22.44 schwindelfrei unterwegs - Gisa Feldmayer - E-Book

22.44 schwindelfrei unterwegs E-Book

Gisa Feldmayer

4,8

Beschreibung

ein Frauenroman von Gisa Feldmayer und Andrea Schmied Nicht alle haben Glück in der Liebe, aber damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet ... Valeska, genannt Walli ist 36, steht vor dem Standesamt - und k e i n e r kommt. Ihr Auserwählter, Adam Geier, hatte sie "Übrig" zurück-gelassen. Irgendwie findet sie es beschämend, dass in ihrem Leben etwas so derartig schief läuft, und sie selbst als Pädagogin keine Erklärung geben kann, warum das alles plötzlich so gekommen ist. Trotzdem! Sie bezahlt 22.44! Nimmt an, dass die Schnapszahlen "das Glück" bedeuten und zieht in eine WG der "Übriggebliebenen" ein. So verschieden sie alle auch sein mögen, eins empfinden die fünf unterschiedlichen Bewohner jeder auf seine Weise: Das Gefühl, wenn sie nach Hause kommen, nicht alleine zu sein. Valeska, genannt Walli, betritt eine Welt, die erheitert und verblüfft, aber auch in der unbarmherzige Katastrophen nicht ausbleiben. Ihr Auto, das liebevoll von Ihr So-alt-so-gelb-so-voller-kleiner-Dellen genannt wird, hält die Spur und chauffiert sie sicher durch ihr Städtchen, vorbei an Lieblingsrestaurants und einem Schloss, das vor Romantik die Herzen höher schlagen lässt. Dabei entdeckt sie, was und wer wirklich wichtig ist in ihrem Leben. Sie stellt fest, wie klein die Welt sich um Zufälligkeiten dreht und wie sich Ehrlichkeit auf leisen Sohlen davonschleichen kann, wenn man in dieser traumverlorenen, liebesuchenden, abschiednehmenden, weiterfragenden Welt nicht aufpasst.

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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Die Autorinnen
Freitag, 2. Oktober, 17.05 Uhr
Samstag, 3. Oktober, 9.15 Uhr
Samstag, 17. Oktober, 9.44 Uhr
Samstag, 28. November, 9.22 Uhr
Samstag, 28. November, 16.14 Uhr
Samstag, 28. November, 18.45 Uhr
Sonntag, 29.November, 7.22 Uhr
Sonntag, 29.November, 17.22 Uhr
Montag, 30. November, 13.44 Uhr
Sonntag, 6. Dezember, 10.28 Uhr
Sonntag, 6. Dezember, 18.30 Uhr
Sonntag, 6. Dezember, 19.42 Uhr
Montag, 7. Dezember, 00.57 Uhr
Montag, 7. Dezember, 8.08 Uhr
Montag, 7. Dezember, 11.22 Uhr
Montag, 7. Dezember 15.00 Uhr
Freitag, 11. Dezember, 19.51 Uhr
Freitag, 11. Dezember, 23.11 Uhr
Samstag, 12. Dezember, 6.54 Uhr
Samstag, 12. Dezember, 7.36 Uhr
Samstag, 12. Dezember, 12.44 Uhr
Samstag, 12. Dezember, 15.07 Uhr
Samstag, 12. Dezember, 19.16 Uhr
Sonntag, 13. Dezember, 4.54 Uhr
Sonntag, 13. Dezember, 9.25 Uhr
Montag, 14.Dezember, 14.15 Uhr
Montag, 14.Dezember, 14.25 Uhr
Montag, 14.Dezember, 15.45 Uhr
Montag, 14. Dezember, 19.35 Uhr
Dienstag, 15. Dezember, 00.00 Uhr
Dienstag, 15. Dezember 5.10 Uhr
Dienstag, 15. Dezember, 18.19 Uhr
Mittwoch, 16. Dezember, 9.30 Uhr
Donnerstag, 17. Dezember, 8.30 Uhr
Donnerstag, 17. Dezember, 14.16 Uhr
Freitag, 18. Dezember, 01.01 Uhr
Freitag, 18. Dezember, 8.24 Uhr
Freitag, 18. Dezember, 19.54 Uhr
Samstag 19. Dezember, 6.41 Uhr
Sonntag, 20. Dezember, 8.08 Uhr
Montag, 21. Dezember, 9.00 Uhr
Montag, 21. Dezember, 11.44 Uhr
Montag, 21. Dezember, 18.00 Uhr
Dienstag, 22. Dezember, 10.22 Uhr
Dienstag, 22. Dezember, 14.22 Uhr
Mittwoch, 23. Dezember, 16.02 Uhr
Mittwoch, 23. Dezember, 18.05 Uhr
Donnerstag, 24. Dezember, 5.48 Uhr
Donnerstag, 24. Dezember, 14.45 Uhr
Freitag, 25. Dezember, 9.17 Uhr
Samstag, 26. Dezember, 8.12 Uhr
Sonntag und Montag, 27. und 28. Dezember
Dienstag, 29. Dezember, 9.44 Uhr
Mittwoch, 30. Dezember, 11.05 Uhr
Epilog
Danksagung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

22.44 schwindelfrei unterwegs, Gisa Feldmayer & Andrea Schmied

Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Alle Rechte vorbehalten.

Verfielfältigung, auch auszugsweise,

ohne Genehmigung des Verlags nicht gestattet.

© Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

1. Auflage Print Oktober 2012

2. Auflage Print November 2012

Korrektorat: Martina Leiber

Hardcover Juni 2013

Korrektorat: Lutz Brien

Umschlagfotos: (Himmel) Sonia Lauinger, (St. Jakob, Friedberg) W. Feldmayer, (Auto, Schuhe, Kugel) Fotolia_40409503, Autorenfoto: 4creations.de – Christian Strohmayr

Redaktion, Satz, Umschlaggestaltung: Sonia Lauinger

Edition E-Book August 2013

Konvertierung und Formatierung: Angela Hahn

ISBN 13: 978-3-942637-32-9

www.derkleinebuchverlag.de

Das Buch

Der Spruch von Karl Valentin „Hoffentlich wird’s nicht so schlimm,wie’s jetzt schon ist!“ macht es Valeska Kammermeier, genannt Walli, auch nicht leichter. Am Tag ihrer Hochzeit wird sie einfach sitzen gelassen!

Was nun? Walli ist sechsunddreißig und hält sich selbst für eine „Torschlusspanikerin“.

Sie glaubt an Glückszahlen, ergreift die Flucht nach vorne und landet in einer Wohngemeinschaft von „Übriggebliebenen“. Walli steckt mitten in einem Knäuel aus verworrenen Lebensfäden und nichts mehr ist so, wie es war.

Sie stellt fest, wie klein die Kreise sind, um die sich die Welt um Zufälligkeiten dreht und wie sich die Ehrlichkeit auf leisen Sohlen davonschleichen kann, wenn man in dieser traumverlorenen, liebesuchenden, abschiednehmenden Welt nicht aufpasst.

Ist dieses skurrile Sammelsurium von Menschen die Rettung?

Die Autorinnen

Foto©4creations

Wie’s kommt, so kommt’s …

Die gebürtigen Augsburgerinnen Gisa Feldmayer (*1962) und Andrea Schmied (*1967) lernen sich im Kindergarten ihres Nachwuchses kennen. Bevor sie sich jedoch aus den Augen verlieren, kommt der Moment des Zufalls, manche nennen es auch Schicksal, ins Spiel.

Alles beginnt mit einem Kurs an der Volkshochschule, in dem die beiden Frauen ihre Leidenschaft fürs Schreiben neu entdecken und beschließen, ihre kreativen Ideen in einem gemeinsamen Buch umzusetzen, mit dem Ziel, ein Lächeln auf alle Gesichter zu zaubern und die Herzen der Leserinnen und Leser zu erobern.

Dieses Buch ist vom ersten Buchstaben bis zum kompletten Plot von den Autorinnen im gemeinschaftlichen Schreib-Wechsel erstellt worden. Der Rhythmus, die Gefühle und die Ereignisse in diesem Erstlingswerk sind beiden Frauen durch ihre Beobachtungen und die beschwingten Geschichten der Menschen in ihrer Umgebung zugeflogen und es wäre ihr größter Wunsch, wenn jedem Leser und jeder Leserin, wie im richtigen Leben, die Ecken und Kanten auffallen, sie sich amüsieren würden und für eine kurze Zeit die gute Laune vorhalten könnte.

Kurzbiographie von Gisa

Wer kennt dies nicht: Ein Traum lässt sie nicht los.

Gisa Feldmayer lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern, einem Sohn, der Glückskatze Lucy und drei chinesischen Baumstreifenhörnchen in Friedberg/Bayern. Seit sie einen Stift halten kann, erfindet sie mit Begeisterung Geschichten. Sie hat ihren Lieben versprochen, einen Bestseller zu schreiben, aber letztendlich steht für sie über allem nur dieser eine Gedanke: Schreiben ist eine Art zu reisen – undder Weg kann wichtiger werden als das Ziel.

Kurzbiographie von Andrea

Andrea Schmied wurde beim Mittagsläuten an einem Dienstag im Mai 1967 in Augsburg geboren und ist als Steuerfachangestellte tätig. Nach dem Motto „Lebe leidenschaftlich, denn das Leben ist prall und bunt und auch der Alltag birgt viele köstliche Momente, die es zu genießen lohnt“ lebt und wurzelt sie mit ihrer Familie in Friedberg.

Freitag, 2. Oktober, 17.05 Uhr

Es gibt kleine, alltägliche Dinge im Leben, die schwierig zu bekommen sind: Jeans, die auf Anhieb passen und eine gute Figur machen, Lippenstift, der sich nicht im Lauf eines Vormittags unschön in all die kleinen Fältchen der Lippen setzt und eine Parklücke, in die sich das Fahrzeug beim ersten Versuch rückwärts einparken lässt. Es scheint Glückssache zu sein, ob es mir gelingt, mein Auto in die Lücke zu manövrieren.

In Anwesenheit anderer, die mir eventuell zusehen, werde ich nervös, was wiederum dazu führt, das ich rechts und links oder Gas- und Bremspedal verwechsele. Dieser Umstand hat mir schon manche peinliche Situation beschert und die Höhe meiner Versicherungspolice stetig ansteigen lassen. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, eine Frau zu sein, die Aufsehen erregt, für Menschenansammlungen nicht geringen Umfangs sorgt und dabei die Lacher auf ihrer Seite hat.

Zu den definitiv schwierigen Dingen gehört einen Einkaufswagen zu finden, dessen Rollen in eine Richtung laufen, schießt es mir durch den Kopf, als ich kurz vor der Kasse leichtfüßig mit meinem Korb eine entnervt wirkende Frau mit hoch aufgeladenem Einkaufswagen überhole.

Manchmal hat es etwas für sich, Single zu sein.

Allerdings sind die Momente, in denen ich so empfinde, selten, und wenn ich ehrlich bin, graut es mir davor, gleich meine Wohnung zu betreten.

Davor graut mir schon seit acht Wochen.

Heute vor exakt acht Wochen, am 7. August, hat Adam mich verlassen. Genau genommen ist er einfach nicht gekommen!

„Macht zweiundzwanzig Euro vierundvierzig, bitte.“

Die Kassiererin schiebt den letzten Artikel meines Einkaufs, ein Päckchen Vollkornbrot, in meine Richtung und sieht mich auffordernd an. Schnell bezahle ich und räume die Lebensmittel in meinen Einkaufskorb.

22,44 Euro.

Ein gutes Zeichen! Lauter gerade Zahlen!

Schnapszahlen.

Als Kind habe ich immer mit mir selbst gewettet: Wenn es an Weihnachten schneit, bringt mir das Christkind das wunderschöne Barbie-Ballkleid, das ich seit Wochen in der Auslage des Spielwarenladens bewundere. Wenn es heute nicht regnet, schreibe ich eine Drei in der Mathearbeit. Eine Strategie, die sich bewährt hat und somit ein Grund dafür, warum ich als Erwachsene die Wetten mit mir selbst fortführe: Wenn ich mir auf dem Weg keine Laufmasche in die Strumpfhose reiße, bekomme ich den Job. Wenn am Tag meiner Hochzeit die Sonne scheint, wird alles gut.

Alles wird gut, wenn… wenn was?

Nur so viel: Die Wette mit der Sonne am Hochzeitstag habe ich nicht gewonnen. Nichts wurde gut. Nichts.

Aber heute, heute werde ich Glück haben! Ich habe es mir verdient. Nach acht langen Wochen in einer leeren, kalten Wohnung hat jeder ein bisschen Glück verdient.

Wie jedes Mal lese ich die „Suche“- und „Biete“-Karten am Schwarzen Brett an der Wand rechts vor dem Ausgang des Supermarkts. Sofort sticht mir eine Karte mit roter Schrift ins Auge.

Wohngemeinschaft der Übriggebliebenen
sucht gleichgesinnte(n) Mitbewohner(in)
Zimmer mit Bad, ca. 22 qm
in Friedberg, Kolpingstraße 44

Schnapszahlen. Da sind sie wieder!

Sofort nehme ich die Karte an mich, mein Herz pocht, jetzt oder nie!

Um Punkt zwanzig Uhr stehe ich vor der Klingelplatte aus Terrakotta mit fünf untereinanderliegenden Klingelknöpfen.

Vier sind mit Namen versehen: Petersen, Steenbeeke, Wiesner, Zanollo.

An der Wand die grün-weiß-rote Flagge, daneben eine Landkarte aus Messing mit dem charakteristischen italienischen „Stiefel“. Inmitten der Friedberger Altstadt ist ein Stück Italien zu Hause. Ich streiche mir kurz durchs Haar und drücke dann das italienische „Zanollo“.

Siehe da, ein paar Sekunden später höre ich Geräusche und die Haustür öffnet sich. Er trägt ein kleines Handtuch um die Hüften geschlungen und wäre da nicht das Genussbäuchlein, könnte ich denken, Robbie Williams mit nassem Haar öffnet mir nach durchzechter Nacht die Tür.

Ich verdränge sofort den Gedanken an Strip-Poker und lächle ihn an. Sein Gesicht strahlt Lebenskraft aus und braune Knopfaugen mustern mich verwundert. Ich bleibe auf der obersten Stufe stehen und lausche dem Moment der Stille. Ein breiter Strahl Abendsonnenlicht verläuft über eine Wand und schimmert auf dem Goldrahmen eines Spiegels in der großen Diele. Meine Gedanken wirbeln durcheinander und ich sage: „Hi – ich bin Valeska Kammermeier und komme wegen der Anzeige im Supermarkt.“

„Oh …! Wie schön, Sie wolle bei uns Ordnunge schaffe.“

Finger und Daumen der rechten Hand aneinander gedrückt, schüttelt er temperamentvoll sein Handgelenk. Seine Stimme klingt kraftvoll und herzlich zugleich, sodass es mir vorkommt, als habe er nur auf mich gewartet, und ich trete das erste Mal in meinem Leben ohne Aufforderung über die Schwelle eines Hauses. Ich recke mein Kinn in die Höhe und versuche eine gute Figur zu machen, während ich ihm mein schönstes Lächeln schenke, als er zur Seite rückt und mich durch die Diele winkt.

Sein Akzent macht mir sofort klar, dass es sich hier um einen Bayern mit italienischen Wurzeln handelt.

„Schau Bella, warum ast vorher nickt angerufe? Jetzt abbe i bloß no klitzekleine Zeit for zeige de Dreck ier.“

Er nestelt an den Enden seines Handtuchs und erklärt mir, wie pflegeleicht der Terrakottaboden in der Diele sei.

Soll ich jetzt etwas sagen? Dass es mich nervös macht, mit einem halbnackten, mir unbekannten Mann durch seine Wohnung zu wandern?

Auch wenn er mir meine Unschuld nicht mehr rauben kann und es mir seltsam erscheint, die Vorzüge eines Terrakottabodens angepriesen zu bekommen, wische ich schnell das aufkommende Unbehagen beiseite, indem ich mir meine positiven Erfahrungen mit Italienern in Erinnerung rufe: Eismann Antonio, der mit seinem umgebauten Piaggio Ape durch unsere Straße fuhr und „Gelati, Gelati“ schrie. Ich war seine Stammkundin mit Vanille, Schokolade, Zitrone und Sahne. Manchmal reichte das Geld nur für eine Kugel, dann setzte Antonio einfach noch zwei oben drauf. „Für jedes deiner wunderschönen Augen eine“, sagte er dann und lachte mich an. Auf der linken Seite blitzte ein goldener Eckzahn. Lange Zeit wollte ich Eisverkäuferin werden, weil ich glaubte, Antonio verdiene mit seinem Gelati so viel Geld, dass er sich sogar goldene Zähne davon leisten könne und im Winter nicht arbeiten müsse. Außerdem konnte er Eis essen, so viel er wollte. Als meine Hüften sich im Teenageralter schwungvoll entwickelten, wurde mir klar, dass mein Wunschberuf mit meiner Wunschfigur unvereinbar war.

Und es gab Pamela. Meine beste Schulfreundin, bis zur achten Klasse. Bis sie mit ihren Eltern nach Italien zurückkehrte.

Pam und ich waren unzertrennlich gewesen. Wir streiften durch unser Wohnviertel, drückten auf fremde Klingeln und rannten lachend davon. Wir hatten so lange Spaß daran, bis uns eines Tages der alte Jäger von Haus Nr. 7 erwischte und um ein Haar mit der Schrotflinte durchsiebte.

Oder wir saßen stundenlang in Pamelas Zimmer, hörten italienische Schlager und lasen die „Bravo“. Meine erste heimliche Liebe war Pamelas Bruder Enzo. Leider war er damals schon 20. Ich fand ihn trotzdem wundervoll und begann schon in dieser Zeit, mich in die falschen Männer zu verlieben.

Unglücklicherweise habe ich diese verhängnisvolle Eigenschaft bis heute nicht abgelegt. Obwohl ich Pamela nie wiedergesehen habe, ist die Erinnerung an sie und unsere Freundschaft so stark, als wäre sie erst gestern weggezogen. Als ich in diesem Augenblick ein riesiges Foto einer italienischen Großfamilie an der Wand entdecke, ist die Illusion perfekt und ich fühle mich wieder wie das kleine Mädchen, das liebend gerne zu Besuch bei Pamela und ihrer lauten, herzlichen Familie gewesen war.

Durch eine geöffnete Flügeltür entdecke ich einen wundervollen Wintergarten mit vielen blühenden Orchideen.

Von irgendwoher steigt mir das Aroma von frisch aufgebrühtem Espresso in die Nase. Verwundert stelle ich fest, dass ich begeistert bin, obwohl ich das Zimmer noch gar nicht gesehen habe. Enthusiasmus und schnelle Entscheidungen sind nicht mein Ding, aber mein Bauchgefühl ruft mir zu: „Ja, ja, si, si!“

Und ich sage zu dem kleinen Italiener, der sich mir inzwischen als Giuseppe Zanollo vorgestellt hat, laut: „Si, ich meine, ja, ähhmm, also, wenn der Rest auch so toll ist“, ich mache eine ausholende Bewegung, „würde ich liebend gern hier einziehen. Ich bin Erzieherin im Kinderhaus hier in Friedberg.“

„Ah, was schreisch du, ... Erziiieherin? Du bist koine Putzfrau? I denk, du kommsch wegen der Saubermachstell.“

Jetzt steht er, wild mit den Armen fuchtelnd, vor mir und vergisst dabei das Handtuch, das sich sofort von seinen Hüften löst. Mein Blick fällt auf das kleine Ding, das kurzerhand zum Vorschein kommt und dessen Gebrauch ich auf längere Sicht abgeschworen habe.

Ich bücke mich nach dem Frottee, und als ich ihm das Handtuch wiedergebe, rutscht es mir heraus: „Da kann man sehen, wie klein die Welt ist.“

Ich huste und räuspere mich verlegen. Hastig verhüllt er sich und ich reiche ihm die „Suche“-Karte vom Schwarzen Brett des Einkaufsmarkts.

„Da kannste sehen, wie kleine die Welt is?“, wiederholt Herr Zanollo und blickt auf die Karte. „I änge Karte da bei Geschäft auf und an die gleicke Dag kommsch du?“

Es stellt sich heraus, dass er diese Karte erst heute aufgehängt hat, aber seit Längerem eine Putzhilfe sucht und dachte, ich wäre deshalb hier. Wir prusten gemeinsam los wie die beiden Alten aus der Muppets-Show, und ich werde immer zuversichtlicher, dass es mir hier gefallen könnte.

“I bin der Seppo.“

Er schüttelt mir kräftig die Hand.

„Schauste erscht das Zimmer a. Kostet 220 Euro, meine, ganz warme. I zeig dir. Du kannst au no die Putzstelle abbe, wenn de des willsch?“

Er lacht mich an und ohne sich im Geringsten durch mich stören zu lassen, fasst er sich zwischen die Beine und rückt alles an Ort und Stelle. Ich werde nie verstehen, wieso Männer sich in allen Lebenslagen ungeniert in den Schritt greifen, während uns Frauen das im Leben nicht einfallen würde. Geduldig ertragen wir verrutschte String-Tangas oder knittrige Slipeinlagen, auch wenn das unangenehme Gefühl in der Körpermitte einen eleganten, in den Hüften wiegenden Gang schier unmöglich macht. Wir ertragen es und nehmen notfalls körperliche Blessuren in Kauf.

Atemlos vor Aufregung laufe ich hinter dem kleinen Seppo her. Jetzt wünsche ich mir, dass mein zukünftiges Zimmer auch so viel Flair versprüht wie das, was ich bereits gesehen habe.

Unwillkürlich muss ich lächeln.

Ich plane auf längere Sicht. Mit 220 Euro Miete müsste ich mir über meine Finanzen nicht mehr den Kopf zerbrechen. Wie schlecht hatte ich deswegen die letzten Wochen geschlafen.

Die Wohnung, die Adam und ich bis vor Kurzem gemeinsam bewohnt hatten, war für mich allein zu teuer. Eintausend Euro. Mein Erspartes wäre ruck, zuck! aufgebraucht gewesen, obwohl ich bereits die Heizung auf Stufe zwei heruntergedreht hatte und mit Bettflasche, Decke und vielen Tränen vor mich hinvegetierte.

Das wird sich ab heute ändern!

Ich gehe alleine die große Treppe nach oben. Seppo will sich schnell etwas überstreifen und ist im Erdgeschoss hinter einer Tür mit weißem Milchglas verschwunden.

Ich bin auf dem besten Weg, in einen neuen Lebensabschnitt zu steigen. Am Ende der Treppe angekommen, stehe ich in einer Galerie mit weißen Rattan-Sitzmöbeln und einem Fusselteppich. Ich drehe mich um meine eigene Achse und blicke in das geschwungene Treppenhaus nach oben.

Seppo ist wieder da. Er hat sich eine ausgewaschene Jogginghose übergezogen. Sein kurzärmliges Hemd scheint mir der Jahreszeit nicht angemessen. Sein Handy klingelt. Was soll ich sagen? Eigentlich brummt es, dann vibriert das Ding, um schließlich laut zu pupsen. Ob ich will oder nicht, bekomme ich das Gespräch zumindest akustisch mit, italienisch und laut.

Kurz angebunden verabschiedet er sich und sagt zu mir: „Mei Mamma. Ruft immer an, fragt mir ein Lock in de Bauck. Ruf sie zuruck, weil sie sonsch bös ist mit mir. Sie denkt, i kann ned allein lebe, i werde nix esse und erfriere.“

„Wobei sie mit erfrieren nicht unrecht hat“, sage ich und zeige auf sein offenes, kurzärmliges Hemd.

„Du gefallsch mir. Wie meine Mamma. Du kannst hier uberziehen.“

„Einziehen, meinst du?“

Er nickt, öffnet eine Tür.

„Herzlichen Glückwunsch!“, brülle ich in den Raum.

Seppo schreckt zusammen, erkennt aber gleich meine Verzückung.

„Dir gefällt es! Du aste ier alles gefliest, eine eigene Cucina ast du au. Und ier ist das Bad, naturlich at Pabba au alles gefliest. At ier in Deutschland für große Fliesegeschäft gearbeitet.“

Ich sehe wirklich überall Fliesen. Den Boden bedeckt Terrakotta in einem warmen Erdton und das angrenzende Bad ist in mattem Weiß an den Wänden und in Anthrazit am Boden gehalten. Ich bin eher der Holzbodentyp, aber was solls? Wenn der „Pabba“ in einem Fliesengeschäft gearbeitet hat! Und mit Teppich und Stoff, warum nicht? Sauber und neuwertig ist es und gemütlich könnte es werden!

Guter Dinge trete ich an die großen Fenster und öffne die Balkontür.

„Wieso die Wohngemeinschaft der Übriggebliebenen?“, frage ich über die Schulter hinweg.

„Ist einfack: Mei Mamma und mei Pabba sind zuruck nach Italia, i bin ubrig. Von die beide Männer in oberschte Schtocke is eine Witwer, der andere wois i ned so genau, i glaub der hat Kummer. Weisch scho mit Amore. Ah ...“

Das breite Grinsen in Seppos Gesicht zieht sich von einem Ohr zum anderen.

„Die Lilli ... ist dolle Mädle. At Umor, ist unser Sonneschein. Studentin. At gewohnt mit andere Studentin, die is fortgezoge nach Amerika. Die Lilli ist au ubrig.“

„Ah“, sage ich.

Seppo blickt mich treuherzig an und fragt: „Und du? Bisch au ubrig?“

Sofort sticht es in meiner Brust. Mit einem tiefen Atemzug pumpe ich Sauerstoff zu meinem verbrannten Herzen und blinzle schnell mit den Augen, damit meine Kontaktlinsen nicht weggeschwemmt werden.

„Braust nix zu sage, Mädle“, meint Seppo mitfühlend und tätschelt meinen Arm. „Kannste sofort einziehe, wenn du magst, eh?“

Wenn mein Leben schon so lieblos ist, kann ich mich jetzt wenigstens über diese Zusage freuen.

Samstag, 3. Oktober, 9.15 Uhr

Manchmal, wenn ich aufwache und so wie jetzt aus meinem Fenster schaue, dann machen mir die Tage Angst, die vor mir liegen. Aber heute ist das anders. Fast erscheint es mir lächerlich, wie aussichtslos ich mein Leben gestern noch gefunden hatte.

Ich werfe meine Kaffeemaschine an und schleiche an meinem Spiegelbild vorbei ins Bad. Es ist gestern noch spät geworden.

Während ich meine Einkäufe in den Noch-Kühlschrank meiner Noch-Wohnung räumte, genehmigte ich mir ein Gläschen Wein und ein Telefonat mit meiner besten Freundin.

„Ich kann es kaum erwarten“, sagte ich zu Pippa, nachdem ich ihr fast zwei Stunden vorgeschwärmt hatte, wie toll ich diese WG-Geschichte finde und wie spannend plötzlich wieder alles um mich herum scheint.

Philippa Rumpler, genannt Pippa, meine wunderbare beste Freundin, hörte mir ruhig zu und fragte dann mit ihrem eigenen, lieblich klingenden Singsang vorsichtig nach: „Meinst du, dass das jetzt wirklich das Richtige für dich ist? Eine Wohngemeinschaft? Für ‚Übriggebliebene!‘ Versteh’ mich bitte nicht falsch, aber Herzchen, du bist 36 Jahre alt! Ich meine, in unserer Studienzeit war das ja alles noch o.k., aber jetzt?“

„Pippa, glaub’ mir, das ist das Richtige. Ich spüre es. Alles wird gut“, hörte ich mich mit selbstbewusster Stimme sagen.

Doch plötzlich ist die Leitung tot. Hatte Pippa aufgelegt?

Mein Handy fiedelte Lou Begas „Mambo Nr. 5“ und ich sprang, wie ein Wall-Street-Broker auf Speed, links und rechts ein Telefon am Ohr, durchs Zimmer.

„Pippaaa? Ich habe so schlechten Empfang! Was hast du gemacht? Warum hast du aufgelegt?“

Im weiteren Verlauf stellte sich heraus, dass Pippa nicht aufgelegt, sondern kurzerhand versehentlich mit der Gartenschere das Telefonkabel gekappt hatte, als sie während unseres Gesprächs die Bastelarbeit für ihre Sternengruppe im Kindergarten fertigstellte.

„... weil du immer noch kein schnurloses Telefon hast!“, maulte ich.

„Ich kenne wirklich niemanden, niemanden, der noch so ein kotzgrünes Teil mit Wahlscheibe in der Wohnung stehen hat!“

Seit zwanzig Jahren schlittert Pippa tollpatschig durch unsere Freundschaft und treibt mit ihrer Fähigkeit, in jedes Fettnäpfchen zu treten, ihre Umwelt an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

So wie letzten Samstag, als wir zusammen im Kino waren.

„Ich geh noch mal eben aufs Klo und hole mir Popcorn“, raunte sie mir ins Ohr und drängte sich durch die Menschenmassen in Richtung Toilette. Nachdem sie fünfzehn Minuten später immer noch nicht neben mir saß, begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. Der Hauptfilm lief schon, als sie sich völlig derangiert neben mich auf den Sitz fallen ließ. Sogar im Film atmete Til Schweiger kräftig durch.

„Wo warst du denn? Hast du den Mais für dein Popcorn selbst angepflanzt oder wie?“, fragte ich flüsternd.

„Pah, kannst froh sein, dass ich noch lebe, die hätten mich fast gelyncht!“

Auf meine Nachfrage erklärte Pippa, dass sie in ihrer unbekümmerten Art in den erstbesten Kinosaal gestürmt sei und sich dann wunderte, wo ich nun war. Mit zwei Dosen Prosecco und einer Riesentüte Popcorn auf ihrem Schoß verteidigte sie mit Vehemenz „unsere Plätze“. Alle Anwärter hatte Pippa aggressiv in die Flucht geschlagen, darüber hinaus die 500-g-Popcorntüte demonstrativ als Platzhalter auf meinen Sitz gestellt und die Beine über den Vordersitz gelegt, damit endlich klar war, dass die Platzkarten genau diesen Sitzen zugeordnet waren. Erst als die Werbung vorbei und ich immer noch nicht aufgetaucht war, der Hauptdarsteller reihenweise Ninjas niedergemetzelt hatte und darüber hinaus keinerlei Ähnlichkeit mit Til Schweiger zu haben schien, wurde ihr klar: Sie war im falschen Kinosaal!

Es sei entsetzlich gewesen, erzählte sie mir flüsternd. Die Besucher des Films hätten genauso gruselig ausgesehen wie der Hauptdarsteller und wollten nicht aufstehen, als sie ihren Irrtum feststellte und das Kino wieder verlassen wollte. Durchschlängeln hätte sie sich müssen und sei genau demjenigen auf den Schoß gefallen, dem sie vorher die Sitzplätze verwehrt hatte. Er sei sehr verstimmt gewesen als sie über sein rechtes Knie stolperte, der Prosecco sich schäumend über seine Hosenschlitz ergoss und Pippa versuchte, mit den Lippen den letzten Tropfen des herrlichen Sprudels zu erhaschen, bevor alles im Nirvana versickerte. Er sah sie entsetzt an, aber als sie ihm dann beim Aufrichten noch die halbe Tüte süßes Popcorn übers Haar schüttete, blickte er drein wie ein Ninja kurz vor dem Todesstoß.

Drei Treppenaufgänge und fünf Stolperattacken später hatte sie mich, Gott sei Dank, endlich im richtigen Kino aufgespürt. Mit nur noch einer Dose Prosecco und einer halben Tüte Popcorn ließ sie sich mit Schweißrändern auf der Bluse neben mir nieder.

Nachdem sie mir halblaut die ganze Geschichte erzählt und ich mich vor Lachen fast übergeben hatte, stellten wir verblüfft fest, dass die Leute vor und hinter uns ebenfalls laut kicherten.

Allerdings nicht über Til Schweiger…

„Juhuuuu! Walli! Du bist ein Glückspilz.“

Mein Spiegelbild strahlt mich glücklich an, obwohl ich ziemlich verkatert aussehe. Ich frage mich, wie es wohl sein wird, wenn man in einem Gemeinschaftsbad neben einem Fremden die Pickel ausdrückt?

Nachdem Pippa und ich über zwei Stunden am Telefon gequatscht hatten, ich so nebenbei eine ganze Flasche Rotwein auf mein neues Zuhause geleert hatte und selig auf der Couch entschlummert war, klingelte es irgendwann nach Mitternacht an der Haustür. Durch den Spion konnte ich einen riesigen Pizzakarton erkennen, hinter dem ein roter Haarschopf hervorlugte.

„Party, Party-Pizza, Wein und Schokoladeneis!“, schrie es fröhlich und rumpelte an mir vorbei ins Wohnzimmer.

Ich kenne niemanden, dessen Nachname so treffend ist wie Pippas. Philippa Rumpler!

Schlaf- und weintrunken wankte ich hinter ihr her und ließ mich aufs Sofa fallen. Pippa hatte bereits Wein und Pizzakarton geöffnet und es sich schmatzend im Schneidersitz auf dem Boden gemütlich gemacht.

Es ist wahr und ich schäme mich dafür, aber ich bin ein biologisches Wunder. Noch bevor meine Augen sich komplett öffnen, mein Geist wach ist und mein Stoffwechsel die Arbeit aufnimmt, kann ich essen. Ganz egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit – ich kann immer alles essen.

Auch Matjes zum Frühstück und dazu ein Nutellabrot.

Eigentlich muss ich mir über ein Gemeinschaftsbad gar keine Gedanken machen, fällt mir ein, als ich prüfend die Mitesser an meiner Nase untersuche. Schließlich bin ich autark in meinem Zimmer, habe ein eigenes Bad und eine kleine Küche. Ich muss also niemanden sehen, wenn ich nicht will. Trotzdem ist es schön, zu wissen, dass man nicht allein ist. Hoffentlich sind die anderen Mitbewohner auch so nett wie Seppo.

Am Morgen danach steigt vom Nacken dumpfer, fieser Kopfschmerz Richtung Schädeldecke. Mehrere Gläser süßer Rotwein und auch noch einige von den selbst gedrehten Müsli-Zigaretten, die Pippa ab und an raucht, waren einfach zu viel gewesen.

Ich beschließe, eine heiße Dusche zu nehmen und gemeinsam mit Schmerztabletten und viel Wasser den Tag der Deutschen Einheit im Bett zu verbringen.

Samstag, 17. Oktober, 9.44 Uhr

An manchen Tagen würde ich am liebsten gar nicht aufstehen. Tage, an denen ich mich müde und schlapp fühle, kaum, dass ich die Augen aufgeschlagen habe. Tage, die grau und trüb durch die Rollladenritzen kriechen, obwohl es bereits halb zehn ist. Tage, die sinnlos erscheinen und sich schon am Morgen ewig anfühlen. Tage wie dieser.

Reglos liege ich im Bett und starre gegen die Decke. Früher mochte ich Samstage, an denen ich dienstfrei hatte. Samstage wie diesen. Adam und ich wälzten uns faul zwischen den Laken, tranken Cappuccino aus einer Tasse und lasen im Bett die Tageszeitung. Er von vorne, ich von hinten, weil ich den Heimatteil am liebsten mag. Meist gingen wir später zusammen einkaufen oder bummeln und im Sommer an den Friedberger Baggersee, abends zum Tanzen, ins Kino oder in die Kneipe, um mit Freunden zu klönen.

Aber Adam ging und ich blieb.

Ich blieb zurück. Starr und allein.

Und seitdem graut mir. Vor dienstfreien Wochenenden.

Endlosen Samstagen und stillen Sonntagen. Vor der Leere grau wabernder Tage.

Meine Gedanken drehen sich im Kreis, drehen mich schwindlig, und ich bekomme dieses Gefühl in der Magengegend, das sich einstellt, wenn das Kettenkarussell sein höchstes Drehmoment erreicht. Dann, wenn die kleinen Gondeln weit nach außen schwingen. Mir wird ganz flau zwischen Herz und Magen. Irgendwie komme ich mit dem Gefühl, an Ketten zu fliegen, nicht zurecht. Auch jetzt nicht.

Eigentlich bin ich frei. Frei, zu tun, was ich möchte. Frei, mich neu zu verlieben. Etwas anderes zu tun.

Umzuziehen!

Und doch. Ich bin gefangen! Mein Herz ist an die Kette gelegt, und als Adam ging, hat er den Schlüssel mitgenommen.

Seitdem rüttle ich. Feile. Versuche, die Ketten zu lösen. Ein Geduldsspiel.

Mal wieder.

Wie oft ist mir das schon so passiert? Dreimal, viermal?

Jedes Mal hatte ich gehofft, es sei das letzte Mal. Bei Adam war ich mir sicher gewesen. Doch wie sicher kann man sich schon sein? Ich hatte gehofft, nicht mehr sägen, nicht mehr feilen zu müssen. Stunden, Tage, Monate zu warten, dass der Schmerz vergeht und die Ketten mein Herz freigeben. Warum tut diese Freiheit so weh?

„Freiheit beginnt im Kopf“, las ich neulich in einer dieser bunten Frauenzeitschriften im Wartezimmer meines Frauenarztes. Eine ganze Seite widmet das Magazin den Lebensweisheiten seiner Leserinnen, deren Haushaltstipps und Kuchenrezepten, der wahren Lebensgeschichte und der ultimativen Blitzdiät. Es ist die Zeitschrift der Normalo-Frau, die weder figürlich noch finanziell in die Haute Couture passt, die in schicken Hochglanzmagazinen abgebildet ist. Die Zeitschrift für die Durchschnittsfrau, die Feng-Shui schon mal für ein Chinarestaurant hält und glaubt, der Hollywoodcut sei eine besondere Schnitttechnik für Kinofilme. Diese wöchentlich erscheinenden Alltagsbibeln tragen nicht irgendwelche glamourösen oder französischen Titel, nein, sie tragen die Namen ihrer Leserinnen – „Tina“, oder deren Geschlecht – „Frau“, meist versehen mit einem Zusatz, damit „Frau“ auch weiß, wo sie sich befindet. Also in der Welt. Oder der Woche.

Oder im Spiegel. Im Bild? Meine absolute Lieblingsseite in diesen Zeitschriften ist die Rubrik, in der Frauen von ihren sensationellen Diäterfolgen erzählen: „So habe ich es geschafft – von Größe 52 auf 38“.

Wenn ich diesen Aufmacher beim Durchwühlen des Lesezirkels auf dem Wartezimmertischchen entdecke, hält mich nichts mehr. Geschickt verpacke ich die „Frau mit Zusatz“ in ein intellektuelles, anerkanntes Magazin und schmökere hemmungslos. Und so antwortete ich meinem Frauenarzt neulich auf seine höfliche Aufforderung: „So, alles in bester Ordnung, Sie können sich wieder anziehen, Frau Kammermeier!“, mit „Moment noch, gleich bin ich mit dem Artikel fertig.“

Er schenkte mir daraufhin die Ausgabe mit der Anmerkung, dass es wesentlich günstiger sei, dem Lesezirkel das Heft zu ersetzen, als die Blockierung seines Arbeitsplatzes bei brechend vollem Wartezimmer zu riskieren. Die „Frau mit Zusatz“ liegt auf meinem Nachttisch, die Seite mit meiner Lieblingsrubrik schlägt sich von alleine auf, weil ich den Artikel schon so oft gelesen habe. Cornelia Sch. aus W. hatte wirklich innerhalb eines Jahres fast zwei Drittel ihres Gewichts verloren. Aus der ehemals traurig blickenden, Sumoringer-förmigen Frau sei eine hübsche, lachende Grazie geworden, die sich „unsterblich verliebt“ und ein „völlig neues Leben“ mit einem „ganz anderen Beruf“ in einer „fremden Stadt“ in einer „ganz tollen Wohnung“ begonnen hätte.

Grübelnd betrachte ich die Vorher-Nachher-Bilder und ziehe Bilanz. Ich habe auch ein völlig neues Leben begonnen, allerdings in umgekehrter Hinsicht. Nicht, weil ich mich unsterblich verliebt habe, sondern an Liebeskummer fast gestorben bin. Darüber hinaus habe ich dabei leider nicht an Gewicht verloren, sondern dank Rotwein und Schokolade drei Kilo zugenommen. Ich übe meinen Beruf noch immer aus in einer Stadt, in der ich schon von Kindesbeinen an wohne und die ich, wie meine Arbeit, sehr, sehr liebe. Und? Ich habe eine neue, ganz tolle Wohnung, was sage ich, ein Haus!

Das ist immerhin ein Anfang.

Apropos Anfang. Werde jetzt Pippa anrufen und mich mit ihr zum Sport verabreden. Wie schreibt Cornelia Sch. aus W.?

Ohne Sport geht bei einer Diät gar nichts.

Nichts.

Gar nichts geht mehr.

Stunden später liegen Pippa und ich ausgepumpt auf meinem Sofa. Auf dem Couchtisch vor uns türmen sich McDonalds-Verpackungen und ich schleppe mich in die Küche und erwärme in der Mikrowelle zwei Kirschkernkissen, die wir uns auf unsere vollgefressenen Mägen legen.

Vier Stunden sind Pippa und ich kreuz und quer durch die Schwimmbecken der Königstherme gejagt, haben der Strömung des Wildwassers Herr zu werden versucht, uns juchzend die Rutschen hinunter gestürtz und sind im Eiltempo die Treppen nach oben gehechelt, wo wir uns vor weiteren Rutschpartien die Bikinihose in die Poritze stopften, um das Tempo zu erhöhen.

Anschließend haben wir in der Saunawelt Chlor und Schlacken aus der Haut geschwitzt. Zu guter Letzt ließen wir uns die Cellulitis massieren, mit der Folge, dass das auf der Rückfahrt organisierte Sushi unseren Bärenhunger nicht stillen konnte.

„Schön, du warme Welt“, kuschelt sich Pippa mit dem Kirschkernkissen auf dem Bauch zwischen mich und die Couchkissen und ich denke nur noch: „Es könnte so schön sein!“ und schlafe sofort ein.

Samstag, 28. November, 9.22 Uhr

Umzug in ein neues Leben!

Endlich.

Ich hatte mit Paul und Jonas unseren Kinderhausbus vierzehn Mal bis oben hin vollgeladen und all mein Leben in dieses neue Zuhause verfrachtet.

Paul, oft Pauli gerufen, weil sein Gesichtsausdruck so empfindsam ist, dass jeder nur an die Verniedlichung seines Namens denkt, ist mit fast achtzehn Jahren einer meiner ältesten Zöglinge. Er staunte nicht schlecht, als er die Möbel zuerst durch die große Diele schleppte, um sie dann in meinem Privatzimmer im ersten Stock abzustellen.

„Sag mal, Walli, hast du in diesem riesigen Haus gleich ein eigenes Zimmer?“

Irgendwie hatte ich es verpasst, meinen Kids mitzuteilen, dass Adam in meinem Leben nicht mehr vorkommt, genauer genommen, zu unserer Trauung nicht gekommen war. Ich hatte verpasst, ihnen ganz beiläufig zu erzählen, dass meine Trauzeugin Pippa und ich das Standesamt in schwindelnder Angst verlassen hatten, in Krankenhäusern nach einem verlustig gegangenen Verlobten angefragt hatten, um letztendlich festzustellen, dass es sich ein gewisser Herr Geier einfach anders überlegt haben musste.

Ich finde es beschämend, dass in meinem Leben etwas so derartig schief läuft und ich selbst, die „allwissende“ Erzieherin, keine Erklärung geben kann, warum alles so gekommen ist. Ich wollte doch so gerne einen Mann haben, mit dem ich durch dick und dünn gehen kann, mit dem ich am Sonntag durch den Siebentischwald jogge und danach beim trauten Mittagessen zu zweit über das gemeinsame Leben sinniere.

Gemeinsames Leben? Hach! Einsames Leben!

Ich hole tief Luft und sinke auf den letzten Karton. Immer wieder hat mich Pauli vorhin merkwürdig von der Seite angeschaut.

„Wo ist eigentlich dein Mann?“, hat er gefragt.

Natürlich hätte ich ihm jetzt die Wahrheit sagen sollen.

Pädagogisch richtig reagieren müssen. Schließlich ist es keine Schande, sich – auch – als Erzieherin eingestehen zu müssen, nicht perfekt zu sein, dem Leben ausgeliefert zu sein.

Letztlich auch dem eigenen Partner. Doch ich konnte es nicht.

Es fühlte sich so an, als klebte ein Makel an mir. Ich hätte unpädagogisch schreien müssen: „Dieses Arschloch ist einfach nicht gekommen!“

Aber in einem flüchtigen Augenblick, in einem Hauch von Zeit, entschied ich mich, zu schweigen. Was sollte ich zu einem Siebzehnjährigen sagen, der gerade beginnt, sich ernsthaft für Mädchen zu interessieren? Einem gut aussehenden Jungen, der eigentlich fast schon ein Mann ist?

Sollte ich sagen: „Mein Zukünftiger hatte es sich am Tag der Hochzeit anders überlegt.“ oder: „Er hat, während ich mir im Standesamt gemeinsam mit Pippa die Beine in den Bauch stand, unsere Wohnung ausgeräumt und ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden.“

Was sollte ich denn erzählen, wenn ich dieses dämliche „Warum“ selbst nicht wusste und auch niemand anderer es mir erklären konnte? Pippa hatte damals gesagt, um mich etwas aufzufangen: „Er ist so ein Arschloch. Und das war er wahrscheinlich schon immer und du hast es bloß nicht bemerkt.“

Manchmal darf man auch „ARSCHLOCH“ sagen, wenn es die Wahrheit ist, und ich hasse Adam für das, was er mir angetan hat. Ich hätte es wissen müssen!

Adam! Schon dieser Name hätte mich stutzig machen sollen!

Hatte doch bereits Eva im Paradies mit ihrem Adam nur Ärger.

Und so atmete ich tief durch und beantwortete Pauls Frage so ruhig wie möglich:

„Ja, Adam liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Das ist mein Zimmer und ich soll einen eigenen Bereich für mich haben, damit ich mich entspannen kann, wenn es im Kinderheim wieder mal gebrannt hat.“

Und mit einem Augenzwinkern erinnerte ich Paul: „Weißt du noch? Du hast den Rauchmelder samt Sprinkleranlage mit deinem Feuerzeug aktiviert, weil du nicht wolltest, dass ich nach Hause gehe und du im Kinderheim bleiben müsstest.“

In Wahrheit habe ich mich damals sehr geschmeichelt gefühlt. Schon immer habe ich mir einen Sohn wie Paul gewünscht. Vielleicht lässt es die Zeit irgendwann einmal zu.

Pauli war hartnäckig und hakte erneut nach: „Es scheint, als hättest du das große Los mit diesem Typen gezogen. Hätt’ ich nicht vermutet! Ich dachte immer, er sei ein Arsch!“

„Pauli!“

„Ist aber so.“

Pauli steckte die Hände in die Hosentaschen und kratzte mit der Schuhspitze am Boden.

„Ich finde, du bist zu gut für ihn. Tief im Innersten ist der ein Arschloch, ich spür das!“

„Haaallo!“, würgte ich. „Was soll das bitte heißen?“

Ich musste mich räuspern, mein Hals kratzte.

Er zuckte mit den Schultern, zog sein Handy aus der Tasche und tippte schnell auf den Tasten herum. Einmal, nur einmal, möchte ich das so schnell können! Wenn ich eine SMS schreiben möchte, zieht sich das Tippen derart in die Länge, dass ich komplett entnervt dann doch lieber den herkömmlichen Kommunikationsweg wähle und telefoniere. Unvermittelt hielt er mir das Handydisplay vor die Nase. Das Mädchen auf dem Bild lächelte strahlend in die Kamera.

„Hübsch! Blond! Jung?“, fragte ich.

„Fast achtzehn, alt genug!“

„Ist sie deine Freundin?“

„Vielleicht?“

„Vielleicht? Willst du mich auf etwas Bestimmtes hinweisen?“

„Nö, eigentlich nicht.“

„Und uneigentlich?“

„Sie ist nett! Und sie hat einen geilen Arsch!“

„Ach so! Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie die Assoziation so schmeichelhaft finden würde. Und sonst so ...?“

„Du meinst, ob wir schon …?“

Paul machte ein eindeutiges Handzeichen für Geschlechtsverkehr. Mein Magen krampfte sich ein wenig zusammen und ich stellte mir die Frage, wohin dieses seltsame Gespräch eigentlich führen sollte.

Wollte er mich testen? Mich provozieren? Mir etwas anvertrauen? Natürlich sollte ich als seine Erzieherin die Situation richtig einschätzen und kontrollieren können, zu dumm nur, dass ich selbst in einer konfusen, frustrierten Phase war.

Andererseits würde er bald volljährig, erwachsen sein. Und ganz bestimmt hatte er seine ersten Erfahrungen bereits gemacht.

Doch was, wenn nicht?

„Ich meinte eigentlich, ob du verliebt bist in sie ... und mal angenommen, du bist verliebt und sie auch, wäre es nicht schön, sich ein wenig Zeit zu lassen? Sich gegenseitig kennenzulernen, zu entdecken, es nicht so eilig mit ,hm, hm, hm‘ zu haben?“

Ich hob dabei bedeutungsvoll die Augenbrauen.

Ungeduldig strich sich Paul durchs Haar und antwortete plötzlich überaus erwachsen.

„Sina ist doch keine Schlampe! Ich weiß gar nicht, wie wichtig ihr Erwachsenen das ,Poppen‘ nehmt. Sinas Stiefvater hat ebenfalls geplärrt, irgendetwas von Schwangerschaft und Aids, und mich ohne Vorwarnung bei einem Verabschiedungskuss fast umgebracht.“

„Komm, beruhige dich. So schlimm war es bestimmt nicht!“, versuchte ich Pauli zu besänftigen.

„Doch, es war schlimm! Verdammt schlimm sogar!“

Erneutes Schweigen.

„Mal abgesehen davon, ich kenne den Stiefvater von Sina nicht, aber offensichtlich hat er die Sache zwischen dir und ihr falsch eingeschätzt, oder?“, meinte ich.

„Kann schon sein. Ich hätte gute Lust gehabt, ihm eine zu ballern, aber dann musste ich plötzlich an meine Mutter denken und es schien mir, als würde sie mir beide Hände halten.“

Er grinste schelmisch.

„Eigentlich wollte ich dir nur zeigen, dass es verschiedene Arten von Ärschen gibt. Geile und eben auch eine andere Sorte. Hoffentlich hast du nicht letztere als Ehemann erwischt!“

Bei meinem Kopfschütteln in seine Richtung kochte die Wut in ihm sofort wieder hoch: „Sinas Vater hat uns schrecklich angebrüllt und mich ein ,Kuckucksei‘ genannt. Dabei ist er nicht mal ihr richtiger Dad. Ihre Mutter lebt getrennt von Sinas leiblichem Vater. Als ich mich vor Sina gestellt habe, hätte er mir beinahe eine gelangt, nur weil wir vor der Haustür ein bisschen geknutscht haben.“

Ich musste grinsen.

„So isses! Aber so einfach lass ich mich nicht vertreiben, das kann der Typ sich abschminken!“

Ich holte tief Luft. Warum und vor allem wovon hat Adam sich vertreiben lassen?

Für einen Moment schlich die Einsamkeit wieder von hinten an mich heran, umklammerte schmerzhaft mein Herz und ließ meine Augen brennen. Die Frage, auf deren Antwort ich noch immer warte: sechzehn Wochen und einen Tag ohne Antwort.

Samstag, 28. November, 16.14 Uhr

Warum tut es mir überall so weh?

Weil ich mir nicht sicher bin, wo es genau schmerzt, weiß ich im Moment gar nicht, wo ich mich einreiben könnte, selbst wenn ich die gute Mobilatsalbe in einer der vielen Kisten finden würde. Wer hat mich nur so geschlagen? Und vor allem warum?

Ich bin mir keiner Schuld bewusst.

So ein Glück! Die Kiste, auf der ich sitze, ist schnell inspiziert und ich halte meine herzförmige Bettflasche mit Samtüberzug in der Hand. Pech, mein Warmwasserboiler funktioniert nicht richtig und meine Töpfe stecken irgendwo in einer der anderen Kisten, die an der Wand gestapelt sind. Das bisschen heiße Wasser könnte ich doch eigentlich unten aus der Gemeinschaftsküche holen.

Weil ich noch nie sehr mutig war und, wie schon erwähnt, durchaus verfressen bin, habe ich die Fähigkeit des leise Anschleichens und schnellen Wegrennens perfektioniert. Wenn ich als Kind etwas Süßes wollte, war Schleichen angesagt. War ich nicht flott genug mit meiner Beute entkommen, hat mich meine Mutter erwischt und am Schlafittchen gepackt. Das prägt!

Ich werde also niemanden im Haus auch nur annähernd stören. Behutsam schleiche ich mich mit meiner Wärmflasche nach unten, behalte immer die Türen rechts und links im Auge und stelle erleichtert fest, dass außer mir niemand zu Hause ist.

Erst mal Licht anmachen, obwohl ich erst ab Dienstag den Strom verbrauchen darf. Ab 1. Dezember bin ich offiziell Mieterin in der Kolpingstraße 44 und kann mich hier im Haus überall frei bewegen, außer natürlich in den Privatzimmern der anderen Übriggebliebenen.

Aber das ist eh klar.

Ich drehe gerade das heiße Wasser auf, als ich das Aufsperren eines Schlosses höre.

Oh mein Gott! So einen ersten Eindruck möchte ich nicht hinterlassen. Ich trage meine ältesten Jeans, deren Knopf ich offen lassen musste, weil ich ihn sonst beim Bücken abgesprengt hätte. Meine Haare habe ich zu einem Dutt nach oben gezwirbelt und auf meinem rosa Sweatshirt, einem Abschiedsgeschenk einer meiner Gruppen, prangt in verwaschenen Lettern „Zicke“.

Alles in allem sehe ich aus wie eine bucklige Vogelscheuche.

Ich bin gerade nicht bereit für das Kennenlernen eines Mitbewohners!

Panisch sehe ich mich um. Der unbemerkte Rückzug in mein Zimmer ist nicht mehr möglich. Noch vor einigen Monaten wäre es für mich kein Problem gewesen, einfach meine Bettflasche zu füllen und dann mit einem kurzen „Hallo, ich bin die Walli. Ich wohne hier. Offiziell bin ich noch nicht da! Aber inoffiziell sage ich jetzt einfach: Schön, Sie vorab kennenlernen zu dürfen.“

Aber das sind keine normalen Umstände!

Schließlich bin ich erst seit Kurzem „übrig“, sitzen gelassen, einfach abgestellt. Ich weiß gar nicht, wie man sich in dieser neuen Situation benimmt.

Hastig drehe ich den Wasserhahn zu, damit nicht der Anschein entsteht, es könnte sich ein Einbrecher im Haus befinden. Dann schleiche ich lautlos zur Tür und erkenne durch den Spalt einen großen Mann mit schwarzem Mantel und Hut.

Keine Ahnung, wie alt er ist.

Fast überwinde ich mich, so zu tun, als wäre es selbstverständlich, dass ich da bin, doch da zieht er sich Schuhe und Mantel aus und kommt direkt auf mich zu. Genau in dem Moment, in dem sich die Küchentür öffnet, verschwinde ich, gerade noch rechtzeitig, im nächstbesten Schrank, der sich als Vorratskammer entpuppt. Für kurze Zeit bleibe ich unbeweglich stehen und halte den Atem an.

Im Halbdunkel erkenne ich Regale mit ordentlich aufgereihten Marmeladengläsern, Nudeltüten, jede Menge Dosen mit passierten Tomaten, Flaschen mit asiatischen Gewürzsoßen und eine riesige Kühl-Gefrier-Kombination.

Aus der Küche höre ich fröhliches Pfeifen und geschäftiges Rascheln. Neugierig werfe ich einen Blick durch den kleinen Türspalt. Bestimmt ist es der Koch. Er hat ein verwittertes Gesicht und weißes, volles Haar. Als hätte er meinen Blick bemerkt, richtet er seine Augen auf die Tür, hinter der ich mit klopfendem Herzen stehe.

Seine Augen sind eisblau.

Brummelnd schiebt er seine Einkäufe auf der Arbeitsplatte hin und her, schichtet Paprika, Frühlingszwiebeln und Karotten vor sich auf und stellt zwei Töpfchen mit frischen Kräutern aufs Fensterbrett. Dann kommt er mit einem Fleischpaket in der Hand auf mich zu. Seine große Hand greift nach der Klinke.

Meine auch.

Ich lasse mein samtenes Wärmflaschenherz auf den Boden fallen und zerre mit beiden Händen an der Klinke.

„Ja, was ist denn des?“, brummt es ungläubig von draußen.

Es rüttelt heftig an der Tür und fast muss ich nachgeben. So gut ich nur kann, ziehe ich mit meinem ganzen Gewicht nach hinten. Auch von außen wird die Anstrengung verstärkt und ich höre ein leises Fluchen: „Himmel-Herrgott-Sakrament, was ist denn da los?!“

Ja, los ist eine ganze Menge. Und dann geht alles ganz schnell! Auf einmal macht es „Plopp“ und ich sause mit der ganzen Wucht meiner Antonio-Eiskugel-Pfunde gegen die Kühl-Gefrier-Kombination in der Vorratskammer.

Ein stechender Schmerz zieht mir die Beine weg und ich sinke langsam an der weißen Außenfront des Kühlschranks auf den Boden. Zur gleichen Zeit ertönt in der Küche ein lautes Scheppern, gefolgt von einem dumpfen Schlag und einem erstickten „Ahhh!“

Oh. Mein. Gott. Hoffentlich habe ich den alten Mann nicht umgebracht! Vorsichtig, weil es stockdunkel ist und der Rücken schmerzt, krieche ich zur Tür. Ich taste nach der Klinke.

Wo ist das Türschloss?

Hektisch befingere ich den Bereich über dem Schloss.

Verdammt! Die Klinke ist weg!

Draußen stöhnt es leise. Durch ein winziges Loch erkenne ich, dass sich Hose und Hemd bewegen.

Gut. Er lebt.

Mit beiden Händen taste ich jetzt über den Fliesenboden nach der Türklinke. Das gibt’s doch nicht! Das verdammte Teil muss hier irgendwo gelandet sein, so groß ist der Raum doch gar nicht. Im Dunklen stoße ich mir den Kopf an einem Regal an und ziehe ihn wie ein verschrecktes Huhn ein. Erneut gehe ich in Hockstellung. Es scheppert, klirrt, raschelt und ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass mir keine Konservendose auf den Kopf fällt.

Ich werde erhört!

Das, was auf meinem Kopf landet, ist keine Konservendose.

Es ist leicht. Lange Splitter streifen mein Haar und ich ertaste eine knisternde Packung Spaghetti.

Die Türklinke bleibt unauffindbar und das Absuchen der Wand nach einem Lichtschalter erweist sich auch als nicht erfolgreich. Blind wie ein Maulwurf tapse ich mit beiden Händen über den Fußboden und lasse dabei rohe Spaghetti knacken. Dafür habe ich mein Samtherz wiedergefunden. Ich setze mich neben die Tür und lausche angestrengt. Es stöhnt auf der anderen Seite der Tür.

„Hallo“, sage ich zaghaft.

Keine Antwort.

„Hallo, sind Sie verletzt?“

Wieder keine Antwort.

Ich räuspere mich und klopfe gegen das Türblatt.

„Hallo, sind Sie verletzt?“

Stille.

„Hey!“, schreie ich jetzt laut. „Hören Sie, es tut mir leid!“

„Ha!“

Endlich! Eine Antwort, wenn man „Ha“ als Antwort zählen mag, ein unfreundliches „Ha“ noch dazu.

„Sind Sie verletzt?“, versuche ich es nochmals und lege mein Ohr an die Tür der Speisekammer, um eine Antwort, die über „Ha“ hinausgeht, verstehen zu können. Vor der Tür raschelt es.

Wieder Stille.

„Ist da jemand?“

Erschrocken reiße ich mein Ohr vom Türblatt, so stark vibriert die Bassstimme auf meinem Trommelfell. Gleichzeitig klopft es von außen.

„Hallo, ist da jemand?“

„Ja, ich“, sage ich zaghaft.

„Wer ist denn ,ich‘ um Himmels willen?“, poltert es jetzt ungehalten.

„Walli Kammermeier.“

Nur gut, dass die Kids jetzt nicht sehen können, wie ihre Erzieherin, als Vogelscheuche verkleidet, auf dem Boden einer finsteren Speisekammer kniend, ein knallrotes Plüschherz gegen die Brust gedrückt, mit einer klinkenlosen Tür redet.

„Walli Kammermeier. Darf ich fragen, was Sie in meiner Speisekammer machen?“, donnert es jenseits der Tür.

„Ich wollte eigentlich ...“, ich hole tief Luft, bevor ich weiterspreche: „Also das war so: Mein Kreuz tat nach dem Einzug in mein Zimmer hier und nach der Schlepperei der vielen Kisten so weh, dass ich mir eine Wärmflasche machen wollte. Weil ich noch kein heißes Wasser bei mir in der Wohnung habe, bin ich in die Küche gegangen und dann ging die Tür auf, Sie kamen, und da habe ich mich hier versteckt.“

Jetzt höre ich Wasserplätschern und klappernde Schubfächer.

„Dann haben Sie kurzerhand die Klinke abgerissen und versucht, einen alten Mann um die Ecke zu bringen. Netter Versuch übrigens, auch wenn es nicht gerade das ist, was ich von einer neuen Bewohnerin erwarte. Außerdem wäre eine Zugehfrau eher nötig gewesen.“

Allmählich reicht es! Die sind hier schärfer auf eine Putzfrau als auf eine Mitbewohnerin. Das kann ja lustig werden!

Vor der Tür ächzt es, dann ein Rumpeln, und ich blinzle geblendet in helles Licht.

„Na, dann mal raus hier, Walli Kammermeier.“

Wir haben beide nicht die geringste Ahnung, was uns auf der jeweils anderen Seite dieser Tür erwartet. Mein Herz beginnt, heftig zu pochen. Ich stelle sofort fest, dass die Küche nicht mehr so aufgeräumt aussieht wie noch vor einer kurzen Weile. Die gebückte Haltung in der Speisekammer war meinem lädierten Kreuz nicht besonders zuträglich und mich attackieren heftige Rückenschmerzen, als ich ins Licht blicke. Jetzt habe ich auch noch das Gefühl, als wäre etwas mit meinem Kopf nicht in Ordnung. Mir ist, als hätte ich in Nudeln geduscht und die Raumtemperatur sei um mindestens fünf Grad gestiegen.

Zumindest glühen meine Wangen entsprechend, als ich, mein Plüschherz fest an mich gedrückt, vor meinem Mitbewohner stehe. Er mustert mich amüsiert, als er zur Seite tritt.

Es geht los! Bestimmt hält er mir gleich eine Standpauke!

Aber statt dessen starrt er mich an. Ein wenig zu lang, finde ich. So lange, dass ich es nicht mehr ertragen kann und wieder hektisch zu plappern beginne.

„Valeska Kammermeier, hallo! Eigentlich wohne ich heute noch nicht hier, sondern ...“

Tatsächlich verändert sich sein Gesichtsausdruck zusehends und wird freundlicher. Der in dunklen Zwirn gekleidete Herr wiederholt vorsichtig:

„Sondern?“

Mutig rede ich drauflos: „Sondern erst ab Dienstag wohne ich da oben im ersten Stock – Zimmer Nr. 4!“

Um meine Unsicherheit zu verbergen, gehe ich zur Küchentür und zeige auf den Treppenaufgang. Höchstwahrscheinlich denkt er jetzt, dass ich einen an der Waffel habe, denn er betrachtet mit hochgezogenen Augenbrauen abwechselnd die Treppe und den verwaschenen Schriftzug auf meiner Brust.

Ich recke also den Hals und versuche, so würdig es in den zu engen Jeans eben geht, Haltung zu bewahren, um die Misere nicht in ein Desaster abgleiten zu lassen. Für meine kurze Ansprache habe ich zwar keinen Applaus erwartet, aber als mein Gegenüber lauthals loslacht, bin ich irritiert.

„Valeska Kammermeier!“

Das Wiederholen meines Namens macht mich nicht ruhiger.

„Valeska Kammermeier, entschuldigen Sie, aber ich freue mich sehr. Auch wenn ich Sie offiziell erst Dienstag kennenlernen werde. Ihren Namen haben Sie völlig zu Recht!“

Er lacht lauthals.

Ein oller Witzbold, denke ich mir wütend. Jetzt wischt er sich sogar Lachtränen aus den Augenwinkeln.

„Ihre Frisur ist überaus kreativ. Ich liebe Nudeln! Und … Gott sei Dank …“, er lacht immer noch und hat bereits Schwierigkeiten mit der Luftzufuhr. „Gott sei Dank brauche ich heute keines meiner Eier.“

Mit einem blütenweißen, akribisch gebügelten Taschentuch wischt er sich über das Gesicht und betrachtet mich interessiert.

Er sieht etwas, das ich nicht sehe. Die Spiegelfront eines Küchenschranks schafft Klarheit. Der Anblick bringt es auf Platz eins meiner schrecklichsten Momente der letzten Jahre. Es gibt keine Worte für mein Aussehen, jeder Erklärungsversuch kann nur dazu dienen, das Ganze irgendwie und irgendwann selbsttherapeutisch in den Griff zu bekommen. Schließlich bringt es mein Beruf mit sich, alles auch aus psychologischem Blickwinkel zu betrachten. Dass da mal nichts hängen bleibt!

Schließlich wird mir bei meinem Anblick auch schlagartig klar, warum ich eine „Übriggebliebene“ bin. Die Spaghetti stehen in alle Richtungen aus meinem Haar heraus und es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, es hätte wohl kein weiteres Pfund Nudeln mehr Platz gefunden. Dann sticht mir mein geplatzter Reißverschluss ins Auge. Schnell versuche ich meinen uralten, ausgeleierten, keck hervorlugenden Frotteeschlüpfer mit dem Plüschherz zu verdecken, präsentiere allerdings dafür nun das Prädikat „ZICKE“ in Großbuchstaben.

Das alles wäre vielleicht noch zu ertragen, aber das bereits angetrocknete Eiweiß an meinem Hinterteil sieht aus, als ob mir ein unanständiger Kerl an den Arsch gewichst und ich auch noch eifrig, mit roten Wangen, dazu beigetragen hätte.

Einen noch schlechteren ersten Eindruck kann man wohl kaum hinterlassen!

Aber Angriff ist die beste Verteidigung, deshalb drehe ich mich augenblicklich um und fauche: „Na bravo, danke für den Hinweis! Sie dürfen mich jetzt Walli nennen, denn schließlich sind wir uns ja schon ziemlich nahe gekommen.“

Immer noch wischt er sich die Lachtränen aus den Augen.

„Sicher, Walli, aha, Kammer… Aber ich hätte da noch eine Frage ...“

Contenance bewahren, Walli, Contenance! Anscheinend bin ich dazu verdammt, ständig Fragen zu beantworten. Fragen, die sich nicht unbedingt positiv auf mein Wohlbefinden und meine Laune auswirken. Ich habe ja als Pippas Freundin schon so einiges erlebt, aber einen derart peinlichen Auftritt habe ich noch nie abgeliefert. Pippa würde jetzt die Achseln zucken, dem alten Mann fröhlich die Hand schütteln und beteuern, sie sähe sonst um Längen besser aus und treibe sich selten bis gar nie in dunklen Speisekammern herum. Wobei in der guten alten Zeit ein Tête-à-Tête dort erwiesenermaßen sehr beliebt gewesen sei, da doch so manches Dienstmädchen schwanger aus dem Haus gejagt worden sei. Pippa hätte den Alten in Grund und Boden geredet und wäre dann, hoch erhobenen Hauptes, von dannen gezogen.

So würdig es nur geht, stütze ich mich mit einer Hand auf die Arbeitsplatte und wedle zustimmend mit meinem Wärmflaschenherz.

„Bitte, fragen Sie!“

Es dauert noch eine kleine Weile, bis sich mein Mitbewohner von seinem jüngsten Lachanfall erholt hat, dann nimmt er jedoch Haltung an und sagt:

„Also, zuerst einmal möchte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Adalbrand Petersen. Da Sie ja unsere Speisekammer schon genauestens unter die Lupe genommen haben, denke ich mir, Sie sind vielleicht auch Gaumenfreuden zugetan, auch wenn Sie es hin und wieder vorziehen mögen Lebensmittel auf dem Kopf und ...“, er räuspert sich und deutet mit einer süffisanten Kopfbewegung in Richtung meiner Kehrseite. „Um 19 Uhr ist angerichtet. Bei dieser Gelegenheit können Sie Ihre Zimmernachbarin kennenlernen. Sie trägt übrigens auch gerne Kleidung dieser Art. Wenn mich nicht alles täuscht, besitzt sie sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift „BEI MIR BUMST ES SO RICHTIG“. Ich denke, das würde auch zu Ihnen passen.“