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Mars und seine Schwester Caroline waren einst unzertrennlich. Als sie unter grausamen Umständen stirbt, ist Mars von Trauer überwältigt. Nachdem er einst wegen seiner Genderfluidität von der angesehenen Aspen Summer Academy ausgeschlossen wurde, besteht Mars dieses Jahr darauf, an ihrer Stelle teilzunehmen. Mars fühlt sich zu ihren alten Freundinnen hingezogen, einer Gruppe von Mädchen, die sich die Honeys nennen. Sie sind schön und furchteinflößend, und Mars ist sich sicher, dass sie etwas mit Carolines Tod zu tun haben. Schon bald trübt sich die sanfte Bergbrise in Aspen. Mars kann seinen eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen; etwas jagt ihn am helllichten Tag und spielt mit seinem Verstand. Wenn Mars es nicht bald findet, wird es ihn lebendig auffressen …
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Seitenzahl: 529
Teil I
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
Teil II
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
Teil III
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
Teil IV
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
Teil V
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
Teil VI
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
DANKSAGUNGEN
Meine Schwester weckt mich mit einem Flüstern.
»Ich liebe dich, Mars.« Ihre Stimme kratzt in ihrer Kehle. Im Mondlicht, das durch mein Fenster hereinfällt, sehe ich an ihrem Kinn eine Tränenspur glitzern. Sie ist mir so nahe, dass ich sie riechen kann. Nicht ihr übliches Shampoo, sondern ein Geruch, der nicht richtig ist. Die schwere Süße der Verwesung, wie verrottende Blumen.
»Caroline? Du bist zurück?« Ich bin verwirrt. Die Sommernacht ist erfüllt von Grillenzirpen und die Vorhänge streifen ihre zusammengekauerte Gestalt, als wollte die Welt draußen sie zurückholen. Als wir noch auf den Balkon hinausschlichen, der unsere Zimmer verbindet, ließ ich dieses Fenster immer offen. In Nächten wie dieser wartete ich auf Carolines Klopfen an der Scheibe, ein Buch und eine Taschenlampe lagen bereit. Doch Caroline und ich haben uns schon sehr lange nicht mehr auf unserem Balkon getroffen.
Aber sie ist es. Nur Caroline würde wissen, dass ich das Fenster für den Fall der Fälle nie verriegele.
»Caroline?«, frage ich den Schatten. Den überreifen Gestank.
Keine Antwort.
»Warum bist du zu Hause?« Ich bin zu schläfrig, um die Hoffnung in meiner Stimme zu verbergen. Trotz allem, was im vergangenen Jahr passiert ist, bin ich froh, meine Schwester zu sehen. Ich habe so lange darauf gewartet, dass sie zu mir zurückkommt.
Sie hebt etwas über ihren Kopf. Ich erkenne die Form, das Aufblitzen des sanften Mondlichts auf dem groben Metall. Es ist meine schmiedeeiserne Sonnenuhr. Sie muss sie aus meinem Bücherregal genommen haben. Ich benutze sie als Buchstütze, weil sie so schwer ist.
Sie unterdrückt ein Schluchzen und stemmt die Sonnenuhr höher. Ich greife nach meinem Handy auf dem Nachttisch.
»Caroline, was ist denn los …?«
»Vergib mir«, schluchzt sie.
Caroline rammt die Sonnenuhr auf meine Hand, Nägel und Knochen treffen auf Metall und Glas. Als sie sie erneut anhebt, will ich aufschreien, doch diesmal zielt sie auf meinen Kopf.
Pinke Lichter.
Pinke Wände.
Das Blut in meinen Augen verwandelt die helle Sauberkeit des oberen Flurs in einen rosigen Albtraum. Ich fliehe aus meinem Zimmer. Vor den Schlägen und dem Chaos.
Ich bin langsam und stolpere. Mit einer Hand schütze ich die andere und spüre, dass sich meine vertraute Haut in ein unvertrautes Blutbad verwandelt hat. Die Knöchel meiner Hände passen nicht mehr zusammen, ihre Zwillingsexistenz hat ihre Einheit verloren. Wie bei Caroline und mir.
Sie stürmt hinter mir her. Sie ist so nahe, dass ihr Gestank mich überwältigt. Ich kann nur noch ihre Schreie hören.
Mars. Mars. Geh nicht. Geh nicht.
Das ist nicht ihre Stimme. Das ist nicht meine Schwester. Es ist etwas, das ihre Haut trägt, ihren zuckenden Körper ausfüllt wie einen unter Druck stehenden Gartenschlauch. Sie holt mich ein, bevor ich die Treppe erreicht habe, und als wir zu Boden gehen, dreht sich die pinke Welt. Die Tür zum Schlafzimmer unserer Eltern steht auf dem Kopf, ich sehe, wie Mom in ihrem Nachthemd erstarrt. Um Atem ringt. Schreit. Dad ruft von unten herauf.
Ich kann dem nächsten Schlag nur knapp ausweichen, die schmiedeeiserne Sonnenuhr schlägt neben meinem Kopf in die Holzdielen ein. Blind reiße ich eine Hand hoch und erwische einen glitschigen Kiefer. Die Sonnenuhr rollt davon und mit Schlägen wie Gewehrschüsse die Treppe hinunter. Meine Sicht ist getrübt, aber im grellen Licht des Flurs kann ich Caroline jetzt erkennen. Sie ist dreckig, in ihrem braunen Haar hängen Staub und Äste. Ihre Kleider kleben vor Schlamm schwarz an ihr, doch das Akademielogo aus Plastik glänzt noch immer an ihrem Uniformärmel. Sie zieht etwas aus ihrem Bund und hält es über uns.
Ein Messer. Meine Schwester hat ein Messer mit nach Hause gebracht.
Doch was mir mehr Angst macht, sind ihre Augen. Später werde ich versuchen, mir einzureden, dass in diesem wilden Starren keine Spur meiner Schwester lag. Aber in meinen Träumen spielt sich dieser Moment in brutaler Klarheit ab. Ich bin in ihnen gefangen wie ein Käfer in Bernstein. Ich will glauben, dass ich von einem Monster getötet werde, im Starren meiner Angreiferin erkenne ich indessen keine Monstrosität. Ich sehe meine Caroline. Klar. Sie selbst. So vertraut, dass sich mein Schmerz – und sogar mein Schrecken – in Erleichterung verwandelt. Es ist das erste Mal in diesem grauenhaften Jahr, dass ich ihr in die Augen sehe und sie – wirklich sie – diesen Blick erwidert.
Caroline zuckt, die einzige Warnung, ehe sie das Messer auf mein Gesicht herabsausen lässt. Ich winde mich, doch an meinem Ohr tut sich ein lodernder Riss auf. Jetzt schreie ich, aber ich kann es nicht hören, kann durch den weiß glühenden Schmerz gar nichts hören. Als Dad das obere Ende der Treppe erreicht, spüre ich, wie das Haus unter meinem Rücken erbebt. Ich spüre, wie Caroline weggezerrt wird. Ich rolle mich auf die Seite und benutze meine gute Hand, um mich am Geländer hochzuziehen. Ich starre den Kronleuchter an, der über dem weiten Abgrund des offenen Eingangsbereichs hängt. Die Lichter sind immer noch pink, die Welt verschwommen. Das ganze Haus dreht sich um mich, als stünde ich im Zentrum eines aus dem Gleichgewicht geratenen Karussells.
Machtlos sehe ich zu, wie Caroline nach unserem Dad tritt und beißt. Nicht Caroline. Nicht unser Dad. Fremde. Schauspieler. Unechte Figuren, die für diesen improvisierten Horror in mein Leben eingedrungen sind. Mom steht im Türrahmen ihres Zimmers, noch eine künstliche Figur. Sie hat beide Hände vor den Mund geschlagen und ist erstarrt. Ich will sie anschreien. Will, dass sie hilft. Dass sie das wieder in Ordnung bringt.
Caroline schlägt ihre Zähne in Dads Hand. Er ist ein großer Mann. Angewidert schleudert er sie brutal von sich und in den Spiegel am Ende der Treppe. Die Glassplitter regnen auf sie herab, doch sie gibt einfach nicht auf. Nicht eine Sekunde lang. Sie taumelt auf mich zu und der Teppich verrutscht unter ihren Schuhen, während sie um ihr Gleichgewicht ringt. Aber sie ist zu nahe, zu sehr außer Kontrolle. Ich weiß, was passieren wird, ehe es tatsächlich passiert.
Caroline strauchelt. Sie fällt auf mich, die Arme fest um meine Schultern geschlungen. Das Geländer bricht und wir stürzen nach hinten. Dann nach unten. Die Decke erfüllt mein Sichtfeld. Wir fallen durch den Kronleuchter, dann fällt der Kronleuchter mit uns. Wie Tänzer drehen wir uns in der kurzen Ewigkeit des Sturzes, ein Wirbelsturm aus Licht, Kristall und Blut.
Als wir auf dem Boden aufschlagen, liegt Caroline unten.
Mein Gewicht zerschmettert sie. Ich bin nahe genug, um das Knacken der Knochen zu hören, zu spüren, wie sie erstarrt, und zu erkennen, dass sie zu still liegt. Ich bin gefangen in ihren Armen, ihrem Haar, dem süßen Gestank, den sie mit nach Hause gebracht hat. Die Stille und die Reglosigkeit ängstigen mich mehr als alles andere.
Ich befreie mich. Kristallsplitter bohren sich in meine nackten Oberschenkel, meine Knie. Inmitten der Trümmer stehe ich auf.
Ich sehe meine Schwester an.
Sie ist in mein Blut gebadet. Ihr Körper rollt sich zusammen. Ihr Gesicht ist das Letzte, was aufhört zu zucken. Das eine Auge ist halb geschlossen, das andere weit aufgerissen wie bei einer Puppe.
Caroline sieht mich an, während sie stirbt. Und sie lächelt.
Als wir fünf waren, hat mir Caroline einen kleinen pinken Taschenrechner geschenkt.
Er hatte die Form einer Katze und bonbonfarbene Tasten. Sie mochte ihn, aber ich liebte ihn, und da sie mich liebte, wurde er meiner. Als Kind war sie immer so. Großzügig und manchmal etwas zu einfühlsam mit dem, was andere Leute wollten. Ich spielte endlos mit diesem Taschenrechner, und als ich ihn verlor, überraschte sie mich mit einem neuen. Es war der Buchhaltungstaschenrechner unseres Dads, den sie von seinem Schreibtisch stibitzt hatte, und weil sie Caroline war, hatte sie die Tasten mit klebrigem pinken Nagellack überzogen. Nur für mich.
Caroline bekam Ärger und ich ein Hobby. Danach schenkte sie mir viele seltsame Geräte und ich kaufte ihr jede Nagellackfarbe, die ich finden konnte. Es war ein Scherz zwischen uns beiden. In einem Jahr war es ein altmodischer Abakus im Tausch gegen Neonlacke. Dann die Sonnenuhr gegen auf Temperatur reagierende Metallictöne. Und schließlich mein Lieblingsteil: ein Taschenrechner von Mayfair Sound Products aus dem Jahr 1987, hergestellt in Japan. Es war ein klobiges Gerät größer als meine Hand. Er war angenehm schwer und hatte laute Tasten. Ich schenkte ihr bloß royalblauen Lack. Schrecklich unangemessen, aber sie trug diese Farbe ständig, selbst nachdem wir nicht mehr miteinander sprachen.
Nach Carolines Angriff finde ich den Mayfair ganz unten im Chaos meines Zimmers. Er ist völlig zertrümmert. Zerstört. Doch was mich fertigmacht – was mich endlich aus meiner Schockstarre reißt –, ist ein perfekter blutiger Fingerabdruck auf der einen unversehrten Ecke des Geräts. Sie muss es aufgehoben, in Betracht gezogen und dann wieder zurückgelegt haben, bevor sie nach der Sonnenuhr gegriffen und mich geweckt hat.
Ich verstehe nicht, warum. Ich muss nicht verstehen, warum. Ich schluchze, als ich in dem Chaos wühle, und während ich nach den Bruchstücken suche, erkenne ich etwas.
Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, sondern seine Aufspaltung. Wenn jemand stirbt, verteilt sich seine Seele auf all die Dinge, die andere von ihm erhalten haben. Liebe. Blutergüsse. Geschenke. Man bemüht sich, zusammenzutragen, was übrig geblieben ist – sogar die Dinge, die schmerzhaft sind –, nur um sich dann zu quälen.
Die Sonne geht bereits auf, bis ich alle Bruchstücke des Mayfair-Taschenrechners gefunden habe. Im Haus ist es inzwischen still, Mom und Dad sind mit der Leiche im Krankenhaus. Ich stehe den Teilen allein gegenüber, die in der schwachen Morgendämmerung ausgebreitet auf meinem Schreibtisch liegen. Da wären der gebürstete Metallrahmen, die herausgesprungenen Tasten, die smaragdgrünen, von Kupfer durchzogenen Eingeweide der Schaltkreise. Den Dreck herunterzuputzen, war der einfache Teil. Jetzt versuche ich herauszufinden, wie alles wieder zusammengehört. Falls man es überhaupt wieder zusammensetzen kann.
Ich habe keine Ahnung, wie man irgendwas, das in so viele Teile zersprungen ist, je wieder zusammensetzen soll.
Caroline ist tot.
Meine Schwester ist tot.
Es gibt keine Teile, keine Bruchstücke, die man wieder zusammensetzen könnte, um in der Abwesenheit meiner Schwester einen Sinn zu erkennen. Da ist nur eine plötzliche, schockierende Leere, wo einst ihr Leben war.
Ich versuche, die Leerstellen zu zählen. Ihre Formen nachzuzeichnen. Wenn jemand stirbt, macht man das. Man versucht zu erfassen, was verloren ist. Einige Dinge, die fehlen, sind sofort offensichtlich. Der fehlende Klang seiner Stimme, die To-do-Listen, die er nie abarbeiten wird, oder die Leere auf seinem Platz am Frühstückstisch. Auf diese Dinge bin ich vorbereitet.
Aber so viel schlimmer sind die kleinen, die schrecklich winzigen Lücken – eigentlich nicht mehr als Nadelstiche –, die Caroline überall sonst hinterlässt. Leerstellen, die meine Erinnerungen durchlöchern wie Schrotkugeln, so verstreut, dass ich nicht erfassen kann, was fehlt. Ich kann es nicht zählen. Ich kann es nicht bemessen.
Meine Schwester wird zu einer Konstellation aus Leerstellen.
Und wie der kaputte Taschenrechner komme ich zu keinem Ergebnis, bin unfähig, dem Ganzen irgendeinen Sinn abzuringen. Also sitze ich tagelang an meinem Schreibtisch und starre die Teile an, die im gedämpften Licht eines jeden Sonnenaufgangs zu schweben scheinen. Verbogenes Metall, Plastiktasten, smaragdgrüne Innereien, kupferne Adern. Bruchstücke, Teile eines früheren Ganzen.
Doch jetzt sehe ich nur noch die neue Leere, die sie voneinander trennt.
Wenn ich vor etwas Angst habe, studiere ich es. Caroline würde es wegtanzen oder vielleicht ein Gedicht schreiben. Etwas Verträumtes und Kreatives. Aber ich bin unsere logische Hälfte. Eine Spaßbremse, doch klug. Unser notwendiges Übel – wie wir als Kinder scherzten –, als unsere gemeinsamen Ängste Caroline in die Kunst trieben und mich in die Forschung. Zu Daten und Wissenschaft. Vielleicht sogar zu anekdotischen Aussagen einer Primärquelle, wenn ich verzweifelt war.
Niemand will mit mir über das reden, was passiert ist. Ich verzweifle.
Also recherchiere ich über den Tod.
Ich lese von Himmelsbestattungen und Wasserbestattungen. Ich sehe Videos von Tänzen und Paraden und sogar von Asche, die in wunderschöne blaugrüne Perlen verwandelt wird. Ich lese von dem jüdischen Brauch, die Spiegel zu verhängen, damit die Trauernden ihre Gedanken nach innen richten, nicht nach außen.
Auch ich verhänge meine Spiegel, aber nur weil ich jedes Mal, wenn ich mich sehe, sie sehe. Ich erblicke ihr letztes, zuckendes Grinsen, das wie ein transparenter Film über meinem eigenen Gesicht liegt. Unserem Gesicht. Wir sind Zwillinge. Keine eineiigen, aber ähnlich genug.
Wir sind Zwillinge.
Wir waren Zwillinge, schätze ich.
Auch das passiert laut meinen Recherchen. Wenn jemand stirbt, wird die Vergangenheitsform zum Feind, obwohl die Vergangenheitsform alles ist, was einem bleibt, und es fühlt sich so an, als wüsste sie das ebenfalls.
Tja. Scheiß auf die Vergangenheitsform, schätze ich.
Ach, und außerdem: Scheiß auf das obere Treppengeländer. Nach dieser Nacht habe ich es vermieden, die gesplitterte Bruchstelle überhaupt nur anzusehen, an der Caroline und ich abgestürzt sind. Dann bin ich eines Morgens aufgewacht, weil Männer in Stiefeln die Treppe rauf- und runterpolterten, und plötzlich war es repariert. Das machte es irgendwie nur schlimmer. Ein hässliches Gefühl loderte in mir, als ich meine Hände auf das neue Holz legte, ein Gefühl von Verrat. Ich verstand nicht, warum, aber es ist dasselbe hässliche Gefühl, das ich jetzt habe, eine Woche später, nur acht Tage nachdem Caroline in unserem Zuhause in den Tod gestürzt ist, als ich zusehe, wie ein Laster in der Einfahrt hält und einen brandneuen Kronleuchter liefert.
Ich beobachte, wie die Männer die Kristallkonstruktion an ihren Platz hieven. Und während ich sie aufsteigen sehe, denke ich: Als Todesritual hätte Caroline das hier geliebt. Allein das Drama.
Nicht den Kronleuchter an sich, sondern die Tatsache, dass unsere Eltern trotz des Todes ihrer Tochter keine zwei Wochen warten konnten, ihn zu ersetzen. Das Gleiche gilt für das Geländer. Ich sollte ihnen anrechnen, dass sie es überhaupt einen Tag ausgehalten haben, doch dann suche ich im Internet nach Kronleuchtern. Der hier ist eine Spezialanfertigung. Bei dem Scheiß muss man schon ein paar Beziehungen haben, um ihn in weniger als sechs Wochen zu bekommen. Als das Installationsteam ihn schließlich einschaltet, zwinge ich mich, direkt in seine kalten, grellen Innereien zu blicken.
War ihre Tochter überhaupt schon offiziell für tot erklärt, als unsere Eltern ihren neuen Kronleuchter bestellt haben?
Mein Kopf antwortet in Carolines säuselnder Stimme.
Wahrscheinlich nicht, Mars, lacht sie.
Die Trauerfeier findet bei uns zu Hause statt, einen Tag nachdem der neue Kronleuchter aufgehängt wurde.
Wie alles in meiner Familie ist die Trauerfeier eine sorgsame Inszenierung der Verschleierung. So hält es die Familie Matthias nun mal. Mom ist schließlich eine New Yorker Senatorin, wir alle haben also die Aufgabe, den Schein zu wahren. Unser Leben findet im Licht der Öffentlichkeit statt und das gilt wohl auch für unseren Tod.
Freunde und Familie treten ein und nichts verrät, was hier geschehen ist. Das Kristall wurde zusammengefegt, die Trümmer weggesaugt, das Blut aus den Fugen geschrubbt. Insgeheim denke ich, dass Mom und Dad die Trauerfeier nach der Lieferung des Kronleuchters ausgerichtet haben, nicht andersherum. Er verströmt eine fröhliche Wärme und verkündet, dass es hier nichts zu verstecken gibt, und falls doch, dass man es hier nirgendwo verstecken könnte. Das Licht erfüllt jeden Winkel unserer weitläufigen Kolonialstilvilla, die überladen ist mit Callas, postergroßen Fotos meiner Schwester, frisch von Staples geliefert, und dem süßen Duft der Bienenwachskerzen, die Caroline so gern angezündet hat.
Welcher versuchte Mord? Welcher versehentliche Selbstmord? Doch nicht in diesem reizenden amerikanischen Zuhause. Hier, warum nehmen Sie nicht noch ein Kanapee?
»Mars, Liebling?«, ruft Mom aus dem Haus, doch draußen auf meinem Balkon erreicht es mich kaum. Derselbe Balkon, über den Caroline geschlichen ist, um durch mein Fenster zu klettern. Ich verstecke mich hier draußen und spiele mit dem nach wie vor kaputten Mayfair-Taschenrechner. »Mars? Bist du wach?«
Ich klettere nach drinnen. Ich soll bei den Vorbereitungen helfen, das Cateringteam einzuweisen, und später muss ich an der Haustür Begrüßungskomitee spielen. Willkommen! Treten Sie ein. Drinks gibt es da drüben, die Leiche meiner Schwester liegt dort. Die Nachstellung der Ereignisse beginnt um vier, kommen Sie nicht zu spät!
Offiziell ist Caroline nicht in unserem Haus gestorben. Sie ist zwei Tage später im Krankenhaus gestorben, als klar wurde, dass sie nicht wieder aufwachen würde. Als die Ärzte sie durchleuchtet haben, fanden sie eine Verschattung in ihrem Gehirn und wir alle lernten ein neues Wort: Glioblastom. Der Tumor sei für ihr »untypisches Verhalten« verantwortlich, sagten die Ärzte. Ihr Tod sei unausweichlich gewesen, sie war ihm so oder so ausgeliefert, nachdem das Ding sich eingenistet hatte. In gewisser Weise könne man ihren schnellen Tod als Segen betrachten.
Das sagten sie. Aber sie wussten nichts von dem Angriff. Niemand tut das und es wird auch niemand erfahren, es sei denn, ich erzähle es. Dad brachte mich in ein rund um die Uhr geöffnetes Notfallzentrum irgendwo draußen in Westchester County, während Mom mit Caroline im Krankenwagen mitfuhr. Dad beantwortete die Fragen für mich, als sie meine Hand untersuchten und aus meinem Haar Blut wischten.
Offiziell wurde ich unter einem Bücherregal begraben. Dad hatte diese Lüge parat, als die medizinische Assistenz danach fragte. Als sie mich unter vier Augen erneut fragte, antwortete ich: »Ich weiß, ich seh schlimm aus, aber Sie sollten das Bücherregal sehen.«
Wie gesagt: eine Inszenierung der Verschleierung. Und ohne Caroline fällt mir nun zweifellos die Hauptrolle zu. Ich hasse das. Aus unserem Duo ist mein Solo geworden. Trotz all meiner sarkastischen Theatralik wollte ich diese Bühne nie für mich allein. So wird es den Rest meines Lebens sein. Ich frage mich, ob es sich je nicht so anfühlen wird wie meine eigene Version des Todes.
Heute fühlt es sich definitiv wie der Tod an.
Bei den Vorbereitungen halte ich eine Million Mal inne, um zwischen den Angestellten, die unser Haus mit Tischen und Stühlen ausstaffieren und die Tische mit Gebäck und geschnittenen Früchten eindecken, nach ihr zu suchen. Eine Million Mal kann ich sie nicht entdecken und ich schaudere, wenn mir wieder einfällt, dass sie in dem einen Zimmer liegt, das ich mich weigere zu betreten: im Salon, völlig verwandelt mit zugezogenen Jalousien, gedimmtem Licht und einer ganzen Wand, an der sich von überall Trauersträuße drängen – von der Schule, vom Krankenhaus, sogar aus Aspen. Und mitten in diesem Arrangement ein Sarg aus poliertem Kirschholz.
»Sie hätte das geliebt.« Das hat Mom tatsächlich gesagt, als der Sarg durch den Wintergarten hereingeschleppt wurde. Derselbe Gedanke, der mir kam, als ich zusah, wie der Kronleuchter emporstieg wie eine eisige Sonne. Ich meinte es sarkastisch, die Sprache, die Caroline und ich hinter dem Rücken unserer Eltern sprachen. Mom meinte es ernst.
Sie hätte das geliebt.
Als hätte Caroline endlose Stunden damit zugebracht, ihren großen Tag zu planen. Die »Feier ihres Lebens«, wie es in großen, geschwungenen Buchstaben auf die Programmhefte gedruckt steht.
Caroline hätte das alles gehasst – das Theater, die Programmhefte, aber vor allem die Formulierung Feier ihres Lebens. Caroline war siebzehn gewesen, hatte viel erreicht, war aber doch nur siebzehn gewesen. Es gibt nur eine sehr kurze Lebensspanne zu feiern, sicher nicht genug, dass alle ein Stück abbekommen könnten. In Gedanken scherze ich mit ihr, dass nichts mehr goth ist als eine Feier, die darauf beruht, dass der Ehrengast tot ist, und sie antwortet: Mars, bring mich bitte nicht zum Lachen.
Und dann erinnere ich mich an ihr Lachen.
Danach höre ich auf, mit ihr zu reden.
Nach den Vorbereitungen und ehe die Gäste eintreffen, werde ich nach oben geschickt, um mich fertig zu machen. Mom, oder wahrscheinlich eher einer ihrer Handlanger, hat einen Kleidersack auf mein Bett gelegt. Darin finde ich einen schlichten schwarzen Anzug. Ich liege in ein feuchtes Badetuch gewickelt daneben, starre die Decke an und drücke Carolines Messer an meine Brust. Hätten wir die Polizei gerufen, wäre es als Beweisstück konfisziert worden, doch stattdessen habe ich es einfach aus dem Chaos geborgen und sauber gemacht. Ich musste feststellen, dass es gar kein Messer ist. Es sieht nur so aus. Es ist ein flaches Stück Metall, das eine Ende rechteckig und scharf, das andere gebogen. Es ist ein Stockmeißel, dafür gedacht, das Wachs von den Waben zu brechen. Ich drücke es gegen meinen Körper, bis es die Wärme meiner Haut angenommen hat. So bleibe ich liegen, bis ich trocken bin.
Ausnahmsweise hat Mom mir erlaubt, Make-up zu tragen. Sonst fleht sie mich immer an, »es schlicht zu halten«, wenn ich in der Öffentlichkeit bin, aber nicht heute. Allerdings nicht weil sie sich langsam mit meiner Genderfluidität anfreundet. Sondern weil all die anderen Anzeichen für das, was passiert ist – das Geländer, der Kronleuchter –, zusammengefegt, repariert und versteckt wurden. Ich bin der letzte verbliebene Beweis. An die Erlaubnis meiner Mutter ist die Forderung geknüpft, dass ich meine Pflicht als Matthias erfülle und mich ebenfalls verstecke.
Ich sitze an meinem Schminktisch und starre in mein Gesicht. Unser Gesicht. Unser breiter Kiefer und die hohen Wangenknochen, die Lippen mit dem ausgeprägten Amorbogen und die Hakennase. Unser Haar ist braun. Caroline trug ihrs lang und ins Gesicht hängend. Ich trage meins normalerweise lang und zurückgebunden. Heute aber lasse ich es nach vorn fallen. Offen verdeckt es mehr.
Ich bin ein Experte in Sachen Make-up, aber lasst euch gesagt sein, selbst ein Contouring auf Drag-Queen-Niveau könnte nicht verbergen, dass ich ganz klar so einiges hinter mir habe. Brav decke ich meine blauen Flecken ab und stecke mein Haar so, dass es mein bandagiertes Ohr verdeckt. Ich stecke mir mein Septum-Piercing in die Nase. An der Plastikschiene, die meine Hand zusammenhält, kann ich nichts ändern, außer sie vielleicht mit Strasssteinen zu bekleben, aber das wäre sogar für den exzentrischen Matthias-Zwilling ein bisschen viel des Guten.
Meine Schiene bleibt am Ärmel hängen, als ich das Jackett anziehe, und vor Schmerz stöhne ich auf. Sogar die kleinste Bewegung tut weh und meine Nagelbetten brennen wie Feuer, wo die Sonnenuhr die Nägel zertrümmert hat. Aber ich kann nur warten, bis meine Knöchel geheilt und meine zersplitterten Nägel nachgewachsen sind.
Und wer weiß, ob ich je wieder hören werde? Ich wache immer noch jeden Morgen mit Blut im Ohr auf. Selbst jetzt, da ich einen neuen Verband anlege, spüre ich, wie es in den Mull sickert.
Als ich fertig bin, nehme ich meinen Posten im Foyer ein, wo ich die Gäste in ihren dunklen Anzügen und Kleidern höflich begrüße.
Mein herzliches Beileid.
Ich fühle mit euch.
Wir schließen euch in unsere Gebete ein.
Ich nehme die traurigen Worte hin. Schüttele hundert Hände, dankbar, dass Caroline meine linke Hand zertrümmert hat, nicht die rechte. Mehr als einmal erwische ich mich dabei, wie ich gewisse Beobachtungen abspeichere, damit ich sie später mit ihr teilen kann, wie wir es immer nach Moms Spendengalas machten. Ich zittere, als mich erneut die Trauer überkommt, und will mich schon entschuldigen, als drei Mädchen auf mich zukommen und eine von ihnen sagt: »Mars, oder? Scheiße, du siehst aus wie sie.«
Das Mädchen, das gesprochen hat, schüttelt nicht meine Hand, sondern zieht mich in eine Umarmung und ich bin überwältigt von der Vertrautheit dieser vollkommen Fremden.
»Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht an uns. Wir sind Carolines Freundinnen aus dem Camp. Ich bin Bria.«
»Ich bin Sierra.«
»Mimi.«
Jede von ihnen umarmt mich. Es sind die hübschesten Mädchen, die ich je gesehen habe. Mimi ist klein, rund und blass und trägt ein Kleid mit Schößchen. Sierra ist groß und sonnengebräunt und wirkt in ihrem schwarzen Jumpsuit elegant. Und Bria trägt trotz der Hitze ein dunkelrotes Strickkleid. Allerdings scheint ihre braune, marmorglatte Haut keinerlei Poren aufzuweisen. Sie sind vollkommen unterschiedlich, doch gemeinsam verströmen sie eine harmonische Schönheit. Ihre Freundlichkeit lässt mich wachsam werden, genauso wie die Tatsache, dass sie aus dem Camp sind. Mit Camp meinen sie Aspen. Die Sommerakademie der Aspen-Naturstätte, wo Caroline war, als der Tumor anfing, ihren Verstand aufzufressen.
Angeblich.
Wenn sie sind, wer sie behaupten zu sein, hat das, was in dieser Eingangshalle sein Ende fand – genau hier, wo wir stehen –, bei ihnen in Aspen seinen Anfang genommen.
»Das ist …« Bria betrachtet den weitläufigen Eingangsbereich, die Gäste in ihrer schicken, teuren Trauerkleidung, die Lilien und Hochganzfotos und schließlich den neuen Kronleuchter. »… so seltsam. Einfach zu viel. Sie wäre so sauer. Oh, Mars, es muss so schwer sein, mit alldem ohne sie fertigzuwerden.«
»Ich …«
Ein Schluchzen entringt sich meiner Kehle und überrascht mich. Es ist das erste Mal heute, dass ich ein Gefühl zeige. Bria nimmt meine Hand und drückt sie, um mir Kraft zu spenden. Ich fange mich wieder.
»Hör zu, Mars«, sagt sie. »Ich weiß, das klingt wie leere Worte, aber es tut uns so furchtbar leid. Alle in Aspen haben Caroline geliebt. Wir waren besorgt, als sie so plötzlich verschwunden ist. Und dann haben wir gehört, was passiert ist, und …« Bria drückt meine Hand noch fester, als wären sie nur aus dem Grund zwei Stunden aus den Catskills hergefahren (oder wurden wohl eher von einem der vielen Chauffeure gefahren, die in unserer Auffahrt rauchen und die Nachrichtenübertragungswagen in Schach halten).
Ich reiße mich los. Ihre hypnotische Schönheit verblasst. Endlich empfinde ich, was ich empfinden sollte. Wut. Den beißenden Groll, den ich Sommer für Sommer gehegt habe, wenn Caroline ohne mich, aber mit ihnen nach Aspen floh. Sie – diese reichen, geleckten Püppchen – waren ihr wichtiger als ich, als wir, und ich habe sie jahrelang aus der Ferne gehasst. Aber jetzt, da sie hier sind, schmilzt mein Hass in ihrer Wärme. Sie geben mir dasselbe Gefühl wie meine Schwester. Ich will sie umarmen, wie ich Caroline nicht umarmen konnte.
Mein Atem stockt. Ich habe jede Menge Fragen an sie.
»Caroline hat Aspen geliebt«, sage ich. »Sie meinte, es wäre ihr liebster Ort auf der ganzen Welt.«
Hinter Bria, deren Miene neutral und nachdenklich bleibt, tauschen Sierra und Mimi einen Blick. Ich spreche weiter. Plötzlich giere ich danach zu wissen, was sie wissen.
»Sie hat sich in den letzten Wochen vielleicht nicht ganz normal verhalten. Sie sagen, der Tumor hätte großen Druck auf ihr Gehirn ausgeübt. Sie könnte ziemlich verwirrt gewesen sein?«
Ich formuliere es als Frage, doch Bria nickt nur mitfühlend. Es ist Mimi, die mir gibt, wonach ich lechze.
»Das erklärt so einiges. Sie war so anders. Paranoid. Sogar uns gegenüber. Normalerweise erzählt sie uns alles – na ja, zumindest mir –, aber dann, letzte Woche, hat sie …«
»Entschuldige«, fällt ihr Bria ins Wort. »Mars, du willst das wahrscheinlich gar nicht hören. Nicht heute.«
Ich merke mir diesen Augenblick, um ihn später von allen Seiten zu betrachten. Caroline war immer vollkommen unbeschwert, für alles offen. Sie hat sich jedes Jahr auf Aspen gefreut, doch im letzten Jahr hatte sich etwas verändert. Sie wurde nervös und es wurde nur schlimmer, je näher der Sommer rückte. Caroline hatte das Gefühl, dass er etwas Schlimmes mit sich bringen würde. Sie sah Zeichen, die kein anderer von uns wahrnehmen konnte. Vielleicht hat sie dieses Ding gespürt, das in ihrem Kopf wuchs.
»Du warst früher auch in Aspen, oder?«, fragt Bria.
Ich erstarre. Wie viel wissen sie über meinen katastrophalen Abgang aus Aspen? Ausweichend antworte ich: »Ja, vor Ewigkeiten.«
»Warum bist du ausgestiegen?«
Das ist eine gute Frage. Es ist ungewöhnlich, dass man nicht mehr an der Sommerakademie teilnimmt, wenn man einmal drin ist, vorausgesetzt, die Familie zuckt bei der fünfstelligen Schulgebühr (plus den verpflichtenden Kosten für Privatdozenten, Ausflüge und Transport) für die acht Wochen nicht zusammen. Doch die Art, wie sie fragt, verrät mir, dass sie die Wahrheit kennt. Vielleicht nicht die ganze, aber genug, um zu wissen, dass mein Abgang nichts mit Geld zu tun hatte.
»Ich hatte einfach nicht mehr das Gefühl, dort richtig zu sein«, antworte ich und deute auf meinen Körper. In dem Anzug, den meine Eltern ausgewählt haben, wirke ich überwiegend männlich, doch wenn Caroline ihnen irgendwas über mich erzählt hat, verstehen sie, was ich meine.
Sie nicken einhellig.
»Ja, manche Leute können solche Arschlöcher sein«, ergreift Sierra zum ersten Mal das Wort.
»Jetzt, wo wir älter sind, ist es nicht mehr so schlimm«, beteuert Mimi. »Sie haben den Kampf der Geschlechter in Duell der Dörfer umbenannt. Es ist immer noch der gleiche Geschlechterkrieg-Schwachsinn, aber immerhin.«
»Du könntest uns besuchen kommen«, schlägt Sierra vor. »Eine Art Neustart. Und du könntest ihre restlichen Sachen abholen.«
Mimi guckt Sierra mit großen Augen an. Schnell und geschmeidig fragt Bria: »Hast du je drüber nachgedacht zurückzukommen?«
Das tue ich ständig. Und ich könnte zurückgehen, wenn ich wollte. Aber nicht an der Sommerakademie teilzunehmen, ist inzwischen zu einem Protest geworden, und ich weigere mich, den aufzugeben. Trotzdem fehlt es mir jedes Jahr, wenn Caroline im Juni aufbricht, und jedes Jahr hasse ich sie, wenn sie im August zurückkommt, sonnengeküsst und übersprudelnd vor von der heißen Sommerluft goldbraun gebackenen Erinnerungen, die nur ihr gehören.
Sie warten auf meine Antwort. Sie blinzeln, und zwar in einer Welle von links nach rechts, als wären sie eine einzige riesige Spinne.
»Nicht wirklich«, sage ich, unsicher, was ich da gerade beobachtet habe.
»Verständlich«, erwidert Bria. »Wir haben dir was mitgebracht. Sierra?«
Sierra öffnet ihre Tasche und zieht einen schweren, in Papier eingeschlagenen Zylinder heraus. Ich weiß auf Anhieb, was es ist. Eine Kerze wie die, die wir überall im Haus angezündet haben. Ich kann die Süße des Wachses durch das Papier riechen.
»Wir haben es in ihrem Bett gefunden, mit deinem Namen drauf.«
Ich starre auf Carolines Handschrift. Für Mars. Ich beiße mir auf die Wange, um die Tränen zurückzuhalten. Die Mädchen drücken mich noch ein letztes Mal, dann verschwinden sie in der Menge und die nächsten Trauergäste nehmen ihren Platz ein.
Erst eine Stunde später, als mir eine Pause vergönnt ist, wickle ich die Kerze aus, ganz vorsichtig, um das Papier nicht zu zerreißen, auf das Caroline meinen Namen geschrieben hat. Das Wachs hat einen satten Gelbton und ist mit einem Honigwabenmuster geprägt. Mit einem Metallstempel hat Caroline meinen Namen auch in das Wachs gestanzt. Die Abstände zwischen den Buchstaben sind ungleichmäßig. Es ist niedlich. Und schrecklich.
Vorsichtig drehe ich sie um, wohl wissend, dass in die Seite eine Wachsbiene eingelassen ist.
Mir stockt der Atem und fast lasse ich die Kerze fallen.
Ja, da ist eine Biene, aber ihr Körper ist von Schnitten überzogen, wie von einem glühend heißen Messer.
Für die Zeremonie – die Feier – wird Carolines Sarg geöffnet, damit die Leute sich einreihen und der Verstorbenen und ihren Angehörigen ihren Respekt zollen können. Ich kann sie nicht ansehen, aus Angst, dass dieser halb geöffnete Blick, dieses Lächeln in ihrer Miene erstarrt sind. Ich muss immer wieder an die Kerze denken, die sie mir hinterlassen hat. Sie war noch keine Woche im Camp gewesen, sie kann sie also gerade erst gemacht haben. Was hat sie sich dabei gedacht? Wer war sie zu diesem Zeitpunkt, da der Tumor wuchs?
Die Zeremonie endet. Wie ein sich windender Tausendfüßler reihen sich die Gäste in eine Prozession mit tausend Händen ein, von denen mich jede berührt, während die Leute weitere gute Wünsche, Gebete und Beileidsbekundungen flüstern. Als Politikerkind habe ich mein Leben lang gelernt, eine höfliche Fassade aufzusetzen, und ich wahre sie, bis die Hände endlich – endlich – verschwunden sind. Das Personal hat im Esszimmer Kaffee und ein Mittagsbüffet aufgebaut. Der Salon leert sich.
In der Küche winkt meine Mutter mich zu sich. Sie sitzt mit meinen Tanten an der Kücheninsel aus Granit.
»Oh, Marshall, Schätzchen, es tut mir so leid«, säuselt Tante Michelle und zieht mich in eine Umarmung. Dann korrigiert sie sich selbst. »Oh, ich meine Mars. Du nennst dich jetzt Mars, stimmt’s? Entschuldige, mein Lieber, alte Gewohnheiten kann man nur schwer ablegen.«
Ich erinnere Tante Michelle nicht daran, dass die Familie mich schon immer Mars genannt hat, selbst in unseren Babyvideos, weil Oma meinte, nur so könne sie uns auseinanderhalten, mich und ihren runzeligen kleinen Ehemann, meinen Opa. Marshall Matthias der Zweite. Offenbar bin ich der dritte Versuch.
Ich war schon immer Mars. Tante Michelle stellt sich einfach nur dumm.
»Mir ist beides recht«, behaupte ich und sie entspannt sich, als hätte ich gerade ihr Leben verschont. Ich verkneife mir ein Augenrollen. Ich bin genderfluid, keine Granate.
»Mars, Schätzchen, hör zu«, sagt Mom und reibt meine Arme. »Du musst nicht hier unten bleiben, wenn du nicht willst. Ich weiß, du wolltest nicht, dass die Zeremonie im Haus stattfindet, nur …«
»Es ist Tradition, ich weiß.«
»Ja. Aber Traditionen sind was für alte Leute. Und der wichtige Teil ist vorbei. Warum holst du dir nicht ein Eis oder so?«
Ich zucke mit den Schultern. »Aber Dad …«
Auch Mom zuckt mit den Schultern. »Ich kümmere mich um Dad.«
»Aber du …«
Moms Augen sind gerötet, ihre Haut ist papierdünn, als würde die Trauer sie von innen heraus auffressen. Und doch lächelt sie angesichts meiner Sorge. Sie drückt mich und streichelt durch das gestärkte weiße Hemd meinen Rücken. Mir sind die Blicke nur allzu bewusst, die beobachten, wie die Senatorin ihr Kind umarmt. Jetzt ihr einziges Kind. Auch ich beobachte die Menge und mein Blick landet auf Bria, Sierra und Mimi.
Caroline nannte sie »die Honeys«.
Ich entziehe mich der Umarmung.
»Ich bleibe«, sage ich. Ich suche im Gesicht meiner Mom nach Anzeichen von Erleichterung, kann aber keine entdecken. Ich kapiere zu spät, dass sie gehofft hatte, ich würde gehen. Verschwinden, wie sonst immer.
»Wenn du das willst«, entgegnet sie und ihr Schauspiel ist perfekt. Caroline würde mich tadeln, dass ich zu hart zu ihr bin, und vielleicht bin ich das. Ich kann nicht anders. In den letzten Tagen hat sich mein Verstand in einen Wirbelsturm aus Zweifeln und Zynismus verwandelt. Meine Schutzmechanismen gegen meine natürliche Paranoia sind momentan kaum noch vorhanden.
Vielleicht sollte ich doch verschwinden.
Ich verlasse die Küche. Überall sind Leute, außer im Salon. Ich schleiche mich hinein, gehe zu den breiten Glastüren, ohne zum Sarg zu blicken, und schlüpfe in den Wintergarten. Es war meine Aufgabe, mich um die Pflanzen zu kümmern, solang Caroline den Sommer über weg war, und bis zu ihrem Tod habe ich sie nicht allzu ernst genommen. Jetzt bin ich besessen davon. Ich lasse mir Zeit, um die Feuchtigkeit der Erde zu prüfen, zu gießen und tote Blätter wegzuschneiden. Der Pak Choi versucht immer wieder zu blühen, doch ich breche die Triebe ab, wie Caroline es mir gesagt hat. Ich sammele die zerdrückten Knospen und Schnittabfälle in einen zerbeulten Eimer, der bereits halb voll ist. Die Arbeit beruhigt mich und ich will gerade in den Salon zurück, als ich erstarre.
Durch das verzerrende Glas der Fenstertüren sehe ich Leute, die sich über den offenen Sarg beugen. Es sind Bria, Sierra und Mimi. Die Honeys. Etwas in ihrer Haltung macht mich nervös. Ich glaube, es ist die Art, wie sie sich vorbeugen, wie Leute, die ein Büffet inspizieren und überlegen, an welchen Leckereien sie sich bedienen wollen.
Sierra und Mimi wenden sich ab und decken Bria, die ihre Hände in ihren schwarzen Locken vergräbt und ihre Ohrringe abnimmt. Dann beugt sie sich in den Sarg und legt die Ohrringe Caroline an. Mit ruhigen Händen dreht sie Carolines erstarrten Kiefer, als hätte sie das schon oft gemacht. Die Bewegung ist so schnell – so seltsam und übergriffig in der friedlichen, stillen Atmosphäre des Salons –, dass ich fast meine, mich getäuscht zu haben.
Die Mädchen gehen. Sie haben die kleinen Finger untergehakt und ihre Hände schwingen zwischen ihnen. In der warmen Luft des Wintergartens ist meine Ruhe dahin. Schweiß steht mir auf der Oberlippe. Ich schleiche mich wieder in den Salon und nähere mich dem Sarg. Während ich zuvor nur die Berge von Blumen um ihn herum angesehen habe, richte ich meinen Blick nun endlich auf das blasse Ding in seinem Inneren. Caroline. Sie ist in Pink und Weiß gehüllt. Alles an ihr wirkt falsch – ihr Kiefer verkrampft und ihre Haut zu rosig, ihre Lippen leicht geöffnet. Meine Gedanken zucken zwischen diesem auf weiche Kissen gebetteten abscheulichen hübschen Ding und dem unheimlichen Lächeln, mit dem sie mich inmitten des zerbrochenen Kristalls und des schwankenden Lichts bedacht hat.
Ich beuge mich vor. Kurz rieche ich diese schreckliche süße Verwesung. Den Geruch jener Nacht, der unauslöschlich in meine Laken eingesickert ist. Ich halte den Atem an und gehe noch näher ran. Ich bin nur Zentimeter von Carolines Gesicht entfernt. Ihr Make-up wirkt pelzig, wie Pollen. An Carolines Kiefer erkenne ich Brias Fingerabdrücke. Ich greife in den Sarg und streiche Carolines Haar zurück, erschaudere, als meine Knöchel die kalte, tote Haut ihrer Wange streifen.
Ein kleiner Ohrring funkelt zwischen ihren mausbraunen Locken. Er ist durch Carolines Ohrläppchen gesteckt. Es ist eine goldene Biene, so detailliert, dass ich fast eine Bewegung erwarte. War sie vorher schon da oder hat Bria sie dort platziert? Ich weiß, ich muss aufhören, aber ich fahre mit dem Finger über das Gold. Es ist noch warm. Die Wärme des Körpers einer anderen.
Und dann kriecht etwas aus Carolines Ohr.
Ich reiße die Hand zurück. Dabei stoße ich gegen Carolines Kopf und aus dem Sarg schwirren drei schwarze Punkte. Sie halten auf mich zu. Panisch schlage ich sie weg und verliere sie daraufhin vor dem bunten Hintergrund der Blumen aus den Augen. Ich kann hören, wie sie mich umkreisen. Dann spüre ich etwas Winziges, Schnelles am Rand meines eigenen Ohrs entlangkrabbeln, als würde es versuchen, unter den Verband zu gelangen.
Ich schreie auf und schlage mir die Hände auf die Ohren, um es zu zerquetschen. Schmerz flammt hinter meinen Augen auf und ich weiß, ich habe die Wunde wieder geöffnet. Arme fangen mich auf. Ich schlage um mich, bis das Summen weg ist. Im schwachen Licht über dem Sarg erkenne ich die dunklen Schemen der Bienen. Sie landen auf Carolines Kehle, auf ihren Lippen und einem Augenlid.
Und auch wenn Leute mich wegziehen, bin ich nahe genug um zu sehen, wie die Insekten über die Wölbung ihres Wangenknochens huschen und sich zurück in ihren Kopf stehlen.
Die Honeys.
So nennen alle in Aspen die Mädchen aus Hütte H. So ist es schon seit Jahrzehnten, hat Caroline erzählt. Sie hasste den Begriff – sie fand, er sei entwürdigend –, aber sie hasste auch die Mädchen, weil sie ihn so bereitwillig akzeptierten. Sie verspottete ihre seltsam übertriebene Mädchenhaftigkeit. Meinte, es sei widerlich, wie sie ihre kleinen Finger unterhakten. Doch als Caroline in dieser glorreichen Hütte untergebracht wurde, nahm sie es widerstandslos hin.
Weil jeder weiß, dass es eine Ehre ist, Zutritt zu Hütte H zu erlangen.
Alle Hütten in Aspen haben ihre eigene Geschichte, wie es sich für alle Spielplätze der Reichen gehört. Geschichtlich gesehen galt Hütte H als Armenhaus. Sie war weit draußen in der Nähe der Sümpfe, wo Aspen eine Bienenwiese mit mehreren Stöcken unterhält, und die Mädchen mit einem Stipendium waren gezwungen, dort zu leben und für ihre Mahlzeiten und andere Aktivitäten den weiten Weg ins Camp auf sich zu nehmen.
Man nannte sie die Honeys, weil sie als Arbeiterbienen angesehen wurden, mit anderen Worten als Arbeiterklasse. Es war als Beleidigung gemeint. Dann wurden diese Mädchen erwachsen und nutzten ihre Verbindungen untereinander, um reich zu werden. Ihre Kinder gingen ebenfalls nach Aspen. Und dann die Kinder ihrer Kinder. Gehüllt in den goldenen Glanz der Nostalgie und ohne den Hauch der Armut wurde Hütte H zu einem Symbol für Fleiß und rustikale Eleganz. Jede neue Generation baute auf der elitären Denke der letzten auf und kultivierte eine durchtriebene Macht so süß und unwiderstehlich wie der Honig, nach dem sie benannt waren. Gleichzeitig kümmerten sich die Honeys Jahr für Jahr um diese Bienen, pflanzten Blumen, die die Bienen bevorzugten, und ernteten ihre klebrige Belohnung.
Aber auf Macht folgt Ausgrenzung. Rituale. Initiationen und Treuetests, zumindest heißt es so. Das alles soll ein Geheimnis sein, aber die Art Geheimnis, über die alle tuscheln sollen, während die Mädchen sich ahnungslos geben und sich hinter ihrer äußeren Schönheit verstecken. Die Kosenamen und die untergehakten kleinen Finger – das ist alles nur eine Fassade. Die Fassade eines Raubtiers. Wie ein stechendes Insekt, das sich in der sanften Blüte einer Blume verbirgt.
Niemand würde sie je hinterfragen. Zumindest habe ich es nie erlebt. Und das ergibt auch absolut Sinn. Wer diese Fassade charmant findet, hat keinen Grund dahinterzublicken. Wer sie dagegen problematisch findet, verurteilt die Mädchen in seiner Rechtschaffenheit schnell. Und die Erwachsenen in Aspen verehren sie. Die Honeys verkörpern die Tugend glorifizierter Widerstandsfähigkeit, die das Camp reichen Eltern verkauft, die ihre verwöhnten Gören abhärten wollen, während sie gleichzeitig sicherstellen, dass sie von den richtigen Leuten umgeben sind. Die Honeys sind die richtigen Leute.
Caroline hasste die Honeys, bis sie selbst eine von ihnen wurde. Und eine Zeit lang hasste ich Caroline, weil sie besaß, was ich mir am meisten wünschte, und es sie nicht mal interessierte.
Sie verurteilte diese Mädchen so leichthin. Aber das war ihre Art. Caroline trug ihre Distanziertheit wie einen schicken Mantel, wie die Wasser abweisende Haut eines Seehunds. Die Realität perlte daran ab, sodass sie angesichts der wilden, chaotischen Welt immer gelassen und unbeeindruckt wirkte. Ich bin nicht wie sie – ich beiße mich an allem fest. Jede kleine Sehnsucht wächst aus mir heraus wie Dornen, sodass man mich unmöglich umarmen kann. Ich wirke tough, aber eigentlich bin ich armselig. Anders als Caroline. Sie war in ihrer Isoliertheit unverwundbar. Sie brauchte nichts und niemanden.
Dinge zu brauchen, hat sie mir mal erklärt, bedeutet, dass man kontrolliert werden kann. Und das will ich nicht. Kontrolliert zu werden. Dinge zu brauchen. Jemand anders als mich selbst zu brauchen.
Das war ihre Art. Sie war stark und doch nie allein. Ich hasste sie dafür.
Ich wollte – habe stets gewollt –, was die Honeys hatten. Es war ein augenblicklicher, unbewusster Wunsch, wann immer ich wunderschöne Mädchen sah. Ich sehnte mich nicht nur nach ihrer Schönheit, sondern nach ihrer Freiheit, Schönheit verkörpern zu können. Auch nach ihrer schwesterlichen Nähe und der Macht, die sie ihnen verlieh. Ich wollte Teil dieses schönen Scheins sein und ich bin nicht sicher, ob Caroline je verstanden hat, warum. Wann immer ich über dieses unverständliche Verlangen oder das verzweifelte, heftige Rauschen, das sich unter meiner Haut regte – wenn ich Mädchen sah und den Unterschied zwischen ihnen und mir –, zu reden versuchte, zuckte sie nur wenig hilfreich mit den Schultern. Als würde nur ich dieses Verlangen kennen. Seltsam. Fremd. Und ich fing an, mich wie ein fremdartiges Wesen zu fühlen.
Ich denke, an genau diesem Punkt haben wir uns auseinanderentwickelt. Unsere Körper veränderten sich, meiner brach in eine Richtung aus, die mich weiter und weiter von meiner Schwester und Mädchen wie den Honeys entfernte. Schließlich fühlte sich die Binärität der Hütten in Aspen unerträglich an. Wie eine permanente Frage, die ich nicht beantworten konnte.
Wer bin ich?
Was bin ich?
Und dann … na ja. Und dann musste ich Aspen verlassen. Zum Wohle aller, wurde mir gesagt.
Und Caroline blieb.
Nein, es war schlimmer als das. Sie flehte darum, bleiben zu dürfen. Und unsere Eltern, die Aspen von Anfang an skeptisch gegenübergestanden hatten, erlaubten es. Ich denke, das war der Punkt, an dem ich sie verlor. Als ich sie in Aspen allein zurückließ und sie Monate später als frisch gekrönte Honey heimkehrte.
Mein Körper hinterging mich. Und schließlich auch meine Schwester, schätze ich.
Unterdessen verbrachte ich den Sommer zu Hause, sehnsüchtig und wütend, und tat so, als hätte mich das alles ohnehin nie interessiert. Ich versuchte, mir Carolines legendäre Gleichgültigkeit anzueignen. Ich schwor der großen Weite der Natur ab und widmete mich den inneren Mechanismen von Computern. Logik. Mathe. Ich machte mich über Carolines kleine Camp-Projekte lustig – die Freundschaftsbändchen, das Kerzentauchen –, als wäre das nicht genau, was ich wollte. Caroline ließ mich gewähren. Sie spielte bei meinem ganzen Aspen ist eine sexistische, kapitalistische Sekte-Protest mit, doch ich konnte erkennen, dass sie diese Mädchen mehr liebte als sonst irgendwas. Beim Abendessen explodierte ihr Handy vor Nachrichten aus ihrem Gruppenchat. Sie redeten die ganze Nacht. Und in den Wintermonaten schickten sie einander diese widerlich süßen »Aspen-Vorbereitungspakete«.
Glaubt mir, wenn ich euch sage, es gibt nichts Beängstigenderes, als wenn der Mensch, den ihr liebt, langsam eingewickelt wird von kitschigen Scrapbooking-Tutorials und handbemalten Bilderrahmen.
Ich wollte, dass Caroline hasste, was ihr da widerfuhr, aber zwischen diesen Mädchen war kein Raum für Hass. Nur eine Schwesternschaft, die ich verabscheute, beneidete, liebte und verachtete, alles gleichzeitig.
Doch etwas ging schief. Im Wald. In der Hütte. Ich weiß, dass etwas schrecklich schiefging.
Als Caroline letzten August nach Hause kam, hatte sich etwas verändert. Ihre unbeschwerte Freude schwankte wie der Ton einer verzogenen Platte. Sie wollte nicht mit mir übers Camp reden und ich hatte den Eindruck, dass sie auch nicht zurückwollte. Das bestätigte sich, als die Monate vergingen und Caroline bei jeder Erwähnung der Aspen-Naturstätte stottern musste. Etwas am Camp stieß sie ab oder vielleicht waren es auch die Mädchen selbst. Die Aspen-Vorbereitungspakete fand ich ungeöffnet auf ihrem Schreibtisch. Sie hörte mit dem Scrapbooking auf, keine Gruppenchats mehr, keine nächtlichen Anrufe. Sie erzählte nie, warum.
Und es wird mich bis zu meinem Tod verfolgen, warum ich sie nie gefragt habe, was passiert war.
Was immer es war, Caroline hatte Angst. So große Angst, dass sie sie bis zum Frühling völlig vereinnahmte. Sie lief in ihrer Haut herum, eine Todesangst verkleidet als meine Schwester. Irgendeine Saat der Furcht, die vor langer Zeit gepflanzt worden war, erblühte nun in ihrem Körper.
Dann kam der Juni und Caroline fuhr nach Aspen.
Und Tage später kehrte sie zurück und brach in mein Zimmer ein.
Und dann starb Caroline.
Und dann standen die Honeys vor meiner Tür.
Und dann …
Ich weiß immer noch nicht, was ich am Tag der Beerdigung gesehen habe. Ich habe Angst, auch nur darüber nachzudenken. Jedes Mal wenn ich meine Erinnerung genauer betrachten will, verschwimmt sie. Am klarsten ist sie, wenn ich nicht zu angestrengt darüber nachdenke und mich am Rand meines Bewusstseins von ihr leiten lasse wie von einem Instinkt.
Und mein Instinkt sorgt dafür, dass ich zwei Tage nach der Beerdigung meine Tasche packe und beim Sonntagsbrunch erkläre: »Ich gehe zurück nach Aspen.«
Mom legt ihr Handy neben ihren Teller. Dad sieht von seinem Laptop auf.
»Was? Warum?«, fragt er.
Ich atme tief ein. Für diese erste Phase meines Plans muss ich die Ruhe bewahren.
»Die Mädchen aus Carolines Hütte haben mir angeboten, sie zu besuchen. Und es war Carolines Lieblingsort. Ich will hin und mir alles noch mal ansehen und …«
Meine Stimme bricht. Ich dachte, ich würde lügen, aber ich muss mir eingestehen, es ist wahr. Ja, ich habe einen Verdacht und natürlich einen Grad der Paranoia erreicht, in den nur ich, Mars Matthias, mich steigern könnte, nur …
Nur stimmt es. Ich will wirklich Carolines letzten Tagen an dem Ort nachspüren, an dem sie am glücklichsten war, um zu sehen, ob ich sie daraus statt aus unseren grauenvollen letzten Augenblicken wieder zusammensetzen kann. Wenn ich ihren Tod überleben will, brauche ich eine letzte Version von ihr, mit der ich leben kann.
Dad seufzt und legt seine Hand auf meine. Moms Miene lässt sich nicht deuten, was heißt, wie ich weiß, dass sie nach einer Möglichkeit sucht, es mir auszureden.
»Ich denke, ein Besuch im Camp könnte nett sein«, sagt sie schließlich. »Wir können zusammen fahren.«
»Ich will aber dort bleiben. Allein.«
»Wie lange?«
So lange es dauert herauszufinden, was diese Mädchen getan haben, denke ich insgeheim. Jedoch sage ich: »Ihr habt Carolines Schulgebühren und die Unterkunft bereits für den ganzen Sommer bezahlt, das Camp wird mich also wohl eher bleiben lassen, wenn sie dafür das Geld behalten können.«
Meine Eltern mustern mich, als würde ich vollkommenen Unfug reden. Ihr Zögern tut weh. Sie waren nie in Aspen, aber in ihrer Jugend jeden Sommer in ähnlichen Camps. Es ist ihnen immer leichtergefallen, Carolines Begeisterung zu verstehen als meinen Protest. Sogar nach allem, was mir passiert war, drängten sie mich zurückzugehen. Stärke zu zeigen, wie es sich für einen Matthias gehört. Aber die Zeit der Stärke ist vorbei, schätze ich. Dass Carolines Tod nötig sein würde, damit meine Family endlich Zweifel gegenüber Aspen entwickelt … facht meine Entschlossenheit nur weiter an.
»Und die Leute da schulden es mir«, sage ich schließlich. »Wisst ihr noch, wie sie gefleht haben?«
Ich weiß, meine Eltern wollen nicht darüber reden, wer wem was schuldet, doch genau aus dem Grund spreche ich es an. Es zu erwähnen zwingt sie, vom Wie zum Warum meines Aufenthalts überzugehen.
Mom schenkt mir ein versöhnliches Lächeln. »Mars, worum geht es hier wirklich?«
Ich schiele zum Salon. Er sieht wieder genauso aus wie früher, aber wann immer ich mich ihm nähere, spüre ich das Phantomkitzeln der Biene, die über meine Haut kriecht.
»Ich kann nicht hierbleiben«, beende ich meine Argumentation. »Ich kann den Sommer nicht in diesem Haus verbringen.«
Mom seufzt. Wir alle erinnern uns an die Szene, die ich bei der Feier des Lebens gemacht habe. Jetzt setze ich sie als Drohung ein. Wenn es eins gibt, was Mom um jeden Preis verhindern will, dann eine Szene.
»Heather«, schaltet sich Dad ein und wirft ihr einen langen Blick zu. Sie kommunizieren in ihrer wortlosen Elternsprache. Moms Gesicht glättet sich, wird unlesbar. Gleichzeitig drehen sich beide zu mir.
»Wir reden darüber.«
Großartig. Phase eins abgeschlossen. Beim Fechten nennt man das eine Finte. Eine Bewegung, die den Gegner zu einem Angriff verleiten soll, auf den man vorbereitet ist. Den Rest des Tages igele ich mich im oberen Stockwerk ein, lese über Aspen und bereite meinen Gegenangriff vor. Diese Familie ist von Trauer geschwächt und zutiefst bedacht auf den äußeren Schein. Deshalb besteht Phase zwei meines Plans daraus, vor meinem Badezimmerspiegel zu stehen und mit der Küchenschere meine Haare abzuschneiden.
»Mars? Können wir mit dir reden?«
Beide Eltern stehen vor meiner Tür. Ich genieße ihren Schock zu sehen, was ich meinem Haar angetan habe. Mom schluckt. Dad sieht aus, als würde er gleich losfluchen, doch er tritt einfach nur in den Flur hinaus.
Mom setzt sich auf mein Bett, hält meine Hand und starrt mich an.
»Warum, Schätzchen?«
»Aspen hat strikte Regeln für die äußere Erscheinung«, erkläre ich und bemühe mich um einen ruhigen Tonfall. Emotionslos. »Sie werden mich in eine Hütte der Jungs stecken. Jungs müssen kurze Haare haben.«
In der Stille kann ich meine Mom schwer schlucken hören. Sie sucht nach den richtigen Worten, um mir zu sagen, dass ich nicht fahren darf, kann es aber nicht. Ich habe sie überrumpelt. Meine Riposte funktioniert.
»Habt ihr mit den Leuten in Aspen gesprochen?«, frage ich.
»Allerdings, ja.« Sie fängt sich ein wenig, als würde sie von einem Traum erzählen, an den sie sich gerade erinnert hat. »Sie freuen sich auf deinen Besuch.«
»Nur als Gast oder um teilzunehmen?«
»Das haben wir offengelassen«, sagt sie langsam. »Mars, hör zu, Schätzchen. Du hast recht. Die Campregeln gestatten nur, dass sie dich in eine Hütte stecken mit anderen …«
Mit anderen Jungs, auch wenn sie es nicht ausspricht. Ich wäre nicht verletzt, wenn sie es täte. Meine abgeschnittenen Haare sollen das beweisen – dass ich genauso viel Junge wie Mädchen bin, dass ich mich wandele, wie es mir gefällt, dass Haare nichts damit zu tun haben. Das Zögern meiner Mom zeigt, dass ihr brillanter Verstand immer noch nicht begreift, dass meine Fluidität ein Vorteil ist, kein Hindernis.
»Schon gut«, versichere ich ihr. »Das dachte ich mir schon. Es macht mir wirklich nichts aus. Ich trag sogar die Uniform der Jungs.«
Moms Augenbrauen schießen nach oben. »Sogar die Cargoshorts?«
»Nichts, was übers Knie geht, aber ja, sogar die Cargoshorts.«
Damit ernte ich ein trauriges Lächeln. »Mars, Schätzchen, Aspen ist zwei Stunden entfernt und du wirst ganz allein sein«, sagt sie. »Nach dem, was das letzte Mal passiert ist …«
»Das wird nicht wieder passieren«, versichere ich.
Sie bezweifelt es. Ich bezweifle es auch. »Es wäre ein PR-Albtraum, wenn Aspen noch mal zulassen würde, dass mir was passiert, vor allem jetzt«, füge ich hinzu. »Mir passiert nichts. Versprochen.«
Dad hat sich an der Tür postiert. Er beobachtet uns, mahlt mit den Kiefern. Er und Mom tauschen einen langen Blick aus, eine stumme Unterredung nur mit den Augen.
Ich übergehe ihr Zögern.
»Also, wann fahren wir los?«
Wieder seufzt Mom. Ich wünschte, ihre Resignation würde aus Liebe entspringen, aber das tut sie nicht. Es geht nur um die Optik.
»Morgen«, sagt Mom. Dad schnaubt. Mom steht auf, meine Hand gleitet aus ihrer und dann ist sie weg. Dad mustert mich ein paar Sekunden zu lang, als wäre ich eine seltsame Vase in einem Museum.
»Sie macht sich Sorgen um dich, Mars.«
»Ich weiß.«
»Denkst du wirklich, deine Schwester hätte das gewollt?«
Caroline hätte leben wollen. Die Antwort brennt mir auf der Zunge, doch ich schlucke sie hinunter. Stattdessen sage ich schlicht: »Ich will das.«
Endlich betritt mein Vater mein Zimmer und fährt mit seiner großen Hand über das Schlachtfeld auf meinem Kopf. Er sieht sich um und sein Blick landet auf dem Bücherregal, auf der Sonnenuhr, die hoch oben außer Reichweite steht.
»Ich kann’s dir nicht verdenken. Aber können wir deinen Haarschnitt morgen früh in Ordnung bringen lassen? Selbst draußen in den Wäldern bist du immer noch ein Matthias.«
Ich lächele und nicke. Dad verlässt das Zimmer.
Ich atme ein und aus, bis mein Herz sich beruhigt. Ich krieche unter meine Decke, dann greife ich unter mein Kissen. Ich ziehe die Kerze heraus und betrachte die Schnitte im Wachs. Ich halte sie an meine Nase und könnte schwören, unter der Süße einen Hauch von Verwesung wahrzunehmen. Etwas, das nicht richtig ist.
Offiziell starb Caroline an einem Tumor. Inoffiziell starb sie bei einem Gewaltakt, den dieser Tumor ausgelöst hat. Ein Unfall. Die grausame Vereinigung von Wahnsinn und Schwerkraft und mir, dem schweren Ding, das sie erschlagen hat.
Aber ich kenne meine Schwester.
Sie war nicht verrückt, aber sie war verängstigt. Sie hatte das gesamte Jahr vor der Sommerakademie Angst und war trotzdem hingefahren. Und in jenem Moment im Flur, als sie mich auf den Boden gedrückt hat, war ihr Geist klar.
Das Chaos jener Nacht rauscht in meinem Kopf. Ich höre ihre Schreie, während ich den Flur hinunterstolpere. Erneut sehe ich die erschreckende Helligkeit unseres Zuhauses, pink gefärbt durch das Blut in meinen Augen. Wir fallen. Sie wird zerschmettert.
Mars. Mars. Geh nicht. Geh nicht.
Es war ein Befehl. Oder eine Drohung. Zumindest dachte ich das. Jetzt denke ich, es steckt mehr dahinter. Eine Warnung, so wichtig, dass sie Caroline an den Rand des Wahnsinns getrieben hat und geradewegs hinein in was auch immer dahinterliegt.
Geh nicht. Geh nicht.
»Es tut mir leid, Caroline«, flüsterte ich in mein leeres Zimmer. »Aber ich muss zurück.«
Auf Dads Bitte hin öffnet der Friseurladen vor der Zeit und das Schlachtfeld auf meinem Kopf wird in einen jungenhaften Haarschnitt verwandelt. Um mein Ohr herum ist man besonders vorsichtig. Während die Schere meinen Schädel entlangratscht, beobachte ich, wie das Haar auf meinen Schoß fällt, und versuche, mir selbst einzureden, dass es nichts ändert. Ich bin immer noch ich.
Na ja, eine irgendwie angeschlagene Version meiner selbst. Am Ende weigere ich mich, mich zu betrachten, aber Dads schiefes aufmunterndes Lächeln verrät mir auch so, wie traurig das Endergebnis aussieht. Mom seufzt. Das tut sie noch sehr oft, während wir das Auto beladen und in die Catskills aufbrechen.
Meine Eltern kommen beide mit, was sonst selten vorkommt, aber ich kann spüren, dass auch sie Aspen einen Besuch abstatten wollen. Vielleicht haben sie genau wie ich Fragen, die sie persönlich klären wollen. Dad fährt, Mom steckt in Telefonkonferenzen und ich liege auf dem Rücksitz und chatte mit ein paar Freunden darüber, was bei mir los ist. Ich poste auch ein paar Updates auf meinen Kanälen, um alle wissen zu lassen, dass ich eine Weile offline sein werde. Schnell werde ich mit Herzchen und Nachrichten bombardiert, die sagen: Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich lege mir das Handy mit dem Display auf die Brust und lasse mich vom Rauschen des Highways in den Schlaf lullen.
Meilen später setze ich mich mit steifem Nacken auf. Durch das Schiebedach fällt ein greller Lichtschein. Mein Traum von gerade eben verblasst im getönten Licht, und als ich mich strecke, knackt meine Wirbelsäule. Auf meinem Handy erwartet mich ein endloses Sperrfeuer von Mitleidsbekundungen und ich lösche alle Benachrichtigungen, ohne sie zu lesen.
Wir werden langsamer. Das hat mich geweckt. Jetzt halten wir auf einem schimmernden Platz voller in der Sonne brutzelnder Autos.
»Was meinst du? Wird das gehen, Mars?«
Ich glaube, Dad erwartet irgendeine Reaktion zu dem Laden, an dem wir fürs Mittagessen angehalten haben. Es ist ein Applebee’s. Ich wüsste nicht, wie ich eine Meinung zu Applebee’s haben könnte.
»Schon okay.«
Ich will mir mit der Hand durch die Haare fahren, aber natürlich sind sie nicht mehr da. Ich staune über das stachlige Gefühl auf meinem Kopf. Als wir reingehen, betrachte ich mein Spiegelbild, das über das Chrom der geparkten Autos tanzt und hüpft. Dann liegt mein Spiegelbild auf dem dunklen Glas der Eingangstür und mustert mich wie ein unbeteiligter Schatten. Schließlich steckt es in einem WC-Spiegel und ich bin gezwungen, mich zum ersten Mal seit Langem zu betrachten.
Die Platzwunde an meiner Stirn glänzt. Der Verband über meinem Ohr ist jetzt aus allen Winkeln sichtbar. Ich fahre mit den Fingerspitzen über das chirurgische Klebeband und suche nach der kleinsten Öffnung. Irgendwas, durch das ein Insekt hineinkrabbeln könnte. Als Nächstes untersuche ich meine Hand. Ich muss im Schlaf irgendwas gemacht haben, denn unter einem Nagel hat sich ein roter Fleck gebildet. Ich tupfe ihn mit einem Papierhandtuch weg und zucke zusammen, da sich einer der Nagelsplitter bewegt. Meine Augen tränen. Jemand versucht, die Tür zu öffnen.
»Eine Minute«, rufe ich.
Im Spiegel sehe ich ein Wrack. Ein stachelhaariges, monströses Ding, das sich im gelben Licht zusammenkauert. Meine Haut ist von alten blauen Flecken überzogen, mein Blick tränenverschleiert und oh, na super, jetzt blute ich auch noch ins Waschbecken. Ich weiß, die Leute denken, dass Queersein superglamourös und voller schlagfertiger Retourkutschen und so ist, aber manchmal bedeutet es auch einfach nur, auf dem Klo eines Applebee’s irgendwo in der Nähe von Margaretville, New York, zu heulen, während für die frühen Mittagsgäste Rihannas S&M aus den Lautsprechern dröhnt.
Ein Wrack. Und ein hässliches noch dazu.
Was mir gar nicht ähnlichsieht. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie gehen lassen. Wenn ich die Kontrolle verliere, hat jemand anders Kontrolle über mich – das schärfte uns Mom immer ein. Sie meinte damit, wenn wir die Kontrolle über eine Situation verlieren, ist das eine Gelegenheit für jemand anders, uns auszunutzen. Ich habe es allerdings nicht so verstanden. Für mich bedeutet es: Es liegt bei dir, von den Leuten einzufordern, als du selbst wahrgenommen zu werden, sonst werden sie fast immer entscheiden, dass du jemand anders bist. Vielleicht jemand, der schwach ist oder verletzlich oder den man übergehen kann.
Ich kann es mir nicht leisten, irgendwas davon zu sein. Ich darf kein Wrack sein, nicht wenn mein erster Aufenthalt in Aspen mir ganz genau gezeigt hat, wie hässlich die Dinge werden können, wenn andere meine Geschichte bestimmen.
Und doch stehe ich jetzt hier, ein Wrack. Aus gutem Grund, ja, aber ich kann es mir nicht erlauben, ein Wrack zu sein. Und was noch schlimmer ist, ich habe Angst.
Aspen ist nur noch ein paar Meilen entfernt. Minuten. Augenblicke. Und das nach Jahren des Grübelns in der Ferne. Ich kann mir nicht mal vorstellen, jetzt zu essen. Kein 2-für-20-$-Menü für Mars Matthias.
Ich spüle das Blut aus dem Waschbecken und werfe mir selbst einen strengen Blick zu. Ich starre, bis das Wrack beseitigt ist und nur Mars mir entgegenblickt.
Wieder im Auto lese ich erneut die letzten paar Nachrichten zwischen Caroline und mir. Unser Chat ist unter Bergen von Beileidsbekundungen von Familie und Klassenkameraden begraben, die meisten ungelesen, alle unbeantwortet. Carolines Nachricht ist ein Foto unserer Eltern, die vor dem Aspen-Schild posieren, an das ich mich nur vage erinnern kann.
Pass gut auf die beiden auf! Wir sehen uns auf der anderen Seite!