2,8 Tage - Angelika B. Klein - E-Book

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Angelika B. Klein

4,6

Beschreibung

Sie sah immer die Zukunft - sie sah immer den Tod! Als Kind leidet Noreen Richter unter ihren Zukunftsvisionen, welche regelmäßig mit dem Tod eines geliebten Menschen oder Tieres einhergehen. Dann hören die Visionen plötzlich auf. Erst Jahre später wird sie erneut in den Strudel einer beunruhigenden Vision gezogen. Nachdem sie mithilfe ihrer Gabe eine Kindesentführung aufklären konnte, wird die Münchner Polizei auf sie aufmerksam und bittet sie um Mitwirkung bei der Fahndung nach einem Serienmörder. Ihre anfängliche Skepsis über das Gelingen wird durch die ersten Visionen schnell widerlegt. Als Noreen endlich entdeckt, was ihr die Bilder sagen wollen, ist es bereits zu spät ...

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Leidenschaft, die dir Leiden schafft

Sehnsucht, die du sehnlichst suchst

Schuld, die dich schuldig macht

Im Schatten des Unrechts

Im Stillen

Autorin

Angelika B. Klein wurde 1969 geboren und lebt mit ihrem Ehemann sowie den beiden Kindern in München. Sie schreibt spannende Liebesromane für Jugendliche und Erwachsene sowie Thriller.

Alle Handlungen und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Sollten sich einzelne Namen oder Örtlichkeiten auf reale Personen beziehen, so sind diese rein zufällig.

www.facebook.com/AngelikaB.Klein

instagram: AngelikaB.Klein

Seit dreißig Jahren versuche ich nachzuweisen, dass es keine Kriminellen gibt, sondern normale Menschen, die kriminell werden.

Zitat: Georges Simenon

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Epilog

PROLOG

ZWEI JAHRE ZUVOR

Gutgelaunt tritt Anna durch die Tür des Gemeindezentrums hinaus in die laue Frühlingsnacht. Ihre blonde Mähne hat sie sich zu einem Pferdeschwanz gebunden, die kleine Sporttasche hängt über ihrer Schulter.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, bietet Julia freundlich an.

„Danke, aber mein Mann holt mich ab“, erwidert Anna lächelnd. Nachdem sie sich von ihrer langjährigen Freundin mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet hat, schaut sie erwartungsvoll die verlassene Straße hinunter. Wo bleibt er nur? Anna weiß, dass ihr Ehemann äußerst zuverlässig ist, wenn es darum geht, sie spätabends in Obersüßbach abzuholen. Einmal in der Woche trifft sie sich dort mit Julia zum Yoga. Anfangs war er dagegen, dass Anna in den elf Kilometer entfernten Ort fährt, um dort eine Stunde lang unnütze Verrenkungen zu veranstalten. Seinem Argument, dass es auch in Attenhofen einen Yogakurs gäbe, hielt Anna entgegen, dass sie den abendlichen Kurs mit einem routinemäßigen Treffen mit Julia verbinde. Bereits am frühen Abend treffen sich die Freundinnen zum Essen und verbringen die anschließende Zeit bis zum Kurs bei Julia zu Hause, die am Rand von Obersüßbach wohnt.

Ungeduldig blickt Anna auf ihre Armbanduhr. Zwanzig Minuten nach zehn! Vielleicht ist ihm etwas dazwischen gekommen? Sie öffnet ihre kleine Sporttasche und sucht nach ihrem Handy. Schnell bemerkt sie, dass es sich nicht zwischen ihren verschwitzten Klamotten befindet. Mist! Ich habe es zu Hause vergessen! Von ihrer eigenen Vergesslichkeit genervt, streicht sie sich unbewusst zärtlich über den Bauch. Obwohl ihre Schwangerschaft noch nicht sichtbar ist, redet sie gelegentlich mit ihrem Kind. Sie weiß, dass es albern erscheint, mit einem vier Monate alten Fötus zu sprechen, aber sie fühlt sich oft sehr einsam, wenn ihr Mann, wie so häufig, länger in der Arbeit ist. Er ist Chemielaborant, weshalb er immer wieder an mehrtägigen Veranstaltungen teilnehmen muss. Gerade jetzt war er für zwei Tage in Hamburg, er wollte heute Abend zurückkommen. Sie erinnert sich an ihr letztes Telefonat:

„Anna, ich hole dich auf jeden Fall vom Yoga ab. Wir fahren jetzt gleich los und müssten gegen sechs Uhr abends zu Hause sein“, versprach er liebevoll.

„Ich kann auch mit Julia fahren, wenn es dir zu stressig wird“, schlug Anna vor.

„Mach dir keine Sorgen! Bis zehn schaffe ich es auf jeden Fall!“

„In Ordnung! Ich freue mich auf dich“, flüsterte Anna sehnsüchtig.

„Ich freue mich auch – auf euch! Geht es dir gut?“, wollte er fürsorglich wissen.

„Bestens! Bis später, ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch“, antwortete er leise, bevor er auflegte.

Unschlüssig schaut Anna die Straße entlang. Soll sie noch warten? Vermutlich hat er ihr eine Nachricht hinterlassen, dass er es doch nicht rechtzeitig schafft. Hätte sie nur ihr Handy nicht liegen lassen! Jetzt hat sie die Wahl zwischen dem Bus, der um diese Zeit nur noch stündlich fährt und zudem einen Umweg über Mainburg macht, wodurch sie eine halbe Ewigkeit unterwegs wäre – oder dem Taxi, welches sie in angenehmen fünfzehn Minuten nach Hause bringen würde. Die Entscheidung fällt ihr leicht – Taxi! Entschlossen läuft sie die ruhige Straße entlang. Sie erkennt bereits die Lichter der Hauptstraße, welche erst einige hundert Meter weiter kreuzt. Nur dort hat sie die Chance ein Taxi zu erwischen. Mit zügigen Schritten lässt sie das Gemeindezentrum hinter sich. Auf der rechten Seite befinden sich eine Reihe Ulmen, dahinter ein leichter Abhang mit dichtem Gebüsch. Leise hört sie das Rauschen des kleinen Baches, der sich hinter dem Geäst befindet. Als sie ihren Blick wieder nach vorne wendet, bemerkt sie weit entfernt eine Person, welche geradewegs auf sie zukommt. Augenblicklich verkrampft sich ihr Magen, die inneren Alarmglocken schrillen und ihr Kopfkino spielt ihr einen grausamen Streich. Vor ihrem inneren Auge spritzt Blut aus einer tiefen Halswunde, während eine entsetzliche Fratze sich über sie beugt. Allein ihrer Vernunft ist es zu verdanken, dass die Bilder ebenso schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Mit einem genervten Lächeln schüttelt sie die beunruhigenden Gedanken ab, während sie sich der entgegenkommenden Person stetig nähert.

Plötzlich schlägt der Mann einen Haken und läuft ins dichte Gebüsch. Verwirrt beobachtet sie ihn, bis er im Dickicht verschwindet. Vielleicht sollte ich besser die Straßenseite wechseln?

Instinktiv überquert sie die schmale Straße, um einem Überraschungsangriff seitens des Unbekannten zu entgehen. Noch bevor sie die gegenüberliegende Seite erreicht hat, hört sie eine Stimme.

„Entschuldigung? Könnten Sie mir vielleicht kurz helfen? Hier liegt ein verletzter Hund!“, ruft ihr der junge Mann zu. Abrupt bleibt sie stehen. Unschlüssig betrachtet sie den blonden Jüngling, der gerade mal Anfang zwanzig zu sein scheint. Hilfesuchend lächelt er sie an, während er auf das Gebüsch neben sich deutet.

„Ein Hund?“, fragt sie ungläubig.

„Ja! Ich habe sein Wimmern gehört. Ich würde ihn gerne zum Tierarzt bringen, aber ich kann ihn nicht alleine tragen. Er ist sehr groß!“, antwortet er zaghaft. Der Blonde kann nicht wissen, dass Anna einige Jahre beim Tierarzt gearbeitet hat. Erst vor zwei Jahren wechselte sie in den Beruf als Laborassistentin, wo sie dann ihren Mann kennenlernte. Schlagartig macht sich ihre Hilfsbereitschaft bemerkbar. Bei einem leidenden Tier kann sie nicht wegsehen. Besorgt geht sie auf den jungen Mann zu und bleibt abwartend vor ihm stehen.

„Wo ist er?“, will sie aufgeregt wissen.

„Dort hinten im Gebüsch“, antwortet der Unbekannte, während er in die entsprechende Richtung zeigt.

Konzentriert begibt sich Anna ins Gestrüpp, um dem verletzten Hund zu helfen.

Plötzlich spürt sie zwei kräftige Arme um ihren Körper. Eine kühle Hand presst sich auf ihren Mund, während sie von einem unsagbaren Gewicht nach unten gedrückt wird. In diesem Moment ist ihr klar, dass sie das Opfer eines Überfalls ist! Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören sollen!

Mit dem Rücken wird sie auf den harten Untergrund gedrückt. Während der junge Mann auf ihr sitzt, hält er ihr weiterhin den Mund zu. Mit seiner freien Hand zieht er ein Klappmesser aus seiner Jackentasche. Es schnappt auf und liegt im nächsten Moment mit der scharfen Klinge an ihrem Hals.

„Wenn du schreist, bring ich dich um!“, flüstert er drohend.

Mit großen Augen starrt Anna ihn an. In diesem Moment kommt es ihr vollkommen absurd vor, dass ein anfangs so freundlicher Junge, mit so unschuldigen hellblauen Augen, ein Gewaltverbrecher sein soll. Langsam nickt sie, um ihm zu zeigen, dass sie seinen Worten Glauben schenkt. Vorsichtig zieht er seine Hand von ihrem Mund zurück.

Im nächsten Moment hat er ein Klebeband in der Hand und wickelt es um ihre überkreuzten Arme.

Ängstlich starrt sie ihn weiterhin an.

Mit einem kräftigen Ruck reißt er ihr die Leggins von den Beinen. Anschließend öffnet er seine Hose.

„Bitte nicht! Ich bin schwanger“, bettelt sie weinerlich.

„Halt den Mund und starr mich nicht so an!“, brüllt er verunsichert. Kurz entschlossen greift er zum Klebeband und zieht einen Streifen ab. Nachdem er ihre Augen sowie ihren Mund zugeklebt hat, beginnt er, seine Lust an ihr zu befriedigen.

Anna denkt während des gesamten Gewaltaktes nur an ihr Kind. Sie betet, dass sie beide die Sache gut überstehen und verhält sich außergewöhnlich ruhig. Sie wehrt sich nicht, möchte dem Vergewaltiger keinen Anlass zu einer unüberlegten Tat geben. Sie lässt es einfach über sich ergehen.

Nachdem er fertig ist, zieht er sich von ihr zurück. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie den Täter gesehen hat. Er trägt keine Maske! Wie hoch ist die Chance, dass er dich laufen lässt? Panik steigt in ihr auf. Sie beschließt, sich nun doch zu wehren, um die Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen.

Nachdem der Blonde seine Hose wieder hochgezogen hat, greift er zu seinem Messer, um die Handfesseln der Frau zu lösen. Er hat beschlossen, sie laufen zu lassen. Falls sie wirklich schwanger ist, will er ihr nicht noch mehr Leid zufügen. Er ist kein böser Mensch! Er wollte nur endlich einmal eine Frau besitzen! Sie lieben, wie es im Volksmund heißt. Auch wenn die Art des Sexualaktes wenig mit Zuneigung und Liebe zu tun hatte.

Langsam beugt er sich über sie, will gerade mit der Klinge durch den Klebestreifen schneiden, als die Frau unter ihm plötzlich ihr Bein hebt und ihm direkt in seine empfindlichen Weichteile tritt. Reflexartig sackt er zusammen.

Sein kurzer Schrei wird von einem schmerzhaften Stöhnen abgelöst. Allerdings kommt dieses nicht aus seinem Mund, sondern von den Lippen der Frau.

Verwirrt rappelt er sich auf und blickt auf den Körper unter sich. Das Messer steckt bis zum Anschlag in ihrem Unterleib.

Kapitel 1

HEUTE

Wütend wirft Noreen Richter das Telefon auf den Tisch. Sie kann einfach nicht glauben, wie dreist ihr Ex-Freund ist. Verzweifelt setzt sie sich aufs Sofa und starrt vor sich hin. Was soll sie jetzt machen? Spontan greift sie erneut zum Telefon. Nach zwei kurzen Klingeltönen meldet sich die Angerufene.

„Hallo?“

„Lara! Ich muss unbedingt mit dir reden! Hast du Zeit?“, ruft Noreen unverblümt in den Apparat.

„Klar! Um was geht es denn?“, fragt ihre Schwester umgehend.

„Können wir das vielleicht persönlich besprechen? Ich brauche einen Ratschlag von dir. Es geht um Felix.“

„Oh! Ja, klar! Wenn mein lieber Ehemann es heute einmal pünktlich nach Hause schafft, dann könnten wir uns in einer Stunde in der Kneipe unten treffen, wenn du willst“, schlägt Lara vor.

„Meinst du das kleine Loch direkt an der Ecke?“, hakt Noreen ungläubig nach.

„Wenn du in Ruhe mit mir reden willst, ist das der beste Ort! Du kannst natürlich auch zu uns nach Hause kommen …“

„Nein! Schon gut! Ich fahre gleich los, bis später!“, unterbricht Noreen sie. Ihr ist bewusst, dass sie in Anwesenheit von Laras Kindern kein intensives Gespräch mit ihrer Schwester führen könnte.

Einige Minuten später ist sie bereits auf dem Weg zur S-Bahn, die sie nach München bringt.

Kurz bevor sie den vereinbarten Treffpunkt in Schwabing erreicht, klingelt ihr Handy. Bereits auf dem Display erkennt sie, wer der Anrufer ist.

„Lara! Sag jetzt nicht, du kannst nicht kommen!“, begrüßt sie ihre Schwester vorwurfsvoll.

„Es tut mir leid, Nori! Aber Mila ist krank geworden und …“

„Kann nicht Dennis auf sie aufpassen?“, ruft sie gekränkt in den Hörer.

„Doch, könnte er. Aber Mila möchte, dass ich hierbleibe!“, erklärt Lara bedauernd.

Genervt verdreht Noreen die Augen. Sie liebt ihre Nichte und ihren Neffen, aber manchmal nervt es sie, dass ihre große Schwester sich von der Vierjährigen und dem Zweijährigen derart beschlagnahmen lässt, dass sie kaum noch Zeit für ein eigenes Leben hat.

„Na gut! Dann komm ich eben zu dir rauf!“, schlägt sie Lara vor.

„Keine gute Idee, Nori! Mila hat vermutlich die Windpocken.“

„Ernsthaft? Du weißt, dass ich die Windpocken als Kind nicht hatte“, erklärt Noreen aufgebracht.

„Können wir das Gespräch nicht einfach verschieben? Oder du erzählst es mir doch am Telefon?“, schlägt Lara beschwichtigend vor.

„Ja, klar! Ich ruf dich morgen an. Schlaf gut!“, beendet Noreen das kurze Gespräch.

Na super! Jetzt steh ich vor einer Kneipe, mitten in Schwabing, allein mit meinen Sorgen!

Spontan entscheidet sie sich dafür, ihren Kummer hinunterzuspülen. Die Lösung meines Problems muss eben bis morgen warten. Heute betäube ich meine Verzweiflung mit Alkohol!

Entschlossen öffnet sie die schwere Holztür des Lokals und setzt sich an einen kleinen Tisch in der Ecke.

Kapitel 2

Rick Silver streckt sich in seinem Schreibtischstuhl und reibt sich müde über das Gesicht. Der neue Fall macht ihm zu schaffen. Vor zwei Tagen hat Florian Bauer seine Frau als vermisst gemeldet. Allerdings kann er nicht genau sagen, seit wann sie wirklich verschwunden ist, da er eine Woche lang auf Montage war und erst vor Kurzem zurückgekehrt ist.

„Haben Sie während Ihrer Abwesenheit mit Ihrer Frau telefoniert oder Nachrichten von ihr erhalten?“, wollte Rick verwundert wissen.

„Nein! Wir hatten Streit, bevor ich losgefahren bin. Ich dachte, sie sei noch sauer … deshalb habe ich mich auch nicht bei ihr gemeldet. Und jetzt … sie ist einfach verschwunden …“, jammerte der Ehemann.

„Kann es sein, dass Ihre Frau Sie verlassen hat? Ich meine …“, setzte Rick an.

„Nein! Auf keinen Fall! Sie ist schwanger und wir freuen uns auf das Kind. Wir hatten öfters Streit, haben uns aber immer wieder vertragen. Außerdem hat sie keine Sachen mitgenommen, nicht einmal ihren Ausweis oder das Handy“, erklärte Florian verzweifelt.

„Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass Ihre Frau entführt wurde? Ein Erpresserbrief, ein Anruf oder irgendwelche Feinde?“, hakte Rick nach.

„Nein, nichts dergleichen!“

Rick muss davon ausgehen, dass die Frau möglicherweise schon vor einer Woche verschwunden ist. Das macht für die Fahndung keinen großen Unterschied. Allerdings, sollte es sich um ein Gewaltverbrechen handeln, sinkt mit jedem Tag die Überlebenschance des Opfers.

Er hasst solche Fälle, in denen es keinen Anhaltspunkt gibt. Freundschaftlich richtet sich Rick an seinen Kollegen. „Tim, wie sieht es aus? Hast du Lust, dass wir bei Pepe ein Bier trinken gehen? Ich muss einfach abschalten.“

„Sorry, Rick, aber ich muss mich dringend mal wieder um Marie kümmern. Wir haben uns in letzter Zeit nicht gerade oft gesehen“, antwortet Tim bedauernd.

Resignierend hebt Rick seine Arme. „Schon gut! Deine Beziehung geht natürlich vor.“

Entschlossen steht er auf, schnappt sich seine Jacke und steuert auf die Tür zu. „Genieß dein Wochenende“, ruft er seinem jüngeren Kollegen noch zu, bevor er das Büro verlässt.

Eine halbe Stunde später betritt er sein Stammlokal. Eine kleine Bar in Schwabing, die zwar nur fünf Tische besitzt, dafür aber einen gutgelaunten Besitzer, der ein offenes Ohr für alle Arten von Problemen hat, die er stets diskret behandelt.

„Hallo Pepe!“, begrüßt Rick den kräftigen, großen Mann hinter dem Tresen.

„Hey, Rick!“, antwortet der Barkeeper mit einem breiten Grinsen. Ungefragt stellt er seinem Gast ein frisches, kühles Bier vor die Nase.

Nachdem Rick einen kräftigen Schluck zu sich genommen hat, lässt er seinen Blick neugierig über das Lokal schweifen. In der einen Ecke sitzen vier ältere Männer, die Karten spielen. Neben der Tür hat sich ein junges Pärchen niedergelassen, welches sich verliebt in die Augen schaut. An einem kleinen Tisch im hintersten Eck der Kneipe erkennt er eine junge Frau. Während sie ihren Kopf geneigt hält, hängen ihr die langen, braunen Haare ins Gesicht. Desinteressiert dreht er sich zurück zu dem Gastwirt.

„Wie geht’s dir, Pepe? Alles in Ordnung? Kann ich etwas für dich tun?“, will er von seinem Gegenüber wissen.

Dieser schaut ihn verwundert an. „Danke, mir geht’s gut. Aber wenn du das Bedürfnis hast, heute noch eine gute Tat zu vollbringen, solltest du dich vielleicht um die junge Frau in der Ecke dort drüben kümmern“, entgegnet Pepe mit einem Kopfnicken in Richtung des kleinen Tisches. Neugierig blickt Rick zu der brünetten Frau.

„Warum glaubst du, dass sie ein Problem hat?“, will er zweifelnd wissen.

„Weil sie seit einer Stunde allein am Tisch sitzt und sich betrinkt!“

„Und was ist schlimm daran? Vielleicht ist sie gerne alleine?“, bemerkt Rick unsicher.

„Glaub mir Rick, ich erkenne es, wenn jemand ein Problem hat! Sie hat bereits drei Tequila hinuntergekippt!“

„Vielleicht lässt sie einfach ihren Feierabend ausklingen, wie ich?“

„Mit einem Glas Wasser und drei Tequila? Sie hat übrigens noch einen bestellt, aber ich lasse mir Zeit, ihn ihr zu bringen.“

„Was bist du für ein Barkeeper, wenn du erkennst, dass ein Gast Probleme hat und ihn nicht darauf ansprichst?“, wirft Rick ihm vor.

„Sehr lustig, Rick! Ich habe sie angesprochen, aber sie will nicht mit mir darüber reden. Das hat sie ausdrücklich betont!“, rechtfertigt sich Pepe.

„Und du erwartest von mir, dass ich als fremder Gast sie anquatsche? Das will sie sicher nicht!“

„Du bist Bulle! Du darfst jeden anquatschen!“

„Jetzt nicht! Ich bin privat hier“, entgegnet Rick mit aufgesetztem Grinsen.

„Sie will reden! Das sehe ich ihr an! Bring ihr den nächsten Tequila und du wirst sehen, ihre Probleme sprudeln von ganz alleine aus ihr heraus!“, schlägt Pepe vor. Unschlüssig bleibt Rick sitzen und starrt auf den Tresen. Pepe schiebt ihm das kleine Glas mit der hellen Flüssigkeit zu. „Na los, bring ihr wenigstens das Getränk!“, ermutigt er seinen Stammgast.

Langsam rutscht Rick von seinem Barhocker, greift nach dem Tequila sowie seinem Bier und geht auf den einsamen Gast zu. Vor dem Tisch bleibt er stehen, wartet auf eine Reaktion der jungen Frau. Nachdem diese ausbleibt, macht er sich bemerkbar.

„Hallo! Mein Name ist Rick! Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, beginnt er freundlich.

Zögernd schaut die junge Frau auf. Ihre Augen sind gerötet, es ist offensichtlich, dass sie geweint hat.

„Warum? Es gibt doch genug freie Tische hier“, antwortet sie spitz.

„Schon, aber keinen mit einem so traurigen Gast wie Ihnen, der schon drei Tequila vernichtet hat.“

Ihr böser Blick trifft den Gastwirt, der sich eilig wegdreht. Abschätzend schaut sie Rick in die Augen, anschließend auf das Glas in seiner Hand. „Ist das meine Bestellung?“

„Ja! Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie bekommen den Tequila, wenn ich mich zu Ihnen setzen darf“, sagt Rick vorsichtig.

„Ich habe das Gefühl, dass Sie so oder so nicht aufgeben werden. Also, von mir aus, setzen Sie sich!“, äußert sie genervt.

Rick lässt sich auf dem freien Stuhl nieder und schiebt seiner Tischnachbarin das Getränk zu. „Was sind das für Sorgen, die Sie unbedingt ertränken müssen?“, setzt er behutsam an.

„Sind Sie Psychiater? Oder warum haben Sie das Bedürfnis, wildfremden Leuten ihre Probleme aus der Nase zu ziehen?“, faucht sie ihn umgehend an.

„Ich bin Polizist. Und ich will Ihnen überhaupt nichts aus der Nase ziehen“, antwortet er gekränkt.

„Ach! Wollen Sie jetzt behaupten, es war die Idee des Barkeepers, mich anzuquatschen?“, fragt sie gereizt.

„Eigentlich, ja!“

Überrascht von seiner Antwort schaut sie auf. Ihr Blick wandert von seinen blauen Augen über seine kurzen, braunen Haare bis zu seinem muskulösen Oberkörper.

„Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“, reißt er sie aus ihren Beobachtungen.

„Nachdem ich Ihren Namen ja schon weiß, entspricht es wohl der Höflichkeit, dass ich Ihnen auch meinen verrate. Ich heiße Noreen!“

Kapitel 3

Die Unterhaltung beginnt nur schleppend. Anfangs redet nur Rick. Er erzählt von seiner Arbeit, von kuriosen Prozessen und von seinem aktuellen Fall, den er glaubt nicht lösen zu können. Mit der Zeit vergisst auch Noreen ihre anfängliche Abneigung gegen das aufgezwungene Gespräch. Sie erzählt von ihrem Ex-Freund Felix.

„Er ist so ein Idiot! Wir sind seit einem halben Jahr getrennt und jetzt fällt ihm ein, dass er die gemeinsame Eigentumswohnung nicht mehr mit abbezahlen will. Blöderweise lebe ich in dieser Wohnung, also soll ich den Kreditvertrag auf mich alleine überschreiben und ihn auszahlen!“, erklärt sie mit leicht angeschlagener Stimme.

„Was kann er schon machen, wenn Sie nicht bezahlen?“, hakt Rick nach.

„Er kann mich aus der Wohnung werfen! Und einen gerichtlichen Titel gegen mich erwirken, mit welchem er mein Gehalt pfändet!“, stößt sie unwirsch aus.

„So einfach geht das nicht! Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen! Bevor es soweit kommt, muss er viele kleine Schritte gehen und das dauert seine Zeit!“, erklärt er beruhigend.

„Und was soll ich jetzt machen? Einfach abwarten?“, bringt sie mühsam hervor. „Das kann ich nicht! Ich bin nicht der Typ, der alles auf sich zukommen lässt. Ich will die Sachen ordentlich geregelt haben. Könnten Sie das? In der Ungewissheit leben, nicht zu wissen, was morgen kommt?“

„Eigentlich schon! Genau das macht doch das Leben aus: Jeder Tag ist neu und bringt ungeahnte Ereignisse. Auch wenn ich genau plane, wie ich meinen Tag morgen verbringe, kann trotzdem etwas eintreten, was ich nicht vorhergesehen habe. Wussten Sie heute Morgen schon, dass Sie am Abend mit einem fremden Mann in einer Kneipe sitzen und über ihre Probleme reden?“, sinniert er lächelnd.

Ihre Blicke treffen sich. Keiner sagt ein Wort. In diesem Moment spüren beide die Anziehungskraft, die zwischen ihnen herrscht.

„Ich sollte jetzt besser gehen“, flüstert Noreen entschieden.

Sofort springt Rick von seinem Stuhl auf, geht zur Theke und wirft Pepe einen Schein auf den Tresen. Anschließend schnappt er sich seine Jacke und wartet an der Tür auf Noreen.

Mit leicht schwankendem Gang steuert sie auf Rick zu. „Wollen Sie auch schon gehen?“

„Ich bringe Sie nach Hause! Das erscheint mir sicherer, in Ihrem Zustand!“, erklärt er ruhig, umfasst ihren Ellenbogen und schiebt sie zur Tür hinaus.

„Ich komme schon allein nach Hause. Ich nehme die S-Bahn“, erklärt sie unwirsch, während sie versucht, sich aus seinem Griff zu befreien.

„Mit der S-Bahn? Wo wohnen Sie denn?“, fragt er erstaunt.

„In Freising!“

„Dann fahre ich Sie auf jeden Fall nach Hause! Um diese Zeit und in Ihrem Zustand lasse ich Sie nicht mehr allein mit der S-Bahn fahren“, bestimmt er.

„Dann fahre ich eben mit dem Taxi“, entgegnet sie trotzig.

Rick führt sie die Straße entlang bis zu seinem schwarzen BMW. Er öffnet die Beifahrertür und deutet auf den dunklen Ledersitz.

„Ich wollte doch …“, begehrt sie kurz auf.

„Heute ist das Ihr Taxi. Schwarz und kostenlos“, unterbricht er sie mit einem schelmischen Lächeln.

Gerührt von seiner besorgten Unnachgiebigkeit, lässt Noreen sich in den bequemen Sitz fallen. Hat meine Mutter mir nicht beigebracht, man soll nicht zu Fremden ins Auto steigen? Ob es von der Aufregung, etwas Unvernünftiges zu tun oder vom Alkohol kommt, kann sie nicht sagen, aber das Gefühl von etlichen Schmetterlingen im Bauch lässt sie schmunzeln.

Während der halbstündigen Fahrt herrscht Stille. Beide spüren die Spannung, die sich in der Enge des Fahrzeugs ausbreitet.

Schließlich hält das Auto vor einem zweistöckigen Mehrfamilienhaus. Noreen dreht sich unsicher zu Rick. „Vielen Dank für den Abend. Es hat gutgetan, mit jemandem zu reden.“

„Gute Nacht! Und nehmen Sie sich das mit Ihrem Ex-Freund nicht so zu Herzen!“, sagt er lächelnd.

Mit gemischten Gefühlen steigt Noreen aus. Soll sie ihn noch hinaufbitten? Oder wäre das unangebracht? Wenn sie jetzt geht, sieht sie ihn wahrscheinlich nie wieder. Will ich ihn überhaupt wieder sehen?

Langsam geht sie auf die Haustüre zu. Sie spürt Ricks Blicke in ihrem Rücken. Plötzlich, möglicherweise aus Unachtsamkeit, stolpert sie über die erste Stufe und kann sich nur mit Mühe vor einem Sturz bewahren.

Schlagartig steht Rick neben ihr. Er greift nach ihrem Ellbogen und führt sie die Treppe hinauf. „Vielleicht sollte ich Sie doch lieber bis in Ihre Wohnung bringen. Ich möchte nicht schuld sein, wenn Ihnen auf dem Weg ins Schlafzimmer noch etwas passiert“.

Ins Schlafzimmer?

Sprachlos lässt sie sich in den ersten Stock bis vor ihre Wohnungstüre begleiten. Mit zittrigen Händen schließt sie die Türe auf.

„Vielen Dank, den Rest schaffe ich sicher alleine“, sagt sie unsicher. Im nächsten Moment zieht Rick sie an sich und küsst sie. Gemeinsam stolpern sie ins Wohnzimmer. Ein quietschendes Geräusch lässt sie auseinanderfahren.

„Cornelius!“, schreit Noreen aufgebracht.

„Gibt es da einen Mitbewohner, von dem ich wissen sollte?“, fragt Rick erstaunt. In diesem Moment trottet der schwarze Kater an ihnen vorbei, hüpft auf das Sofa und rollt sich zusammen.

„Nur meine Katze, sonst niemand“, flüstert Noreen an seinen Lippen und legt ihre Arme um seinen Hals. Leidenschaftlich küssend zieht sie ihn mit ins Schlafzimmer, wo beide für einige Stunden die Probleme des Alltags vergessen.

Kapitel 4

ZWANZIG JAHRE ZUVOR

Die achtjährige Noreen spielt mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Lara im Garten des elterlichen Anwesens. Ihre Barbiepuppen sowie die passenden Kleidungsstücke liegen verstreut vor ihnen auf der Decke.

Deutlich hören sie die Stimme ihrer Mutter. „Lara! Komm bitte endlich rein! Du musst noch Hausaufgaben machen!“

Genervt steht die Ältere auf. „Ich mach ganz schnell, Nori. Zieh du schon mal die Ballkleider an, damit sie dann mit Ken tanzen können.“

Noreen nickt und macht sich begeistert an die Arbeit. Während sie angestrengt versucht, die schmalen Ärmel eines rosa Tüllkleides über die sperrigen Puppenarme zu ziehen, löst sich das Bild vor ihren Augen plötzlich in ein helles Licht auf. Sie sieht alles weiß, bis sich Stück für Stück die Fläche lichtet und wie einzelne Wolkenfetzen auflöst.

Sie erkennt ihre Oma, die im Schaukelstuhl vor dem Kamin sitzt und einen grünen Schal strickt. Langsam wippt der Stuhl vor und zurück. Die alte Frau bewegt ihre Lippen und bewegt ihren Kopf rhythmisch hin und her. Offensichtlich singt sie ein Lied, welches Noreen jedoch nicht hören kann. Sie sieht nur die Bilder, hört jedoch keinerlei Geräusche. Es ist eine beruhigende Szene. Noreen kennt ihre Oma als liebevolle Frau, die gerne und viel strickt. Oftmals legt sie dazu eine alte Schallplatte auf, um mit ihrer rauen, aber noch immer wohlklingenden Stimme, zu den Liedern von Elvis zu singen.