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Nichts wünscht sich Billy mehr, als endlich ein Zuhause zu finden. Was sie gar nicht braucht, ist noch mehr Chaos in ihrem Leben – bis sie Cedric buchstäblich in die Arme läuft. Mit dem schiefen Lächeln und der entwaffnenden Ehrlichkeit berührt er etwas in Billy. Doch die Gerüchte, die man über ihn erzählt, entsprechen der Wahrheit: Cedric verbringt nie mehr als eine Nacht mit einer Frau. Als Billy den Grund erfährt, weiß sie, dass sie sich von ihm und seiner Dunkelheit fernhalten sollte … Band 1 der intensiven New-Adult-Romance-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer Benkau "Ein ganz wundervolles und berührendes Buch! Billys und Cedrics Geschichte ist zugleich traurig wie auch voller Glück und Hoffnung." Marnie Schaefers, Autor*in von "A New Season" Die komplette New-Adult-Reihe (die Bände können unabhängig voneinander gelesen werden): A Reason To Stay (Liverpool-Reihe 1) A Reason To Hope (Liverpool-Reihe 2)
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Seitenzahl: 553
Als Ravensburger E-Book erschienen 2021Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© Copyright © 2021 by Jennifer Benkau© 2021 Ravensburger Verlag GmbHDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Motiven von © Amelia Austin, © Mari Dein und © pzAxe, alle von ShutterstockEnthaltene Liedtexte: S. 30: »Round Here«, Counting Crows, Text: Steve Bowman, David Bryson, Adam Durit, Charlie Gillingham, Matt Malley, Dave Janusko, Dan Jewett und Chris Roldan; S. 52: »Surrender«, Billy Talent, Text: Billy Talent; S. 229: »Uprising«, Muse, Text: Matt Bellamy; S. 243: »Three Lions«, Baddiel, Skinner & Lightning Seeds, Text: David Baddiel und Frank SkinnerAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47360-1www.ravensburger.de
Liebe Leserinnen und Leser,
sobald ihr umblättert, begegnet ihr Figuren mit psychischen Erkrankungen.
Diese Geschichte erzählt von ihren Stärken und Schwächen, von Ängsten und Erfolgen, von ihrer Kreativität und ihrer Hilflosigkeit, vom Scheitern und vom Glück, von Humor, überbordendem Löwenmut und lähmenden Panikattacken.
Und von Verlusten.
Einzelne Szenen können bei betroffenen oder vorbelasteten Menschen Gefühle auslösen, die sich möglicherweise nicht mehr oder nur schwer kontrollieren lassen.
Bitte passt auf euch auf und achtet auf eure Grenzen.
Traut euch alles! Auch Nein zu sagen, wenn euch etwas (jetzt noch) nicht guttut.
Weglaufen kann sehr wohl eine Lösung sein – solange man sich den Weg zurück offenlässt.
Akute Beratung in Krisensituationen findet ihr in Deutschland unter anderem bei der Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenlos unter:
0800 / 1110111 oder 0800 / 1110222
sowie unter www.telefonseelsorge.de
Ich bedanke mich herzlich bei meinem Sensitivity Reading Team: Joana, Maria und Marius (besucht Marius auf Instagram unter DerunbekannteHeld).
Singing alone might be hard.
Misunderstandings tear you apart.
But it’s harder to listen, harder to say I’m sorry.
Hard to forgive and even harder to stay.
The problem is you, it’s not me anyway.
We have no quarrel without a guilty conscience.
I sneak around your overarching weakness.
The story doesn’t end up well
for the prince of the survivors
and his loneliness princess.
Hard to forgive and even harder to stay.
The problem is you, it’s not me anyway.
After all of our trouble there’s still a fact you ignore,
the problem is you, it’s not me anymore.
Hard to forgive and even harder to stay.
The problem is you, it’s not me anyway.
Chris von Luce
BILLY
»Wir müssen hier verschwinden. Sofort!«
Einen begriffsstutzigen Moment lang blinzle ich Olivia an und warte darauf, dass sie in ihr lautes Gelächter verfällt. Das kann nur ein Scherz sein! Doch ihr Gesicht bleibt ernst, und ich spüre mein Lächeln erstarren.
»Bist du verrückt? Warum?« Die Führung durchs Museum ist seit nicht einmal drei Minuten beendet. »Die Party geht doch jetzt erst los.«
Um uns herum stehen festlich herausgeputzte Menschen in kleinen Grüppchen zusammen. Elegante Abendkleider malen Farbkleckse zwischen schwarze Anzüge. Die Leute nehmen Champagnergläser vom Servicepersonal entgegen, lassen sie klirren und beginnen ihre Unterhaltungen, leise Musik erfüllt den Hintergrund. Ich habe längst ausgemacht, wer hier zu den Sponsoren und zur reichen und/oder schönen Prominenz von Liverpool gehört. Die interessieren mich nicht. Ich bin hier, um Kontakte zu den Leuten zu knüpfen, die im Mary Annings Museum arbeiten werden. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Kuratoren, Präparatorinnen, den Leuten aus Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit und den Hilfskräften. Zum ersten August hat das heute feierlich eröffnete Naturkundemuseum einen einzigen Assistenzplatz für die Kuration ausgeschrieben. Meine Bewerbung wurde dankend zur Kenntnis genommen, mein Vorstellungsgespräch findet in fünf Tagen statt. Doch außer mir will gefühlt jeder zweite Bewohner der Stadt diesen einen Job, und wenn ich eine ernsthafte Chance haben will, brauche ich irgendetwas, das für mich spricht. Oder irgendjemanden. Ich habe weder Studium noch Praktika vorzuweisen, keinerlei Empfehlungsschreiben, niemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der … Die Party heute Abend ist meine einzige Chance auf eine winzig kleine und vermutlich dringend notwendige Dosis Vitamin B.
Ich kann hier doch jetzt nicht weg!
Olivia rafft den Rock ihres smaragdgrünen Abendkleides, duckt sich und umrundet einen beleibten Herrn, der ihr dabei in den Ausschnitt glotzt. Sie versucht offenbar, unter einem Radar wegzutauchen, dessen Mittelpunkt ich nicht ausmachen kann. Was hat sie denn nur?
Ich kann nicht behaupten, dass meine Freundin für ihr stets berechenbares und vernunftorientiertes Verhalten bekannt ist – sie hat auf schrecklich liebenswerte Weise heftig einen an der Klatsche! –, aber sie weiß, wie wichtig mir dieser Abend ist, und würde ihn niemals aus einer ihrer wetterwendischen Launen heraus gefährden. Was auch immer hier vor sich geht, sie dreht nicht grundlos derart frei.
Eilig hakt sie sich bei mir unter und zieht mich mit sich zwischen den Säulen entlang durch die hohe Eingangshalle in Richtung der Treppe, die zum Ausgang führt. Fast streift sie dabei das Häppchen-Tablett eines ebenso eilenden Kellners. Ich müsste mich mit Gewalt von ihr losreißen, um mich zu widersetzen. Aber als hysterische Furie, die sich auf der Eröffnungsgala mit ihrer Freundin prügelt, möchte ich hier keine Bekanntheit erlangen.
»Tut mir so leid, Billy, aber wir müssen wirklich weg.« Olivia lässt ein paar Strähnen ihres türkis gefärbten Bobs vor ihr Gesicht fallen und entgeht so meinem Blick. Sie wirkt ernsthaft zerknirscht. »Immerhin hast du den Spino-Dino gesehen.«
Den Spinosaurus aegyptiacus. Er gehört nicht dem Museum, wird nur als Leihgabe im Rahmen des Eröffnungsjahres hier ausgestellt und soll als Highlight der Ausstellung ›Versteinerte Zeit‹ der Publikumsmagnet sein. Seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem Fossilien von unschätzbarem Wert zerstört wurden, existiert nur noch dieses eine, beinah vollständige Originalskelett. Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, als ich es vorhin zum ersten Mal ansehen konnte.
»Und wenn du das nächste Mal herkommst«, fährt Olivia mit zu hoher Stimme fort, »darfst du ihn vielleicht sogar schon abstauben.«
»Sehr witzig.« Mir ist nur leider nicht nach Scherzen, sondern nach einer Erklärung. »Warum müssen wir hier so plötzlich weg?«
Wir erreichen die breite Steintreppe, die sich nach wenigen Stufen teilt und in zwei Bögen zum Kassenbereich im Erdgeschoss führt. Zwei Leute geben dort gerade ihre Garderobe ab, einige Gäste erscheinen offenbar noch nach der Führung. Die Party beginnt ja auch erst.
Ich fasse Olivia am Arm, sodass sie stehen bleiben muss. »Kannst du mir vielleicht endlich verraten, was hier los ist? Versagt dein Deo, brauchst du einen Tampon, oder hast du deinen Ex gesehen?«
»Ich erklär es dir draußen.«
»Erklär es mir jetzt, oder ich gehe keinen Schritt weiter! Du weißt, warum wir hier sind, Livie. Ich kann doch nicht …«
Was auch immer Olivia sieht, als sie einen kurzen Blick an mir vorbeiwirft, muss sich ungefähr auf dem Niveau eines tanzenden Neandertaler-Skeletts bewegen, denn zu ihren geröteten Wangen gesellt sich eine ungesunde Blässe um ihre schmale Nase. Kurzerhand fasst sie mich an beiden Schultern, dreht mich herum und versetzt mir einen Schubs, sodass ich auf meinen hohen Schuhen – Olivias hohen Schuhen, um ehrlich zu sein – die ersten beiden Treppenstufen hinunterstolpere und dabei deutlich schneller werde, als sich gut anfühlt. Beim Versuch, das breite Steingeländer zu packen, reißt mir ein Nagel ein, die Clutch flutscht aus meiner Hand, ein Killerabsatz knickt unter meiner Ferse zur Seite weg. Ich sehe mich bereits in dem geliehenen senfgelben Abendkleid die Steintreppe abwärtspurzeln und als ersten Rettungswageneinsatz in die Annalen des Museums eingehen, als mein hilfloses Stolpern jäh endet.
In den Armen … der Beatles.
Deren Konterfeis und Pilzfrisuren prangen nämlich direkt vor meiner Nase, bis ich mich aufgerappelt habe und wieder sicher auf beiden Füßen stehe. Ein Beatles-T-Shirt in Liverpool? So was tragen Touristen, die aus deutschen Kuhkäffern kommen, oder?
»Danke«, stoße ich atemlos hervor und hebe den Blick von dem ausgewaschenen Beatles-T-Shirt, das unter dem geöffneten Jackett eines Maßanzugs hervorblitzt. Da weiß jemand, wie man gekonnt den Stil bricht. Den Beatles muss man in Liverpool für einiges danken – mein Dank aber gilt dem Typen, der mir nun, da er zwei Treppenstufen unter mir steht, direkt ins Gesicht sieht. Ohne ihn wäre ich die Treppe runtergefallen.
»Flüchtest du aus Gründen?« Er hat dunkle Haare, fast schwarz, kurz an den Seiten und etwas zu lang im oberen Bereich. Vermutlich darf er weder nicken noch den Kopf schütteln, sonst fallen ihm die verwegen zur Seite arrangierten Strähnen über die Augen. Was schade wäre, denn diese Augen kann man nur als gelungen bezeichnen. Die kräftigen Brauen – die rechte wird von einer fädchenfeinen Narbe im letzten Drittel geteilt – und der dunkle Bartschatten lassen sie sehr, sehr blau wirken. Vielleicht sind sie aber auch nur sehr, sehr blau. Sein Akzent verrät, dass er kein Tourist ist. Das T-Shirt muss Ironie sein.
»Ich komme nicht grundlos zu spät«, sagt er, »aber ist es wirklich so langweilig hier, dass man sich hinausstürzen und dabei alle Knochen riskieren muss?«
»Bist du echt so ein Banause?«, frage ich. »Danach siehst du gar nicht aus. Oder bist du einer von denen, die denken, es wäre irgendwie cool, alles langweilig und öde zu finden, was nicht extrem laut, extrem gefährlich oder extrem bescheuert ist?«
Daraufhin lächelt er bloß. Hab ich ihn durchschaut? So schnell richtig geraten?
»Billy!« Olivia ist bereits einige Stufen an mir vorbeigelaufen und wirkt inzwischen regelrecht aufgelöst. »Jetzt komm schon. Bitte!«
Der Beatles-Fan bückt sich nach meiner Clutch und reicht sie mir. »Ich will nicht indiskret sein, aber falls ihr einen Fluchtwagen braucht …«
Sein Lächeln ist eigentlich keins. Er lächelt nur mit einem Mundwinkel, und selbst der bewegt sich nur wenig. Ein halbes Lächeln wäre schon zu viel gesagt – es ist ein Viertellächeln. Man müsste es äußerst sparsam nennen, aber dieses Viertel wiegt aus irgendeinem Grund mehr als das strahlende ganze Lächeln der meisten anderen Menschen. Es ist ansteckend, sodass ich fast meinen Ärger vergesse. Aber nur für einen Sekundenbruchteil. Dann frustriert es mich nur noch mehr, weil es dafür sorgt, dass ich mit jedem Moment weniger hier verschwinden will. »Sag nicht, du hast zufällig einen vor dem Museum stehen?«
»Das nicht, aber für mich halten Taxis.«
»Wow. Das ist beeindruckend.« Wer ist der Knabe – ein Superstar? Ein Royal, von dem ich nichts weiß? Jesus?
»Möchtest du vielleicht mit mir frühstücken?«, fragt er.
Nun muss ich lachen. »Frühstücken. Es ist halb zehn am Abend.«
»Ich meine morgen. Bei mir. Du wirst hungrig sein, wenn du dich entscheidest zu bleiben, und ich hab vier verschiedene Sorten Cereals. Und«, er macht eine bedeutungsschwere Pause und berührt seinen scharf geschnittenen Kiefer mit den Fingerspitzen, »ziemlich guten Kaffee.«
»Das klingt wirklich verlockend. Hast du Weetabix?«
»Klar. Vermutlich abgelaufen, aber …«
»Billy!«, ruft Olivia.
»Ich muss das wissen!« Ich verschränke die Arme. »Funktioniert diese Masche bei irgendeiner Frau?«
Der Maßanzug sagt: Oh ja. Das Beatles-T-Shirt sagt: Aber hallo. Sein Lächeln … wird eine Spur breiter.
Warum frag ich denn – natürlich funktioniert das.
»Leider muss ich ablehnen.« Ich schiebe mich an dem Typen vorbei und muss mich zwingen, den Blick wieder nach vorn zu richten. Unter dem Anzug steckt nicht nur ein Beatles-Shirt, sondern auch eine schwarze Tätowierung, die an seinem linken Schlüsselbein unter dem Halsausschnitt hervorblitzt. »Ich habe dem Spinosaurus einen Wirbel gestohlen. Mit einem Taxi komme ich nicht weit.«
Bitte was habe ich gesagt? Bin ich betrunken vom Anschauen der Champagnerkelche?
»Aufregend«, raunt er. »Machst du so was öfter?«
»Ja, ständig. Wenn du mich in deiner Wohnung versteckst, wirst du von Scotland Yard ebenso verhaftet wie ich.«
»Und wenn ich bereit bin, das Risiko einzugehen? Vielleicht sperren sie uns zusammen in eine Zelle.« Sein Blick klebt auf meinem Mund, und auch wenn ich derart direkte Anmachen für gewöhnlich eher abtörnend finde, spüre ich ein Kribbeln in den Lippen, und das liegt nicht daran, dass dieser Typ wirklich verboten gut aussieht. Sondern daran, dass er in wenigen Sekunden schafft, was manchen nie gelingt: Er spricht unverblümt über nichts anderes als Sex und gibt mir dabei trotzdem das Gefühl, es ginge ihm um mich.
Bei den meisten Männern ist es genau andersrum.
Vielleicht liegt es an meiner Aufregung an diesem Abend, vielleicht an dem verpassten Glas Champagner, vielleicht an der Tatsache, dass ich ohnehin gehen und ihn vermutlich nie wiedersehen werde. Aber für ein paar Sekunden spiele ich das Spiel mit. Ich lege ihm die Hand auf die Brust, meine Fingerspitzen gleiten in die Kuhle über seinem Schlüsselbein, und ich beuge mich so weit zu ihm, dass ich seinen Geruch wahrnehme. Ein Hauch Aftershave oder Parfüm, darunter ein Duft, der an Orangen und dunkle Schokolade denken lässt.
»Nie«, flüstere ich, »würde ich etwas tun, was dich in Gefahr bringt.« Damit drehe ich mich um und stöckle die Treppen hinab; klapp, klapp, klapp. Und das, ohne mir etwas zu brechen. Wer sagt’s denn, ich muss eine verschollene Avengers-Lady sein. Solche Aktionen schafft man nicht ohne Superheldinnen-Gen.
»Schade. Aber viel Glück mit deinem Wirbel.« Er klingt überraschend ernsthaft.
»Danke!«, rufe ich über meine Schulter. »Die Ausstellung ist übrigens kein bisschen langweilig!«
»Natürlich nicht. Aber die Party.«
BILLY
Ich würde dem Typen auf der Treppe gern noch mal widersprechen, aber Olivia nimmt mich bei der Hand und zieht mich zum Ausgang. Wir rennen beinah in eine hochgewachsene dunkelhaarige Lady mittleren Alters hinein, die selbst auf dieser feierlichen Gala unter allen Gästen noch als besonders exquisit gekleidet heraussticht und uns milde amüsiert nachsieht, als wir an ihr vorbeirauschen. Einen Moment später stehen wir in unseren ärmellosen Kleidern im Aprilwind. Eine Böe lässt Tropfen aus den Platanen, die den Eingangsbereich des Museums einfassen, auf uns niederregnen.
Olivia hält sich ihre Handtasche über den Kopf, was überhaupt nichts bringt, denn diese Tasche ist nicht viel größer als eine Kreditkarte.
»Auto!«, ruft sie, wobei sie meinem drängenden Blick ausweicht.
»Ich hoffe für dich, dass du alles erklären kannst!«, antworte ich, während wir mit hochgerafften Kleidern zur Straße laufen, links abbiegen und ein paar entgegenkommenden Typen mit Bierflaschen ausweichen, die uns Schweinkram nachgrölen. An die Prolls musste ich mich anfangs gewöhnen; in Liverpool sind sie überall. Nicht selten stecken sie sogar in schicken Anzügen.
Im Licht der Straßenlaternen bemerke ich immer mehr Spritzwassersprenkel auf dem senfgelben Stoff meines Kleides.
»Na super! Wenn die Reinigung die nicht rausbekommt, bin ich am Arsch.« Das Kleid ist vom Verleih und mehr wert als mein rostbrauner, altersschwacher Ford, den ich auf den Namen Homer getauft habe.
»Ich helf dir«, erwidert Livie. Und genau das hatte ich befürchtet.
»Bloß nicht. Ich erinnere dich an meinen irischen Schafwollpulli.«
»Den kann immerhin noch dein Erstgeborener in einem harten Winter tragen.«
Endlich erreichen wir Homer. Ich schließe die Beifahrertür auf, umrunde die Motorhaube und öffne meine eigene Tür. Die Zentralverrieglung war bereits kaputt, als ich den Wagen im letzten Jahr gekauft habe, und sie zählt zu den vielen Dingen, die ich nie habe reparieren lassen. Den Namen habe ich Homer in unserer ersten gemeinsamen Nacht gegeben – der ersten von beinah dreißig, in denen ich zusammengestaucht auf seiner Rückbank geschlafen habe. Mein Auto heißt nicht so, weil ich auf altgriechische Literatur oder die Simpsons stehe, sondern weil es eine Weile lang mein Zuhause war. Irgendwie wird es das wohl auch immer bleiben.
Olivia sitzt bereits, als ich mich hinters Steuer fallen lasse, und obwohl sie normalerweise, wie jede Britin, die etwas auf sich hält, nicht zum Frieren neigt, hat sie die zitternden Arme vor der Brust verschränkt und klappert mit den Zähnen. »Kannst du losfahren, bitte?«
Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss, damit der Motor und damit auch die Heizung starten, mache allerdings keine Anstalten, mich anzuschnallen oder einen Gang einzulegen. Das Gebläse pustet uns Wind entgegen, der vom Nordpol stammen muss, und wir drehen uns gleichzeitig um und angeln nach Jeansjacke und Hoodie, die wir vorhin auf die Rückbank geworfen haben.
»Verrätst du mir jetzt, warum wir fliehen mussten, oder soll ich raten?«
Da Olivia statt einer Antwort die Lippen zusammenpresst, mache ich meine Drohung wahr.
»Okay. Prinz Harry war da, und du hattest was mit seiner Frau, bevor sie geheiratet haben. Nein, warte. Du hattest was mit seiner Frau, nachdem sie geheiratet haben. Oh … Du hast immer noch was mit seiner Frau?«
»Die ist vierzig oder so!«, widerspricht Olivia entrüstet. »Sie könnte meine Mum sein.«
»So sieht sie aber nicht aus.«
Olivia mustert mich und reibt sich mit dem Zeigefinger am Kinn. »Nein. Aber sie könnte deine Mum sein. Warum ist mir das nie aufgefallen? Meghan hat dunkle Haut, welliges schwarzes Haar, große, schokoladenbraune Augen … Ist sie deine Mum?«
»Meine Mutter«, sage ich und spüre die Ungeduld in mir anschwellen, »hat bis auf die Hautfarbe sehr wenig Ähnlichkeit mit der Herzogin von Sussex. Und du weißt ganz genau, dass ich gerade weder über Mum noch über Meghan reden möchte. Verdammt, Livie, diese Party war meine Chance!«
Eine kleine, mag sein. Aber leider die einzige.
Livie seufzt, es klingt fast wie ein Schluchzen, und ihre Miene sieht derart unglücklich aus, dass mir die scharfen Worte sofort wieder leidtun. Trotzdem muss ich wissen, was passiert ist. Immerhin könnte ich genau jetzt mit den Kuratorinnen plaudern und ihnen beweisen, wie ansteckend meine Begeisterungsfähigkeit für die Ausstellungsstücke ist. Und danach vielleicht ein Glas Champagner mit dem hübschen Beatles-Fan trinken. Ein halbes – wegen Homer.
Ich könnte ihn fragen, ob er eine Wette verloren hat, derentwegen er nun mit diesem Beatles-Shirt herumläuft, und wenn er zum Wetten neigt, würde ich dafür sorgen, dass er eine gegen mich verliert und dieses Shirt …
Oh my, es geht mit mir durch. Ich rufe meine Gedanken zur Ordnung, räuspere mich und werfe Olivia einen Blick mit streng hochgezogenen Augenbrauen zu. »Raus damit! Jetzt!«
Olivia starrt auf die Handschuhfachklappe. »Die Karten«, sagt sie dann, viel leiser, als es ihre Art ist.
»Du hast sie geklaut.« Obwohl ich meinen kuscheligen Hoodie trage und inzwischen warme Luft aus dem Gebläse kommt, wird mir schlagartig eiskalt. Gleichzeitig bricht mir der Schweiß aus, und einen Moment verweigert mein Körper den nächsten Atemzug. Nicht das.
»Natürlich nicht«, murmelt Olivia, und ich entspanne mich wieder ein wenig. »Leider ist die Wahrheit aber nicht viel besser.«
»Sag’s bitte einfach.«
»Erinnerst du dich an Gavin? Der hübsche Blonde, den wir in dieser Bar kennengelernt haben? Auf den ersten Blick wirklich vielversprechend, aber beim Date stand nach fünf Sekunden schon fest, dass das mit uns nichts wird.«
»Moment! Warst du es nicht, die mir gesagt hat, man müsse auch dem ersten Eindruck eine zweite Chance geben?«
»Schon, aber Gavin hat komisch gerochen. Nach Fleisch, Senf, Frittenfett und Zwiebeln. Wie ein McMenü mit Cheeseburger.«
Trotz allem muss ich grinsen. »Verstehe.« Olivia reagiert regelrecht hysterisch auf Gerüche. »Und was hat das alles mit dem heutigen Abend zu tun?«
»Die Karten sind von ihm. Er war einfach überhaupt nicht mein Typ, Billy, aber als er davon geredet hat, dass er diesen Kontakt und Einladungskarten für heute Abend hat …«
Ich ahne Fürchterliches. »Da hast du ihn weiter getroffen? Nur wegen der Karten?« Nur … für mich?
»Zweimal. Es ist gar nichts gelaufen, wir waren nur im Kino, und ich habe ein wenig vom Museum geschwärmt.«
Mir schießt die Frage durch den Kopf, wie Olivia das angestellt haben will. Ihre Interessen mögen vielfältig sein, aber weder ausgestorbene Tiere noch Steine und Knochen, geschweige denn versteinerte Knochen, gehören dazu. Und in Sachen Astronomie kennt sie sich nur aus, solange es die Universen von Star Wars oder Star Trek betrifft.
»Er hat sie mir schließlich geschenkt, und dafür hab ich ihn sogar beinah geküsst.« Sie tippt auf ihren Mundwinkel. »Dorthin. Ganz kurz nur. Er hätte es gern anders gehabt, aber ich sag nur: McMenü.« Sie schüttelt sich.
Das klingt nicht, als müsse man deshalb panisch aus dem Museum rennen. »Und dann?«
Langsam zuckt sie mit den Schultern. »Dann könnte es sein, dass ich mich eine Weile nicht mehr bei ihm gemeldet habe. Eine ganze Weile.«
»Also gar nicht mehr.«
Sie nickt, und ihr Blick sagt, dass sie gerade am liebsten ins Handschuhfach krabbeln würde. »Als er mich anrufen wollte, habe ich ihn weggedrückt. Und nach siebzehn Nachrichten, die ich nicht beantwortet habe, habe ich ihn auf WhatsApp blockiert. Und dann auf Insta.«
»Oh, mein Gott. Du hast ihn geghostet! Livie!«
»Das ist mies, ich weiß das doch selbst. Aber …«
Ich lasse den Kopf sinken und lehne die Stirn gegen das Lenkrad. Olivia ist die harmoniesüchtigste Person, die ich kenne. Es ist nicht das erste Mal, dass sie wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand steckt und Konflikte auszusitzen versucht. Aber dass sie jemanden ghostet, der offensichtlich Gefühle für sie hegt und sich dermaßen um sie bemüht, hätte ich ihr niemals zugetraut. Schon gar nicht Gavin, den ich eigentlich echt nett fand. Der Arme!
Zu ihrer Verteidigung muss ich zugeben, dass sie schuldbewusst wirkt und das nicht allein mir, sondern auch Gavin gegenüber.
»Okay, lass mich raten. Gavin war auf der Party.«
»Mit einem der Kuratoren, ja, diesem Grauhaarigen, der den letzten Vortrag gehalten hat. Ob er sich mit dem über mich hinwegtröstet? Was hab ich nur getan? Der Mann könnte sein Großvater sein!«
Verdammt! Ich wäre so dermaßen untendurch gewesen, wenn Gavin uns entdeckt hätte!
»Er ist hoffentlich kein Toyboy für reiche, alte Knacker geworden«, murmelt Olivia. »Ich meine, er roch wirklich eklig, aber das hat er nicht verdient.«
»Mensch, Livie, vermutlich war es sein Großvater!«
Sie zuckt zusammen, so giftig klinge ich, aber meine Geduld ist arg überstrapaziert.
»Was hast du dir dabei gedacht? Bist du nicht auf die Idee gekommen, dass sich jemand, der an so exklusive Karten gelangt, einfach neue besorgen kann?«
»Das ist es doch, Billy! Er wollte da überhaupt nicht hin! Deshalb hat er mir doch beide geschenkt, statt mich einzuladen, mit ihm zusammen zu gehen. Gavin wollte heute nach Manchester fahren, weil die Reds da spielen und – ich zitiere wörtlich – sein ›Herz für den Fußball schlägt‹. Das Spiel läuft gerade. Woher hätte ich wissen sollen, dass der Typ seine geliebten Reds im Stich lässt und im Museum auftaucht?«
Ich schüttle frustriert den Kopf. »Du hättest ihm sagen müssen, dass du nichts für ihn empfindest. Du hättest mir sagen müssen, woher die Karten stammen.« Allerdings bin ich vermutlich nicht ganz unschuldig daran, dass sie es nicht getan hat. Sie hat mir erzählt, sie hätte die Karten von einem Bekannten bekommen – was ja nun nicht gelogen war –, und ich habe nicht weiter nachgefragt, sondern hatte zwei Kreischanfälle direkt hintereinander: den ersten aus hysterischer Freude, den zweiten, weil ich mit der Frage überfordert war, was ich anziehen sollte.
Und nun sitze ich hier, und der Traum ist zu Ende, kaum dass er begonnen hat. Regentropfen rinnen an der Innenseite von Homers Windschutzscheibe hinab, weil die billige Hinterhofwerkstatt es auch beim zweiten Versuch nicht geschafft hat, die undichte Stelle auszubessern. Mein senfgelbes Abendkleid hat braune Sprenkel am Rock, und ein wirklich hübscher Beatles-Fan stößt vermutlich mit einer anderen mit Champagner an. In meinem Museum. Unter den leeren Augenhöhlen meines Spinosaurus aegyptiacus!
»Ich mach es wieder gut«, sagt Olivia, aber ich winke ab und lege den Rückwärtsgang ein, um Homer endlich aus der zu engen Parklücke zu operieren. »Wenigstens den Kerl könnte ich für dich ausfindig machen.«
»Welchen Kerl?« Irritiert überlege ich, ob ich eben laut gedacht habe.
»Den, der dich angeschmachtet hat. Ich meine den von der Treppe, den du unmöglich so schnell vergessen haben kannst.«
Ich verdrehe die Augen. »Livie, der war hübsch, ja. Aber bitte, lass es gut sein. Nachher ist er Gavins Bruder. Oder sein Date, weswegen Gavin dann doch noch gekommen ist.«
»Ich muss es aber wieder in Ordnung bringen.«
»Es geht mir wirklich nicht um einen Kerl. Ich will doch bloß diesen Job.«
Olivia legt ihre Hand über meine auf den Schaltknüppel, während ich mich millimeterweise an den Wagen hinter uns herantaste. »Und den holst du dir. Ob mit Vitamin B oder ohne. Wenn in der Personalabteilung keine gehirnamputierten Trottel sitzen, werden die sehen, dass du für diese Stelle geboren, ach was, gezeugt wurdest.«
»Und wie lass ich die in einem einzigen Vorstellungsgespräch etwas über den Grund meiner Zeugung wissen?«
»Das erkennt jeder, der mehr als drei Worte mit dir wechselt«, erwidert Olivia und gibt mir das tröstliche Gefühl, es vollkommen ernst zu meinen. »Du bewegst Menschen. Deine gute Laune steckt sie an, und deine Begeisterungsfähigkeit geht auf jeden über. Darling, was du eben über dieses Dinosaurier-Vogelhuhnvieh erzählt hast …«
»Archaeopteryx«, korrigiere ich, weil ich nicht anders kann.
»… das hat selbst mich beeindruckt. Dabei war ich fest entschlossen, das alles ausgesprochen langweilig zu finden. Und nun kann ich es kaum abwarten, dass du mir eine Privatführung gibst. Du bist die geborene Museumsführerin. Wenn sie das nicht merken, dann solltest du den Job gar nicht annehmen.«
»Warum nicht?«
»Weil dann nur Idioten dort arbeiten. Und dann macht der Laden ohnehin bald wieder dicht.«
CEDRIC
»Du willst mich verarschen.« Steven starrt mich an, als hätte ich ihm gerade gesagt, er müsse die Hochzeit abblasen und stattdessen mich heiraten. Sein Trauzeuge sieht aus, als würde er gleich den überdimensionalen Regenschirm wegwerfen, den er über sie beide hält, sein Jackett ausziehen, die Hemdsärmel hochkrempeln und mir eine Abreibung verpassen. Oder es zumindest versuchen. »Das ist ein scheiß Kaktus!«
»Sag an. Ist mir nicht aufgefallen.« Ich habe erwartet, dass er den Witz nicht verstehen würde, daher halte ich meine gespielte Überraschung kurz. »Im Ernst, Steven. Geh in dieses Standesamt, überreich Carlina den Kaktus und schau, was passiert. Vertrau mir.«
Den letzten Satz hätte ich mir sparen sollen. Ich bin auf Wunsch der Braut zu dieser Hochzeit eingeladen, der Bräutigam würde mich vermutlich lieber mit einbetonierten Füßen am Grund des River Mersey wissen. Immerhin habe ich vor nicht einmal einem Dreivierteljahr mit seiner Zukünftigen geschlafen. In einer Beziehungspause, die allerdings er initiiert hat; Carlina ist nicht der geringste Vorwurf zur machen, und ich … Nun, ich bin nicht für das Seelenheil von Idioten verantwortlich. Und am Ende war nicht ich der Trottel, der den Brautstrauß im Taxi hat liegen lassen, sondern Steven. Ich habe ihm bloß angeboten, mit meinem Fahrrad zum nächsten Blumenladen zu fahren und Ersatz zu besorgen, und er weiß es zwar noch nicht – aber ich habe ihm mit dem Kaktus mit seiner roten Blüte einen echten Gefallen getan.
In meinem Kopf läuft »Round Here« von den Counting Crows in Dauerschleife; ein Song, der den größten Stress entzerren kann, und den mit Steven hier erst recht.
»Carly kann Schnittblumen nicht ausstehen«, sage ich. Der Schmock will sie in zwanzig Minuten heiraten, warum weiß der das eigentlich nicht? Vermutlich weiß er es, aber es ist ihm egal. Er hat wahrscheinlich begriffen, dass seine Braut kleine Verrücktheiten mag, aber er ahnt nicht, dass es so weit geht, dass sie spießige Konventionen verabscheut. »Sie hasst es, ihnen beim Verwelken zusehen zu müssen. Normale Topfblumen gehen ihr kläglich ein und machen im Standesamt auch nicht mehr her als der Kaktus hier.«
Steven tritt von einem Fuß auf den anderen. »Willst du mir was über meine Frau erzählen?«
Ich zucke mit den Schultern. Was will er hören?
Der Anzugstoff ist an meinen Schultern inzwischen vom Regen durchweicht, ich werde der Hochzeit nass wie eine Kanalratte beiwohnen. Vernünftiger wäre es, nach Hause zu fahren. Außer Carlina will mich hier ohnehin niemand sehen. Aber sie wäre enttäuscht, wenn ich nicht bliebe. Also bleibe ich.
»Ich kenne sie fast nur aus der Uni.« Und zusätzlich aus einer Nacht. »Aber ich bin ein guter Menschenkenner. Und ich hätte zwar durchaus Lust, dich zu verarschen, Steven, aber nicht, wenn ich damit riskiere, Carlina am schönsten Tag ihres Lebens zu verletzen.«
Ich halte ihm den Kaktus hin. Der Sprühregen hängt in glitzernden Perlen zwischen den Stacheln. Sieht ganz hübsch aus, so ein nass geregneter Hochzeitskaktus.
Steven zögert.
»Fuck, jetzt mach hier keine Szene. Überreich ihr den Kaktus als Zeichen, dass du sie wirklich kennst, sag für ihre Eltern irgendwas Symbolträchtiges, dass eure Liebe zäh genug sein wird, auch Dürrephasen zu überstehen, und tu um Himmels Willen so, als wäre das alles deine Idee gewesen.«
»Steve, ich kann schnell zur Tanke fahren, die haben Blumen«, murmelt der Trauzeuge und mustert den harmlosen Kaktus, als würde das Ding jede Sekunde seine Stacheln auf ihn abfeuern.
Steven steht das Misstrauen noch ins Gesicht geschrieben, aber dahinter arbeitet sichtlich etwas in seinem Kopf. Zum Glück. Ich käme schwer damit klar, wenn Carlina einen Vollhonk heiraten würde.
Zwanzig Minuten später muss ich schlucken, als die Tür aufschwingt und Carlina in einem bodenlangen, milchweißen Kleid und mit einem Blumenkranz im Boho-Stil in ihrem langen Haar den Gang hindurch nach vorn tritt, wo der Standesbeamte mit ihrem zukünftigen Ehemann und einem Kaktus auf sie wartet. Sie wollte keine kirchliche Trauung, aber es sollte sich wie eine anfühlen. Daher haben ihre Freundinnen den nüchtern gehaltenen Saal mit Girlanden und Papierblumen geschmückt. Das Klavierstück kommt vom Band und mischt sich mit dem Song, den ich seit dem Aufwachen im Kopf habe. Carlina strahlt in die Reihen der Gäste. Sie ist fünfundzwanzig, nur ein Jahr älter als ich, aber irgendwie bereits ein ganzes Leben weiter. Im Sommer macht sie ihren Master in Meeresbiologie, plant danach zu promovieren, während ich noch am Bachelor ackere. Und Carly heiratet!
Lächeln, sagt mein Gehirn, und ein paar Muskeln in meinem Gesicht gehorchen.
Viele sind nicht hier. Die Familie, die engsten Freunde und am Ende noch ich. Eine klassische Studentenhochzeit mit kleinem Budget und vielen feuchten Augen. Als Carlina den Kaktus entdeckt, hat sie mir bereits den Rücken zugewandt, sodass ich ihr Gesicht nicht mehr sehen kann. Doch sie hebt beide Hände an den Mund, und das Zucken ihrer Schultern verrät, dass sie lacht und dabei vermutlich ein paar Tränen verdrückt. Sie dreht sich kurz zu ihren Gästen um, schickt ihren Eltern Luftküsse, zwinkert in Richtung ihrer besten Freundinnen und winkt uns anderen. Sie sieht unfassbar glücklich aus, als sie sich Steven zuwendet und mit den Fingerspitzen dabei zärtlich über das Töpfchen streicht, in dem der Kaktus steckt. Sie hat dieses Glück verdient, und ich freue mich für sie, ich freue mich wirklich. Mein Lächeln hält von allein, dabei schaut niemand mehr zu mir hin, ich könnte es auch fallen lassen. Aber der Song läuft weiter.
She says, it’s only in my head.
She says, shh, I know it’s only in my head.
Die Stimmen verstummen, nur noch die Fotokameras klicken, und ich wünschte, man könnte das warme Gefühl von flüchtigem Glück wie ein Bild festhalten, es konservieren, sodass man es hervorholen kann, wenn man es dringend braucht.
Aber Glück ist etwas Lebendiges. Schon der behutsame Versuch, es einzufrieren, tötet seine elementaren Bestandteile. Und allein dieser Gedanke reicht aus, dass mir kalt wird.
And I can’t see nothing, nothing round here.
Ich sollte besser gehen.
BILLY
»Sybil. Schön, dass Sie da sind. Setzen Sie sich bitte. Mein Name ist Vivian Blunt, ich manage verschiedene Sammlungen im Mary Annings Museum und darf unter den Bewerberinnen und Bewerbern die Vorauswahl für die ausgeschriebene Assistenzstelle treffen.«
Ich gebe mir die größte Mühe, die Kuratorin nicht dümmlich anzugrinsen, auch wenn sie es kaum merken würde, da sie meine Bewerbungsunterlagen zu studieren scheint. Sie trägt das feuerrot gefärbte Haar in geschmeidige Wellen gelegt und verbreitet einen intensiven Duft nach Parfüm und Haarspray. Dass meine Finger vor Aufregung zittern, hat sie definitiv schon mitbekommen. Besser, ich schenke mir nichts aus der bereitstehenden Auswahl an Wasser und Säften ins Glas, nachher flute ich noch die Tischplatte.
»Nennen Sie mich bitte Billy«, sage ich und beschwöre den Lederstuhl, bitte keine pupsenden Geräusche von sich zu geben, während ich das Gewicht verlagere.
»Schön, Sybil.« Vivian Blunt hebt den Blick und mustert mich aus eisblauen Augen. »Womit Sie auch gleich zu meiner ersten Frage an Sie überleiten. Ihre Bewerbung haben Sie mit dem Vornamen Billy unterzeichnet, in Ihren Schulzeugnissen steht allerdings Sybil. Meine erste Assoziation mit dieser Abweichung ist, dass sie ein Problem mit Autorität haben, wenn Sie schon die Ihrer eigenen Eltern infrage stellen.«
Mein Lächeln gefriert. Ich habe verloren. Es hat nicht mal angefangen, und ich habe bereits verloren. Mit Vorwürfen habe ich nicht gerechnet. Was zur Hölle antwortet man auf eine solche Unterstellung? Vor allem, wenn sie voll ins Schwarze trifft?
Doch Vivian Blunt erwartet offenbar nicht, dass ich dazu Stellung beziehe, denn sie spricht bereits weiter. »Sie haben in Oxford studiert, schreiben Sie. Jura. Das hat nicht viel gemein mit einer Assistenzstelle in einem Museum, finden Sie nicht auch?«
Mein Schlucken gerät vermutlich so laut, dass sie es hören kann. »Als ich das Jurastudium begann, war ich noch nicht sicher, was ich mir von meinem Leben erwarte. Ich war …«
»Jung, natürlich. Und nun sind Sie«, ein Blick aufs Papier, »zwanzig, bald einundzwanzig.« Ihre Stimme klingt nicht spöttisch, und trotzdem trifft mich ihr Hohn. Natürlich bin ich immer noch jung, und vermutlich weiß ich immer noch nicht, ob ich meinen jetzigen Traumberuf vierzig bis fünfzig Jahre lang machen möchte. Woher soll man das auch wissen?
Ich straffe die Schultern. »Nun bin ich bereit, Widerstände in Kauf zu nehmen, um das zu tun, was ich wirklich möchte, und zwar seit Jahren.«
Verdammt, klang das nun entschlossen oder bockig? Die Frau hat mich vollkommen aus dem Konzept gebracht, aber ich werde ganz sicher nicht meine Familiengeschichte vor ihr ausbreiten und ihr von meinem Vater und seinem Lebenstraum erzählen, in dem ich irgendwann seine Kanzlei übernehme und stinkreiche Konzerne noch stinkreicher mache.
»Sie haben erkannt, dass ein Studium Ihnen zu anspruchsvoll ist? Ganz anspruchslos ist die Arbeit in unserem Haus ebenfalls nicht.«
Man könnte diese Kuratorin für unverschämt halten. Nein, man müsste es sogar. Hätte ich mich doch durchgesetzt und meine Oxford-Unterlagen mitgenommen. Ich mag mitten im Jahr abgebrochen haben, aber ich war gut, und die Unterlagen belegen das.
»Oh, und denken Sie nun bitte nicht, meine kritischen Fragen hätten etwas mit Ihrer Hautfarbe oder Herkunft zu tun.« Der Drache kontrolliert mit einem raschen Blick seine rot lackierten Krallen. Plant sie, mich jetzt aufzuschlitzen, wenn ich ein falsches Wort sage, oder checkt sie bloß ihr Make-up? Ihre Nägel sind derart auf Hochglanz poliert, dass das im richtigen Lichteinfall ohne Weiteres funktionieren dürfte. »Ich bin immer sehr gründlich. Bei allen Bewerberinnen und Bewerbern.«
Und ich erkenne Misanthropie, wenn ich sie sehe, da braucht es gar keine Spezialisierungen in Richtung Rassismus mehr. Aber diesen Gedanken lasse ich unausgesprochen.
»Ich habe das Studium abgebrochen, weil ich mich nicht als Juristin sehe. Ich hätte ein anderes Studienfach in Oxford wählen können« – zumindest bevor alles eskaliert ist und ich abgehauen bin –, »aber ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Mich interessieren Biologie, Botanik und Zoologie nicht weniger als Paläontologie, Archäologie und Astronomie. Ich brenne für das gesamte Feld der Naturgeschichte. Und all das vereinen Sie unter Ihrem Dach. Daher möchte ich in Ihrem Museum arbeiten.«
Darum, und weil ich mein Leben allein finanzieren muss und ein kostspieliges Studium neben einem Kellnerinnenjob verflucht hart ist. Noch so etwas, was diesen Drachen nichts angeht. »Ich möchte in anderen Menschen Interesse und Faszination an diesen Themen wecken.«
Das war doch gar nicht so schlecht!
Sie notiert sich etwas, vermutlich, dass ich sprunghaft oder nicht entscheidungsfähig bin oder sonst was, das mich schlechtmacht. »Momentan arbeiten Sie als Kellnerin? Und das schon seit einem Jahr?«
»Richtig, die Miete zahlt sich nicht von selbst.« Durchatmen, freundlich bleiben, nicht die Nerven verlieren. Ich kann das. Sollte ich die Bewerbungen in London und Edinburgh erwähnen, oder legt sie mir das gleich wieder negativ aus? Die Vorstellungsgespräche dort waren wenigstens wertschätzend gewesen, ich habe aufgrund der vielen Bewerber einfach Pech gehabt. »Das Kellnern ist eine Übergangslösung, trotzdem habe ich dabei viel über mich gelernt. Ich weiß jetzt, dass ich stressresistent bin, mich gut auf unterschiedliche Menschen einlassen und sie mit meiner Begeisterung anstecken kann.«
»Das ist zweifelsfrei sehr wichtig«, sagt der Drache. »Nur ist für unser Museum Beständigkeit wichtiger als ein heiß glühender, aber schnell abbrennender romantischer Eifer.« Ihre Pause ist lang genug, um mich den Stich spüren zu lassen, den sie mir versetzt, aber zu kurz, um zu antworten. »Und lassen Sie mich ehrlich zu Ihnen sein, Sybil, das gebietet mir mein Respekt vor Ihnen: Den anspruchsvollen Besuchern unsere vielfältigen Sammlungen zu präsentieren, ist vielleicht nicht ganz damit zu vergleichen, den Gästen bei der Entscheidung zu helfen, ob sie Scones oder Battenberg Cake bestellen sollen.«
Du gemeine, bösartige, arrogante Hexe!
Warum hat sie mich eigentlich eingeladen? Um mir persönlich klarzumachen, dass ich ungeeignet bin? Hätte eine Standardabsage nicht gereicht, oder befürchtet sie, ich würde es nächstes Jahr noch mal versuchen, wenn sie auch nur einen Funken Hoffnung in mir glimmen lässt? Vermutlich ist sie so was wie eine Vampirin, die sich von der Enttäuschung der armen Menschen ernährt, die sie zu sich lockt.
»Jede Menge unserer Bewerber haben Ihnen Praktika und Ehrenämter im Bereich der Naturkunde voraus und beweisen damit seit langer Zeit, wie ernst ihnen ihr Interesse ist. Durch praktische Erfahrungen können Ihre Konkurrenten auch bereits einschätzen, was auf sie zukommt.«
Natürlich. Und ich habe … nichts. Weil ich jahrelang davon geträumt habe, meinen Vater doch noch zu überzeugen, mich friedlich meinen eigenen Weg gehen zu lassen, statt einen riesigen Streit zu provozieren, indem ich mich ohne seine Zustimmung beworben habe. Vor vier Jahren habe ich es zum ersten Mal probiert. Das University Museum of Natural History in Oxford hatte mir tatsächlich einen Praktikumsplatz angeboten, doch ich war erst siebzehn, ging noch aufs College und war auf die Unterschrift eines Elternteils angewiesen. Vater hatte sie mir verwehrt, weil er diesen Unsinn nicht unterstützen wollte. Mum hatte zwar versucht, ihn umzustimmen, aber weder ihre Mails noch Telefonate konnten etwas bewirken. Spätestens als die beiden in einen Streit darüber gerieten, verringerte Mums Unterstützung meine Chancen eher, als sie zu verbessern.
Ich war eine Träumerin im schlechtesten Sinne. Denn mein Traum, meinen Vater doch irgendwie zu überzeugen, war naiv und der Streit ohnehin vollkommen unausweichlich. Heute ist mir das klar, dafür brauche ich keinen Drachen, der mit geschärften Krallen vor dem Eingang zum Museum sitzt und mich mit einem kühlen Lächeln wissen lässt, dass mein Weg an dieser Stelle endet.
»Ich verstehe. Dann kann ich nun gehen, oder?« Der verräterische Druck in meinen Augen lässt mich beinah aufspringen und aus dem Büro flüchten. Doch ich werde vor dem Drachen nicht heulen, weil er meinen Traum filetiert, vor meinen Augen grillt und dann genüsslich verspeist. Wenn ich ohnehin keine Chance habe, kann ich auch auf Risiko spielen.
»Aber lassen Sie mich vorher eins richtigstellen«, sage ich und hasse meine Stimme dafür, dass sie rau klingt, zittert und verrät, wie nahe ich den Tränen bin. »Wir kennen uns nicht näher. Sie können mich vermutlich nur anhand meiner Unterlagen beurteilen, die ich Ihnen nicht einmal vollständig vorlegen kann.« Und deren Fehlen ich aufgrund ihrer herablassenden Art nicht erklären kann, ohne einen emotionalen Zusammenbruch zu riskieren. »Aber es wäre fair von Ihnen gewesen, mir eine Möglichkeit zu geben, Ihnen zu beweisen, wie ernst es mir ist, bevor Sie mich als ungeeignet verurteilen. Ich hatte noch keine Chance, Praktika zu machen, aber ich war nicht untätig. Stellen Sie mir Fragen! Ich verspreche Ihnen, dass ich jede beantworten kann, die in einem entsprechenden Studium gelehrt wird, weil ich mir den Stoff in den letzten Jahren selbst erarbeitet habe. Aus Interesse und Faszination für die Themen, nicht wegen Noten oder eines Abschlusses. Gerade bin ich dabei, die deutsche Sprache zu lernen. Können Sie sich vorstellen, warum?«
In ihrer undurchschaubaren Miene regt sich kein Muskel. Nur die Querfalte auf ihrer Stirn scheint tiefer geworden zu sein.
»Weil es im deutschsprachigen Raum, in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, insgesamt siebenundfünfzig Naturkundemuseen gibt. Siebenundfünfzig! Wussten Sie das? Das bedeutet siebenundfünfzig Chancen für mich.«
»Ich denke, die entscheidenden Fragen sind für mich beantwortet, Sybil. Danke, dass Sie hier waren.« Sie schlägt meine Bewerbungsunterlagen zu, erhebt sich und hält mir über den Tisch hinweg die Hand hin. »Bitte haben Sie Verständnis, dass es mehrere Wochen dauern kann, bis Sie von uns hören. Die Stelle wird ja ohnehin erst zum August besetzt. Wir melden uns aber in jedem Fall bei Ihnen.«
Mich hochzustemmen und ihre Hand – ihre Klaue! – zu ergreifen, kostet mich eine Mischung aus Kraft und Beherrschung, die ich nur unter Mühen zusammenkratzen kann. »Danke für Ihre Zeit, Ms Blunt.«
»Finden Sie allein hinaus?«
CEDRIC
Nimm auf jeden Fall die Flasche Sekt mit! Die hab ich ihr versprochen, dann weiß sie gleich, dass ich dahinterstecke!
Ich lese die letzte Nachricht der Instagram-Userin Livie_Loves_Lettuce zum dritten Mal. Da steht immer noch dasselbe. Aber nein, das mit dem Sekt werde ich schön bleiben lassen. Was soll das arme Mädchen denn denken, wenn ich gleich mit Sekt antanze, den es dann allein trinken muss? Dass ich sie abfüllen will?
Andererseits …
Nein, Benedict. Das ist dreist und verrückt.
Verrückter als diese Olivia auf ihrer Ich-muss-wiedergutmachen-dass-ich-meine-Freundin-um-eine-Party-gebracht-habe-Mission ist hier allerdings nur einer: Ich bin es, denn ich sitze tatsächlich auf den Stufen vor dem Naturkundemuseum, stütze die Ellbogen auf die Knie und warte auf Billy, die Knochenräuberin – die völlig ahnungslos ist. Ich hoffe, ihre Freundin hat recht, wenn sie sagt, dass Billy auf verrückte Überraschungen steht.
Während ich warte und mir die Frühlingssonne in den Nacken scheinen lasse, scrolle ich noch mal durch unseren Gesprächsverlauf.
Olivia hat mich über den Hashtag der Museumseröffnung auf einem Foto auf Instagram entdeckt, ist der Markierung gefolgt, die Mum dankenswerterweise dort hinterlassen hat, und hat mich kurzerhand angeschrieben:
Hi. Ich mach so was normalerweise nicht. Niemand macht so was, ich weiß. Aber du hast meine beste Freundin Billy bei dieser Eröffnung auf der Treppe aufgefangen, und sie hört seitdem ständig die Beatles. Ich ertrag es nicht länger.
Verzweifeltes Emoji. Kleine E-Gitarre. Dramatisch verzweifeltes Emoji.
Wenn du nicht der Toyboy der schönen Lady bist, die dich markiert hat, dann bitte, antworte mir! CU Olivia.
Dreiundzwanzig Text-, sieben Sprach- und drei Videonachrichten später war ich breitgeschlagen und habe zugesagt, ihre Freundin zu treffen. Warum auch nicht?
Sag nicht, Billy würde dir nicht gefallen. Oder sag es doch, aber dann bist du halt ein Lügner. Und wir mögen hier keine Lügner, du brauchst in dem Fall also gar nicht erst auftauchen!
Was sollte ich dazu sagen? Natürlich gefällt sie mir, anderenfalls hätte ich kaum mit ihr geflirtet.
Ein Lügner bin ich nicht. Aber auch kein Beziehungstyp. Wenn du also in die Richtung denkst, haltet mich besser für einen Lügner, und es wird keinen Grund für Katzenjammerabende mit zu viel Eis, zu viel Rotwein und zu vielen Folgen Friends geben.
Hey, du kennst dich ja richtig aus mit Frauen.
Augenrollendes Emoji.
Erfahrung.
Schließlich bin ich großer Bruder.
»Das passt schon«, kam per Sprachnachricht. Im Hintergrund lief laute Musik, irgendwas von Kygo, und nur anhand dieser Musik war zu erkennen, dass es eine normale Tonaufnahme war, kein Fast Forward. Die Frau spricht mit dem Tempo eines Maschinengewehrs. »Billy will nichts Festes. Absolut nicht. Das heißt nicht, dass sie leicht zu haben ist. Also, auch wenn’s okay wäre, wenn’s so wäre … Verdammt, ich red lauter Bullshit, sorry. Ich glaube, sie würde dich einfach gern noch mal treffen. Das lief blöd letzte Woche, und ich hab’s verkackt, also muss ich es irgendwie wieder … grade kacken?«
Bitte keine Fotos davon!
schrieb ich.
Die Wirbeldiebin hat mir tatsächlich gefallen. Ihre dunklen Augen, in denen man die Iris kaum von der Pupille unterscheiden kann; ihr ehrliches, offenes und so vollkommen unbekümmertes Lächeln, die Kurven, die eine Silhouette formen, bei der jede Linie in perfekter Harmonie in die andere übergeht. Ich sah beinah schon den seidigen Stoff ihres Kleides über ihre dunkle Haut nach unten gleiten … Okay, Benedict, genug Träumerei für einen Montagnachmittag. Ich bin nicht hier, um sie flachzulegen. Okay, möglicherweise bin ich doch hier, um sie flachzulegen. Und weil die Freundin – Olivia – mir offen gedroht hat, mich mit Nachrichten in den Wahnsinn zu treiben, wenn ich Nein sage.
Ich werde dir so lange schreiben, bis du Ja sagst.
Ich könnte dich blockieren, sobald du mich nervst.
Anfänger.
Zunge raustreckendes Emoji.
Dein Insta-Name klingt echt, Cedric Benedict. Ich finde dich überall. Überall! Drohung. Kein Versprechen.
Du machst mir echt langsam Angst.
Hoffentlich!
Darauf folgte wieder eine Videobotschaft, über die ich gelacht habe wie seit Wochen nicht mehr. Und obwohl mir durchaus bewusst ist, dass so ein Überraschungstreffen vielleicht nicht die beste Idee ist, die Livie_Loves_Lettuce je gehabt hat (aber was weiß ich schon über die Ideen einer Frau mit leuchtend türkisfarbenen Haaren), bin ich hier. Olivia rückt Billys Nummer nicht heraus, und Billy ist schlauer als ich: Ich habe sie zwar durchaus auf Fotos auf Olivias Instagram-Kanal entdeckt, aber es existiert nicht eine Markierung. Sie scheint eine Frau ohne Instagram zu sein. Ich kann demnach noch nicht mal Punkte sammeln, indem ich die Überraschung ruiniere.
Bin da. Warn sie wenigstens vor!
tippe ich nun in den Chatverlauf und setze vorsichtshalber darunter:
Sonst gehe ich wieder.
Gesehen. Schreibt … erscheint auf dem Display.
Ich warte. Was schreibt sie mir denn, einen Roman? Dann:
Nope!
Und kurz darauf noch:
Billy LIEBT Überraschungen!
Ich muss grinsen. Wenn Billy Überraschungen so viel abgewinnen kann wie Livie_Loves_Lettuce Salat, dann blüht mir gleich was. Denn Olivias Instagram-Kanal besteht aus Bildern von Cupcakes, Burgern und Cupcakes in Burgerform. Kurz kommt mir der Gedanke, dass ich vielleicht nur aufs Korn genommen werde, und ich sehe mich unauffällig nach jemandem um, der mich heimlich filmt.
In diesem Moment kommt Bewegung in die automatische Drehtür am Eingang. Billy tritt heraus, und obwohl ich wirklich nichts unattraktiver finde als Kostümchen mit braven, weißen Blusen und schwarzen Pumps, haut etwas an ihr selbst das biederste Outfit raus. Vielleicht die schwarzen Haarsträhnen, die ihr aus der Frisur gerutscht sind und sich um ihre Wangen kringeln.
Sie hält ihr Smartphone ans Ohr, sagt etwas, das ich auf die Entfernung nicht verstehe, und bleibt abrupt stehen. Kurz schließt sie die Augen, öffnet sie wieder und tastet mit ihrem Blick vorsichtig den Eingangsbereich ab.
Ich bleibe auf der Treppe sitzen, hebe aber eine Hand, um sie auf mich aufmerksam zu machen, sollte sie mich nicht auf Anhieb wiedererkennen.
Mit steinerner Miene flüstert sie etwas ins Telefon, wischt darauf herum und pfeffert es in die Handtasche, die ihr über die Schulter hängt.
Okay. So viel ist sicher: Billy und Überraschungen … Das ist nicht unbedingt die große Liebe. Jedenfalls nicht die ganz große.
In diesem Moment erscheint eine weitere Nachricht in meinem Chat mit Livie_Loves_Lettuce:
Mayday, Mayday! Abbruch! Aktion SOFORT abbrechen!
Aber spätestens jetzt bin ich neugierig.
BILLY
Ich werde Olivia kündigen, denke ich, als mein Blick auf Mr Beatle fällt. Sie neigt zu bekloppten Aktionen, die ganze Frau und ihr komplettes Leben sind eine einzige bekloppte Aktion – ihre Worte, nicht meine! –, aber das geht jetzt wirklich zu weit.
»Ich werde Olivia kündigen«, wiederhole ich laut, als sich Mr Beatle geschmeidig erhebt, die Treppe hoch auf mich zukommt und dabei zumindest den Anstand hat, beschämt zu grinsen, wobei er sich auf die Unterlippe beißt. »Die Wohnung« – dummerweise ist Olivia die Mieterin –, »die Mitfahrgelegenheit« – damit treffe ich sie. Hart!, – »und die Freundschaft.« Ja, das mache ich. Ich jage meine beste Freundin zum Teufel. Das mach ich bestimmt.
»Das ist … Was wird das hier, bitte? Oh Gott, ist das peinlich!«
»Frag mich mal«, sagt der Typ mit gesenkter Stimme und sieht sich verstohlen um. »Ich hab bei der ganzen Aktion auch noch mitgespielt und nicht mal eine tolle Ausrede parat, von wegen: War gerade in der Nähe, häng hier nur zufällig ab. Im Vergleich zu mir bist du richtig fein raus, denn du wusstest von nichts.«
»Das macht es nicht besser! Du hättest es wenigstens mit ›Ich war gerade zufällig im Museum‹ versuchen können.«
»Nein, ich fürchte, das wäre schiefgegangen. Du hättest mich gefragt, was mich am meisten beeindruckt hat, und ich hätte wie ein Fünfjähriger gesagt: ›Der riesige, gefährliche T-Rex‹, und dann hättest du durchschaut, dass ich gar keine Ahnung habe.«
In jedem anderen Moment würde sein Kommentar mich amüsieren. Selbst jetzt, nachdem Vivian Blunt mich und meine Träume well done durchgegrillt hat, zuckt der Teil von mir, der gern laut loslacht. Es sind allerdings eher krampfhafte, letzte Zuckungen. »Die Fünfjährigen wissen mittlerweile alle, dass der Tyrannosaurus eher ein träger Aasfresser und nicht mal der größte der Theropoden war. Der Allosaurus dagegen – der war ein richtig gefährliches Biest!«
Er legt sich eine Hand auf die Brust und schafft es trotz der Theatralik der Geste, dabei ernst zu bleiben. »Wie gut, dass ich nie lüge.« Dann streckt er die Hand aus und hält sie mir hin. »Ich bin Cedric. Hi.«
»Billy«, erwidere ich und warte, bis er die Hand nach einigem Warten wieder sinken lässt, nicht ohne vorher kurz seine Frisur in Form zu bringen. Wenn er eitel ist, wäre das fantastisch, dann könnte ich ihn gleich freundlich abservieren und müsste keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden.
Aber ganz so einfach wird es möglicherweise nicht. »Okay, Cedric. Ich entschuldige mich für Olivias Aktion. Sie ist ein bisschen durchgeknallt.«
»Ziemlich.«
»Was?«
»Sie ist ziemlich durchgeknallt. Ein bisschen ist maßlos untertrieben.«
Hey. Moment mal, Honey. Beleidigst du gerade meine beste Freundin?
Er scheint zu merken, dass er auf ganz dünnem Eis steht, und räuspert sich. »Aber cool, cool ist sie auch. Ich wäre nicht gekommen, wenn sie nicht cool wäre.«
»Okay«, sage ich und lächle bemüht. »Vielleicht könnt ihr mal was ausmachen, ihr beide. Aber ich … Ich sollte jetzt … Also …« Leider hat der Schreck über das Auftauchen von Mr Cedric Beatle meine immense Enttäuschung nur kurzfristig verdrängt. Sie kriecht bereits wieder zurück an die Oberfläche.
Cedric mustert mich aus seinen blauen Augen. »Ist alles in Ordnung? Musstest du etwa den geklauten Wirbel zurückgeben?«
Kann er bitte damit aufhören? »Das wär ja noch schöner. Nein. Ich hatte gerade ein Vorstellungsgespräch.« Die Feuchtigkeit in meinen Augen nimmt rapide zu, aber ich werde nicht in Tränen ausbrechen. Nicht auf der Treppe vor dem Museum, wo Vivian Blunt, der Museumsdrache, mich womöglich vom Fenster aus beobachtet. »Und ich will nur noch nach Hause.«
»War es so schlimm?«, erkundigt er sich, während er neben mir her die Treppe hinabläuft. »Manchmal fühlt es sich viel schlimmer an, als es wirklich war. Und aufgeregt sind bestimmt alle, die sich bewerben.« Entweder er ist ein verdammt guter Schauspieler, oder er hat tatsächlich Mitgefühl mit mir.
Ich zwinge mich zu einem höflichen Lächeln, kann es aber nicht halten. »Es war nicht schlimm. Es lief ganz und gar furchtbar. Ich hatte kein Bewerbungsgespräch – ich wurde verhört, verurteilt und emotional exekutiert.«
»Fuck. Und dann taucht auch noch irgend so ein Idiot auf und geht dir auf die Nerven. Tut mir leid, das war blöd.«
»Schon okay. Eigentlich war der Plan, es bloß souverän die Treppe runterzuschaffen, diese scheiß Schuhe in den nächsten Mülleimer zu werfen und barfuß zu meinem Auto zu rennen, wo ich dann heulend zusammenbrechen wollte.«
Mein Hirn hat keine Kapazitäten mehr frei, um einen gewissen Anschein von Restintelligenz oder gar Stolz zu verteidigen. Als wäre das alles nicht demütigend genug, muss ich auch noch die Nase hochziehen, sonst beginnt sie gleich zu laufen. »Du hast mich aus dem Konzept gebracht, fürchte ich.«
»Die Schuhe kannst du immer noch wegwerfen«, sagt er mit einem kritischen Blick auf die spitz zulaufenden Lederpumps. Dann hält er mir ein platt gedrücktes Päckchen Papiertaschentücher hin, das er aus seiner hinteren Hosentasche gezogen hat, und kommentiert meine erste Träne nicht weiter. »Die Dinger sehen aus, als hätten sie es verdient. Meine Füße schmerzen schon vom Hinsehen.«
»Danke.« Ich zupfe ein Tuch heraus, denke zu spät an Mascara und Lidstrich und mache mich mit einem Wisch vermutlich zum einseitigen Panda. »Leider sind sie geliehen.«
»Gib sie zurück, sie passen nicht zu dir. Und der Job auch nicht, wenn sie dich schon im Vorstellungsgespräch auseinandernehmen. Am Anfang sollte man seine Vorgesetzten mögen – blöd werden sie von ganz allein.«
Vielleicht hat er damit sogar recht. Aber ich würde es gern auf mich nehmen, unter dem Drachen zu arbeiten, wenn ich nur endlich eine Chance bekäme. »Ist halt alles nicht so leicht«, murmle ich. »Ich habe so gut wie sämtliche Museen durch und die Jobs immer um Haaresbreite verpasst.«
»Sämtliche Museen in Liverpool?«
»In Großbritannien.«
Er pfeift durch die Zähne. »Du willst das wirklich, oder?«
»Ich bin kurz davor, in die Staaten zu gehen und es da zu versuchen.«
»Gott – tu das nicht!« Er fährt sich durch die Haare, als hätte ich erklärt, ich wolle in den Krieg ziehen. »Du hast dein ganzes Leben noch vor dir!«
Ich kann nicht anders, ich muss lachen, auch wenn es eher wie ein Schluchzen klingt. Cedric hat seine Frisur zerstört und schüttelt lediglich den Kopf, damit die Haarsträhnen ihm nicht die Sicht nehmen, sieht aber offenbar keinen Grund, sein Styling wieder zurechtzuzupfen. Vielleicht ist er doch nicht eitel.
»Nein, zuerst klappere ich Europa ab. Und wenn ich damit fertig bin, fange ich einfach in London wieder von vorn an.«
»Ich nehme an, du studierst etwas in die Richtung? Oder bist du schon fertig?«
Ich seufze, weil er in der Kürze der Zeit schon den ganz wunden Punkt erwischt hat. »Das mit dem Studium lief nicht so gut.« Was nicht ganz der Wahrheit entspricht, aber … »Es ist kompliziert.«
Wir erreichen die Heyworth Street, und ich kann Homer in einiger Entfernung bereits am Straßenrand erkennen. Zu unserer Linken liegt der riesige Everton Park mit seinen hügligen Wiesen, Kastanien und Ahornbäumen. In den Backsteinhäusern zur Rechten nutzen die Leute den ersten milden Frühlingstag, um in ihren Beeten herumzufuhrwerken, Fenster zu putzen oder unter dem begeisterten Geschrei der Kinder ein Trampolin aufzustellen, das die gesamte Gartenfläche einnimmt.
»Ich hab auch ein Studium abgebrochen«, sagt Cedric unvermittelt.
Überrascht sehe ich ihn an, er erwidert meinen Blick mühelos.
»War auch kompliziert. Man muss nicht jedes Rätsel lösen.«
Das klingt, als sei es ganz einfach. Seine Worte sagen: Ist okay, du musst das nicht erzählen. Und obwohl ich das natürlich ohnehin nicht muss – ich kenne ihn seit fünf Minuten, einem Zusammenstoß und ein paar dummen Anmachsprüchen –, mag ich das Gefühl, dass er es mir leicht machen will.
Olivia möchte ich immer noch eiskalt duschen für die Überraschung, die sie mir bereitet hat, aber wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir im Moment ganz recht, dass Cedric da ist. Er scheint wirklich nett zu sein. Der Frust und die Enttäuschung lungern zwar um mich herum, können mich aber nicht überwältigen, solange ich nicht allein bin.
Neben Homer bleibe ich schließlich stehen. »Das ist mein Auto«, sage ich und klopfe auf die Motorhaube. »Homer. Und bevor du fragst: Er ist ein technisches Wunderwerk, und kein Mechaniker kann sich erklären, warum er noch fährt. Er tut es mir zuliebe.«
Cedric betrachtet Homer mit der angemessenen Mischung aus Faszination und Ehrfurcht. »Er muss dich wirklich lieben. Soll ich ihm Guten Tag sagen, oder …«
»Nur, wenn du mal mitfahren willst.«
»Cool. Hi, Homer. Schön, dich noch kennenzulernen, bevor du über die Regenbogen-, sorry, Farbkarten-Brücke fährst.«
»Hey! Mach ihm keine Angst. Angst fressen Kolben auf – weißt du das nicht?« Ich schließe die Fahrertür auf, lasse mich in den Sitz fallen und angle meine Chucks aus dem Beifahrerfußraum. Mit bequemen Schuhen bin ich ein anderer Mensch. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, mir die verflixte Strumpfhose von den Beinen zu pellen. Der Bauchbund hat sich aufgerollt, schneidet ein und drückt mir in den Magen. Dass Cedric eine Hand aufs Wagendach stützt und mich mit diesem Viertellächeln von oben ansieht, lässt mich die Idee, unter meinem Rock herumzufummeln, aber gleich wieder verwerfen.
Zu zweideutig. Eindeutig zu zweideutig.
»Wohin fahren wir denn?«, fragt er.
»Moment.« Das geht mir jetzt doch ein wenig schnell. »Die Spielleiter im witzigen Wir-überraschen-Billy-Spiel seid Livie und du. Ich bin nur Billy – das arme Opfer. Für den Spielverlauf seid ihr zuständig. Und da Livie nicht da ist, wirst du dich wohl allein drum kümmern müssen. Selbst schuld, wenn man sich auf Deals mit ihr einlässt.« Damit steige ich wieder aus dem Auto, wobei ich mich eng an Cedric vorbeiquetschen muss, werfe den Blazer auf den Rücksitz, ziehe stattdessen den Hoodie über die Bluse und prüfe meine Erscheinung in Homers Seitenspiegel. Bleistiftrock, Hoodie und Chucks. Viel besser. Fast gut.
»Viel besser«, bestätigt Cedric, und kurz wird mir warm, was am kuscheligen Hoodie liegen könnte oder an seinem Blick. Der Typ braucht nicht mal sein Viertellächeln, er kann mit den Augen lächeln, ohne den Mund zu bewegen. So lange ich auch hinsehe, da ist keine Regung seiner Lippen. Und trotzdem lächelt er.
Ich dagegen muss grinsen und spüre Hitze in meinen Wangen, als mir bewusst wird, dass ich seinen Mund anstarre, als plane ich bereits, Besitzansprüche durch Anlecken anzumelden. Er weiß sicher selbst, dass er heiß ist – muss ich ihm das auch noch auf die Nase binden?
»Ich möchte Olivia keinesfalls durch falsche Entscheidungen verärgern«, sagt er, »aber ich glaube, meine Idee wird ihr gefallen. Ich kenne das beste Pub der Stadt. Homer darf zwar nicht mit rein, und wenn du wieder rauskommst, wirst du ihn nicht mehr nach Hause fahren können, denn Sawyer, dem der Laden gehört, macht seinen Job wirklich gut. Aber …«
Ich lehne mich gegen den Kotflügel und winke ab. »Olivia würde die Idee lieben, aber ich lege ein Veto ein.«
Er zieht eine dunkle Augenbraue hoch, die mit der kleinen Narbe. »Du bist das Opfer. Du hast ein Veto?«
Dafür hat er sich einen Knuff in den Bauch verdient. Er fällt ein bisschen lasch aus, dieser Knuff. In solche Bauchmuskeln könnte man auch kräftiger knuffen. Ich merke es mir fürs nächste Mal. »Du hast die Spielregeln nicht gelernt, Beatles-Typ!«
»Verdammt, das Kleingedruckte! Okay, kein Pub, zweiter Versuch. Der Park liegt nahe, du hast bequeme Schuhe an, und Homer scheint sich hier im Schatten der Bäume auch ganz wohlzufühlen. Wir könnten eine Runde drehen und auf dem Weg ein Eis mitnehmen. Wäre das in Olivias Sinne?«
Ich seufze gespielt. »Damit wird sie klarkommen müssen. Mir gefällt’s.«
»Das nächste Mal bitte ich sie einfach um genaue Instruktionen. Lass uns gehen.«
CEDRIC
Ich halte ihr die Hand hin, nur so, weil ich gespannt bin, was sie macht. Sie ist schlagfertig und wirkt selbstbewusst – allein dieses Outfit aus Flugbegleiterinnen-Rock, Oversize-Hoodie und Turnschuhen ist ein Statement. Aber hinter ihrer Lässigkeit versteckt sich Misstrauen, wie bei jemandem, der nicht fürchtet, dass dort draußen Gefahren lauern, sondern es genau weiß.
Dennoch ergreift sie meine Finger und läuft tatsächlich kurz mit mir Hand in Hand, bevor wir wieder loslassen und uns angrinsen.
Dr. Raghav rät mir das wieder und wieder – mehr Spaß zu haben. Meiner Meinung nach tu ich fast nichts anderes, aber ich nehme an, wir reden aneinander vorbei.
Wir schlendern durch den Park in Richtung Spielplatz, und Billy erzählt, dass sie mein Lieblingspub heute nicht besuchen will, weil sie nach schlechten Tagen nie Alkohol trinkt, was ich ausgesprochen klug von ihr finde, auch wenn ich scherzhaft frage, ob der Tag denn wirklich so schlecht ist.
»Schlecht genug, um nichts zu trinken«, erklärt sie ausweichend.
Der Spielplatz ist gerammelt voll. »Es erstaunt mich jedes Jahr«, sagt sie, »wo an den ersten sonnigen Tagen all diese Kinder herkommen, die man ein halbes Jahr lang nirgendwo gesehen hat.«
»Aus Erdlöchern«, raune ich ihr zu, »um uns den Sommer lang das Eis wegzufressen und sich dann wieder zu verkriechen.« Denn tatsächlich steht am Eiswagen, der in den letzten Monaten genauso verschwunden war wie die Kinder, eine Schlange, als gäbe es dort das letzte Eis der Welt.
Wir gehen weiter und verlassen den Park bei der Moschee. Schräg gegenüber ist ein kleiner One-Stop-Markt, wo man zumindest Eis am Stiel bekommt.
»Der Laden hier hat die gruseligste Dreisternebewertung, die je bei Google vergeben wurde«, erzähle ich ihr leise, während wir an der Kasse warten, bis die alte Dame vor uns ihr Kleingeld abgezählt hat. »Ich habe so ein persönliches Ding mit mittelmäßigen Bewertungen.« Ursprünglich war das Lukes persönliches Ding. Offenbar hat er es mir hiergelassen, als kleinen, harmlosen Bestandteil eines Riesenhaufens aus Dreck, um den ich mich jetzt kümmern darf. Danke, Luke. Arsch.
Um die ungebetenen Gedanken zu vertreiben, drehe ich imaginär Billy Talent im Kopf lauter. Bässe und Gitarren, Schlagzeug, Benjamins Stimme.
Surrender.
Every word, every thought, every sound.
Durchatmen auf Sparflamme, damit Billy es nicht merkt.
»Diese hier«, flüstere ich, »ist meine ungekrönte Königin der Mittelmaßbewertungen. Ich zitiere: ›Sie haben meinen Hund getötet, sehr nett!‹«
Billy starrt erst mich, das verpackte Eis in ihrer Hand, dann wieder mich an. Den Blick zu der Angestellten hinter der Kasse vermeidet sie.
»Aber drei Sterne. Von fünf. Das ist ziemlich … okay.«
»Ich weiß nicht, ob ich Eis kaufen will, wo Hunde …«
Sie hat wirklich leise gesprochen, die Kassiererin wirft ihr trotzdem einen giftigen Blick zu.
»Reiz sie nicht«, raune ich ihr zu. »Sie sieht aus, als würde sie es wieder tun.«
Billy legt das Eis auf die Theke und schluckt. Während ich nach dem Geld suche, neige ich den Kopf zu ihr. »Entspann dich. Immerhin drei Sterne. Sehr nett.«