Forget Me Not - Alina A. E. Maurer - E-Book
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Forget Me Not E-Book

Alina A. E. Maurer

5,0

Beschreibung

Wer sind wir, wenn alles, was uns ausmacht, nicht mehr da ist? Sind wir dann überhaupt noch jemand? Wenn es nach Tim ginge, würde niemand von dem Autounfall erfahren, der sein Leben vor drei Jahren zerstört hat. Dann wäre er einfach nur ein Barkeeper und Sänger seiner Band in London. Doch als sein Leben erneut aus den Fugen gerät, wird ihm klar, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss. Was wäre da besser geeignet als ein Besuch bei Blaze, seiner Freundin aus Kindheitstagen? Eine Woche in Cornwall soll beweisen, dass sein altes Leben vorbei ist. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass trotz ihrer Geheimnisse eine alte Vertrautheit zwischen ihnen aufkeimt und er sich an der Küste, mit Blaze, immer freier fühlt ...

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PhilippOrtmaier1980

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Eine tolle Geschichte. Perfekt für alle Romance-Liebhaber.
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Beliebtheit




DAS BUCH

Wenn es nach Tim ginge, würde niemand von dem Autounfall erfahren, der sein Leben vor drei Jahren zerstört hat. Dann wäre er einfach nur ein Barkeeper und Sänger seiner Band in London. Doch als sein Leben erneut aus den Fugen gerät, wird ihm klar, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss. Was wäre da besser geeignet als ein Besuch bei Blaze, seiner Freundin aus Kindheitstagen? Eine Woche in Cornwall soll beweisen, dass sein altes Leben vorbei ist. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass trotz ihrer Geheimnisse eine alte Vertrautheit zwischen ihnen aufkeimt und er sich an der Küste, mit Blaze, immer freier fühlt ...

DIE AUTORIN

Alina A.E. Maurer wurde 1999 geboren und lebt und atmet Bücher seit ihrer Kindheit. Wenn sie nicht schreibt, ist sie mit ihrem Hund draußen in der Natur. Ihre Leidenschaft für England hat sie für ein Semester nach Birmingham gebracht, wo sie Kreatives Schreiben studiert hat. Sie lebt mit all ihren Büchern im schönen Mainz am Rhein. Auf Instagram tauscht sie sich unter @alina.a.e.maurer mit anderen Bücherliebhaber:innen aus. Mehr Informationen auf www.alinaaemaurer.de

Liebe Leser:innen,

In Forget Me Not verarbeite ich sensible Themen, die potenziell

triggern können. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine

Inhaltswarnung. Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Ich wünsche mir für euch nur das bestmögliche Leseerlebnis.

Passt auf euch auf und sorgt für euch!

Eure Alina

Für meine Mädels. Danke, dass ich bei euch

nie wegrennen muss.

Inhaltsverzeichnis

PLAYLIST

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

KAPITEL

PLAYLIST

Let’s Dance to Joy Division – The Wombats

Somebody to Love – Jefferson Airplane

You Shook Me All Night Long – AC/DC

All Day and All of the Night – The Kinks

Under Pressure - Queen

Turn – The Wombats

Marina – Port by Indigo

Should I Stay or Should I Go – The Clash

More Than a Feeling – Boston

Seaside – The Kooks

You Really Got Me – The Kinks

Ever Fallen in Love (With Someone You Shouldn’t’ve?) -

Buzzcocks

Here Comes the Sun – The Beatles

Safe and Sound – Yoke Lore

Love Will Tear Us Apart – Joy Division

London Calling – The Clash

For What It’s Worth – Buffalo Springfield

Go Your Own Way – Fleetwood Mac

Das Kreischen der Seemöwen klang für ihn immer wie ein Wehklagen. Ein verzweifelter Ruf nach Meer. Mehr Weite, mehr Freiheit, oben in den Lüften. Vielleicht kam ihm das auch immer nur so vor, wenn er sie ansah und sich selbst Flügel wünschte. Ihr Schluchzen aber war für ihn wehleidiger als das der Möwen.

»Und dann auch noch per SMS.« Er konnte ihren Satz kaum verstehen, so sehr hatte sie ihr Gesicht an seine Brust gepresst. Er fühlte wie sich der nasse Fleck auf seinem Hemd langsam ausdehnte, während die Wellen unter ihnen an die Klippen preschten.

»Er ist einfach nur ein Idiot«, sagte er und versuchte erst gar nicht, den Ärger in seiner Stimme zu verbergen. Behutsam fuhr er ihr durch die Haare. Ihr sonst so kräftiges Rot wirkte matt in der kargen Landschaft aus verhaltenem Grün und abgestumpftem Blau. Der graue Himmel hatte dem Leben alle Farbe genommen, die Wolken drückten sich auf die beiden herab. Vom Sommer ließ sich kaum etwas erahnen. Die alte modrige Bank, auf der sie zusammengedrängt saßen, war dennoch ihr Lieblingsplatz. »Man kann von hier aus bis ans Ende der Welt sehen«, sagte sie immer und zeigte zum endlosen Horizont, wo sich die Keltische See und der Himmel küssten. Er verkniff sich dann immer zu sagen, dass die walisische Küste nur kurz dahinter war.

Abrupt setzte sie sich auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Er ist es nicht wert.« Ihre Augen waren verquollen und es hatten sich rote Flecken auf ihrem Hals gebildet.

»Das sage ich dir ja schon seit Monaten«, bemerkte er. Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme und als sie sich ihm zuwandte, sah sie ein Grinsen seine Lippen umspielen. »Nächstes Mal höre ich natürlich auf dich, oh weises Liebesorakel.« Als sie das sagte, musste selbst sie lächeln. Sie strich sich eine ihrer dicken, kupferroten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es juckte ihm in den Fingern, sie ihr hinter ihr Ohr zu streichen. Er klemmte die Hände unter seine Beine.

»Ja, ja, lästere nur. Nur weil ich nicht so einen hohen Männerverschleiß habe wie du«, sagte er gespielt verletzt. Ihr Kommentar versetzte ihm trotzdem einen Stich.

Sie wurde plötzlich wieder ernst. »Ich dachte wirklich, dass er anders wäre.« Ihre Stimme bebte und er sah die Tränen in ihren Augen schimmern. Sie zupfte an dem Tüll ihres Kleides. Der Stoff hatte die verwaschene graue Farbe des Himmels und schmiegte sich sanft um ihren Körper. Er streckte seinen Arm aus, eine Einladung. Sie schmiegte sich an seine Schulter und umschlang seinen Oberkörper, als wäre er ihr Rettungsanker auf hoher See.

»Männer sind Schweine. Am Ende verlassen sie dich immer.« Der Schmerz in ihrer Stimme hatte nichts mehr mit dem Idioten aus der Schule zu tun, der sie eben über SMS abserviert hatte. Dieser Schmerz lag tiefer, er war verankert in ihrem Herzen wie ein Parasit und nagte an ihr, biss fester zu, wenn er merkte, dass sie schwach war.

»Ich werde dich nie verlassen«, sagte er und küsste ihren Haarschopf. Sie entspannte sich unter ihm.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

1. KAPITEL

Tim

Das Kreischen der Möwen wird lauter, schriller, verwandelt sich in das Quietschen von Reifen. Ein Aufprall, Dunkelheit um ihn herum. Er liegt auf der nassen Straße, der Asphalt unter ihm kalt und hart. Er fühlt nichts mehr, alles scheint ihm weit entfernt. Das Blut, die gebrochenen Knochen, die Sirenen in der Ferne. Nur ihr Schrei, ganz nah. Ihr Schrei, der ihm durch Mark und Bein geht. Der ihn aufstehen lassen will, um zu ihr zu gehen und sie zu umarmen, um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, dass er sie nie verlassen würde. Aber der Asphalt ist kalt und die Welt auch.

Mit einem Keuchen schreckt er hoch. Für einen Moment weiß er nicht, wo er ist. Er spürt noch die Meeresbrise in seinen Haaren und den Asphalt auf seiner nackten Haut. Die letzten Fragmente seines Traumes entwischen ihm, er versucht nach ihnen zu greifen, zu verstehen, was ihn aus dem Schlaf hochschrecken ließ, aber es ist wie Luft einfangen zu wollen. Zwecklos. Er spürt, wie ihm saure Galle aufkommt.

Er soll sich auf das um ihn herum konzentrieren, alles aufzählen, was er sieht, hört, spürt. Das hat sein Therapeut ihm gesagt. Du bist in deinem Bett zu Hause. Du lebst in Shoreditch, London. Du bist alleine, in Sicherheit. Die Aufzählung läuft automatisch, er hat sie schon vor Langem auswendig gelernt. Sie bietet ihm keinen Trost oder Halt mehr. Abwesend greift er nach der Schublade seines Nachttisches.

»Tim?« Er hält in seiner Bewegung inne. Langsam dreht er sich um. Auf der Bettkante, mit dem Rücken zu ihm, sitzt Maddie. Sie sieht ihn über ihre Schulter besorgt an, ihr T-Shirt in ihrem Schoß. »Alles okay?«

Ihre nackte Haut, überzogen von einem goldenen Schimmer im Licht der Nachttischlampe, hätte ihn sonst angelockt. Er wäre zu ihr geklettert und hätte angefangen, ihren Nacken zu küssen. Mit geschickten Fingern hätte er ihren BH wieder aufgemacht und sie versucht zu überzeugen zu bleiben, nur für eine weitere Stunde. Er hätte ihr ins Ohr geraunt, was er alles mit ihr noch anstellen würde. Und sie wäre zerschmolzen in seinen Armen wie flüssiges Karamell. Doch in diesem Moment, mit der Panik in seinen Knochen und dem Schmerz in seinem Herzen, kann sie ihm nicht schnell genug gehen.

Tim ringt sich ein Lächeln ab. »Ja, alles okay. Hab nur Durst.« Er steht auf und schwankt leicht. Schnell bückt er sich nach seinem T-Shirt und zieht es sich über, damit Maddie seinen unsicheren Schritt nicht bemerkt. Sein rechtes Knie schmerzt, als wäre der Bruch nicht schon drei Jahre her. Er versucht es normal zu beugen, damit Maddie es nicht sieht.

Er verlässt das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Flur liegt dunkel vor ihm, aber er würde seinen Weg zur Küche auch im Schlaf finden. Er hört seinen Mitbewohner Mike durch die geschlossene Zimmertür schnarchen. Manchmal fragt er sich, wie Ren es neben ihm nachts aushält.

Durch die großen Glasfenster der Küche strömt das gelbe Licht der Straßenlaternen und taucht den Raum in ein Muster aus Schatten und Gold. Seine Finger zittern, als er den Flaschenhals am Glas ansetzt.

»Tim?« Die Flasche rutscht ab und Wasser perlt über die Arbeitsfläche. Er beobachtet, wie sich kleine Blasen bilden, die über die Oberfläche huschen, bevor er einen Blick über seine Schulter wirft. Maddie steht im Türrahmen, ihre Haut sieht aus wie dunkle Bronze im spärlichen Licht. Sie hat sich ihr T-Shirt übergezogen, stellt er enttäuscht fest.

Tim? Tim, ich bin es. Er presst seine Hände gegen die Augen, als wolle er die Erinnerung aus seinem Kopf drücken. Die Luft wird immer dicker, als würde er dichten Nebel einatmen. Ich kenne dich nicht. Ich kenne dich nicht, verschwinde, will er am liebsten rufen. Wie er es damals im Krankenhaus getan hat, bevor sein Leben hier, mit Maddie, begonnen hat.

Sie tritt einen Schritt über die Schwelle. »Kann ich irgendetwas für dich tun?« Ihre Hände ruhen an ihrer Seite. Nur die Art und Weise, wie ihr Daumen über ihren nackten Oberschenkel kreist, verrät ihm, dass sie in Wirklichkeit unruhig ist. Er hat sie schon oft mit ihren Gästen beobachtet. Sie ist eine gute Kellnerin, da sie sich nie aus der Ruhe bringen lässt. Nur ihren Daumen kann sie nicht stillhalten. Ob sie an ihrem Kugelschreiber spielt, an den Fransen ihres Jeansrocks zupft oder ihren Notizblock knetet, ihr Daumen ist immer in Aufruhr.

Was kann sie für ihn tun? Sie kann bleiben, ihn an sich pressen, ihn küssen und berühren, bis er seinen eigenen Namen vergisst. Fast hätte er über die Ironie gelacht.

»Bitte geh«, presst er stattdessen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er will seine Tabletten nehmen, unter die kalte Dusche springen und die Saiten seiner Gitarre zupfen, um der Enge in seiner Brust Platz zu machen.

Selbst im Dämmerlicht kann er sehen, wie sie verletzt zurückzuckt. Er wendet sich wieder seinem Wasserglas zu. Er hält die Flasche diesmal so fest umklammert, dass er sich wundert, wieso sie nicht in seiner Hand zerspringt.

»Wenn es um die Sache mit dem Typen vorhin geht, ich bin mir sicher, dein Vater war ein guter Mann«, sagt Maddie. Er verharrt mit dem Glas auf halben Weg zu seinem Mund. Der Typ vorhin. Die Erwähnung seines Vaters. Sein Atem stockt.

Maddie und er waren bei ihrer gemeinsamen Schicht vorhin, als ein schon gut betrunkener Mann an die Bar kam, um bei Tim noch ein Bier zu bestellen. Tim verweigerte ihm das Glas und sagte, er hätte schon genug zu trinken gehabt. Der Mann hatte vorher schon die Kellnerinnen begrapscht und andere Gäste belästigt. Die Augen des Mannes verengten sich zu Schlitzen. »Ich kenne dich«, lallte er. »Dein Vater ist ein riesiges Arschloch, weißt du das?« Dann fing er an, über Tims Vater herzuziehen. Wie er sein Leben ruiniert hätte bei einem Geschäftsdeal, wie er ein hinterhältiger, egoistischer Lügner sei und wie er sehen könne, dass sein Sohn genauso wäre. Tim stand nur stocksteif da, das Herz bis zum Hals klopfend und konnte den Mann nur anstarren. Als der Mann anfing zu brüllen, ging Mike dazwischen und schmiss den Fremden aus seinem Pub.

»Ich kann nicht beurteilen, ob mein Vater ein guter Mann war«, sagt Tim verbittert und kippt sich das Glas Wasser in den Mund.

Maddie legt ihm ihre Hand auf den Arm. »Wir sind nicht unsere Eltern, Tim.« Ihre Berührung, die sonst wohlige Schauer durch seinen Körper sendet, ist heiß und klebrig. Wie dickflüssiger Teer. Er zieht seinen Arm hastig zurück. Die Wände scheinen näher zu kommen und ihn zu erdrücken.

»Bitte geh«, wiederholt er. Er kann ihr nicht in die Augen sehen. Die Luft wird immer schwerer einzuatmen, er hat das Gefühl, als würde er in seiner eigenen Küche ertrinken.

»Du kannst mit mir darüber reden«, sagt sie. Ihre Stimme ist sanft, aber anstatt ihn zu beruhigen, bleibt sie an seiner Haut kleben wie ihre Hand, presst sich näher an ihn, drängt ihn immer weiter in sich hinein. Er muss sie loswerden, irgendwie. Sonst würde er nicht mehr atmen können.

Er lacht, die letzte Luft weicht aus seinen Lungen. »Komm, Maddie. Du bist meine Kollegin und du bist gut für Sex und mehr ist das nicht, klar?« Er räumt das Glas in die Spüle, er braucht die Bewegung, die Versicherung, dass er sich noch rühren kann und nicht an Ort und Stelle festgenagelt ist. »Wenn ich mit jemandem über meine Gefühle reden möchte, dann garantiert nicht mit dir.«

Seine Worte wirken. Maddie schluckt hörbar und macht auf dem Absatz kehrt. Er klammert sich an der Spüle fest, um nicht zusammenzubrechen. Sein Brustkorb bebt unter der Last. Er hört, wie sie ihre restlichen Klamotten nimmt und die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zieht. Der Moment der Erleichterung hält nur kurz an, bevor die Welt über ihn zusammenbricht. Fluchtartig verlässt er die Küche.

Die Luft ist angenehm kühl für Spätsommer, als er ein paar Minuten später vor seiner Haustür steht. Sein Knie protestiert heftig, als er anfängt, die Straße herunterzujoggen. Doch die Schmerzen im Knie weichen bald dem Stechen in seiner Lunge. Bei jedem Schritt hat er Angst zusammenzubrechen und doch zeigt ihm das beständige Pochen seiner Schuhe auf dem Asphalt, dass er noch steht. Mit jedem Schlag seiner Füße drückt er den Nebel aus seiner Lunge, den Teer von seiner Haut, die Häuser weiter weg.

Er nimmt seine Umgebung nicht wahr. Seine ganze Konzentration liegt auf dem Klopfen seines Herzens, auf der Luft, die er ein- und ausatmet, und dem Schmerz in seinen Lungen. Er wird erst langsamer, als er durch die Häusermasse bricht und die Themse sich vor ihm ausbreitet. Die Tower Bridge ragt vor ihm in die Höhe, angestrahlt von künstlich weißem Licht. Er joggt bis zur Mitte und bleibt schließlich stehen. Der Fluss kräuselt sich unter ihm. Auf dem Wasser tanzen die Lichter der Stadt. Das Gluckern und Rauschen des Wassers beruhigen ihn und er schließt die Augen. Langsam rückt das Geräusch der vereinzelten Autos in den Hintergrund, der Fluss schwillt in seinen Ohren an. Vielleicht ist es aber auch nur das Tosen seines Blutes. Ein salziger Geruch hängt in der Luft und er hört eine Seemöwe kreischen. Plötzlich schmeckt er Salz, die Haare peitschen ihm um die Stirn.

Mit einem Ruck holt er sich in die Gegenwart zurück. Er kann sich nicht daran erinnern, schon einmal am Meer gewesen zu sein. Doch er ist sich sicher, dass es sich gerade so angefühlt hat, als würde er das Brechen von Wellen am Strand hören und das Meerwasser auf seiner Zunge schmecken. Abwesend streicht er mit einem Finger über eines seiner Tattoos am Handgelenk. Es zeigt die römische Zahl acht, VIII. August. Der August vor genau drei Jahren, in dem sein jetziges Leben begonnen hat. Und sein altes geendet.

Er verlagert sein Gewicht auf das rechte Bein. Sein Knie ziept in Protest. Das ist nur Einbildung, sagt er sich. Der Bruch der Kniescheibe ist verheilt, die Physiotherapie abgeschlossen. Sein Knie ist wieder ganz normal. Genau wie er.

Er stößt sich vom Geländer ab und setzt sich wieder in Bewegung. Joggen hat ihm schon immer geholfen. Das glaubt er zumindest. Wenn die Sprache auf seine Vergangenheit kommt und er die Panik in sich aufkommen spürt, hilft es ihm, in Bewegung zu sein. Vielleicht fühlt sich das Joggen aber auch nur so an, als könne er vor seinen Problemen wegrennen.

Er biegt ab und läuft eine Treppe hinunter zur Uferpromenade. Unten angekommen joggt er weiter die Themse entlang. Seine Gedanken gehen zu Maddie zurück. Er hat schon nach ihrer gemeinsamen Schicht im Blue Monkey überlegt, ob er Maddie wirklich mit hoch nehmen wollte. Sie schlafen schon seit einiger Zeit miteinander und Maddie ist eine beruhigende Konstante in seinem Leben. Er liebt ihre dunkle Haut, ihren kurvigen Körper und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn um ihren Finger wickelt. Aber heute Abend war es anders. Der betrunkene Typ hat Tim bis aufs Mark erschüttert. Die Welt, die er sich in London und im Blue Monkey so mühsam aufgebaut hat, war mit seinem alten Leben kollidiert. Nach der Schicht wollte er nur noch ins Bett und die Begegnung soweit es geht verdrängen. Doch die Art und Weise, wie Maddie ihn aus ihren rehbraunen Augen angeschaut, ihre Arme hinter seinem Nacken verschränkt und ihm verruchte Wörter ins Ohr geflüstert hat, hat seine vorherige Anspannung weichen lassen.

Er ärgert sich, wie er Maddie behandelt hat. Sie hat seine harten Worte nicht verdient. Er ist sich nicht sicher, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass er eingeschlafen war. Sonst ist er sehr genau darauf bedacht, dass keines der Mädchen, mit denen er sich vergnügt, bei ihm schläft. Aus genau dem Grund, der heute Nacht eingetreten war: Seine Albträume. Er hat sie seit dem Unfall und er kann sich nie an sie erinnern. Aber er weiß, dass er von früher träumt. Von dem, was er verloren hat.

Um die Fassade aufrechtzuerhalten, dass er ein ganz normaler Typ Anfang zwanzig ist, darf keiner von seiner Vergangenheit erfahren. Er musste völlig fertig gewesen sein, um so schnell und vor allem vor Maddie einzuschlafen. Sie ist ihm wichtig. Es war zwar nicht das erste Mal, dass er sie aus der Wohnung geschmissen hat, aber vorher war er nie so verletzend gewesen.

Die Themse läuft neben ihm, ohne von seinen Sorgen etwas zu bemerken. Der Fluss bleibt beständig, egal was um ihn herum passiert. Er könnte mal einen Song über die Themse schreiben, überlegt er. Wenn er morgen Zeit hat vor der Bandprobe, wird er sich mit seiner Gitarre hinsetzen und schauen, was daraus wird, beschließt er. Den Rest seiner nächtlichen Joggingrunde läuft er deutlich entspannter als vorher. Er biegt auf die Millennium Bridge ab und macht sich weiter auf den Weg durch die Häuser zurück zu seiner Wohnung in Shoreditch.

Er liebt London bei Nacht. Die Stadt zeigt dann ihr wahres Gesicht, so scheint es ihm. Die Touristen liegen in ihren Hotelbetten und die Einwohner Londons erobern ihre Stadt für sich. Junge Leute kommen aus den Clubs und Kneipen, sie halten sich gegenseitig an den Armen als würden sie sonst von der Gruppe davongleiten wie auf hoher See. Eine ausgelassene Stimmung tränkt die Straßen und schwappt auf Tim über. Die Nacht ist seine Zeit. Die Zeit, in der er im Blue Monkey hinter der Bar arbeitet und mit seiner Band spielt. Die Zeit, in der er sich jung und frei und unbeschwert fühlt.

Beschwingten Schrittes kommt er zu Hause an. Er weiß noch nicht, welcher Tag es eigentlich ist. Sonst würde er nicht mit einem erleichterten Schnaufen ins Bett fallen.

Sein Kopf dröhnt, als er schläfrig die Augen öffnet. Helles Sonnenlicht fällt in sein Zimmer. Das Dröhnen hört kurz auf, bevor es wieder anfängt. Er hält sich die Hand an die Schläfen. Er hat gestern doch gar nichts getrunken, wieso hat er also solche Kopfschmerzen? Er greift nach seinem Handy auf dem Nachttisch, um zu schauen, wie viel Uhr es ist. Überrascht stellt er fest, dass es vibriert. Das muss das Dröhnen sein, das er wahrgenommen hatte. Nach einem Blick auf das Display würde er das Handy am liebsten quer durch den Raum werfen.

»Hallo, Mary«, sagt er bemüht tonlos und hält sich das Handy ans Ohr.

»Timothy Alexander Griffith, das ist schon das fünfte Mal, dass ich anrufen muss.« Marys Stimme ist eisern. Die Stimme seiner Großmutter ist meistens eisern, wenn sie mit ihm spricht. Er flucht lautlos und steht auf.

»Was gibt’s?« Er fährt sich mit einer Hand über den Nacken. Er kann kaum mehr als ein paar Stunden geschlafen haben, seitdem er um fünf todmüde ins Bett gefallen ist. Er bewegt den Kopf hin und her, um die Verspannung zu lösen. Seine Augen brennen. Er muss vergessen haben, die Kontaktlinsen herauszunehmen.

»Was es gibt?«, fragt Mary, gefährlich ruhig. »Wir sind seit einer Viertelstunde zum Frühstück verabredet.« Er flucht nochmal lautlos.

Schnell greift er sich eine frische Jeans aus seiner Kommode. Seine letzte. Immerhin. In einer nach Rauch, Alkohol und Spaß riechenden Hose braucht er bei Mary nicht einmal zu klingeln.

Als er nichts sagt, fährt Mary fort: »Du hast den Jahrestag vergessen.« Es ist keine Frage. Für einen kurzen Moment bleibt er stocksteif stehen, der Gürtel der Jeans halb offen. Sein Herz macht einen unsicheren Schritt.

»Nein, nein natürlich nicht«, sagt er. Eine glatte Lüge. Er hat den Jahrestag vergessen, ebenso wie das obligatorische Frühstück und den anschließenden Grabbesuch mit seinen Großeltern.

»Ich bin schon auf dem Weg«, lügt er.

»So, so. Und in der U-Bahn hat man heutzutage Empfang?«, fragt Mary spitz.

Tim sucht verzweifelt nach seinem einzigen Hemd. Er findet es in einem Wäschestapel auf dem verschlissenen Sessel in der Ecke seines Zimmers. Frustriert hält er das zerknitterte, verkrumpelte Etwas hoch.

»Ich bin mit dem Motorrad unterwegs«, lügt er also weiter und wühlt in einer Schublade nach einem T-Shirt, das weder Flecken noch Löcher hat. Er reibt sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen. Die Kontaktlinsen herauszunehmen würde eigentlich zu viel Zeit beanspruchen.

Mary schnaubt. »Wie telefonierst du dann mit mir, junger Mann?« Er findet schließlich ein ansehnliches T-Shirt und streift es sich schnell über.

»Ich stehe im Stau«, sagt er etwas atemlos, als er sein Handy wieder ans Ohr führt.

»In fünfzehn Minuten bist du da. Und keine Lügen mehr.« Mary legt ohne ein weiteres Wort auf. Diesmal flucht Tim laut.

Zwanzig Minuten später steht er völlig verschwitzt vor der Tür des Reihenhauses seiner Großeltern in Kensington. Die Augustsonne scheint erbarmungslos auf die Stadt nieder und drückt die Leute in ihre kühlen Häuser. Obwohl Mary sofort gewusst hat, dass das mit dem Motorrad eine Lüge gewesen war, ist er trotzdem mit diesem zu ihnen gefahren. Mit der U-Bahn hätte er sowieso viel zu lange gebraucht und mit seinem Motorrad konnte er sich am stockenden Verkehr der A501 entlangschlängeln. Seine Haare kleben ihm an der Stirn und er fährt schnell mit einer Hand durch. Dabei bleibt er an seiner Brille hängen. Es ist ungewohnt für ihn, das eckige Gestell tagsüber zu tragen. Aber mit den brennenden Kontaktlinsen hätte er nicht fahren können.

In dem Moment geht die Tür auf. Mary steht im Türrahmen. Sie trägt trotz der Temperaturen ein hellgrünes Kostüm. Um ihren schmalen Hals liegt eine Perlenkette und ihr graues Haar ist zu einem peniblen Knoten hochgesteckt. Ihre blassblauen Augen mustern ihn kühl. Ihr Blick wandert über die tätowierten Arme zu den ehemals weißen, verdreckten Turnschuhen.

»Du siehst unmöglich aus«, sagt sie und verschwindet im Haus. Er schluckt einen bissigen Kommentar herunter und folgt ihr. Das Haus ist seiner Meinung nach viel zu groß für seine Großeltern. Aber es ist schon seit Jahrzehnten im Besitz der Familie, wie Mary immer wieder betont. Danach sieht es aber nicht aus. Die Möbel sind modern, die Wände sind alle in einem hellen Creme gestrichen und der Boden ist ein kühles Parkett. Mary profiliert sich damit, dass ihr Haus den modernsten Standards gerecht wird. In der Zeit, in der Tim in dem Haus mit seinen Großeltern gewohnt hat, war es ihm immer sehr kalt vorgekommen. Alles hat seinen festen Platz, kein Staubkorn ist zu finden, jeder Rahmen hängt kerzengerade.

Seine Großmutter ist bereits durch den Flur in der Küche verschwunden. An den Wänden im Flur hängen Fotos ihrer Familie. Angefangen bei Schwarzweißfotos seines Urgroßvaters und dessen Bruder vor dem »Griffith & Griffith« Geschäftsgebäude, über seine Großeltern beim Golfen bis zu seinem Vater, der dem ehemaligen Premierminister die Hand schüttelt. Auch Tims Eltern an ihrem Hochzeitstag hängen an der Wand. Einige Fotos zeigen auch ihn: Er und ein rothaariges Mädchen mit Zeugnissen in ihren Händen, er an seinem ersten Schultag in Schuluniform. Aber das größte Foto hängt in der Mitte. Es zeigt Mary, ähnlich gekleidet wie jetzt, nur in einem royalblauen Kostüm, mit ihrer Hand auf der Schulter ihres Sohnes. Tims Vater sitzt auf einem Sofa, die Hände förmlich im Schoß gefaltet. Er trägt einen Anzug, genau wie Tim auf dem Foto. Neben Mary steht Charles, ihr Ehemann, ebenfalls in Anzug. Tim sitzt neben seinem Vater, ein fast identisches Abbild. Bis auf die Augen, deren warmes Braun er von seiner Mutter habe, wie ihm gesagt wurde. Die Haare sind ordentlich geschnitten, der Anzug sitzt ihm wie angegossen. Er ist einige Jahre jünger. Keine wilden braunen Locken, die ihm über die Ohren fallen, und keine oft getragenen T-Shirts. Die Brille steht ihm auch ausgezeichnet und sitzt nicht schwer und unbeholfen auf seiner Nase wie jetzt. Das perfekte Foto einer perfekten Familie, wie sie es damals waren.

Tim sieht schnell weg und beeilt sich, ins Esszimmer zu kommen. Es liegt auf der anderen Seite des Hauses und ein großes Fenster zeigt auf den Garten hinaus. Der Tisch in der Mitte des Zimmers ist üppig gedeckt. Körbe mit Brötchen, verschiedene Gläser Marmelade, Teller mit Rührei, Speck und gebratenen Tomaten sowie Wurst- und Käseplatten belagern die Tischoberfläche und nehmen jeden Zentimeter ein. Ihm wird flau im Magen. Frühstück ist nicht seine Mahlzeit. Meistens trinkt er einfach nur einen Kaffee. Aber da er selten vor Mittag aus dem Bett kriecht, stört er sich nicht daran.

»Guten Morgen, Charles«, begrüßt er seinen Großvater, der hinter einer Zeitung versteckt ist. Charles faltet die Zeitung ordentlich zusammen, legt die Lesebrille beiseite und begrüßt ihn knapp.

Tim lässt sich auf den Stuhl fallen, nur um sich danach zu besinnen und gerade aufzusetzen. Keinen Moment zu früh, da Mary durch die Flügeltüren hereinkommt und eine Teekanne auf den Tisch stellt.

»Earl Grey?«, fragt sie. Tim nickt und hält ihr seine dünne Porzellantasse hin. Er mag keinen Tee, aber ihn abzulehnen, würde seine Großmutter noch mehr verärgern, als er es sowieso schon getan hat. Die Stimmung am Tisch ist eisig. Tim, der eben noch geschwitzt hat, läuft ein Schauer über den Rücken. Seit er vor zwei Jahren ausgezogen ist, ist es mit seinen Großeltern noch angespannter.

»Wie geht es dem Garten?«, fragt Tim, während er sich aus Höflichkeit ein Brötchen aus dem Korb nimmt. Charles’ Garten ist immer ein sicheres Thema.

»Es ist zu schwül«, sagt dieser und schneidet sein Rührei. »Die Hitze macht den Rosen zu schaffen.« Charles hat eine Vorliebe für Rosen. Tim schaut über den Tisch hinaus in den Garten. Für ihn sieht er fabelhaft aus, ein Farbenmeer aus Gelb, Rot, Orange, Lila, Blau und Rosa. Charles folgt seinem Blick, die Mundwinkel sorgenvoll nach unten gezogen. »Ich hoffe, es regnet bald.«

Tim nickt. Er würde ihm gerne zustimmen, dass es in dem Pub abends sehr warm ist und er ebenfalls hofft, dass es bald abkühlen würde. Aber der Pub steht auf der Liste der schwierigen Themen und es wäre nicht klug, ihn anzusprechen.

»Charles kann sich nicht mehr so gut bücken. Einige Rosen müssten geschnitten werden, aber der Arzt verbietet es ihm«, sagt Mary. Sie trinkt einen Schluck ihres Earl Grey und sieht Tim erwartungsvoll an.

»Mary, du stellst es schlimmer dar, als es ist. Ich habe nur ein wenig … Rückenschmerzen.« Charles greift nach den gebackenen Tomaten und wechselt einen Blick mit seiner Frau.

Tim begeht den Fehler, in sein Brötchen zu beißen. »Tim, du solltest deinem Großvater helfen«, sagt Mary.

Er verschluckt sich und versucht, sein Husten zu unterdrücken. Er legt seine Brötchenhälfte, beschmiert mit Quittengelee, auf seinen Teller. »Ich habe keine Zeit.«

Er traut sich nicht, in ihre blassblauen Augen zu sehen. Mein Vater hatte die gleichen Augen, schießt es ihm durch den Kopf. Es ist das gleiche Gefühl, unter seinem Blick zu zerschmelzen wie unter ihrem gerade. Woher er das weiß, kann er nicht sagen. Auf den Fotos sehen die Augen seines Vaters genauso aus wie jedes andere blaue Augenpaar, das ihm begegnet ist.

»Du möchtest also nicht.« Die Gabel, die Mary bei ihren Worten auf ihren Teller legt, gibt ein leises Klappern von sich, aber für Tim zerreißt es die Stille wie eine Bombe. Er versucht, nicht zusammenzuzucken. Seine Lunge zieht sich langsam zusammen. Er konzentriert sich auf den Klecks Quittengelee auf seinem Teller, um seinen Atem zu beruhigen. Es glitzert im Sonnenlicht, das durch das Fenster auf den Tisch fällt. Fest drückt er seine Fingernägel in die Handinnenfläche.

Nachdem er nicht antwortet, faltet Mary ihre Hände zusammen. Als würde auch sie sich durch diese simple Geste zusammenhalten müssen. Als würde auch sie auseinanderfallen, wenn nur ihre Finger nicht mehr beieinander wären.

»Ich kann den Nachbarsjungen fragen. Er hat mir auch im Frühjahr geholfen«, sagt Charles. »Wie geht es denn deiner lieben Freundin, Tim?«

Mary nimmt ihre Gabel in die Hand und fährt fort, zu essen. »Hast du ihr ausgerichtet, dass wir die Scones ganz vorzüglich fanden?«

Tim sieht von dem Gelee auf. Charles hat schon immer die Gefechte zwischen Tim und Mary entschleunigen können. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Über Maddie allerdings zu reden, lässt ihn genauso panisch werden wie das vorherige Gesprächsthema.

Seine Worte von letzter Nacht schießen ihm durch den Kopf und ihm wird schlecht. Er hätte Maddie nicht so behandeln dürfen. Sie hat es nur gut gemeint. Er würde heute Abend bei ihrer gemeinsamen Schicht mit ihr reden und sich entschuldigen.

»Ihr geht es gut.« Tim zwingt sich zu einem Lächeln. »Und ich habe ihr gesagt, dass ihr die Scones mochtet. Auch wenn sie sie nicht selbst backt.« Für den letzten Satz könnte er sich auf die Zunge beißen.

Charles aber schmunzelt. »Aber sie kommen aus ihrem Café.« Tim könnte einwenden, dass es auch nicht Maddies Café ist, lässt es aber sein.

Maddie arbeitet neben dem Blue Monkey noch in einem kleinen Café in Covent Garden, um ihre Familie zu unterstützen. Als seine Großeltern ihn bei seinem letzten Besuch an Marys Geburtstag im April nach einem guten Café gefragt hatten, hatte er ihnen sofort dieses empfohlen. Dass sie einen Narren an Maddie fressen würden, hatte er jedoch nicht erwartet. Seitdem waren sie einmal die Woche da, um Scones zu essen und Tee zu trinken, wie Mary ihn bei einem ihrer Telefonate mitgeteilt hatte.

»Ein wirklich reizendes Mädchen«, sagt Mary.

Tim beißt in sein Brötchen. Oh ja, und wie reizend sie ist, stimmt er ihr in Gedanken zu. Ihm gehen lauter Momente durch den Kopf, in denen Maddie ihm gezeigt hat, wie reizend sie sein kann. Zufrieden schluckt er und greift nach seinem Tee.

»Sie erinnert mich an Blaze. Sie haben das gleiche Lächeln«, fährt Mary fort. Tim schluckt schwer. Mary hat aber auch das schreckliche Talent, von einem Minenfeld ins nächste zu laufen.

»Ach ja?«, fragt Tim beiläufig und nimmt sich mehr von dem Quittengelee. Es ist weder wirklich orange noch wirklich rot. Seine Farbe ist undefinierbar, etwas dazwischen.

»Hast du etwas von ihr gehört?«, hakt Mary nach.

Ich kenne dich nicht. Ich kenne dich nicht, verschwinde. Seine eigenen Worte kommen ihm wieder in den Sinn. Er denkt an das rothaarige Mädchen auf dem Foto im Flur. Wie nah sie ihm gestanden haben muss. Er schüttelt nur den Kopf. Das ist seit langem Tims Strategie: Lieber nichts als etwas Falsches zu sagen. Wenn er seine Zunge im Zaum halten kann.

»Was studiert Madison?«, fragt Mary. Sie hat wohl gemerkt, dass sie bei Blaze nicht weiterkommt.

Tim überlegt kurz. Studiert Maddie überhaupt? Er hat sie nie gefragt. Er räuspert sich unbehaglich.

»Ich glaube, sie studiert gar nicht«, meint er zögerlich. Er kann sich nicht vorstellen, dass sie neben den ganzen Schichten im Café und im Blue Monkey Zeit für ein Studium hätte. Sie hat es auch noch nie erwähnt.

»Ah ja.« Mary gießt sich eine neue Tasse Tee ein. Mehr hat sie zu dem Thema nicht zu sagen. Tim merkt, dass sie sich auf gefährliches Eis zubewegen. Er überlegt fieberhaft, wie er das Thema wechseln kann.

»Ich bin mir sicher, Oxford hätte dieses Jahr noch einen Platz frei für dich.« Zu spät. Mary hat das Thema von selbst angeschnitten.

»Mit genügend Geld geht ja bekanntlich alles.« Der Kommentar rutscht ihm heraus, bevor er ihn stoppen kann.

»Timothy.« Charles weist ihn mit einem strengen Blick zurecht. Genauso gut hätte er ihn ohrfeigen können. Charles mischt sich nie so in einen Streit von Mary und ihm ein.

»Es tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint«, entschuldigt Tim sich zähneknirschend. Er hat es genau so gemeint. Seit zwei Jahren hängt ihm Mary im Ohr, sie könne ein paar Männer im Gremium kontaktieren und ihm verspäteten Einlass gewähren.

Mary mustert ihn scharf.

»Ich möchte sowieso nicht mehr Medizin studieren«, fügt Tim schnell hinzu, um von dem Thema Geld wegzukommen.

»Nein, du möchtest lieber Bier ausschenken und Gitarre spielen.« Mary streicht Butter auf ihr Brötchen. An der Art, wie sie ihr Messer hält, merkt er, wie angespannt sie ist.

Er sieht zu Charles hinüber. Dieser ist jedoch in seine Tomate vertieft.

»Ich kann es mir nächstes Jahr noch einmal überlegen«, sagt Tim in dem Versuch, die Wogen zu glätten.

Die Gespräche mit seinen Großeltern laufen immer so ab. Sie befinden sich auf einem Schiff auf hoher See und es ist an Tim, zwischen den Felsen hindurchzusegeln und zu hoffen, sie würden nicht Schiffbruch erleiden. Mary ist definitiv der Wind, der das Schiff gegen die Felsen drückt.

»Nächstes Jahr vielleicht«, meldet sich nun doch Charles zu Wort.

Tim ist der Appetit vergangen. Immerhin hat er ein Brötchen hinuntergewürgt.

»Wie geht es den Frauen aus deiner Bridge-Runde?«, fragt er an Mary gewandt. Endlich fällt ihm ein harmloses Thema ein. Sie beginnt ihm von dem neuesten Tratsch zu erzählen. Tim hört nicht mehr zu. Er nickt an den richtigen Stellen und gibt hier und da ein »Oh« und ein »Ah« von sich. Brav nippt er an seinem Earl Grey, der selbst mit Milch scheußlich schmeckt.

Später beginnt Mary, den Tisch abzuräumen. Tim hilft ihr mit den Tellern und setzt sich danach zu Charles und redet mit ihm über Politik. Das ist neben Rosen sein anderes Lieblingsthema. Auch hier nickt Tim an den richtigen Stellen und hört ihm mehr zu, als selbst etwas zu sagen.

Wenig später wartet Tim im Flur, während Mary und Charles sich fertig machen. Nur noch der Grabbesuch, sagt er sich. Danach ist er frei. Er beobachtet die Fotos an der Wand. Er erkennt sich selbst darauf kaum wieder. Dieses Leben, das er dort sieht, ist ihm fremd.

Mary tritt zu ihm und folgt seinem Blick. »Ich werde Dr. Richmond anrufen«, sagt sie ohne Einleitung. »Er kann in Oxford alles in die Wege leiten.« Tim schließt die Augen. Er hätte wissen müssen, dass das Thema noch nicht abgehakt war. Und natürlich passt Mary einen Moment ab, in dem Charles nicht hier ist, um ihn zu schützen. Er atmet tief durch.

»Ich möchte nicht in Oxford studieren, Mary.«

Sein jüngeres Ich lächelt ihm zu, stolz sein Zeugnis in der Hand. Was für eine Verschwendung eines guten Abschlusses, denkt er für einen kurzen Moment.

»Timothy, wir haben dir weiß Gott genug Zeit gegeben«, presst Mary hervor. Sofort versteift er sich. Sie sind nicht mehr nur bei Oxford. »Seit drei Jahren lassen wir dich tun und lassen, was du willst. Sehen dir dabei zu, wie du dein Erbe vergeudest.«

Tim lacht kurz über die Ironie davon auf. Er hat nicht einen Penny seines Erbes angetastet. Und es gibt mehr als genug davon.

Mary fährt unbeirrt fort: »Wir haben dir dabei zugesehen, wie du dein Leben in dieser Spelunke führst und was für eine Umgangsweise du pflegst. Aber es ist irgendwann genug.«

Tim mustert das kleine Lächeln auf seinem Gesicht auf dem Familienporträt. Es wirkt verhalten. Als hätte er schon damals gewusst, dass ein echtes Lächeln in dieser Familie nicht gerne gesehen wird. Oder hatte er damals mit Mary und Charles lachen können? Als er ihr Vorzeige-Enkel war, der gute Noten hervorbrachte und mit einem Stipendium in Oxford Medizin studieren wollte?

»Ich möchte, dass du endlich zur Vernunft kommst.« Mary dreht sich zu ihm um. Tim wendet sich ihr zu. Ihr Blick ist eisig kalt. Er spürt, wie seine Lunge sich langsam zuzieht. Er muss aus diesem Haus heraus. Wenn er jetzt nicht geht, würde er noch einmal so schlimme Worte sagen wie letzte Nacht.

»Ich bin bei Vernunft«, sagt er und macht auf dem Absatz kehrt, bevor die Wände auf ihn zukommen.

»Du bleibst hier. Wir gehen zum Grab deines Vaters. Wenigstens das bist du ihm schuldig.« Marys Stimme lässt keine Widerrede zu. Es ist keine Bitte, sondern ein Befehl.

Tim verharrt an der Tür, die Hand bereits an der Klinke. Er sollte einfach gehen, aber er kann sich den Kommentar, der auf seiner Zunge brennt, nicht verkneifen. »Ich brauche nicht das Grab eines Mannes zu besuchen, den ich nicht kenne.« Ohne einen Abschiedsgruß wirft er die Tür hinter sich zu.

Die Musik vibriert durch seinen ganzen Körper. Die breiten Kopfhörer umschließen fest seine Ohrmuscheln und lassen keine äußeren Geräusche an ihn heran. Mit angewinkelten Beinen sitzt er auf seinem verschlissenen Sessel und hält die Gitarre in der Hand. Er folgt den Akkorden der E-Gitarre des Rockliedes, das seine Trommelfelle durchlöchert. Sein eigenes Spielen hört er nicht, aber seine Finger wissen, welche Töne sie der Gitarre entlocken.

Es klopft an seiner offenen Zimmertür. Erst als seine Kopfhörer ihm vom Kopf gerissen werden, schaut er auf. Mike steht vor ihm, die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

»Sorry, ich habe dich nicht gehört«, sagt Tim überflüssig und schüttelt sich die verschwitzten Haare aus der Stirn.

Mike sieht fast schon bedrohlich aus, wie er sich vor ihm aufgebaut hat. Mike ist groß, an die zwei Meter, und gefühlt genauso breit. Sein Körper ist muskelbepackt und dunkle Tattoos ziehen sich über seine beiden hellen Oberarme. Aus seinem kantigen Gesicht bohren sich zwei blaugraue Augen in Tims braune.

»Ich habe Pancakes gemacht«, sagt er und deutet über seine Schulter in Richtung Küche. »Willst du mitessen?«

Tim ist versucht, den Kopf zu schütteln. Er hat sich seit seiner Rückkehr von seinen Großeltern mit Kopfhörern zurückgezogen und versucht, alle Gedanken zu verdrängen. Aber außer dem Brötchen zum Frühstück hat er nichts mehr gegessen und es ist schon Nachmittag. Und Mikes Pancakes sind die besten.

Widerwillig steht Tim auf und folgt Mike in die Küche. Er trägt eine Schürze, die mit vielen kleinen Bierflaschen bedruckt ist. Ren hat sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt und seitdem trägt Mike sie jedes Mal voller Stolz, wenn er kocht. Da er der Einzige in ihrer Wohngemeinschaft ist, der kocht, ist das ziemlich oft.

Ren sitzt bereits am Esstisch und tippt auf seinem Handy. Als Tim die Küche betritt, dreht er es mit dem Bildschirm nach unten um. »Er ist von den Toten auferstanden«, lästert er und klopft auf den Platz neben sich.

Tim verdreht die Augen, setzt sich aber. »Meine Tür war offen, ihr hättet immer hereinkommen können.«

Ren reißt seine mandelförmigen Augen weit auf. »Wenn du in Dauerschleife AC/DC spielst? Auf keinen Fall.«

Tim sieht ihn entgeistert an.

»Wenn du AC/DC hörst, willst du nicht reden«, erklärt Ren.

»Für meine Pancakes hat noch jeder das Zimmer verlassen«, brummt Mike. Die erste Ladung köstlich duftender, warmer Pancakes landet in der Mitte vom Tisch. Ren schnappt sich direkt einen und verfrachtet einen zweiten dazu auf seinem Teller. Kurz scheint er zu zögern, dann nimmt er noch einen dritten.

»Bescheiden«, bemerkt Tim, der sich einen einzigen auf seinen Teller zieht.

Ren ignoriert ihn, während er sich gefühlte drei Liter Ahornsirup auf die Pancakes gießt.

Der fluffige Teig zerfließt in Tims Mund. Er stöhnt genüsslich auf. »Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe, Mike?«

Mike lacht. »Nicht oft genug.«

Ren wirft ihm einen verletzten Blick zu und hält sich die Hand auf sein Herz. »Ich rieche Verrat.« Er nimmt seine Serviette und wirft nach Mike. »Du betrügst mich.«

Geschickt fängt Mike das Wurfgeschoss auf und kommt auf Ren zu. »Niemals«, sagt er zärtlich und legt seine Lippen sanft auf die seines Freundes.

Um den beiden ihren Moment zu lassen, sieht Tim auf seinen Pfannkuchen hinunter. Sie geben ein ungleiches Paar ab. Mike ist kräftig, groß und kantig, während Ren neben ihm klein, schlaksig und weich ist. Aber sie passen zusammen, irgendwie. Als würden sie sich um ihre Ecken und Kanten legen und eins werden.

Mike wendet sich wieder der Pfanne zu. Kurz danach steht ein weiterer Berg Pancakes auf dem Tisch und er setzt sich zu ihnen.

Tim ist froh, dass er sein Zimmer verlassen hat. Die unaufgeräumte, industrielle Küche und seine Mitbewohner neben ihm fühlen sich genau richtig an. Das Frühstück mit seinen Großeltern in ihrem kalten Haus ist meilenweit entfernt. Sein Blick geht zu dem tätowierten anatomischen Herzen in seiner Ellenbogenbeuge. Mike und Ren sind sein Herz. Das Blue Monkey ist sein Herz. Gerade heute, wenn er schmerzlich daran erinnert wird, dass es einmal nicht geschlagen hat, beruhigt ihn das beständige Pochen in seiner Brust.

»Wie viel Uhr ist es eigentlich?«, fragt Tim. Ihm juckt es in den Fingern, mit seinen zwei besten Freunden Musik zu machen.

Ren sieht auf sein Handy. »Kurz nach vier, wieso?«

Tim verschluckt sich an seinem Pancake. »Schon? Was ist mit unserer Probe?« Der Pub würde in weniger als einer Stunde öffnen und sie sitzen hier und essen in aller Ruhe Pancakes.

Mike und Ren wechseln einen Blick. Tim wird misstrauisch. Es ist die Sorte von Blick, die sich zwei Leute zuwerfen, wenn sie mehr wissen als der dritte. »Was ist los?«

Mike seufzt, bleibt aber ansonsten stumm. Ren spielt verlegen mit seinem Handy herum. »Gestern war ja Kokos Geburtstag und ich war zu Hause«, setzt er an. Kokoro ist seine jüngere Schwester, die zehn wurde. »Dad ist völlig überfordert und er will, dass ich zu ihm ziehe.« Er schluckt schwer und bricht ab. Tränen schwimmen in seinen dunklen Augen.

Mike legt seine Hand auf die seines Freundes. Bisher hat er für Tim nichts Neues gesagt. Er kennt Rens schwierige Situation zu Hause. Sein Dad liegt Ren schon seit Monaten im Ohr, zurück zu ihm nach Finchley zu ziehen. Ren weigert sich. Sein ganzes Leben spielt sich hier ab: Mike, der Pub, ihre Band. Aus einem Vorort Londons wäre die Anreise jeden Tag zu weit. Und zu teuer.

»Koko wollte, dass ich den Bass mitnehme, um ihr vorzuspielen«, fährt er fort.

Tim ahnt bereits, worauf er hinauswill. Ren vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Sanft tätschelt Mike ihm den Arm. Er sieht aus, als würde es ihm genauso das Herz zerreißen.

»Er hat ihn kaputt gemacht«, schluchzt Ren. Seine Schultern beben und er lässt sich gegen Mikes Arm fallen.

Das Herz sackt in Tims Hose. Rens Bass ist kaputt. Ohne Bass können sie schlecht spielen. Tims Finger flattern in seinem Schoß. Er weiß nicht, was er mit ihnen machen soll. Kann er Ren trösten, wenn er seine Hand nimmt? Unsicherheit wallt durch seinen Körper. Überfordert schluckt er.

»Das tut mir so leid, Ren«, sagt er schließlich und versucht, so viel Mitgefühl und Anteilnahme in die wenigen Worten zu legen, wie es geht.

Ren rauft sich seine glatten schwarzen Haare. Sein Blick geht in die Ferne. »Er hat ihn genommen und auf den Boden geschlagen, immer wieder. Er meint, ohne die Musik würde ich wieder zu ihm kommen. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, so wütend zu werden.«

»Das ist so ein absoluter Schwachsinn«, braust Mike auf. Er beginnt, unruhig in der Küche hin und her zu laufen. »Als ob du zu ihm zurückziehst, wenn du keinen Bass mehr hast.«

Ren zuckt mit den Schultern. »Dad hat einfach Angst, uns zu verlieren. Wir sind alles, was er noch hat.«

»Er verliert euch doch nicht, nur weil du hier wohnst«, sagt Mike.

»Mum hat ihn für die Musik verlassen. Das hat er nie überwunden.«

Rens Mutter war damals von Japan nach England gezogen, um in den großen europäischen Konzerthäusern zu spielen. Ihr Mann ist mit ihr gekommen, aber nach allem, was Tim über ihn die letzten Jahre aufgeschnappt hat, scheint Rens Vater seine Heimat zu vermissen. Es muss ihm das Herz zerrissen haben, als seine Frau ohne sie in die USA gezogen ist, um ihrem Erfolg nachzujagen. Jetzt hält ihn nichts mehr in diesem Vorort von London. Außer seinen Kindern.

»Du brauchst diesen widerwärtigen Mann nicht in Schutz zu nehmen, Ren«, sagt Mike.

Unwohl zupft Tim an dem Saum seines verwaschenen Linkin Park T-Shirts. Die beiden führen eine private Konversation, in der Tim keinen Platz findet.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragt er, um zurück zu dem eigentlichen Problem zu kommen. Er hat diese Diskussion schon oft genug zwischen den beiden erlebt und sie würde sie nicht weiterbringen.

Seufzend sieht Ren auf sein Handy, das er nervös in seiner Hand hin und her dreht. »Ich habe versucht, irgendwo einen gebrauchten Bass zu finden.« Er spielt mit der sich lösenden Hülle. »Aber es ist schwierig. Ich habe schon einige angeschrieben, aber es wird nichts daraus.« Niedergeschlagen zuckt er mit den Schultern.

Tim runzelt die Stirn. »Wieso kaufst du dir nicht einen neuen?«

Mike und Ren wechseln wieder einen Blick. Mike setzt sich zurück an den Tisch. »Ein neuer Bass in der gleichen Qualität? Das ist ziemlich teuer.«

»Ich will noch ein paar Tage schauen. Dann kann ich mir immer noch einen neuen holen. Es gibt auch Modelle unter fünfhundert Pfund.« Ren versucht, optimistisch zu klingen.

Tim erschaudert. Für ihn sind Geldsorgen ein abstraktes Thema. Er ist aufgewacht mit mehr Geld auf seinem Konto als er es in seinem Leben je ausgeben könnte. Mary und Charles haben ihm ebenso deutlich gemacht, dass Geld kein Problem ist. Erst als er von ihnen abgehauen ist und sich geweigert hat, sein Erbe auch nur anzufassen, bekam er es mit der Angst zu tun. Aber er hatte schnell den Job als Barkeeper bekommen. Als Mike wenige Tage später herausgefunden hat, dass er heimlich in der Vorratskammer schlief, war er in sein jetziges Zimmer in der Wohnung über dem Pub gezogen. Tim lebt von seinem wenigen Gehalt, aber es hat ihm nie Sorgen bereitet. Die Gewissheit, er hätte ein Konto mit einigen Nullen, falls er scheitern sollte, beruhigt ihn. Erst durch Menschen wie Ren und Mike und Maddie ist ihm bewusst geworden, dass die wenigsten diesen Luxus haben.

»Oder dein Vater könnte endlich mal etwas Geld rüberwachsen lassen«, sagt Mike. Er bemüht sich, nicht laut zu werden, aber seine Stimme bricht unter der Anstrengung. Ren sieht ihn traurig an.

Sie wissen alle, dass das nie passieren würde. Solange Rens Vater durch sein Gehalt am langen Hebel sitzt und dadurch Druck auf ihn ausüben kann, nach Hause zurückzukehren, würde Ren von dem Pub und dem Trinkgeld der Band leben müssen. Wie der Rest von ihnen auch.

Tim denkt an das große, leerstehende Reihenhaus in Kensington und sein Konto. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Er könnte Ren einfach einen neuen Bass kaufen. Aber dafür müsste er an sein Erbe gehen und etwas in ihm sträubt sich so heftig dagegen, dass er den Gedanken verwirft. Wie kann er das Geld eines Mannes nehmen, an dessen Grab er noch nicht einmal gegangen war?

»Warte mal«, sagt Tim. Fieberhaft denkt er an sein altes Zimmer. »Ich glaube, ich habe noch einen Bass.«

Er hatte das Haus seiner Eltern in Kensington vor einer Weile verkaufen wollen und dafür den gesamten Inhalt des Hauses in Kisten gepackt. Damals hatte er mehrere Instrumente in seinem alten Zimmer gefunden: Einen Bass, zwei weitere Gitarren, eine E-Gitarre, sogar eine kleine Ukulele, meint er sich zu erinnern.

»Wirklich? Ich würde ihn nur so lange spielen, bis ich meinen eigenen habe.« Ren sieht ihn hoffnungsvoll an.

Mit einer Handbewegung wischt Tim dessen Beteuerungen zu Seite. »Du kannst ihn behalten. Ich spiele ihn nicht.«

Skeptisch kratzt sich Mike seinen kurz geschorenen Kopf. »Wo hast du denn einen Bass, Tim?«

»In meinem Elternhaus.« Tim steht auf und räumt seinen Teller in die Spüle. »Ich bin mir auch nicht ganz sicher.«

Langsam fährt er mit der Spülbürste über den schmutzigen Teller. Sein Mund fühlt sich nach dem Pancake etwas klebrig an.

»In deinem Elternhaus«, wiederholt Mike, fast schon ungläubig.

»Ja, auch ich hatte mal Eltern.« Tim versucht, scherzhaft zu klingen, dreht sich aber nicht um. Mit dem Rücken zu den beiden anderen und seine Augen auf den Teller gerichtet, fällt es ihm leichter zu sprechen.

»Du hast deine Eltern noch nie erwähnt«, sagt Ren leise.

Klappernd stellt Tim den Teller auf das Gestell neben der Spüle. »Da gibt es auch nicht viel zu sagen.«

Er weicht ihren neugierigen Blicken aus, als er sich umdreht. »Ich geh mal duschen und mache dann unten alles klar«, sagt er.

Schnell geht er in Richtung Badezimmer, bevor seine Mitbewohner noch etwas erwidern können. Dennoch spürt er ihre Blicke in seinem Nacken. Er ist sich nicht sicher, ob sein Angebot eine so gute Idee war. Der Gedanke, in sein Elternhaus zurückzukehren, schnürt ihm die Kehle zu. Er schiebt den Gedanken von sich. Erst muss er die gemeinsame Schicht mit Maddie überstehen.

»Ich kann nicht glauben, dass er schon eine Neue hat.« Sie kickte einen Flaschendeckel über den Boden. Er seufzte. Den ganzen Tag über gab es kein anderes Gesprächsthema für sie.

»Das ist jetzt schon über einen Monat her«, bemerkte er. Der Satz ging ihm monoton von den Lippen, er hatte ihn schon dutzende Male gesagt.

Mit den Augen scannte er die alten Bücher um sie herum. Immer, wenn es ihr schlecht ging, gingen sie zusammen zu dem Büchermarkt unterhalb der Waterloo Bridge. Normalerweise konnte sie sich gut in den alten Seiten verlieren, aber sie streifte nur gedankenverloren mit den Fingern über ihre Rücken. »Sie haben auf seiner Party rumgemacht, das hat Courtney mir gesagt. Ich hätte hingehen sollen.«

Er fand ein Buch und zog es heraus. Es war eine Ausgabe von ›Stolz und Vorurteil‹. »Wir waren in Cornwall. Außerdem sollte nicht deine Anwesenheit ihn davon abhalten, mit anderen rumzumachen, sondern der Fakt, dass ihr zusammen seid.«

Sie schnaubte verächtlich und rückte die altmodische Ledertasche auf ihrer Schulter zurecht. »Zusammen waren«, stellte sie klar und schnappte sich das erstbeste Buch vom Tisch und schlug es auf.

»Immerhin hat er direkt danach Schluss gemacht und ist nicht noch weiter fremd gegangen.«

»Da fühle ich mich direkt besser.« Sie legte das Buch hin und nahm sich wahllos das nächste. »Ich verstehe einfach nicht, was er in ihr sieht«, sagte sie, diesmal ernst.

Die in blaues Leinen gebundene Ausgabe lag schwer in seinen Händen. Er versuchte, den Verkäufer zu sich zu winken. Der war in ein Gespräch an der anderen Seite des Tisches vertieft, gab ihm aber mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er gleich bei ihm sein würde.

»Ich meine, was hat sie, was ich nicht habe?« Wer sie nicht gut kannte, würde ihren Tonfall für arrogant halten, doch er hörte die Unsicherheit heraus. Er wandte sich ihr zu. Sie war wunderschön, selbst in der dunklen Schuluniform. Ohne es zu bemerken, nagte sie an ihrem Fingernagel und versuchte, den Klappentext des Buches durchzulesen. Doch er sah ihr an, dass sie nicht bei der Sache war.

»Blaze«, sagte er sanft und nahm ihr Handgelenk, damit sie den Finger aus dem Mund nahm. Ihre dunkelblauen, sorgenvoll geweiteten Augen trafen seine. »Wenn er nicht erkennt, dass du das intelligenteste, witzigste, unglaublichste Mädchen im Universum bist, dann ist er einfach nur ein Idiot.« Sie atmete zitternd aus, dann ließ sie sich gegen seine Brust fallen. Er schlang die Arme fest um sie. Ihr Duft von Pfirsich und Vanille umfing ihn und raubte ihm fast den Atem. »Du hast so viel mehr verdient als ihn, okay?«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Verkäufer und unterbrach ihre Umarmung. Ein Ziehen ging durch seine Brust, als sie sich von ihm löste, aber er ignorierte es.

»Einmal dieses Buch hier.« Er zeigte dem Verkäufer ›Stolz und Vorurteil‹ und hielt ein paar Pfund hin. Sie nahm das Buch entgegen. Ehrfurchtsvoll fuhr sie die geschwungenen goldenen Buchstaben auf dem Einband nach.

»Danke.« Sie sah ihn fest an. Er wusste, dass sie sich nicht nur für das Buch bedankte, was er ihr eben gekauft hatte.

»Immer«, antwortete er nur und lächelte.

2. KAPITEL

Blaze

Ich hoffe, die Stadt träumt nachts von dir. Deine Blaze. Sie faltet den Brief ordentlich zusammen und schiebt ihn in den hellblauen Briefumschlag. Ihre Hand zittert ein wenig, als sie Tims vollen Namen und die alte Adresse in Kensington sorgfältig niederschreibt. Sie kramt in der obersten Schublade ihres Schreibtisches nach einer Briefmarke. Zwischen Notizzetteln, Haargummis, leeren Kugelschreibern und geöffneten Umschlägen findet sie schließlich eine.

Schwer liegt der Brief in ihren Händen. Ihr Blick huscht zu dem Chaos auf ihrem Tisch. Eilig wühlt sie sich durch Bücher und Zettel, bis ihre Hände finden, was sie suchen. Sie zieht einen Bilderrahmen hervor. Ihre Augen brennen, als sie das Foto darauf betrachtet.

Sie selbst lächelt zurück. Sie kann sich nicht an das letzte Mal erinnern, als ihre Augen auf einem Foto so gestrahlt haben. Neben ihr steht Tim. Sein Arm liegt an ihrer Hüfte und sie hat ihre Hand auf seine Brust gelegt. Das Foto war auf der Gartenparty im Jahr vor ihrem Schulabschluss entstanden, denn sie trägt ein schickes graues Tüllkleid und erkennt den Baum aus dem Garten vor dem Haus wieder. Sie wünscht sich, sie könnte Tims Augen auf dem Foto sehen. Aber er hat den Blick von der Kamera abgewandt und sieht sie mit schräg gelegtem Kopf an.

Sie räuspert sich, um den Kloß in ihrem Hals zu lösen und stellt das Foto auf einen der Bücherhaufen, die ihren Schreibtisch belagern. Wenn sie das Foto betrachtet, denkt sie nicht daran, dass sie nicht mal eine halbe Stunde später weinend in Tims Schoß gelegen, weil ihr damaliger Freund sie abserviert hatte. Sie denkt an das Gefühl seines Armes um ihren Körper, und wie sicher sie sich neben ihm gefühlt hat. Sie denkt an seine Worte, dass er sie nie verlassen würde. Ein Schmerz fährt durch ihren Körper, als sie an sein gebrochenes Versprechen denkt.

»Blaze?« Hastig wischt sie sich die Träne von ihrer Wange und dreht sich zu ihrer jüngeren Schwester um.

Rose steht in ihrem Türrahmen und betrachtet sie eingehend. »Kann ich deinen Lockenstab haben?«

»Klar«, krächzt Blaze. Ihre Stimme hört sich selbst in ihren eigenen Ohren viel zu rau an. Als würden ihr die Worte beim Sprechen im Hals stecken bleiben und sie müsse sie krampfhaft herausdrücken.

Rose betritt das Zimmer. Sie lässt eine ihrer roten Strähnen immer wieder zwischen ihren Fingern hindurchgleiten und sieht sich unsicher um. Wann ist ihre kleine Schwester so verhalten ihr gegenüber geworden? Blaze schüttelt den Gedanken von sich.

»Ich muss den Lockenstab erst mal suchen, ich weiß nicht, wo ich ihn hingelegt habe«, sagt sie und erhebt sich von ihrem Stuhl. Sie fühlt sich etwas wacklig auf den Beinen. Sie hat heute noch nichts gegessen. Sie steigt über Wäscheberge auf dem Weg in ihr angrenzendes Badezimmer, um dort die Schubladen zu durchkämmen.

»Wo fährt Mum dich später hin?«, fragt Rose.

»Zum Strand. Ich treffe mich mit ein paar Freunden.«

»Du meinst mit den zwei Freunden, die du hast.« Die Worte ihrer Schwester versetzen Blaze einen kleinen Stich ins Herz. Sie hat natürlich vollkommen recht. Blaze hat nicht viele Freunde, im Gegensatz zu Rose, die am liebsten jeden Tag bei jemand anderem wäre. Wenn Mum das zulassen würde. Aber Blaze ist froh, dass sie überhaupt Freunde an der Uni gefunden hat, die ihr nach einem Jahr schon so viel bedeuten.

»Wir können nicht alle so beliebt sein wie du, Rosie«, versucht sie den Stich zu überspielen.

»Du warst es mal«, murmelt Rose so leise, dass Blaze sie kaum hört. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht auf Roses Stichelei einzugehen. Resolut wendet sie sich dem Korb neben ihrem Waschbecken zu. Sie hört es auf ihrem Schreibtisch rascheln.

»Du hast ihm echt noch einen Brief geschrieben?« Rose klingt fassungslos. Blaze lässt das Glätteisen, das sie als erstes findet, fallen. Es schlägt mit einem lauten Knall auf den Fliesen auf. Fluchend legt sie es in den Korb zurück. Sie zieht eine ihrer Schubladen auf und arbeitet sich durch die Haarpflegeprodukte darin.

Als sie nichts auf die Frage ihrer Schwester erwidert, hört sie ihre Schritte näherkommen. Im Türrahmen bleibt sie stehen.

»Es ist jetzt drei Jahre her«, sagt Rose. Blaze hält in ihrer Bewegung inne, eine Flasche Shampoo fest mit der Hand umklammert.

»Es ist doch nur ein Brief.« Blaze schmeißt die Flasche zurück in die Schublade und öffnet die nächste. »Er bekommt sie sowieso nicht.« In der nächsten Schublade findet sie alte Cremes und Abschminktücher.

Rose schnaubt. »Als ob. Er wohnt doch da.« Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust.

Blaze schüttelt den Kopf. »Mark hat gesagt, er hat das Haus vor Ewigkeiten schon auf dem Markt gesehen.« In der nächsten Schublade findet sie endlich den Lockenstab. Sie hält ihn Rose hin.

»Auf dem Markt heißt aber noch lange nicht verkauft. Es müssen sich erst einmal Interessenten finden, die passen, und der Kaufvertrag unterschrieben werden.« Rose hört ihrem Stiefvater deutlich aufmerksamer beim Abendessen zu, wenn er ihnen von seiner Arbeit als Immobilienmakler erzählt. Sie nimmt den Lockenstab entgegen, macht aber keine Anstalten, wieder zu gehen.

Blaze schiebt sich an ihr vorbei zurück in ihr Zimmer. »Dann liest er sie nicht, okay?« Sie schnappt sich einen Jutebeutel mit dem Aufdruck eines Männerkopfes, über dem ›Talk Darcy to Me‹ steht. Heftiger als beabsichtigt schnappt sie den Brief und stopft ihn in die Tasche. Sie macht sich auf die Suche nach ihrem Geldbeutel.

»Aber wenn er sie nicht liest, wieso schreibst du sie dann?«, fragt Rose aufbrausend. Blaze wirft ihrer Schwester einen vernichtenden Blick zu.

»Für mich, okay? Ich schreibe die Briefe für mich.« Sie findet ihren Geldbeutel auf der Fensterbank. Sie sieht hinaus auf die grüne Wiese und den Bach, der sich an ihrem Grundstück entlang schlängelt. Durch ihr offenes Fenster hört sie sein beständiges Gurgeln und einige Vögel zwitschern.

»Dann brauchst du sie ja nicht abzuschicken«, erwidert Rose trotzig. Ihre Augen verfolgen Blaze, die ihren Schrank öffnet und ein großes Badetuch mit aufgedruckten Zitronen herausholt.

»Ich weiß nicht, wieso du dich überhaupt dafür interessierst«, faucht Blaze. Sie sieht ihre Schwester nicht an, als diese verächtlich schnaubt. Sie konzentriert sich voll und ganz auf das Packen ihrer Tasche.

»Vielleicht weil Mum uns so lange einengt, bis du über die Sache endlich hinweg bist?«

Blaze zuckt zusammen. Rose hat natürlich vollkommen recht. Aber das würde sie ihr auf keinen Fall sagen.

»Mum muss es ja nicht erfahren.« Sie wirft ihrer Schwester einen vielsagenden Blick zu. Sie sucht im Bücherregal nach ihrer Lieblingsausgabe von ›Tess von den d’Urbervilles‹. Schließlich findet sie sie zwischen ›Betty und ihre Schwestern‹ und ›Sargassomeer‹ und zieht das durch das viele Lesen bereits mitgenommene Exemplar heraus und legt es auf den Jutebeutel.

»Dann sag mir, wieso du den Brief geschrieben hast.« Rose klingt jetzt nicht mehr wie ein trotziges Kind, sondern wie eine schlagfertige Verhandlungspartnerin. Blaze hat genug Auseinandersetzungen mit ihrer Schwester gehabt, um zu wissen, dass sie es sofort Mum erzählen würde, wenn sie ihr keine befriedigende Antwort darauf gab. Egal, ob Mum auch sie danach kaum aus dem Haus lassen würde.

»Für mich, habe ich doch eben gesagt.« Blaze geht zu einer Kommode und sucht nach einem passenden Bikini.

»Wieso hast du den Brief geschrieben?«

»Für mich, Rosie.«

»Wieso für dich?«

Blaze zieht ein dunkelblau geknüpftes Triangel Bustier und die passende Hose aus ihrer Schublade und knallt sie zu.

»Weil es mir hilft.« Das Blut rauscht in ihren Ohren.

»Wieso hilft es dir?« Sie wünscht sich, sie könnte ihre Schwester aus dem Zimmer schieben und die Tür fest hinter ihr verschließen.

Sie nimmt einen langärmligen Kimono aus ihrem Schrank. »Weil es mir einfach hilft, okay?«

»Das ist nicht gut genug.« Rose macht einen Schritt auf sie zu und reißt ihr den Kimono aus der Hand. »Wieso ist er dir noch so wichtig, Blaze? Er hat uns verlassen, er hat dich im Stich gelassen, was willst du noch von ihm?«

Du bedeutest mir nichts, ich kenne dich nicht einmal. Das Echo seiner Worte, die er ihr im Wohnzimmer seiner Großeltern an den Kopf geworfen hat, hallt in Blazes Kopf wider und wird immer lauter. Sie droht an ihnen zu ersticken.