschaftsaufstellung. So kommt bei den „Reds“ der Waliser John Toshack für den kleinwüchsigen Schotten und studierten Mathematiker Brian Hall zum Einsatz. Auf Seiten der Borussia spielt Kapitän Berti Vogts auf der Libero-Position. 11:2 Ecken stehen am Ende für Mönchengladbach zu Buche, es reicht trotzdem nicht.

25. Mai 1973

Der 20-jährige Mike Oldfield veröffentlicht das Album „Tubular Bells“, das als eines der stilprägendsten des sogenannten Progressive Rock/Art Rock gilt. Oldfield später über sein Meisterwerk: „Alles auf dem Album wurde beim ersten Take aufgenommen. Es hat eine schöne, spontane Energie. Und es hat Fehler. Ich hätte sie leicht herausschneiden können, aber ich habe sie drin gelassen.“

„Tubular Bells“ ist eines der erfolgreichsten Debütalben der Musikgeschichte. Weltweit werden etwa 15 bis 17 Millionen Exemplare des Albums verkauft, es hält sich über fünf Jahre in den britischen Albumcharts.

Progressive Rock und Art Rock, prominentester Vertreter dieses Genres ist die Gruppe Genesis mit ihrem Sänger Peter Gabriel, bilden die „Gegenbewegung“ zum aufsteigenden Glam Rock. Auch in Deutschland hat der Progressive Rock Konjunktur. Deutsche Vertreter dieses Genres sind u. a. Nektar, deren Gründungsmitglieder allerdings samt und sonders Engländer sind, und Novalis aus Hamburg sowie Grobschnitt aus Hagen („Solar Music“). Nektar veröffentlichen 1973 das Album „Sounds like this“, das kurzzeitig auch in den USA Bekanntheit erlangt.

31. Mai 1973

Das Finale des Europapokals der Landesmeister wird erstmals in einem sozialistischen Land ausgetragen. Im Marakana von Belgrad, dem Stadion des jugoslawischen Hauptstadtklubs Roter Stern, stehen sich Ajax und Juventus Turin gegenüber. Vom Amsterdamer Flughafen Schiphol, den die Fans längst in „Ajax Airport“ umgetauft haben, heben 125 Charter-Flugzeuge mit Ziel Belgrad ab.

In einer insgesamt faden Begegnung fällt die Entscheidung bereits nach vier Minuten, als der 21-jährige Johnny Rep eine auf den langen Pfosten gezogene Flanke von Horst Blankenburg mit dem Kopf über Dino Zoff hinweg zum 1:0 versenkt. Ajax spielt nur eine halbe Stunde schnell und angriffsfreudig, den Rest der Spielzeit agiert man ungewohnt vorsichtig und begnügt sich mit Zirkulationsfußball der langweiligeren Art.

Die knapp 91.654 Zuschauer sehen eines der schlechtesten Endspiele in der Geschichte des Europacups. Horst Blankenburg: „Wir haben zu sehr auf Sicherheit gespielt. Es tut mir leid, dass wir so viele Zuschauer enttäuscht haben.“ In Italien charakterisiert der Corriere della Sera den Höhepunkt der europäischen Fußballsaison als „Freizeitfußball, bei dem die Spieler Kamillentee getrunken haben“.

Ludger Schulze schreibt 1991 in seiner Abhandlung der Europapokalgeschichte: „Ajax Amsterdam zählte zu den wenigen Teams, die, wie Real Madrid, Benfica Lissabon oder der AC Mailand, dem europäischen Fußball wichtige Impulse gegeben haben. Der dreimalige Europacup-Gewinner hat während seiner ‚Amtszeit‘ die gesamte Konkurrenz mit erstaunlicher Mühelosigkeit aus dem Feld geschlagen.“ Mit der Zeit hätten die Niederländer „so souverän ihre Kreise“ gezogen, „dass der Cup etwas unter Ereignislosigkeit litt, kein Gegner weit und breit, der Cruyff und Kollegen ernstlich gefährden konnte“.

Aber die Ajax-Ära neigt sich ihrem Ende zu. In der Mannschaft stimmt es nicht mehr. Johan Cruyff verhandelt mit spanischen Klubs, Johnny Rep trägt sich ebenfalls mit Abwanderungsgedanken. Wie auch Johan Neeskens und Ruud Krol, die vor Gericht eine vorzeitige Auflösung ihrer Verträge erwirken wollen.

Bei den Italienern kommt ab der 49. Minute der fast 34-jährige Augsburger Helmut Haller zum Einsatz, der 1957 vom BC Augsburg zum FC Bologna gewechselt war und von dort 1968 zu „Juve“. Bei der WM 1966 ist Haller mit sechs Treffern der erfolgreichste Torschütze der DFB-Elf gewesen. Im Sommer 1973 wird Augsburgs verlorener Sohn heimkehren. Er schließt sich dem Fusionsklub FC Augsburg an und löst in seiner Heimatstadt einen riesigen Zuschauerboom aus.

Nach dem Finale zieht Horst Blankenburg mit einigen Journalisten und Helmut Haller ins Casino. Dort wird kräftig Bier gepichelt. Als Blankenburg gefragt wird, wie es um seine Ambitionen in Sachen DFB-Elf bestellt ist, antwortet er: „Schön kann mich am Arsch lecken.“ Ein Journalist hat ihm berichtet, Helmut Schön habe gesagt: „Der Blankenburg ist mir noch nie aufgefallen. Ich wüsste nicht, warum ich ihn aufstellen sollte.“

Obwohl Blankenburg mit Ajax dreimal den europäischen Landesmeistercup und einmal den Weltpokal für Vereinsmannschaften gewinnt, reicht es nicht einmal für ein Freundschaftsspiel im Dress des DFB.

Geschuldet ist das nicht nur seiner großen Klappe. Die Position des Liberos wird in der DFB-Elf bereits seit Jahren von Beckenbauer bekleidet. Deutsche Spieler bei ausländischen Vereinen stehen nicht im Fokus des Bundestrainers. Es sei denn, sie sind bereits als Nationalspieler ins Ausland – genauer: nach Italien – gewechselt.

Die Fluglotsen streiken und avancieren damit zur meistgehassten Berufsgruppe in der Bundesrepublik. Der Streik dauert fast sechs Monate. Zehntausende Flüge müssen gestrichen werden, Millionen Bürger ihre Reisepläne ändern oder zumindest Verspätungen in Kauf nehmen. Der Streik ist einer der kostspieligsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik.

6. Juni 1973

In der europäischen Qualifikationsgruppe 5 schlägt Polen England mit 2:0. Vor 100.000 Zuschauern im schlesischen Chorzów treffen Robert Gadocha (6.) und Włodzimierz Lubánski (47.) – dank zweier Patzer von Englands Kapitän und Fußballweltmeister Bobby Moore. Alan Ball, ein weiterer Weltmeister von 1966, fliegt vom Platz. Die Polen überraschen die Engländer mit hohem Pressing und Aggressivität.

Bei Olympia 1972 holte Polen Gold. Ein Jahr zuvor hatte Kazimierz Górski als Cheftrainer die Mannschaft übernommen. Zuvor hatte der Sportwissenschaftler und ehemalige Spieler des Armeeklubs Legia Warschau u. a. Jugendmannschaften und die U23 des polnischen Verbands trainiert. Górski hat den Kader der A-Nationalelf verjüngt. Zu seinen Entdeckungen als Trainer des Nachwuchses gehören Spieler wie der Mittelfeldregisseur Kazimierz Deyna, die Stürmer Robert Gadocha, Grzegorz Lato und Andrzej Szarmach sowie Keeper Jan Tomaszewski.

7. Juni 1973

Erster Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Israel. Willy Brandt kommt auf Einladung von Premierministerin Golda Meir. Dass die Militärkapelle die deutsche Nationalhymne spielt, als Willy Brandt das Flugzeug verlässt, können die Israelis im Radio und Fernsehen nicht hören: Aus Rücksicht auf die Überlebenden der Shoah schalten die Sender kurz den Ton ab. Premierministerin Meir begrüßt Brandt mit den Worten: „Herr Bundeskanzler, Sie werden in Israel mit der Wertschätzung empfangen, die jemandem gebührt, der in der dunkelsten Zeit für die Menschheit und insbesondere für das jüdische Volk an der Seite derer gestanden hat, die gegen die Nazis kämpften.“

Der Besuch findet in einer höchst angespannten Situation statt. Das Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen liegt erst neun Monate zurück. Die arabischen Nachbarstaaten drohen Israel mit Krieg. Die Politik der Ausgewogenheit der sozial-liberalen Regierung in Bonn im Umgang mit dem Nahost-Konflikt wird seitens der israelischen Regierung kritisch betrachtet. Auch die erfolgreiche Freipressung der überlebenden palästinensischen Terroristen kommt nicht gut an. Das Verhältnis zwischen Bonn und Jerusalem ist desolat. Während seiner fünftägigen Reise besucht Brandt auch die nationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, für ihn eine der entscheidenden Erfahrungen seines politischen Lebens, wie er nach der Rückkehr selbst sagt.

Zu Brandts Reisegesellschaft gehört auch der Schriftsteller Günter Grass, der schon damals in Israel nicht den besten Ruf genießt. Zu Recht. 1967 forderte der ehemalige SS-Angehörige israelische Studenten auf, ihre emotionale Betrachtung der Shoah doch besser durch „Rationalität“ zu ersetzen. Die Vernichtung der Juden sei kein singuläres Ereignis, sondern in den Kontext anderer Massenverbrechen zu setzen.

Der Kuppelei-Paragraf 180 Strafgesetzbuch (StGB) wird aufgehoben. Er stellt die Förderung und Tolerierung außerehelichen Geschlechtsverkehrs unter Strafe. Vermietet jemand an ein nicht verheiratetes Paar eine Wohnung, kann diese Person wegen Verstoßes gegen den § 180 bestraft werden. Auch der Paragraf 175 StGB landet auf dem Misthaufen der Geschichte. Er stellt homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen unter Strafe. Die CDU, deren neuer Chef Helmut Kohl ist, und auch die CSU stimmen der Abschaffung dieser Paragrafen nicht zu. Im März 1970 hatte CSU-Boss Franz-Josef Strauß in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung erklärt, er wolle „lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“ sein.

10. Juni 1973

Die zehnte Bundesliga-Saison ist beendet. Die vierte Meisterschaft der Bayern steht längst fest, elf Punkte beträgt am Ende der Vorsprung auf den 1. FC Köln. Absteigen müssen Eintracht Braunschweig und Rot-Weiß Oberhausen. Torschützenkönig ist Gerd Müller mit 36 Treffern.

15. Juni 1973