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»Irgendwie landen wir immer hier, oder?«
Einen Atemzug lang schwiegen wir und lauschten dem Schmerz zwischen uns.
»Hier hat es eben aufgehört«, flüsterte ich.
Tilda verbringt ihre Zeit im Antiquitätenladen ihres Dads. Ein Tag reiht sich an den nächsten, es passiert nicht viel im Küstenstädtchen Lunar Creek – bis er wieder auftaucht. Nach vier Jahren Funkstille ist Laurie plötzlich wieder da und mit ihm all die unausgesprochenen Gefühle und Fragen von damals.
Hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, lernt sie Laurie neu kennen und muss feststellen, dass nicht alles so war, wie es damals schien. Während beide versuchen, ihre Träume und Wünsche mit der Realität in Einklang zu bringen, müssen sie sich endlich ihren Ängsten stellen. Doch ist das überhaupt möglich, wenn so viel zwischen ihnen steht?
Alina A.E. Maurer erzählt in »A Sea of Starlight« einfühlsam von der Suche nach Zugehörigkeit, dem Umgang mit Verlust und den unendlichen Möglichkeiten eines Sommers
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Seitenzahl: 411
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Für alle, die das Gefühl haben,
zu leise, zu passiv, zu langweilig zu sein.
Du bist gut genug, genau so, wie du bist.
Take Me Back
Episode 1
Damals
Es war viel zu februarkalt, um ohne Jacke draußen zu sein. Trotzdem saß ich auf der Holzbalustrade und ließ die Beine baumeln. Meine Lunge brannte noch von dem Joint. Ich sah über meine Schulter, um sicherzustellen, dass die anderen wieder reingegangen waren. Dann hustete ich, was das Brennen nur noch schlimmer machte. Ich hatte nicht mitrauchen wollen, aber der Joint war mir völlig selbstverständlich hingehalten worden. Ich war eigentlich nur mitgekommen, um frische Luft zu schnappen. Drinnen war es laut und voll, der Bass wummerte bis auf die Veranda hinaus.
Ich hätte Lauries Einladung ablehnen sollen. Was tat ich hier überhaupt? Auf einer Party, auf die die halbe Schule ging, mit Menschen, die mich sonst auf dem Flur ignorierten. Vielleicht hatte ich gedacht, ich wäre plötzlich anders. Ein Teil von ihnen. Aber so funktionierte das Leben nicht, die Sterne änderten nicht auf einmal ihre Konstellationen.
»Ist dir nicht kalt?«
Ich wusste, ohne mich umzudrehen, dass es Laurie war. Nur er hatte diese Stimme wie brechende Pazifikwellen.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich konnte nicht aufhören, nach oben zu starren und mich zu fragen, wieso die Sterne so weit weg waren. Der nächste war Proxima Centauri mit 4,25 Lichtjahren, und selbst das wirkte wie halbe Unendlichkeiten.
»Das klingt gar nicht so weit«, sagte er und schwang sich neben mich auf das Geländer. Anscheinend hatte ich meinen zusammenhanglosen Gedanken laut ausgesprochen.
»Das sind über 25 Billionen Meilen«, widersprach ich. »Die Voyager 2, die seit 1977 im Weltraum ist, hat erst ungefähr zehn Milliarden Meilen zurückgelegt.«
»Okay, vielleicht ist das doch ziemlich weit«, gab Laurie lachend zu. Er tat es mir nach und sah auch nach oben. »Dazu sind wir im Vergleich ziemlich unbedeutend, was?«
Ich konnte wieder nur mit den Schultern zucken.
»Du wirst bestimmt auf deiner Party vermisst«, sagte ich.
Jetzt war es an ihm, die Schultern zu heben. »Die werden es auch ohne mich aushalten.«
»Aber es ist dein Geburtstag.«
»Willst du mich loswerden, Tilda?«, fragte er amüsiert. »Außerdem ist es nur noch ...« Er zog umständlich sein Handy aus der Hosentasche, was auf dem Geländer und mit einer Dose Bier in der Hand ziemlich gefährlich aussah. »... eine Minute lang mein Geburtstag.«
Ich fuhr mit den Händen über meine nackten Unterarme. Ich vermisste die langen Ärmel meines Lieblingswollpullovers, in dem ich meine Hände vergraben konnte.
»Und du frierst doch«, sagte Laurie. Er hielt mir die Bierdose hin und automatisch nahm ich sie entgegen. »Trink ruhig einen Schluck, wenn du willst«, fügte er hinzu.
Ich wollte nicht. Wollte aber auch nicht langweilig wirken oder – schlimmer noch – Nein sagen. Also setzte ich die Dose an meine Lippen. Das lauwarme Bier schmeckte widerlich.
Laurie zog sich sein Sweatshirt über den Kopf. Eine einzige geschmeidige Bewegung, bei der sein T-Shirt darunter hochrutschte und einen hellen Rücken entblößte. Ich verschluckte mich an dem Bier.
Er reichte mir den Pullover und nahm dafür seine Dose wieder an sich. Ich starrte den hellgrünen Stoff in meiner Hand an.
»Er beißt nicht«, sagte er mit funkelnden Augen. Da spiegelten sich ganze Universen in ihren Tiefen, dessen war ich mir sicher. »Zieh ihn ruhig an, mir ist nicht kalt.«
Ich blinzelte nur.
»Als dein Geburtstagsgeschenk«, sagte er. Er hielt sein Handy hoch, das Mitternacht anzeigte. »Happy Birthday, Tilda.«
Also schlüpfte ich in das Sweatshirt hinein, zog den Reißverschluss am Kragen hoch und vergrub eine Sekunde zu lang meine Nase darin. Es roch nach ihm. Nach Farbe und Waschmittel, und so unverkennbar Laurie. Gemütlich irgendwie, auch wenn ich den Duft nicht genau benennen konnte. Es fühlte sich sofort richtig an und wenn der Joint nicht meinen Kopf mit Watte gefüllt hätte, hätte es mir Angst gemacht.
»Jetzt tragen wir beide grün«, sagte ich. Völlig dämlich, diese Aussage.
Er runzelte die Stirn und sah auf sein dunkelgrünes T-Shirt hinab. »Stimmt. Wobei der Pulli mehr Salbei ist und mein T-Shirt eher Kiefer.«
»Danke«, sagte ich schnell. »Für das Sweatshirt, meine ich.«
»Dafür doch nicht. Du bekommst aber noch ein richtiges Geschenk, keine Sorge.« Er nahm einen Schluck Bier. Ich hatte ihm ein Set mit Graphitstiften geschenkt und mich neben dem mitgebrachten Alkohol der anderen total bescheuert gefühlt.
»Ach, schon okay« Ich zwirbelte eine meiner langen blonden Strähnen um den Finger. »Du musst auch nicht die Stifte benutzen.«
Er musterte mich. »Wieso sollte ich sie nicht benutzen?«
Schulterzucken, Haare drehen, Sweatshirtärmel lang ziehen. Keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte.
»Natürlich benutze ich sie«, sagte er mit Nachdruck. »Das ist vermutlich das beste Geschenk, das ich heute Abend bekommen habe.«
Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. »Das musst du nicht sagen.«
»Ist aber so.« Er grinste schief. »Ich habe das Gefühl, dass du mich einfach am besten kennst.«
Ich starrte ihn an. Die Kurve seiner vollen Lippen, die Grübchen in den Wangen, den Fleck blauer Farbe an seiner Schläfe, der den ganzen Abend schon da war. Da lag nur Ehrlichkeit in seinem Gesicht.
»Du siehst mich an, als glaubst du mir nicht«, sagte er. »Ist es so verrückt, dass ich dich mag?«
»Schon«, flüsterte ich.
»Ich mag dich aber, alles an dir. Schon immer.«
Laurie Whistler mochte alles an mir.
Schon immer.
Kapitel 1
Oortsche Wolke, das Ende unseres Sonnensystems, oder wie mein vertrauter Sommer vorbei war
»Bereits im Jahr 1860 muss das Teleskop den Mond und die Planeten beobachtet haben. Und das, obwohl erst vierzehn Jahre vorher der Neptun entdeckt wurde«, sagte ich und strich gedankenverloren über das Teleskop auf dem Tisch vor mir. »Viel weiter kann es nicht schauen. Das konnten damals nur Riesenteleskope wie das von Herschel. Natürlich sind die kein Vergleich zu Hubble oder dem neuen James Webb heutzutage. Aber es ist unglaublich, wie viel wir damals schon über unser Universum erfahren konnten, finden Sie nicht auch?«
Die Kundin nickte höflich, ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen. Bei ihrem Mann eingehakt, hielt die Frau ihn neben sich. Sein Blick wanderte über die vielen Schmuckstücke im Laden. Er wollte eindeutig überall stehen außer neben dem kleinen Teleskop. Normalerweise hätte ich daraus den Schluss gezogen, dass ich ihnen lieber etwas anderes anbieten sollte, sonst würden sie gleich – ohne etwas gekauft zu haben – wieder verschwinden. Aber er hatte mit einem nebensächlichen »Sieh mal Liebes, ein altes Fernrohr« auf das Teleskop gezeigt und seitdem überschwemmte ich sie mit Informationen zu Sternhaufen, Nebelflecken und Spiralarmen von Galaxien.
Die Türglocke unterbrach meinen Redefluss. Automatisch drehte ich den Kopf, um zu sehen, wer in den Laden kam. Es war Dad. Er blinzelte, vermutlich um seine Augen an das dunklere Licht zu gewöhnen. Trotz des Sonnenlichts, das in den Laden fiel und sich in den Kristallkronleuchtern brach – bunte Lichtpunkte, die über die Möbel tanzten –, wurde es drinnen nie richtig hell. Ein schwarzer Blitz schoss an ihm vorbei und kam schwanzwedelnd auf mich zu. Sofort trat ich einen Schritt vom Tisch weg, damit Kopernikus mit seiner langen Rute nicht das Teleskop von seinem Platz fegte. Ich kraulte ihn hinter seinen dünnen Ohren, die mich an die von Kobolden erinnerten, und er hechelte freudig.
»Hey, Dad«, sagte ich. Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen: Seine Augen hatten die gleiche verwaschene Farbe wie meine, eine undefinierbare Mischung aus Grün, Blau und Grau. Das gleiche breite, weiche Gesicht war bei ihm von tiefen Falten durchzogen. Im Gegensatz zu mir waren seine blonden Haare dunkler und lang genug, um sie vernünftig zurückzubinden. Er lächelte, aber es täuschte nicht über die dunklen Schatten unter seinen Augen hinweg.
Das Ehepaar nutzte seine Chance, um vor mir zu flüchten. Leise miteinander tuschelnd schoben sie sich zwischen den Tischen hindurch und zeigten auf Messingkerzenständer und alte Mahagonistühle. Kein Finger ging zum Teleskop.
»Solltest du nicht zu Hause im Bett liegen?«, fragte ich Dad.
Er wischte meine Bedenken – halb ernst, halb neckend geäußert – mit einer Handbewegung beiseite.
Dad klagte seit Monaten über Rückenschmerzen. Vermutlich Teil des Jobs, so oft wie er durch den Bundesstaat fuhr und schwere Möbelstücke herbrachte. Als ein stechender Schmerz in den Beinen und Füßen hinzukam, der vom Rücken ausstrahlte, bekam ich ihn endlich dazu, zu Nasia zu gehen und sich untersuchen zu lassen. Bandscheibenvorfall. Sechs Wochen den Rücken nicht belasten, Schmerzmittel nehmen und hoffen, dass es von selbst wegging.
»Da wird man doch verrückt, wenn man den ganzen Tag nur auf dem Sofa liegt. Ich war sowieso mit Kopernikus unterwegs.« Er legte die Hundeleine auf der Theke ab. Wir wussten beide, dass das eine Lüge war. Wir wohnten am Waldrand und die Main Street lag nicht auf unserer normalen Gassirunde. »Und da dachte ich, schaue ich mal rein. Ich verspreche auch hoch und heilig, nichts Schweres zu tragen.« Er hob zwei Finger in die Luft, um darauf zu schwören, und ich verdrehte die Augen.
»Als ob du es aushältst, nur im Verkaufsraum zu sein«, sagte ich. In spätestens einer Stunde würde er versuchen, seine neuste Errungenschaft – einen alten Ohrensessel mit floralem Muster – aus der Lagerhalle nach vorne in den Laden zu wuchten.
Dad fasste sich theatralisch an die Brust. »Du hast kein Vertrauen in mich, Tilda.«
Mit einem Grinsen wandte er sich ab, lief zu den Kunden und fragte sie, ob er ihnen behilflich sein könnte.
Ich warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Teleskop. »Wenn dich bis Ende des Sommers keiner kauft, sagt Dad, dass ich dich nach Hause mitnehmen darf«, flüsterte ich ihm zu. Das Teleskop schimmerte verheißungsvoll im Sonnenlicht. Ich ließ meine Finger noch kurz auf ihm liegen, ein Versprechen.
Dann dirigierte ich Kopernikus an seinem Halsband hinter die Theke, damit er der Kundschaft nicht im Weg stand. Der Pitbull-Mix war nur eine Ausrede gewesen, damit Dad sich doch in den Laden schleichen konnte. Wir kannten ihn beide gut genug, um zu wissen, dass er sich nur schwer zurückhalten konnte, wenn er einmal hier war. Er verbrachte dann Stunden hinten in der Werkstatt und restaurierte alte Möbel.
Die Kundengespräche waren meine Aufgabe, wie sie Mums Aufgabe gewesen waren. Mein Blick huschte zu dem Bilderrahmen, der neben der Kasse stand. Jedes Mal hinterließ ihr Anblick – lächelnd am Strand, Surfbrett unter dem Arm – ein dumpfes Pochen unterhalb meines Herzens. Der Schmerz war über die Jahre abgestumpft, verschwand aber nicht ganz. Er wurde nur erträglicher, bis man sich so sehr an ihn gewöhnt hatte, dass er nicht mehr war als ein vertrautes Gewicht. Nur noch spürbar in den kleinen, flüchtigen Momenten, wenn ich an sie dachte oder ihr etwas erzählen wollte, bis mir auffiel, dass sie nicht mehr da war.
Es gab nur eine andere Person, die ein ähnlich dumpfes Pochen hervorrief. Und an ihn wollte ich noch weniger denken, weil da nicht nur Schmerz, sondern auch Wut warteten.
Die Türglocke klingelte erneut und Kopernikus, der sich gerade erst auf seiner Decke zusammengerollt hatte, hob erwartungsvoll den Kopf. Bei der Frau, die durch die Tür flatterte, verschwand das dumpfe Pochen aus meinem Brustkorb sofort.
»Jo«, begrüßte ich sie mit einem breiten Lächeln. »Was machst du denn hier?«
Sie schob sich die große Sonnenbrille in ihr weißes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, und strahlte dabei wie die Sommersonne draußen. »Ach, ich bringe nur ein paar Cupcakes vorbei.«
Mein Lächeln verrutschte kein Stück, während Jo an die Kasse schwebte. Eine Plastikdose vor der Brust, in der sich der Horror – kaschiert unter Streuseln und Zuckerguss – versteckte.
»Das ist aber lieb von dir.« Ich nahm ihr die Dose ab und betrachtete misstrauisch die Cupcakes. Fröhlich gelbes Papier hielt die kleinen Küchlein zusammen. Von außen sahen sie ungefährlich aus, fast schon lecker. Aber ich hatte genug von Jos Backversuchen probiert, um zu wissen, dass sich hinter der hübschen Fassade etwas absolut Ungenießbares verbarg.
Sie lachte kurz. »Das ist doch nicht der Rede wert. Ich habe sie für die Helfer gebacken. Die Renovierungsarbeiten im Hotel beginnen heute.«
»Heute?«, fragte ich überrascht.
Seit Monaten sprach in Lunar Creek niemand mehr über etwas anderes. Alberts Hotel stand seit seinem Tod im vergangenen Jahr leer. Schon davor waren immer weniger Touristen gekommen, was vor allem daran lag, dass Albert und seine Tochter Emma nicht das Geld gehabt hatten, das große Haus zu renovieren. Es war die einzige Pension in der Stadt gewesen und wir alle lebten vom Tourismus. Lunar Creek war vielleicht nicht groß – nur eine der vielen Kleinstädte an der Nordküste Kaliforniens –, aber ich liebte unsere Stadt. Mit dem Nationalpark im Norden und dem Pazifischen Ozean im Westen bot sich eine Kulisse aus steilen Küsten, tiefblauem Wasser und immergrünen Fichten, die Zuhause bedeutete.
»Ich hätte lieber schon vor Wochen angefangen, damit wir zu den Sommerferien fertig sind«, sagte Jo. »Aber es ist, wie es ist.«
Ich beneidete Jo um ihren Pragmatismus. Meine eigenen Gedanken kreisten viel zu oft in schnellen Umlaufbahnen, die ich nicht durchbrechen konnte. Das Zerdenken war meine Sonne, die Angst und Sorgen und Verpflichtungen die Planeten.
Das Ehepaar von vorhin kam an die Kasse. Dad hinter ihnen, Schultern etwas hochgezogen. Den Ausdruck in seinen Augen erkannte ich sofort: Gleich kam ein »Nun denn«, eine vage Handbewegung über seine Schulter und dann würde er nach hinten verschwinden.
»Patrick!«, rief Jo und lief zu ihm herüber. »Wie geht es dir und deinen Bandscheiben?«
Beim Anblick von Dads genervtem Augenrollen musste ich mir ein Grinsen verkneifen und kassierte stattdessen das Ehepaar ab. Sie hatten sich für einen Globus entschieden. Sie zahlten, das Glöckchen klingelte und ich sah ihnen durch die großen Fenster nach, wie sie die Main Street hinuntergingen.
»Ich habe da diesen Sessel, der gut ins Hotel passen würde«, sagte Dad gerade. Er fuhr sich über die Bartstoppeln und sah Jo erwartungsvoll an.
»Da bin ich mir ganz sicher, Patrick. Aber unterstehe dich, ihn mir selbst vorbeizubringen. Nasia war sehr eindeutig: sechs Wochen keine Belastung«, sagte Jo streng.
»Ich weiß, ich weiß.« Abwehrend hob Dad die Hände. »Sonst würde ich dir auch beim Renovieren helfen.«
Jo seufzte. »Dabei können wir wirklich jede Hilfe gebrauchen. Die Handwerker für die Leitungen kommen hoffentlich Ende der Woche und bis dahin will ich alle Möbel, Böden und Tapeten raushaben.«
Sie fuhr sich seufzend über die Stirn. Jo war die Lebensfreude in Person, immer gut gelaunt und voller Energie. Viel zu oft vergaß ich, dass sie schon über siebzig war und an den kalten, regnerischen Tagen Probleme mit ihrem Knie hatte oder sich öfter an ihre schmale Hüfte griff, wenn sie viel gelaufen war. Doch klagen würde sie nie, das war nicht Jo.
»Das wird schon alles werden«, sagte Dad. Seiner ruhigen Stimme würde ich alles glauben. Selbst wenn er behaupten würde, dass der Ozean lila und von Meerjungfrauen bevölkert wäre. »Den Sessel könnte ich neu lackieren, eine dunklere Farbe an den Beinen würde wirklich gut aussehen ...« Er ließ den Satz in der Luft hängen.
»Ich kann dir heute im Hotel helfen«, sagte ich. Jo wandte sich mir zu, ein Strahlen im Gesicht. »Wenn du schon mal im Laden bist, Dad?«
Dad sah mich zerknirscht an. Er hatte sich offensichtlich gerade in seine Werkstatt verkriechen und den Sessel lackieren wollen.
»Tilda, du bist ein Schatz«, rief Jo. »Lass uns direkt rübergehen. Ich wollte sowieso schauen, wie es vorangeht.«
Ich kam hinter der Kasse hervor, meinen kleinen Lederrucksack über die Schulter geworfen. »Ich komme später für Kopernikus wieder«, sagte ich und drückte Dad einen Kuss auf die stoppelige Wange. Was ich eigentlich damit meinte: In ein paar Stunden löse ich dich im Laden ab. So war das zwischen Dad und mir: Galaxien zwischen dem, was wir sagten, und dem, was wir meinten.
Jo setzte sich die Sonnenbrille zurück auf ihre Nase und wir verließen den Antiquitätenladen. Ich nahm mein Fahrrad, das ich an die Straßenlaterne vor der Tür gelehnt hatte, und schob es neben mir her.
»Ich werde das hier wirklich vermissen«, sagte sie und reckte ihr helles Gesicht in die Sonne. Ihre Stimme war laut und fest wie immer, aber das kleine Beben am Ende war nicht zu überhören. Ein Hauch von Sehnsucht lag in ihren Augen, als sie die Main Street hinuntersah und mit einem Winken jemanden auf der anderen Straßenseite grüßte. Cascara-Bäume säumten die breite Straße und warfen ihre Schatten auf den Asphalt. Kleine weiß angestrichene Holzbänke luden zum Verweilen ein.
»Du bist ja noch den ganzen Sommer über da«, sagte ich und verdrängte das Stechen unter meinen Rippen.
»Ich muss Steven einfach überzeugen, öfter herzukommen. Chicago mag schön sein und alles, aber nichts geht über die Heimat.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Dass der Junge die letzten Jahre überhaupt nicht hergekommen ist. Nicht einmal an Weihnachten. Nein, nein, lasst die Großmutter den langen Flug machen ...«
Ihren Sohn, der schon graue Haare hatte, als Jungen zu bezeichnen, ließ mich schmunzeln. Es half über die Nadelstiche hinweg, die allein die Erwähnung von Chicago mit sich brachte.
»Du hast darauf bestanden, an Weihnachten zu ihnen zu fliegen, weil du nicht dekorieren wolltest«, erinnerte ich sie.
Jo schüttelte den Kopf. Wir bogen am Lavish ab, das einzige Restaurant der Stadt, dessen überdachte Veranda um die Mittagszeit voll war, und ließen die Main Street hinter uns. Ohne den Schutz der Häuser wirbelte die Meeresbrise meine Haare durcheinander und ich schob mir die schulterlangen hellblonden Strähnen hinter die Ohren.
»Es wären nicht alle nach Lunar Creek gekommen. Deshalb bin ich nach Chicago geflogen«, sagte Jo. »Was soll ich an Weihnachten, wenn ich es nur mit meiner Schwiegertochter verbringe?«
Ich sah auf das weite Meer hinaus. Der Pazifische Ozean war heute ein intensives Blau, gekrönt von weißer Gischt, die sich am Strand brach. Ein Schieben und Ziehen. Das Rauschen beruhigte mich, wie es mich immer beruhigte. Nur übertönt von dem Kreischen der Möwen und Kinder, die in die Wellen rannten.
»Aber wenn das Hotel erst einmal fertig ist, werde ich schon dafür sorgen, dass wir in den Ferien herkommen«, fuhr Jo fort.
Ich wollte, dass Jo wiederkam. Natürlich wollte ich das, sie war ein fester Bestandteil meines Lebens. Ein Teil von Lunar Creek, wie die holzvertäfelten Häuser mit den Veranden und die kleine, zerklüftete Insel vor der Küste, auf der ein Leuchtturm thronte. Wie das Treibholz am Strand und der Asphalt unter unseren Füßen.
Die Stadt würde nicht bemerken, dass sie ging. Ich schon.
Denn wenn sie wiederkam, war sie eine Besucherin. Ihre Villa am anderen Ende der Stadt war schon verkauft, das Geld davon steckte sie in die Renovierung des Hotels. Nach diesem Sommer gäbe es kein Kartenspielen mehr an ihrem Esstisch in der Nische, deren große Fenster auf den Ozean hinauszeigten. Keine Abende vor ihrem Kamin mit dampfenden Teetassen in der Hand, während draußen der Regen niederprasselte.
»Ach Tilda, Liebes«, sagte Jo sanft. Ich hasste es, dass man mir jedes Gefühl an der Nasenspitze ablesen konnte. »Veränderungen sind nicht immer schlecht. Ich werde nicht aus der Welt sein.«
Sie drückte meinen Arm und ich blinzelte schnell. Weinen und Kontaktlinsen vertrugen sich nicht, weil ich dann immer viel zu fest meine Augen rieb. Davon abgesehen, dass ich es nicht leiden konnte zu weinen.
»Und wir haben noch den ganzen Sommer.« Jo lächelte breit und wir überquerten die Brücke über den Fluss, der unserer Stadt ihren Namen gab.
Vor uns ragte am Hang der Klippe Alberts Hotel auf. Das alte Haus mit dem kleinen Türmchen war schon immer eines meiner liebsten gewesen. So allein am Ende der Straße hatte es nach vorne raus einen uneingeschränkten Blick über den Pazifik, den Wald aus Kiefern und Mammutbäumen hinter sich. Unzählige Male war ich mit meinem Teleskop hergefahren und hatte von hier aus den Nachthimmel beobachtet.
Vor der Veranda standen schon Berge an alten Möbeln – Bettgestelle und Sofas, Sessel und Matratzen, Kommoden, Stühle, Tische und Teppiche. Dad war vor Monaten durch das Hotel gegangen, nachdem Jo angekündigt hatte, es renovieren zu wollen, und hatte alte Lampen, Spiegel und Vasen gerettet.
Ich stellte gerade mein Fahrrad neben den Verandastufen ab, als Emma aus dem Haus trat. Eine Hand auf ihren kugelrunden Bauch gelegt, wischte sie sich eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Emma, was machst du denn hier?«, fragte Jo überrascht. »Eine Schwangere hat auf einer Baustelle wirklich nichts zu suchen.«
Emma lächelte. »Als ob ich es mir nehmen lasse, am ersten Tag der Renovierung in meinem eigenen Hotel vorbeizuschauen. Außerdem«, sie fuhr zärtlich über ihren Bauch, »hat das Baby noch Zeit. Und wir werden noch verrückt, wenn wir nur darauf warten, dass es endlich losgeht.«
»Wenn es einmal losgeht, kann es dir nicht schnell genug gehen, glaube mir«, lachte Jo.
Emma öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Sie stockte und schob ihre Hand tiefer den Bauch hinab. »Aua«, sagte sie. »Dagegen hat das Baby wohl etwas einzuwenden. Der Tritt hatte es in sich.«
Sie schien meinen Blick zu bemerken. »Möchtest du?«, fragte sie. Ich nickte und Emma führte meine Hand zu der Stelle ihres Bauches, wo das Baby sich bewegte. Mein Mund verzog sich von selbst zu einem Lächeln, während ich die Bewegungen des Babys darunter spürte. Ein sanftes Drücken gegen die Bauchdecke, als würde es sich gegen meine Hand lehnen wollen.
Jo diskutierte noch mit Emma, dass sie sich lieber hinlegen sollte, anstatt auf der Baustelle zu sein, egal ob es das Hotel ihres Vaters gewesen war oder nicht. Immerhin renovierte Jo es für sie, damit sie sich auf das Baby konzentrieren konnte. Aber ich hörte gar nicht mehr zu. Ich wusste noch genau, wie fasziniert ich damals gewesen war, als Mum mit Mae schwanger war. Wie oft ich mein Ohr auf ihren Bauch gelegt hatte, um meine kleine Schwester zu hören. Geflüsterte Worte an die Haut, wie lieb ich sie haben würde. Ich war beinahe traurig gewesen, als sie Anfang der Woche ins Sommercamp abgereist war. Die nächsten Wochen würde es morgens kein geklautes Müsli oder spontane Tanzchoreografien in meinem Zimmer geben. Auch wenn sie mich manchmal nervte – sie war meine kleine Schwester und ohne sie kam ich mir immer etwas verlorener vor.
»Nasia müsste bald vom Flughafen wiederkommen und dann gehen wir auch«, sagte Emma beschwichtigend. »Ich habe wirklich Hunger. Als würde ich nicht nur für einen weiteren Menschen mitessen, sondern für drei.«
»Ich habe Cupcakes in die Küche gestellt«, sagte Jo.
Emma blieb eine Antwort darauf erspart, als ein SUV über die Brücke fuhr und vor dem Hotel hielt.
»Ach, da sind sie ja«, sagte Jo. »Sehr freundlich von Nasia, ihn abzuholen.«
Ich hob den Kopf und wollte gerade fragen, wen Jo meinte. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie Besuch erwartete, dabei erzählte Jo sonst immer alles. Doch ich kam nicht dazu, weil die Welt aufhörte sich zu drehen.
Ich könnte behaupten, dass ich ihn im ersten Moment nicht erkannte, als er aus Nasias Toyota stieg. Die Hand an der Autotür, breites Grinsen im Gesicht. Vier Jahre waren schließlich eine lange Zeit. Aber ich erkannte ihn sofort. Schwarzes Haar, das ihm in wilden Strähnen in die Stirn fiel. Dunkle Augen, in denen sich ganze Universen spiegelten, gerahmt von langen Wimpern, die Schatten auf seine hohen Wangenknochen warfen. Die vollen Lippen zu einem Lächeln verzogen, wie immer.
»Jo«, rief er. Seine Stimme war Kalifornien. Raue Wellen, ozeantief, sommerwarm. Eine Reisetasche über der Schulter, umarmte er seine Großmutter. Jo fragte, wie sein Flug war, ob die Zwischenlandung in San Francisco geklappt hätte, und wie es in Chicago lief. Das Blut rauschte in meinen Ohren und ich hörte nichts außer seiner gebrochenen Stimme am Telefon. »Das hat keinen Sinn mit uns, Tilda.« Und mein Herz, wie es gesplittert war, in Millionen kleine Stücke.
Er löste sich von Jo, eine Hand dabei vertraut auf ihrer Schulter ruhend. Sah an ihr vorbei, seine Augen fanden mich und hielten mich fest. Die Lippen immer noch zu einem Lächeln verzogen.
»Wenn das nicht Sternen-Tilda ist«, sagte er.
Mein Spitzname, wie früher.
Mein flatterndes Herz, wie früher.
Und sein Name in meinem Kopf. Ein unendliches Echo, ein vertrautes, dumpfes Pochen.
Laurie,
Laurie,
Laurie.
Kapitel 2
Enceladus, Saturns Eismond, oder wie unter meiner Gefühlseisschicht Leben herrschen könnte
»Was machst du hier?«, krächzte ich.
Meine Stimme hatte sich verabschiedet, genau wie mein Verstand. Ich ertrank in einem Strudel aus Erinnerungen: Laurie, mit Farbe an den Händen, wie er im Kunstraum saß und mich fragte, wieso ich so spät noch an der Schule war. Laurie, der mich ansah und mir sagte, dass er schon immer alles an mir mochte. Laurie, der mir eine lange Strähne hinters Ohr schob und flüsterte, dass ich schöner sei als die Sterne. Laurie, der sich als Freund in mein Herz schlich und meine Highschool-Zeit so viel bunter machte.
Laurie, der mich jetzt ansah, als hätten er und sein Umzug nach Chicago nie mein Herz gebrochen. Als wäre er nie vier Jahre weggewesen, in denen er nicht einen Fuß nach Lunar Creek gesetzt hatte.
»Beim Renovieren helfen, natürlich«, sagte er. Er stellte seine Tasche neben meinem Fahrrad ab, als würde sie dort hingehören. »Hallo Emma. Hallo Kleines.« Er lächelte Emmas Bauch an, als könnte das Baby ihn zurückgrüßen.
Emma zog ihn in eine Umarmung. »Schön, dich wiederzusehen, Laurie. Es ist viel zu lange her.«
»Viel zu lange«, bestätigte er. »Ich habe die Bilder von eurer Hochzeit gesehen. Glückwunsch noch mal.«
Emma grinste ihre Frau verschmitzt an. Nasia trug heute einen dunkelgrünen Hijab und der Autoschlüssel klimperte in ihrer Hand, als sie die Stufen hochging und ihren Arm um Emma legte.
»Du warst die schönste Braut, delam«, sagte Nasia.
Emma errötete unter ihren Sommersprossen. »Sagt die Richtige.«
»Mir wurde im Auto Eistee versprochen«, sagte Laurie und ging zielstrebig ins Haus. »Ist der im Kühlschrank, Jo?«
»Ich habe auch Cupcakes gebacken!«, rief sie ihm hinterher, aber da war er schon im Hotel verschwunden.
Nasia half ihrer Frau die Stufen nach unten, was diese mit einem »Ich bin schwanger, Honey, nicht altersschwach« kommentierte. Ihre Antwort darauf hörte ich nicht. Ich sah nur, wie sie Emma einen Kuss auf die Schläfe drückte und ihr die Autotür aufhielt. Nasias goldbraune Haut leuchtete im Sonnenschein und ich fragte mich, wie man so glücklich aussehen konnte. So absolut friedlich.
Ich zwang mich, meinen Blick von den beiden loszureißen. »Wieso hast du nichts gesagt, Jo?«
Jo nahm ihre Sonnenbrille ab, faltete sie zusammen und steckte sie an den Kragen ihrer Leinenbluse. Sie seufzte tief. »Damit du dich Wochen vorher schon in deinem Zimmer verkriechst? Und keinen Fuß mehr vor die Tür setzt, sobald er hier ist?« Jos dunkle Augen waren nicht vorwurfsvoll, eher besorgt. Die gleichen Augen wie Laurie.
»Ich hätte mich nicht verkrochen«, murmelte ich und wir wussten beide, dass das nicht stimmte.
Jo sah mich lange an. »Laurie ist kein Stachelschwein. Er kann dir nicht wehtun, wenn du es nicht zulässt.«
Aber das tut er doch schon, wollte ich erwidern. Einfach weil er hier ist und Laurie ist. Aber das klang absolut erbärmlich, es war vier Jahre her. Und ich hatte es so satt.
»Schade«, sagte ich. »Er würde ein wirklich gutes Stachelschwein abgeben.«
Jo lachte laut auf. »Das stimmt. Vor allem in den letzten Jahren. Aber nun komm, Liebes, es gibt viel zu tun.«
Ich verstand, wieso Jo so entsetzt gewesen war, Emma hier zu sehen. Das Hotel war eine einzige Baustelle. In jedem Zimmer wurden bereits die Tapeten von den Wänden gerissen und überall lag Bauschutt in den Ecken. Obwohl die Sprossenfenster weit geöffnet waren, hingen Staub und Dreck in der Luft, und ich musste niesen. Es fehlte nur noch, dass Jo Wände herausreißen wollte, aber die sollten laut ihr zum Glück alle stehen bleiben.
Ich half dabei, im ehemaligen Frühstücksraum die alten Tapeten von den Wänden zu lösen, was deutlich schwieriger war als gedacht. Zuerst mussten die Fußleisten abgenommen werden, dann hieß es, mit einem Spachtel die bereits abblätternde Tapete herunterzukratzen. Darunter kamen Jahre an Renovierungen zum Vorschein.
Es war nicht besonders warm heute, aber schon nach kurzer Zeit schwitzte ich in meinem zugeknüpften, kurzärmligen Cardigan. Neben den anderen Helfern, die ihre Arbeitshosen und alten T-Shirts angezogen hatten, fühlte ich mich overdressed. Was nicht oft passierte, immerhin hatte ich die Klamotten seit der Middleschool – was viel zu viel darüber aussagte, wie wenig Kurven mir die Pubertät vergönnt hatte.
Nur Jo stach genauso heraus wie ich in ihrer weißen Bluse, die mit Baustaub beschmutzt wurde, während sie von Raum zu Raum schwirrte. Und Laurie, in seinem graublauen Kapuzenpullover und den Ringen an den Fingern. Ich hatte mir bewusst einen Raum ausgesucht, der am weitesten von ihm entfernt war, sodass ich nicht in Versuchung kam, ihn ständig anzusehen. Mein dummes, kleines Herz war sowieso überfordert mit seiner Rückkehr. Zu wissen, dass er nur zwei Etagen über mir mit einem Spachtel bewaffnet Tapeten abkratzte, mit dem vermutlich gleichen konzentrierten Blick, den er auch beim Malen hatte, ließ es unruhig stolpern. Ich wusste noch zu genau, wie es sich anfühlte, wenn er mich mit diesem Blick angesehen hatte.
Ich drückte zu fest und brach mit der Tapete ein Stück Putz heraus. »Hör auf«, zischte ich meinem Herz zu. Es verriet mich. Mich und meine Wut und meinen Schmerz. Es war egal, wie es mit Laurie einmal gewesen war. Das war Jahre her, ganze Galaxien lagen dazwischen. Er hatte mir wehgetan, wie nur ein Mensch dir wehtun konnte, dem dein ganzes Herz gehörte. Und nie wieder sollte er diese Macht über mich haben.
Mein Pony hing mir in der verschwitzten Stirn und ich schob die blonden Haare zur Seite, während ich einen Schritt zurücktrat und mir ansah, was ich geschafft hatte. Eine Wand des Frühstücksraumes war zur Hälfte von Tapete frei, ein unordentliches Muster aus abgeblättertem Putz und kleinen Löchern. Ich legte den Kopf in den Nacken. Ohne Leiter würde ich nicht bis an die Decke kommen. Doch mein Handy sagte mir, dass ich schon seit fast drei Stunden hier war und Dad im Laden ablösen sollte.
»Ich kümmere mich um den oberen Teil, Tilda«, ertönte eine Stimme hinter mir. Teddy winkte mir aufmunternd mit dem Spachtel in der linken Hand zu. Seine rechte konnte er seit dem Vietnamkrieg nicht mehr richtig benutzen. Wenn man ihn fragte, was passiert war, erzählte er immer eine andere Geschichte, eine verrückter als die andere.
»Ihr Kinder solltet hier nicht den ganzen Nachmittag verschwenden«, sagte er. Ich könnte ihn daran erinnern, dass ich schon legal Alkohol trinken durfte, aber da ich mich als Baby mal auf seinen Verdienstorden erbrochen hatte, würde ich in seinen Augen wohl immer ein Kind bleiben.
»Danke, Teddy.« Erst als ich den Spachtel auf die Fensterbank legte, merkte ich, wie erschöpft ich war. Ich streckte mich, was meine Gelenke mit einem zufriedenen Knacken belohnten.
»Grüß deinen Dad von mir«, sagte Teddy.
Ich versprach es ihm und folgte Jos Stimme in den Flur. Ich wollte ihr gerade sagen, dass ich zurück in den Laden gehen würde, da kam Laurie hinter ihr aus der Küche. Die beiden hatten mich noch nicht gesehen und ich nutzte den kurzen, unbeobachteten Moment, um Laurie unverhohlen zu mustern. Als er vorhin aus dem Auto gestiegen war, hatte ich gedacht, er würde noch genauso aussehen wie früher. Aber er hatte sich verändert in den letzten vier Jahren. Sein Kiefer war definierter, sein gesamtes Gesicht war etwas schärfer geworden. Als hätte die Zeit in Chicago ihn härter gemacht. Obwohl er lächelte, fiel mir auf, dass es seine Augen nicht ganz zu erreichen schien.
»Hier drüben, dachte ich«, hörte ich Jo sagen und sah, wie sie auf die Wand unter der Treppe zeigte, vor der früher die Rezeption gestanden hatte. »Jeder würde es sofort sehen und es würde besonders gut zur Geltung kommen.«
Laurie nickte nur. Ich fragte mich, worüber die zwei redeten, und wieso Laurie dabei so ernst aussah.
»Tilda, Liebes«, rief Jo, als sie mich bemerkte.
»Ich mache mich mal auf den Weg«, sagte ich schnell und ignorierte, dass die beiden mich ansahen. Dass Laurie anders war, aber eben auch nicht. Denn da waren immer noch die silbernen Ringe an seinen Fingern, wie der mit dem kleinen Jadestein am Daumen. Das gleiche Funkeln in seinen Augen, so wie damals schon.
»Aber natürlich. Danke für deine Hilfe heute«, sagte Jo. »Willst du noch einen Cupcake essen?«
»Niemand will deine Cupcakes«, sagte Laurie trocken.
Jo schnaubte empört und ich zwang meine Mundwinkel dazu, unten zu bleiben.
»Wir haben ja schon welche«, sagte ich ausweichend, weil ich nicht unfreundlich sein wollte. »Wir sehen uns, Jo.«
Ich hob meine Hand zum Abschied und flüchtete beinahe aus dem Hotel. Ich griff nach dem abgewetzten Lenker meines Fahrrads und ignorierte Lauries Tasche, die immer noch danebenstand. Allerdings kam ich nicht dazu, mein Rad vorsichtig darum herumzuschieben.
»Warte, ich begleite dich«, rief er. Ich ließ fast mein Fahrrad los, so sehr erschreckte er mich.
Er warf sich die Reisetasche lässig über die Schulter. »Ich habe Jo versprochen, ein paar Cupcakes bei Benny vorbeizubringen«, erklärte er, Plastikdose in der Hand.
Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen? Cool, gerne! Oder eher: Nee, lass mal, allein dich anzusehen tut schon weh. Ich packte den Fahrradlenker fester und schob mein Rad die Auffahrt hinunter.
»Wobei Benny die selbst für tausend Dollar nicht essen würde«, sagte er und passte sein Schritttempo meinem an. »Moiras Kuchen sind hundertmal besser.«
Benny hatte einen Surfshop unten am Cove Beach und seine Frau Moira verkaufte nebenan in einem kleinen Café Kaffee und Kuchen. Die Küste hinunter gab es viele Strände, aber Cove Beach lag direkt in der Bucht, in die sich Lunar Creek schmiegte, und war damit der beliebteste.
»Es sollte verboten sein, dass sie backt«, fuhr Laurie fort, anscheinend unbeirrt davon, dass ich ihm nicht geantwortet hatte. Er beäugte kritisch die Plastikdose, wie ich mit einem flüchtigen Seitenblick feststellte. Starr sah ich wieder geradeaus, während wir die Steinbrücke überquerten.
»Wie geht es dir, Tilda?« Das sollte auch verboten sein, mein Name aus seinem Mund. Weil er wie früher klang. Weil mich jeder so nannte, aber wenn Laurie es sagte, war es irgendwie weicher. Vertrauter.
»Gut«, sagte ich, weil man das eben so sagte. Niemand fragte, wie es einem ging, und wollte darauf eine ehrliche Antwort haben. »Und wie geht es dir?«
Pause im Gespräch. Ich sah nun doch zu ihm und bereute es sofort. Er musterte mich eindringlich, bildete eine kleine Furche zwischen den Augenbrauen, als glaubte er mir nicht.
»Ich habe meinen Bachelorabschluss«, sagte er schließlich. »Die letzten Monate habe ich nur gemalt und gezeichnet und gelernt. Es fühlt sich fast schon komisch an, jetzt frei zu sein.«
Laurie gab nicht die Standardantwort. Er verpackte keine Lügen in Zuckerwatte und verkaufte sie als Wahrheit. Das liebte ich an ihm. Hatte ich geliebt. Bis er es eben doch getan hatte, mich angelogen. Mit seinem »Wir schaffen das, Tilda. Wenn jemand, dann wir. Bis in die Unendlichkeit, schon vergessen?« – nur dass wir nicht unendlich gewesen waren.
»Und du arbeitest im Laden deines Dads?«, fragte er.
Ich nickte.
»Macht es dir Spaß?«
»Klar.« Ich wiederum tat es viel zu oft – lügen.
Laurie schwieg einige Atemzüge lang und fragte dann: »Wieso hast du dich nicht an der Caltech beworben?«
Abrupt blieb ich stehen. Allein die Nennung des California Institute of Technology sandte einen gleißend hellen Schmerz durch meinen Brustkorb. Ein Schmerz, der mich an längst verworfene Träume erinnerte: an Physik in Pasadena, an Astronomie, an Zahlen und Nummern, deren Logik mich schon immer beruhigt hatte.
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt, wie ein wütendes Fauchen.
Laurie hielt an. Die Sonne stand tief über dem Ozean und ihre Strahlen verfingen sich in seinen Haaren. Es war unfair, dass er immer noch so quälend wunderschön war. Dass seine Frage ehrlich klang und ich mein Innerstes vor ihm ausbreiten wollte. Ihm wie früher alles erzählen wollte, in diesem sicheren Platz zwischen uns, wo Ängste kleiner wurden, bis sie zu Sternenstaub zerfielen.
»Du hast recht«, sagte er. »Tut mir leid.«
Mein Herz flatterte.
Schweigend liefen wir weiter, all das Ungesagte zwischen uns so viel lauter als die idyllische Geräuschkulisse von Lunar Creek. Lauter als das Brechen der Wellen und das Kreischen der Seemöwen, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter im Wind.
»Wie lange bleibst du?«, fragte ich, als ich die Stille nicht mehr aushielt.
»Bis zum Ende des Sommers.« Er sah auf den Ozean hinaus und kurz dachte ich, so etwas wie Traurigkeit in seinen Augen aufflackern zu sehen. Sie war so schnell wieder verschwunden, dass ich mich fragte, ob ich sie mir bloß eingebildet hatte.
»Also drei Monate.« Er grinste schief, bis ein Grübchen hervorkam. »Auch wenn Jo mich dazu verdonnert hat, bei der Renovierung mitzuhelfen und ihr ein Bild zu malen, will ich den Sommer genießen. Surfen, wandern – das volle Programm.«
Wir hatten die Main Street erreicht. Ich musste abbiegen, er weiter geradeaus. Am Hotel hatte ich mir noch gewünscht, er würde verschwinden, jetzt wollte ich nicht, dass unsere Wege sich trennten. Egal wie holprig und unangenehm unser Gespräch auch war.
»Klingt nach einem guten Sommer«, sagte ich.
»Ich hoffe es.« Seine Augen tasteten mein Gesicht ab und zogen Kometenschauer hinter sich her. »Kommst du heute Abend zu Petes Party?«
Pete Hendricks: Surferboy und ehemaliger Ballkönig der Schule, der mit einem Football-Stipendium nach San Francisco gegangen war, um dort Wirtschaft zu studieren. Der wie viele andere meiner alten Klassenkameraden nur in den Sommerferien in die alte Heimat zurückkehrte, um wie früher ständig Partys zu schmeißen. Pete, der damals in den coolen Kreisen der Schule verkehrte, von denen ich immer meilenweit entfernt gewesen war, mit meiner Zahnspange und Brille, die Nase in Büchern vergraben. Immerhin die Zahnspange war ich losgeworden.
»Eher nicht«, sagte ich. Meine Besuche bei Petes Partys beschränkten sich auf die Zeit, als Laurie mich mitgenommen hatte. Als seine Freundin, Finger ineinander verschränkt, er und ich gegen den Rest der Welt.
»Schade«, sagte er. »Dann sehen wir uns morgen im Hotel?« Seine Stimme ging hoch, eine hoffnungsvolle Nuance, die er zu bereuen schien, so wie er schluckte.
»Ich arbeite im Laden.« Es stach unter meinen Rippen, aber so war es das Beste.
»Ach so, klar.« Wieder Schlucken. »Na dann«, vage zeigte er die Straße hinab, »man sieht sich.«
Unpersönlicher Abschied. Kein wir sehen uns, sondern man sieht sich. Die Worte nisteten sich in meinem Brustkorb ein, stachelig und doch irgendwie hoffnungsvoll.
»Man sieht sich«, sagte auch ich und zwang meine Füße, sich zu bewegen. Die Main Street hinunter, weg von ihm. Ich wollte am liebsten über meine Schulter blicken und wissen, ob er mir nachschaute. Aber ich schaffte es, mich zurückzuhalten, bis ich bei Teddys Fishshop ankam. Erst dann drehte ich mich um.
Laurie war nicht mehr da. Ich hasste es, dass sich mein Herz enttäuscht zusammenzog.
Ich straffte meine Schultern und öffnete die Ladentür. Der Geruch nach Fisch ließ mich die Nase rümpfen. Nach der Begegnung mit Laurie und der Arbeit im Hotel fühlte ich mich zittrig und bei Teddy gab es die besten Pommes der Stadt.
Seine Frau stand heute hinter der Theke und fragte mich, wie es Dad gehen würde, während sie frische Pommes in die Fritteuse warf. Ich war nur halb bei der Sache. Wir redeten über die Hotelrenovierung und das gute Wetter, bis ich ihr ein paar Dollarnoten gab und mit der warmen Tüte Pommes in der Hand den Fishshop wieder verließ.
Mein Kopf war bereits dabei, alles an Laurie und unserem Gespräch zu analysieren. Wie gleich und doch wie anders er aussah. Dass er mich verunsicherte, allein weil er plötzlich wieder hier war. Aber etwas fehlte. Als sei er nicht ganz da, obwohl er so tat, als wäre er es. Ich dachte an seine dunklen Augen und seine schmale Statur, an seine Künstlerhände – da fiel es mir auf.
Er hatte davon gesprochen, die letzten Monate nur gemalt zu haben. Aber da war keine Farbe an seinen Fingern.
Kapitel 3
Exoplanet, die Planeten außerhalb unseres Sonnensystems, oder wie Laurie mich aus meiner Komfortzone holte
Laurie hatte immer Farbe an den Händen, weil er immer malte. In jeder meiner Erinnerungen zierten seine Haut kleine Farbsprenkler. Ich wusste nicht, wieso genau eine davon heute gestochen scharf wie ein Film in meinem Kopf ablief.
Weit nach Schulschluss hatte ich Laurie damals im Kunstraum der Highschool beobachtet. Ich stand schon lange im Türrahmen, als er mich endlich bemerkte.
»Tilda.« Er legte den Kopf schief. »Was machst du noch so spät in der Schule?«
Er hätte fragen können, wieso ich im Türrahmen stand und ihn unverhohlen anglotzte. Tat es aber nicht.
»Ich ...« – bekam vor ihm scheinbar keinen ganzen Satz raus. Ich straffte meine Schultern. »Ich wollte die Sterne beobachten. Mr Whistler, also dein Grandpa ...«, verhaspelte ich mich. Komisch, den Schulrektor als seinen Opa zu bezeichnen, aber es klang noch komischer, ihn vor Laurie als Mr Whistler zu betiteln. »Wir bauen ein Teleskop auf dem Dach auf. Man kann zurzeit die Venus besonders gut sehen.«
»Cool.« Er lächelte und zeigte dabei seine Grübchen. Ich fand schon immer, dass die verboten gehörten. »Dafür die Bücher?«
Ich nickte und sah auf den Stapel in meinen Armen. Keines davon brauchte ich heute Nacht, aber ich wollte sie sowieso ausleihen und während der Schulzeit wurde ich immer schräg angeguckt, wenn ich mit Büchern über Astrophysik durch den Flur lief.
»Und was machst du hier?«, fragte ich, meine Stimme unnatürlich hoch. Die Frage war absolut dumm, weil es so offensichtlich war: die Leinwand vor ihm, Farbtöpfe auf dem Tisch, er mit Pinsel in der Hand.
»Ach, ich verzweifle ein bisschen an meinem Projekt.« Er lachte leise, als sei nichts dabei, obwohl seine Stimme bebte. »Willst du es dir ansehen?«
Nichts an dem Gespräch war besonders gewesen. Aber als ich diesen Schritt über die Schwelle getreten war, hatte sich zwischen uns etwas verschoben. Wie die Laufbahn eines Meteoriten, der von der Erde angezogen wurde und als Sternschnuppe niederging.
Ich blieb mit dem Finger an einem Nagel hängen. Der brennende Schmerz riss mich aus meinen Gedanken. Erst passierte nichts, nur helle aufgerissene Haut, dann quoll Blut hervor.
»Shit«, fluchte ich. Bevor es auf den Holzboden tropfen konnte, der unter dem alten Teppich zum Vorschein kam, steckte ich den Finger schnell in den Mund. Jo hatte mir lang und breit erklärt, was sie sich für das Hotel vorstellte: den alten Gründercharme wiederherstellen, den das Haus Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gehabt haben musste, mit dem ursprünglichen Dielenboden, der Jahrzehntelang unter fleckigem Teppich verborgen gewesen war. Allem einen modernen, frischen Anstrich verpassen. Jo sah in der Baustelle schon Tapeten und Möbel, Pflanzen und wehende Vorhänge. Ich sah nur Bauschutt, fleckige Böden und Löcher in den Wänden, wo einmal Steckdosen gehangen hatten.
»Was ist passiert?«, fragte Laurie und sah mich alarmiert an. Er kniete keine zwei Meter neben mir auf dem Boden, trotzdem schlug mein Magen unter seinem Blick einen Purzelbaum. Ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen, dass er wieder da war. Aber Fehlanzeige. Seine Anwesenheit kribbelte immer noch unter meiner Haut, selbst nach Tagen. Kleine, schmerzhafte Nadelstiche, die ich am liebsten vermeiden würde. Ich wollte aber im Hotel helfen, damit Dad sich nicht in seiner Werkstatt verkroch. Auch wenn ich dann Laurie begegnete. Dad schaffte es einfach nicht, sich zu Hause auszuruhen, und bevor er doch schwere Möbel schleppte, zwang ich ihn durch meine Abwesenheit dazu, die Kundengespräche zu führen.
Ich betrachtete die Wunde. Dumm, die ganze Aktion, und das Tagträumen erst recht. Es brachte nichts, in alten Erinnerungen zu schwelgen. Daran zu denken, wie es begonnen hatte, wenn das Ende immer noch stach.
Neues Blut quoll schon wieder hervor.
Mein Finger wurde sanft von mir weggezogen. »Das sieht tief aus«, sagte Laurie. Meine Hand in seiner, Kopf gesenkt, um sich meine Wunde anzusehen. »Wir sollten es desinfizieren.«
Seine Haut war aufgeraut von der Farbe und dem vielen Waschen. Vertraute Schwielen und trockener Handrücken. Er weigerte sich wohl immer noch, Handcreme zu benutzen. Stromstöße, überall wo wir uns berührten, während ich ihn nur anstarrte. Viel zu nah, viel zu nah – nicht nah genug. Dann, reichlich verspätet, sprang ich auf. Riss meine Hand zurück und stolperte fast über meine Füße.
»Sollte ich«, presste ich hervor.
Deutlich langsamer als ich stand auch er auf. Sein Gesicht verriet nichts, war nur eine unbekümmerte Maske. »Pflaster müssten unten sein. Wenn sie noch da sind, dann ...«
»... im oberen Küchenschrank ganz links«, vervollständigte ich seinen Satz. Er lächelte schwach. Wie oft waren wir als Kinder durch den Wald gerannt, um anschließend mit aufgeschürften Knien und Ellenbogen zu Albert zu gehen, der uns in dem kleinen Flur zwischen Küche und Garten verarztet hatte. Das Hotel lag direkt am Waldrand und war somit näher als die Apotheke in der Main Street gewesen.
Schweigend liefen wir die Treppen nach unten. Jo hatte uns die Zimmer unter dem Dach zugeteilt, um die letzten Teppiche herauszureißen. Die verwinkelten Ecken machten den Job nicht einfacher, davon abgesehen, dass sie ausgerechnet uns beide nach oben geschickt hatte. Ich hätte sie am liebsten erwürgt. Immerhin hatte ich all die Tage davor den Raum ausgewählt, der am weitesten von Laurie entfernt gewesen war.
Verzweifelt suchte ich nach irgendetwas, das ich sagen konnte. Früher hatten wir alles geteilt und jetzt fiel mir nichts Besseres ein, als anzumerken, dass heute schlechtes Wetter war.
»Ich wollte später noch surfen«, sagte Laurie. »Bei dem Wind gibt es gute Wellen.« Das Fenster im Flur zeigte auf den grauen Ozean hinaus, dicke Wolken hingen am Himmel.
»Stimmt.« Wir erreichten die Küche. »Trotzdem nicht unbedingt das, was man sich unter kalifornischem Sommer vorstellt.«
Es waren nur zwanzig Grad und ich trug einen alten Wollpullover, weil der Wind es kälter erscheinen ließ. Bei uns im Norden wurde es nie so warm wie im Süden, der das Klischee unseres Bundesstaates erfüllte: Sonne, Strand, Palmen und mildes Klima. Aber Regentage wie heute waren im Sommer trotzdem eine Seltenheit.
Das Linoleum in der Küche war bereits herausgerissen worden und legte alte, gesprungene Fliesen frei. An den Schränken hatte Jo mehrere Farben ausprobiert, Pinselstriche aus Grün, Gelb und Blau.
Laurie lachte auf, ein kurzer, kehliger Laut. »Auf jeden Fall besser als Chicago. Im Sommer ist es so schwül, dass es dir zehn Grad wärmer vorkommt. Du willst gar nicht die Wohnung verlassen.«