A Tempest of Tea - Hafsah Faizal - E-Book

A Tempest of Tea E-Book

Hafsah Faizal

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Beschreibung

+++  Der Nr-1-New York Times-Bestseller endlich auf Deutsch! +++ »A Tempest of Tea – Ein Hauch von Tee und Blut« ist der mit Spannung erwartete erste Band der düsteren Fantasy-Dilogie von der New York Times-Bestsellerautorin Hafsah Faizal. »Das Lied der Krähen« trifft »Peaky Blinders« im Auftakt dieser düsteren Fantasydilogie rund um einen unmöglichen Raubzug, eine korrupte Großstadt und geächtete Vampire. Ein luxuriöses Teehaus mit einem blutigen Geheimnis, ein kriminelles Superhirn mit einer dunklen Vergangenheit und eine ungleiche Crew mit einem unmöglichen Auftrag Die Straßen von White Roaring gehören Arthie Casimir, kriminelles Superhirn, Waise und Sammlerin von Geheimnissen. In ihrem luxuriösen Teehaus empfängt die Waise Arthie Casimir tagsüber die Reichen der Stadt – und gelangt dabei an so manches brisante Geheimnis. Nachts jedoch verwandelt sich die Teestube in ein illegales Bluthaus für Vampire, die von den Einwohnern des Landes Ettenia ebenso gefürchtet wie verachtet werden. Doch als ihr Teehaus bedroht wird, bietet ein geheimnisvoller Fremder Arthie einen Deal an, dem sie nicht widerstehen kann: Sie soll ein Buch stehlen, das sich in der verführerischen Unterwelt Ettenias befindet, die von mächtigen Vampiren beherrscht wird und zu der Außenstehende keinen Zutritt haben. Zusammen mit ihrem engsten Vertrauten Jin stellt Arthie eine Crew für diese unmögliche Mission zusammen. Doch nicht alle sind wirklich auf ihrer Seite, und plötzlich findet Arthie sich inmitten einer Verschwörung mächtiger Vampire wieder, die die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Der düstere Fantasyauftakt »A Tempest of Tea« erzählt von einer Gruppe von wagemutigen Außenseitern im Land Ettenia, einer Mischung aus dem England der 1920er-Jahre und Leigh Bardugos fiktivem Ketterdam. Fans von »Das Lied der Krähen« werden hier voll auf ihre Kosten kommen! Mehr von der Nummer 1-New York Times-Bestsellerautorin Hafsah Faizal erwartet dich in: - A Tempest of Tea (Blood and Tea 1) - A Steeping in Blood. A Tempest of Tea 2 (Blood and Tea 2) - We hunt the Flame (Die Reiche von Arawiya 1) - We free the Stars (Die Reiche von Arawiya 2) »Verführerisch, scharfsinnig und clever. Mit einer guten Portion Behaglichkeit und einer noch größeren Menge ausgefahrener Krallen.« Holly Black, Nummer-1-Bestsellerautorin »Der fesselnde Roman A Tempest of Tea ist perfekt zusammengebraut: eine raffiniert aufgebaute Welt, ein von einem Heist angetriebener Plot, ein Hauch von Romance und eine Reihe liebenswerter Figuren. Hafsah Faizals neuester Roman knistert vor Adrenalin und Charme.« ― Rebecca Ross, Nummer-1-New York Times-Bestsellerautorin von Divine Rivals »A Tempest of Tea ist ein Meisterwerk, angefüllt mit phänomenaler Prosa, tadellosem World-Building und einer mitreißenden Found Family, die sich auf den Heist ihres Lebens einlässt! Hafsah Faizal hat die Art von Buch geschrieben, die einen nicht mehr loslässt – und ihr werdet die Fortsetzung nicht abwarten können!« ― Ali Hazelwood, New York Times-Bestsellerautorin von The Love Hypothesis

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Seitenzahl: 490

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Hafsah Faizal

A Tempest of Tea

Ein Hauch von Tee und Blut

Aus dem amerikanischen Englisch von Constanze Wehnes

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In ihrem luxuriösen Teehaus empfängt Arthie Casimir, Waise und kriminelles Superhirn, tagsüber die Reichen der Stadt – und gelangt dabei an so manches brisante Geheimnis. Nachts jedoch verwandelt sich die Teestube in ein illegales Bluthaus für die verachteten Vampire. Als ein geheimnisvoller Fremder das Teehaus bedroht, muss sie einen unmöglichen Job annehmen: Sie soll ein Buch aus dem Athereum stehlen – der verführerischen Unterwelt Ettenias, die von mächtigen Vampiren beherrscht wird. Zusammen mit ihrem engsten Vertrauten Jin stellt Arthie eine ungleiche Crew zusammen. Doch nicht alle sind auf ihrer Seite, und plötzlich findet Arthie sich inmitten einer Verschwörung wieder, die die Welt in ihren Grundfesten erschüttert.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Karte

ERSTER AKT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

ZWEITER AKT

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

DRITTER AKT

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Danksagung

FÜR ASMA,

weil du meine Schwester bist,

aber vor allem mein Verstand

ERSTER AKT

RACHE STIRBT NIE

Kapitel 1

ARTHIE

Des Nachts wuchsen den Straßen von White Roaring Reißzähne. Dann, wenn der Mond die Krallen wetzte, die Geschäfte die Augen vor der Dunkelheit verschlossen und jene, die nach Blut lechzten, kühn durch die Straßen schritten. Arthie Casimir ließ das alles jedoch kalt. Die Kälte, die Dunkelheit und die Vampire.

Das Geschäft musste schließlich weitergehen.

Mitternacht war lange vorüber, und die Gießereien waren verstummt, die Funken, die den Abend erhellt hatten, simmerten jetzt in auskühlenden Kohlen vor sich hin, schmutzige Schürzen waren beiseitegeworfen worden, müde Arbeiter hatten sich zurück in ihre Hütten geschleppt. Kaffeehäuser, Schlachtereien und Buchmacher warteten schlummernd auf die Morgendämmerung, die Stadt wurde von Sünde am Leben gehalten – und von einer Teestube, die sich zwischen Elend und Reichtum an eine Ecke schmiegte.

Spindrift wurde sie genannt.

Arthies ganzer Stolz und ganze Freude, geschrubbte Holzdielen und der Duft nach frischem Tee, der in glänzenden Kannen dampfte und nach und nach die Kassen ihrer Crew zum Klingeln brachte. Die Kundschaft machte ihre eigene Hochnäsigkeit ein wenig erträglicher, indem sie ihre Geheimmisse vor Arthies Mitarbeitern verschüttete, einer Gruppe Waisen, die der geschliffenen Zunge der Reichen doch ganz sicher nicht folgen konnte.

Viel lieber wäre sie jetzt dort als hier in der spätherbstlichen Kälte.

»Ich kann auch allein gehen«, bot Jin an und verlangsamte seine Schritte, um sich ihren anzupassen. Das Haar fiel ihm glatt und scharf wie eine Klinge in die Stirn, der Regenschirm an seiner Seite ein Abbild seiner kultivierten Eleganz, schlanke Gliedmaßen und breite Schultern, lässiger Gang im weichen Licht der Gaslaternen.

Es gehörte nicht zu Arthies Gewohnheiten, zahlungsunwillige Kunden aufzusuchen, doch dieser hier hatte bereits zu viele ihrer Leute wieder weggeschickt.

»Um euch im Morgengrauen bei einem gemütlichen Plausch vorzufinden?«

»Mit dem Matteo Andoni?«, fragte Jin, als sei das eine an den Haaren herbeigezogene Vorstellung. »Ehrlich, Arthie.«

Jin versprühte die Sorte Charme, für die ihm selbst ein König einen Stuhl an seinem Tisch vorziehen würde, wenn er nur das richtige Lächeln aufsetzte – dessen war er sich sehr wohl bewusst, und deshalb ließ Arthie sich gar nicht erst zu einer Antwort herab. Sie erreichten die ruhigere Gegend um den Alms Place, wo kein Körnchen Schmutz zu sehen war und die eindrucksvollen Häuser mit ihren backsteinernen Gesichtern auf sie herunterstarrten.

Eine Kutsche rumpelte an den uniformierten Männern vorbei, die am Eingang der Straße Wache standen, die Pferde schnaubten unter der Peitsche des Kutschers. Ettenias Hauptstadt White Roaring schlief selten, und nach den neuesten Nachrichten über verschwundene Vampire hielt anhaltendes Geflüster die Stadt noch wacher als sonst; aber nicht weil die Leute sich besonders um das Wohlergehen von Vampiren sorgten. Doch wenn denen etwas Schlimmes widerfahren konnte, wie sollte es dann erst den schwächeren Menschen ergehen?

So beunruhigend diese Vermisstenfälle auch waren, noch weniger gefiel Arthie die erhöhte Präsenz der Gehörnten Garde des Widders. Sie war einfach überall, behielt alles im Auge. Es war ungerecht, dass der maskierte Widder so viel sah, da doch das ettenische Volk nicht einmal das Gesicht des Monarchen sehen konnte, der über sie herrschte.

Arthie steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier in ihre Westentasche und blieb vor einem hoch aufragenden schwarzen Zaun stehen. »Da sind wir. Alms Place, Nummer 337.«

Jin betrachtete das Anwesen, das sich hinter einem Stück gestutzten Rasens erhob, und stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Na, das nenn ich doch mal stinkreich.«

Das Gebäude forderte Achtung ein, angefangen bei den rüschigen Vorhängen hinter den Fenstern bis zur leidenschaftlich roten Haustür. Durchaus passend. Männer lobten Matteo Andonis Namen an allen Straßenecken, Frauen flüsterten ihn in ihre Bettdecken – wobei er äußerst selten auch darunterlag.

»Nein, das nennt man zu viel. Augen auf.« Arthie war vollkommen gleichgültig, ob Matteo Andoni der verehrteste Pinselschwinger im ganzen Land war. Wer nicht zahlen konnte, sollte nicht trinken.

Sie traten durch das Eingangstor und stiegen die breite Treppe hinauf. Arthie schlug den eisernen Klopfer gegen die Tür, und Jin lehnte sich an die Mauer des Vorbaus über dem Eingang, den schwarzen Regenschirm locker umfasst.

Die Tür öffnete sich und offenbarte einen dünnen Mann mit lichtem Haupt. Alles Haar, das er einmal besessen haben mochte, war offenbar in seinen buschigen Schnurrbart übergesiedelt, der sich über seiner Oberlippe bog.

»Sie wünschen?«

Arthie schob die Hände in die Hosentaschen, ließ die Pistole in ihrem Holster aufblitzen. Sie zog es vor, sie nicht zu benutzen, aber sie war einzigartig, und deshalb würde Arthie sie blutsicher nicht verstecken. »Wir wollten einen kleinen Besuch abstatten.«

»Trotz der fortgeschrittenen Stunde«, ergänzte Jin und grinste.

Der Butler sah von Arthies malvenfarbenem Haar und ceylanischer Haut zu Jins Monolidaugen und wieder zurück zu Arthie, musterte die kurz geschnittenen Haare unter ihrem Hut und das Revers ihres offenen Sakkos, folgte mit dem Blick der glänzenden Kette, die zu der Uhr in ihrer Westentasche führte.

Sieh ruhig genau hin, du Wicht. In ihrem Äußeren würde er keinen Slum finden. Ihre Crew mochte aus dem elendsten Viertel von White Roaring stammen, doch was Arthie an Status fehlte, machte sie mit Würde wett, und zwar ohne Weiteres.

»Waffen?«, fragte der Butler und streckte die Hand aus.

»Nein, danke.« Arthie lächelte liebenswürdig. »Ich hab schon.«

»Aber vielleicht könnten Sie Wasser aufsetzen«, sagte Jin. »Wo Sie uns hier schon in der Kälte stehen lassen.«

Der Butler sah verärgert aus. Jin klopfte mit dem Regenschirm auf den Boden und trat ein, ohne auf eine Aufforderung zu warten, seine Gestalt schien die enge Eingangshalle auszufüllen. »Verbindlichsten Dank, der Herr. Komm mit, Arthie.«

Sie tippte sich mit dem Finger gegen den Hut und folgte Jin in ein Empfangszimmer mit Brokattapete und im Schatten liegenden Regalen an den Wänden. Das Zimmer war dämmrig, und somit glomm der Kaffeetisch im selben Tiefrot wie der Teppich.

»Na, hören Sie mal …« Hinter ihnen steigerte sich der Butler gerade in eine empörte Tirade. »Sie können doch nicht einfach –«

»Schon in Ordnung, Ivor«, kam eine aalglatte Stimme aus dem Zwielicht.

Ein Streichholz zischte auf, und eine winzige Flamme warf ihren Schein auf einen Mann, der sich auf einem Sofa fläzte, einen Arm über die Lehne gelegt, die Ärmel lässig hochgekrempelt. Das Hemd steckte nicht im Hosenbund, und die Schnüre am Kragen waren gelöst, sodass er locker und offen lag, ein längliches V bis hinunter zu seinem Nabel formte und die cremefarbene Haut darunter freilegte. Rüschen küssten seine Haut wie Blütenblätter; viel mehr Haut, als Arthie es von Mitgliedern der gehobenen Kreise gewohnt war.

Jin hüstelte ein »Glotzinchen«.

Quatsch.

»Matteo Andoni«, sagte Arthie und ignorierte Jin.

Er besaß die feinen, aristokratischen Züge, die für das benachbarte Land Velance so typisch waren, was ihn genauso zu einem Migranten machte wie Arthie und Jin, nur eben ohne die Widrigkeiten.

»Arthie Casimir.« Er imitierte ihre lang gezogene Aussprache, während er eine Lampe auf dem Tisch neben sich entzündete. Ringe glänzten an seinen Fingern, Onyx und Messing. Sein Haar war dunkel, lang und umsichtig sorglos arrangiert. »Ivor und ich haben schon Wetten abgeschlossen. Er war der Meinung, du hättest schon vor zwanzig Duvin hier auftauchen müssen. Wie viele kleine Casimirs hatten da schon vor meiner Tür gestanden, Ivor? Drei?«

»Sechs, Sir.«

Matteo winkte ab. »Ach, Zahlen hab ich nie sonderlich leiden können.«

Hätten die Farbkleckse an seinen Fingern und die Begeisterungsstürme auch noch des allerletzten Einfaltspinsels auf den Straßen sein künstlerisches Talent nicht preisgegeben, spätestens seine Beobachtungsgabe hätte ihn verraten. Seinem Blick lag eine gewisse Gier zugrunde, als hätte er Angst, die Welt zu verpassen, sollte er auch nur einem Blinzeln nachgeben.

»Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Ivor verloren hat.« Sein Lächeln meißelte ihm ein Grübchen in die Wange, und es ärgerte Arthie, dass es ihr auffiel.

»Und jetzt können Sie mit Ihrem Gewinn Ihre Rechnung begleichen«, warf Jin ein.

Arthie nickte. »Zweihundertvierundzwanzig Duvin.«

»Eine saftige Rechnung«, gab Matteo zu, und die kurze Pause, die darauf folgte, bedeutete ihr, dass dies der Moment der Wahrheit war, die Zeit für Antworten. »Wisst ihr, ich frage mich schon lange, ob diejenigen, die zum Teetrinken kommen, wohl das Blut schmecken können, das ihr in denselben Tassen ausschenkt.«

Da war es also.

Seit sie den Namen des Kunden erfahren hatte, der regelmäßig seine Rechnungen unbezahlt ließ, hatte Arthie gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Geldsorgen hatte er ganz sicher nicht. Nein, er hatte seine kleine Falle aufgestellt, und sie war hineingelaufen, wenn auch ihrerseits mit ein paar Informationen bewaffnet.

»Nicht dass Sie im Spindrift viel Tee trinken«, sagte sie und hielt Matteos Blick, um ihrer Andeutung mehr Gewicht zu verleihen.

»Komm schon, Arthie«, schnarrte er und sah sie nun etwas eindringlicher und ernster an. »Ich wollte dich nur mal kennenlernen.«

»Sieh dich nur an, wickelst hier schon die Männer um den Finger«, säuselte Jin ihr leise ins Ohr, dann schnippte er mit den Fingern und hielt Matteo die offene Hand hin. »Unser Geld, wenn ich bitten darf.«

Jin umfasste seinen Regenschirm ein wenig fester, als Matteo sich vorlehnte, doch der nahm nur eine Geldbörse vom Tisch neben sich. Der Mann hatte das Geld schon bereitgelegt.

Er warf Jin die Geldbörse zu und runzelte die Stirn, als der es in seiner Tasche verschwinden ließ. »Willst du nicht nachzählen?«, fragte er an Arthie gewandt.

»Nein, und wenn ich noch einmal hierherkommen muss, wirst du das bereuen«, sagte Arthie und passte sich seiner Formlosigkeit an. »Du bist nicht so unerreichbar, wie du glaubst.«

Matteo ließ sich zurück in die Polster sinken. Die Smaragde in seinen Augen wurden stumpf, ein Wald im Dunkeln. »Wir alle haben unsere Geheimnisse, sonst wäre die Welt bald währungslos. Hab ich nicht recht, Schätzchen?«

Die Lampe auf dem Tisch flackerte auf, spiegelte sich in der Glasvitrine hinter ihm.

Sämtliche Aristokraten hatten eine ansehnliche Sammlung an dunklen Geheimnissen, angefangen bei Affären über Erpressungen bis hin zu geschmacklosen Abmachungen, denn darauf stand nun mal die Leiter, mittels der die High Society so hoch geklettert war. In dem Punkt war Matteo Andoni tatsächlich beinahe unerreichbar – beinahe.

»Das weißt du doch besser als jeder andere, mit deinen kleinen Nachrichten in offiziellen Briefkästen und den Vertraulichkeiten, die du in die Ohren aufrechter Damen raunst«, sagte Matteo. »Du schürst das Chaos.«

»Rache«, berichtigte Arthie. »Ich habe kein Interesse an Chaos.« Nicht direkt. Und sie hatte auch kein Problem damit, ihre Absichten deutlich zu machen.

»Semantik«, gab er abwinkend zurück.

In ihrem Innern brodelte es, doch Arthie zügelte sich.

Matteo verstand ihre ausbleibende Reaktion als Erlaubnis, weiterzusprechen. »Und dein Geschäftsmodell? Opfer finden Vampire zuhauf auf den Straßen, sogar willige, schließlich reicht kaum etwas an die Euphorie heran, sich von den Reißzähnen eines Vampirs beißen zu lassen. Doch du hast das frei Verfügbare in Gewinn verwandelt. Diebstahl auf höchstem Niveau.«

»Innovation«, berichtigte Arthie abermals, und ein Funke schien in ihren Knochen aufzuglimmen. Vor dem Spindrift, vor ihrer Pistole, war sie ein Nichts gewesen. Eine Waise auf den Straßen, die Geldbörsen stibitzte und Decken stahl, mit stolpernder Zunge und fahrigen Händen, die Augen so rund wie der Mond und genauso hungrig. »Oder ist es bei mir etwa eine Sünde, bei den Mächtigen aber eine bejubelnswerte Errungenschaft? Wie bei dieser elendigen Handelsgesellschaft, die den Osten ausplündert?«

Matteo blinzelte. »Weißt du, eigentlich habe ich dich bejubelt.«

»Vergiss nur nicht«, fuhr Arthie fort, ohne auf seine Worte einzugehen, und wandte sich zum Gehen, »dass einige Geheimnisse wertvoller sind als andere.«

»Hm«, machte Matteo. »Du musst es ja wissen, Arthie. Das Mädchen, das die Pistole aus dem Stein zog.«

Arthie zuckte nicht mit der Wimper. Ganz White Roaring wusste von Calibore, dem Hinterlader, den niemand außer ihr hatte herausziehen können. Unbedeutend. Nur noch ein paar Sekunden und sie wäre aus der Tür spaziert, ihr Geld und einen brüchigen Seelenfrieden in Händen, doch Matteo war noch nicht fertig.

»Arthie, das Mädchen, das nach Ettenia kam, in einem Boot voll Blut.«

Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich wieder um.

Matteo hatte sich erhoben, und dieses verdammte Grübchen trat wieder in Erscheinung. Aber nicht aus Schadenfreude. Nein, etwas Beunruhigendes blitzte in seinem Blick auf, als verstünde er, was sie durchgemacht hatte. Als stünde er auf ihrer Seite.

Doch das konnte sie nicht hinnehmen. Sie weigerte sich. Arthie trat einen Schritt auf ihn zu. Nah genug, um Ivor nervös zu machen, und sie hörte Jin, der den Butler mit einem leisen Tsk zurückhielt.

»Ich habe mich schon immer gefragt, warum du nicht einmal nachts im Spindrift vorbeischaust«, sagte Arthie, um das Gespräch von sich abzulenken. Er sollte wissen, dass sie ihn beobachtet hatte, und zwar lange genug, um ihn zu durchschauen. »Wir wissen doch beide, dass Tee dir im Grunde gar nicht schmeckt.«

Ja, Matteo Andoni war beinahe unerreichbar, bis auf dieses eine, grelle Geheimnis.

Jin sog scharf die Luft ein. »Du – du bist ein Vampir.«

Matteo erwiderte nichts. Er war sehr jung, zu jung, als dass seine Werke schon in so ferne und gehobene Kreise vorgedrungen sein könnten, ohne die Unsterblichkeit auf seiner Seite zu haben.

»Die meisten Künstler erfahren ihren großen Durchbruch erst, wenn sie schon lange in ihren Gräbern verrottet sind. Aber du … Anfang zwanzig und jedem ein Begriff. Aber was würde White Roaring sagen«, überlegte Arthie laut, »wenn alle wüssten, dass ihr geliebter Maler nicht einmal lebendig ist. Ganz schlecht fürs Geschäft. Womöglich würdest du deinen Platz in der Gesellschaft verlieren.«

»Und doch wirst du kein Sterbenswörtchen von dir geben«, sagte der Vampir leise, offenbar keineswegs beunruhigt.

»Und warum nicht?« Doch natürlich hatte er recht. Arthie verramschte ihre Güter nicht. Geheimnisse mussten fermentieren, sie ließen sich sehr gut lagern. Je länger sie reiften, desto gewinnbringender waren sie.

»Weil du der Macht einer Drohung nicht widerstehen kannst. Ich hingegen«, er machte eine kurze Pause und hob die Hand, ließ eine Spritze aus dem Spindrift in den Fingern kreisen, die blutrot aufleuchtete, »muss lediglich ein Wort über deine rechtswidrigen Geschäfte fallen lassen, und ich verspreche dir, die Wachen draußen an der Straße sind im Handumdrehen hier. Schon komisch, wie schnell sie sein können, wenn man es am wenigsten will.«

Es würde schon mehr als eine Spritze brauchen, um Arthie zu Fall zu bringen, doch wenn sie etwas war, dann vorsichtig.

»Jin«, sagte Arthie.

Jin deutete ihren Tonfall und seufzte. »Wie du wünschst, kleine Schwester.« Mit einer geschmeidigen Bewegung warf er den Regenschirm von einer Hand in die andere und griff nach dem Revolver, den Arthie ihm – wiederholt – befohlen hatte mitzunehmen.

»Ich denke, wir können über alles –«, begann Matteo.

Jin drückte ab.

Der Schuss hallte im Zimmer wider. Mit einem überraschten Schrei fiel Matteo auf dem Boden in sich zusammen, und Arthie schüttelte den Kopf, um das Klingen in ihren Ohren loszuwerden.

Der Vampir erbebte. Arthie runzelte die Stirn, dann drehte er sich auf den Rücken, und die Glasvitrine hinter ihm klirrte leise, so heftig lachte er. Dickes Blut quoll aus der Wunde, dunkler als Karmesin auf seiner blassen, elfenbeinfarbenen Haut. Tote Haut. Totes Blut. »Das war eins meiner schönsten Hemden.«

Der Butler stieß einen gepeinigten Schrei aus.

»Keine Sorge, alter Knabe«, sagte Matteo und zog mit zwei schlanken Fingern und einer Grimasse die bronzene Kugel heraus. Die Haut um die Wunde hatte eine tote Farbe angenommen. Beinahe empfand sie so etwas wie Mitleid für ihn, bis er den Blick hob und ihr mit träger Eitelkeit zuzwinkerte. »Jede gute Liebesgeschichte beginnt mit einer Kugel im Herzen.«

Arthie gefiel nicht, wie diese Worte ihr durch die Adern schossen. Sie hob die Spritze vom Boden auf. »Beim nächsten Mal sorge ich dafür, dass du auch tot bleibst.«

»Ich verabscheue Gewalt«, rief Matteo ihr nach.

Arthie stieß hinaus in die Nacht, Jin an ihrer Seite. Sie wusste, noch ehe sie hinsah, dass die uniformierten Männer verschwunden sein würden. Nicht weil sie glaubte, dass Matteo Andoni ihnen tatsächlich irgendetwas befehlen konnte, sondern weil sie die schnellen Schritte ihres jungen Läufers erkannte, der durch die Dunkelheit hereilte, zum Alms Place Nummer 337.

Chester tauchte aus dem Nebel auf, mit bebender Brust und nach Luft schnappend, seine Hände umklammerten von außen das Eingangstor. Der blonde Schopf leuchtete im Mondlicht.

»Die Gehörnte Garde ist auf dem Weg zum Spindrift. Eine Razzia.«

Kapitel 2

JIN

Willkommen im Spindrift. Also, Folgendes musst du wissen«, hatte Jin die neue Rekrutin angewiesen, ehe sie an diesem Morgen geöffnet hatten. »Beim siebten Glockenschlag schließt die Teestube ihre Pforten. Niemand kommt mehr rein, alle müssen raus. Gilt für jeden, ganz egal, wie hübsch das Lächeln ist. Du ziehst die Läden vor die Fenster, und dann gehst du nach hinten. Hier, dieses Bücherregal rückst du zur Seite, und dann nimmst du diese Rahmen ab. Und, tada, das Bluthaus hat schon fast geöffnet.«

Das neue Mädchen zitterte. Jin konnte es ihr nicht verübeln.

»Weiter zu den Nischen«, fuhr er fort. Er hatte selbst genug zu tun, aber wer könnte ihr besser erklären, was sie zu tun hatte, als derjenige, der sich alles ausgedacht hatte, Stück für Stück, Einfall für Einfall?

»Nimm diese Vase da runter. Stell sie auf den Tisch, den du von da rechts ausklappst. Dann zurück zum Regal, pack die beiden Riegel links und rechts, und so klappst du das Bett aus. Denk am besten gar nicht drüber nach, was hier passiert. Außer, du stehst auf so was.« Er zwinkerte ihr zu. »Dann wieder raus. Siehst du die Lücke da zwischen Wand und Nische? Da ziehst du die Tür raus und klappst sie zu.«

Er hielt inne, um kurz ihr erstauntes Gesicht zu betrachten. »Schon ist aus der Nische ein Schlafzimmer geworden. Und so machst du das mit allen anderen Nischen auch. Ach, und denk immer an die jeweilige Uniform. Es gibt eine für unsere sittsamen, aristokratischen Gäste, die andere ist ein bisschen verführerischer, für unsere Vampirfreunde, die aus sämtlichen Gesellschaftsschichten zu uns finden.«

Sie folgte ihm durch den Raum, vorbei an den Tischen, auf denen Porzellandosen mit zur Neige gehenden Zuckerwürfeln und Sahnekännchen standen, die aufgefüllt werden mussten. Der Duft nach Tee hing bereits in der Luft. Jin nahm einer vorbeigehenden Serviererin ein Tablett ab und drückte es der Neuen in die Hände, belud es ihr mit Porzellan.

»Jeder zweite Tisch lässt sich wegklappen. Erst einmal zur Hälfte, dann komplett in den Boden, so. Die Stühle kommen an die Wand, und wo du schon mal hier bist, drückst du diesen Hebel nach unten und setzt dich ganz gemütlich hin – das Sofa kommt einfach herausgefahren.«

Jin ließ sich nach hinten fallen und rauschte kurz durch die Luft, während das Sofa sich unter ihm entfaltete. Er legte die Beine hoch und hob die Augenbrauen. »Das ist das Spindrift. Teestube bei Tag, Bluthaus bei Nacht.«

Jetzt, Stunden später, musste all das rückgängig gemacht werden.

Während die Turmuhr zwei schlug, brachen Jin und Arthie durch die Hintertür des Spindrifts, das Schild so makellos wie die Besitzerin, die Backsteine so unerschütterlich wie ihr Ehrgeiz. Das Lokal hätte nicht belebter sein können. Jin hielt inne, wie immer, ließ sich genüsslich in die warme Umarmung schließen.

Arthie warf einen Blick auf ihre Taschenuhr. »Siebzehn Minuten, bis die Friedensfuzzis da sind.«

Sie brauchten nur neun. Vier, um die Kundschaft hinauszukomplimentieren, und fünf, um die Räumlichkeiten wieder in die Teestube zurückzuverwandeln. Das machten sie im Schlaf.

Das Licht war gedimmt, schliff die scharfen Linien, sodass nur noch ein zauberhafter Glanz über der Mitternachtsschar lag: die Untoten, die kamen, um zu schmausen, und die Bluthändlerinnen und Bluthändler, die kamen, um sich bezahlen zu lassen. Arthies Crew lief geschäftig mit glänzenden Karaffen zwischen den Tischen hin und her, füllte Teetassen mit frischem Rot. Vampire saßen behaglich zusammen, führten gedämpfte Gespräche, lachten wohlklingend und kehlig. Einige waren in die Zeitung des Tages vertieft, andere standen in kleinen Grüppchen an den dunklen, holzvertäfelten Wänden, schlanke Schatten vor dem blumenverzierten Damast, der die obere Wandhälfte bedeckte. Am hinteren Ende des Raums schlüpfte ein Vampir mit einer Bluthändlerin in einen der abgetrennten Räume, ein zweites Pärchen trat gerade aus dem Zimmer daneben.

Dies waren nicht die Vampire, die im Athereum und der dazugehörigen elitären und hochnäsigen Gesellschaft ein und aus gingen, doch sie gaben und kleideten sich trotzdem wie echte Lords und Ladys, und das machte Jin nur noch stolzer auf das Spindrift, auf die Anziehungskraft, die er und Arthie aus der Taufe gehoben hatten.

Das Spindrift war mehr als ein Geschäft. Es war ein sicherer Hafen, nicht nur für ihre Crew aus Waisen und Verstoßenen. In Ettenia hatten Vampire seit Jahrzehnten im Verborgenen gelebt, ununterscheidbar von den Lebenden, bis ein Massaker urplötzlich ein sehr helles Licht auf ihre Existenz gelenkt hatte.

Zwanzig Jahre zuvor hatte der Wolf von White Roaring die Straßen terrorisiert und Kehlen herausgerissen, bis rote Rinnsale durch die Distrikte flossen. Obwohl der Wolf nicht von seinen Opfern trank, sondern sie eigentlich nur zerfetzte, sprachen Überlebende von Reißzähnen und einem scharlachroten, brennenden Blick. Er war ein Vampir, nur hatte das zu jener Zeit niemand gewusst, und es war eigentlich merkwürdig, dass der Verantwortliche nie gefasst wurde.

»Fast, als seien diese Angriffe aus einem ganz bestimmten Grund so orchestriert worden«, sagte Arthie hin und wieder.

Schließlich schlug Angst nur zu leicht in Hass um, wenn man sie lange genug schwären ließ. In der Welt hatte es schon immer von Dunkelheit gewimmelt, Ettenia hatte ihr lediglich einen neuen Namen gegeben.

Besonders schwer war das natürlich nicht, schließlich waren Vampire nun einmal Raubtiere – es war fast schon zu einfach. Ein geheimnisvoller Mann, der käufliche Frauen ermordete? Schieb’s einfach den Vampiren in die Schuhe. Eine Frau, die mir nichts, dir nichts ihren treulosen Ehemann umbrachte? Die konnte ja nur untot sein. Wen interessierte es schon, dass die allermeisten Vampire ein vollkommen schickliches Leben führten? Zwar gelang es den wohlhabenderen Vampiren, sich in die High Society einzufügen, ohne dass irgendjemand Verdacht schöpfte, doch der Allgemeinheit blieben eben nur die Schatten und deshalb auch nur eingeschränkter Zugang zu Blut.

Obwohl Vampire sich bei der Ernährung ein wenig zügeln mussten, um ihre Opfer nicht zu schröpfen, waren sie keine wilden Bestien. Sie gingen nicht auf Hetzjagden, wenn sie auch einfach still und heimlich ihre Fangzähne in einen unvorsichtigen Hals schlagen konnten, um sich einen kleinen Imbiss zu genehmigen. Der Wolf von White Roaring war anders – ein Halbvampir, ein Geschöpf, hin- und hergerissen zwischen den Lebenden und den Untoten.

Traditionell wurde ein Vampir geboren, wenn ein Mensch auf der Schwelle zum Tod Vampirblut in sich aufnahm. Ob er zuvor von einem Untoten ausgesaugt worden war oder aus einem anderen Grund starb, spielte dabei keine Rolle: Solange man in diesen wertvollen Sekunden genug Vampirblut trank, war es geschehen.

Mit Halbvampiren jedoch verhielt es sich anders. Sie bekamen Vampirblut, während sie noch am Leben waren, und oftmals gegen ihren Willen, womit sie all die Lebenskraft der Lebendigen besaßen und noch ein wenig mehr, sodass sie ihren Schmerz an den Unschuldigen auslassen konnten, ohne es auch nur zu bemerken.

Sie waren schwächer als ihr Gegenstück, aber, genau wie ein Mensch, noch immer in der Lage, zu einem richtigen Vampir zu werden. Sowohl Vampire als auch Halbvampire brauchten Blut zum Überleben, keine der beiden Arten besaß ein Spiegelbild. Richtige Vampire warfen keinen Schatten, Halbvampire schon. Und anders als vollwertige Vampire, die im Alter ihrer Wandlung eingefroren wurden, alterten Halbvampire sehr viel langsamer als Menschen – bis zu einem bestimmten Punkt.

Hier im Spindrift jedoch konnten Vampire trotzdem ganz sie selbst sein, zumindest für eine Weile. Jin knallte die Spitze seines Regenschirms auf die Dielen und zog die Aufmerksamkeit aller im Raum auf sich. Scharlachrote Augen wendeten sich ihm zu, ein Zeichen von Vampiren, die sich satt getrunken hatten.

»Zum Ende kommen, bitte«, verkündete Arthie. »Das Spindrift schließt in zehn Minuten.«

Das gedämpfte Treiben erhob sich zu einem leisen Summen. Vampire waren eher gelassene Zeitgenossen, die sich nicht leicht aus der Ruhe bringen ließen. Da sie über ein schärferes Gehör verfügten und sich viel schneller bewegen konnten als Menschen, war das auch kein Wunder. Einige hoben die Hand, um sich eine letzte Teetasse voll Blut bringen zu lassen – viele fragten nach Jins einzigartiger Kokosnuss-Blut-Mischung, die im Spindrift schon seit Längerem aus war –, andere erhoben sich gleich, seufzten gesättigt, zogen die Reißzähne ein und drückten keusche Küsse auf den Handrücken des Gegenübers.

Jin und Arthie machten sich ans Werk.

»Willst du mir mal sagen, was das vorhin bei Matteo Andoni eigentlich sollte?«, fragte Jin, während er die Läden vor den Fenstern schloss.

Sie entdeckte einen dunklen Fleck und warf jemandem einen Mopp zu. »Du hast ihn erschossen.«

»Weil du diesen Ton aufgesetzt hast«, sagte Jin, während Arthie einer ihrer beliebteren Bluthändlerinnen zunickte, die gerade sehr spärlich bekleidet an ihr vorüberging.

Die meisten derer, die mit ihrem Blut handelten, zogen eine große, gläserne Spritze auf und ließen es dabei bewenden, doch diese hier bot ihre Dienste in den abgetrennten Räumen an, wo Vampire direkt aus der Quelle trinken konnten. Der Rausch, den die Vampirzähne auslösten, und was auch immer sonst in diesen Räumen vor sich ging, hatte wohl seine Vorzüge, nahm Jin an.

»Was für ein Ton?«, fragte Arthie und nahm eine Karaffe von einem Tisch. Ihre Augen warfen das Scharlachrot des Bluts darin zurück.

Jin zog die Brauen hoch. »Der mir gemeinhin sagt: ›Jin, bitte erschieß diesen wunderschönen Mann.‹«

»Na ja, du kannst mich wohl schlecht für deine mangelnden Moralien verantwortlich machen.«

»Der Plural von Moral ist Moralen –«

»Du weißt ganz genau, dass ich all das und noch einiges mehr in zwei weiteren Sprachen sagen kann, die beide sehr viel mehr Buchstaben haben als Ettenisch, also keine Belehrungen, Jin«, fauchte sie.

Er zog überrascht den Kopf zurück und sah sie an.

Arthie hielt ebenfalls kurz inne, ehe sie sich einen Lappen schnappte. »Und guck nicht so.«

»Dieser Matteo scheint dich ja wirklich ziemlich aufgewühlt zu haben, was?«, fragte Jin und hielt ein Lachen zurück. Zugegeben ziemlich süß, wie Arthie sich hier echauffierte, nur weil Matteo ihr ein Grübchen gezeigt und sie mit der Andeutung einer Liebesgeschichte aufgezogen hatte.

»Aufgewühlt«, grummelte sie und ließ ihre Taschenuhr zuschnappen.

Jin klatschte in die Hände und wandte sich an die verbliebenen Gäste. »Tut mir leid, dass wir die Nacht heute etwas eher beenden müssen, werte Freunde, aber wenn Sie nun freundlicherweise das Lokal verlassen würden, wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.«

Stuhlbeine kratzten über den Boden, Münzen klimperten. Die letzten Vampire traten durch die Hintertür, nickten zum Abschied, hoben die Hände und tippten sich gegen den Hut. Alle hatten einen Herzschlag, einen rosigen Hautton. Gut genährte Vampire waren den Lebenden so ähnlich wie nur möglich.

Es dauerte drei Minuten und neunundvierzig Sekunden, bis alle das Lokal verlassen hatten, und dann brach das eigentliche Chaos aus.

»Reni!«, bellte Arthie. »Tee!«

Reni brühte guten Tee. Immer perfekt gezogen, stets die richtige Färbung. Der einzige Grund, weshalb Arthie ihn in den Morgenstunden in den Schankraum ließ, wo er doch selbst Blut bevorzugte. Ein komischer Kauz. Mehrere Kessel mit frischem Wasser wurden auf den Herd gestellt, einige pfiffen bereits, und geübte Hände gossen dampfenden Tee in große Schalen, um den Blutgestank zu überdecken.

Ein Rhythmus, der Jin durch die Adern floss.

»Beeilung«, rief Arthie, schob das Bücherregal an seinen Platz zurück und verschloss die Hintertür. »Lass das so, schließ vorne auf. Chester, die Gläser. Ihr drei, Uniformen an, und ihr anderen verkrümelt euch.«

Dass das Spindrift ein Bluthaus war, war kein Geheimnis. Ganz White Roaring wusste es. Die Crew wusste es. Jedes Mitglied der Gehörnten Garde wusste es. Doch der Unterschied lag im Beweis begründet: Es gab keinen. Bis auf diese Spritze in Matteo Andonis Besitz natürlich. Jin hatte noch immer keine Ahnung, wie er daran gekommen war. Nur die Crew durfte die Instrumente zum Blutlassen anfassen, und zwar ausschließlich mit größter Vorsicht und Sorgfalt.

»Felix, hol die Spiegel«, befahl Arthie, während Jin ihr Kanülen voll Blut und die Bündel sterilisierter, chirurgischer Instrumente reichte, damit sie alles unter den Dielen nahe der Vordertür verstaute.

Alle paar Wochen ließ sich die Gehörnte Garde etwas Neues einfallen: groß angelegte Razzien, angeblich falsch ausgefüllte Dokumente, um ihre Tee- und Kokosnusslieferungen zurückzuhalten, De-facto-Diffamierungen in den Zeitungen.

»Vielleicht sollten wir deine Pistole verstecken«, schlug Jin vor, während er den Tresen abwischte. Sicher, alle wussten über diese Pistole Bescheid. Doch es war das eine, davon zu wissen, etwas ganz anderes jedoch, sie unter die Nase gehalten zu bekommen. Er warf einen Blick auf den schwarz glänzenden Griff, in den filigrane Muster geätzt waren, die der Waffe ein ätherisches Aussehen verliehen, und der einst ganz verschmiert gewesen war von den Fingerabdrücken derjenigen, die versucht hatten, die Pistole aus dem Stein zu befreien, mithilfe von Meißeln und Äxten und allen möglichen anderen Gerätschaften.

Dabei hatte es doch nur der kleinen Hände eines kleinen Mädchens von einer kleinen Insel in weiter Ferne bedurft. Ein Mädchen, das vom Unrecht getroffen, betrogen und verschleppt worden war.

Arthie sortierte die Rechnungen der Nacht weg und sah ihn an, als sei ihm auf dem hastig zurückgelegten Weg hierher der Verstand verloren gegangen. »Es sind doch nur normale Gardisten, Jin. Seit wann haben wir Angst vor denen?«

Aber Matteos Worte klangen ihm noch sehr deutlich in den Ohren. Irgendetwas an dieser Nacht hatte auch Jin aufgewühlt, und es lag ganz sicher nicht an den Grübchen dieses Künstlers.

»Aber mit jeder Razzia schicken sie einen höheren Dienstgrad«, wandte er ein.

Arthie machte diese Sache mit ihrem Gesicht, ein abschätziger Ausdruck, ein Mundwinkel nach hinten gezogen. »Fang jetzt nicht an, dein Handwerk zu hinterfragen.«

Alle sahen die Verwandlung des Spindrifts mit den zahllosen Steck-, Schiebe- und Klickmechanismen als selbstverständlich an. Aber nicht Arthie. Sie vergaß niemals die Wochen der Arbeit, bis alles funktionierte, wie viel es Jin abverlangt hatte. Arthie vergaß nie etwas.

Als Jin sieben Jahre alt gewesen war, hatte er sich eine Schwester gewünscht. Und als er elf gewesen war, hatte sie ihn aus der Umarmung des Todes gelöst. Jin erinnerte sich daran, wie er zu ihrer dürren, schmutzigen Gestalt hochgeblinzelt hatte, die Art Mensch, auf die sein Vater – in glänzenden Schuhen und in feinste Wolle gekleidet – aus dem Kutschenfenster gedeutet und gesagt hätte: »Siehst du, diesen Menschen wirst du eines Tages helfen, kleiner Reiher.«

Sein Vater hatte nicht mehr miterleben können, wie die Rollen getauscht wurden.

Sie war, schlicht gesagt, ein Sturm in einer Flasche, winzig und vor sich hin schwelend, aber jederzeit bereit, alles zu verschlingen. White Roaring hatte sie abgewetzt wie eine scharfe Klinge, und ihren Verstand gleich mit.

Wie weit sie doch gekommen war, von dem kleinen Mädchen in Lumpen bis zu dieser Herrin in maßgeschneidertem Anzug, Schiebermütze über dem dichten, malvenfarbenen Haar, Nadelstreifenweste, die sich eng um das gestärkte Hemd schloss, die Manschetten sauber, der Kragen aufgestellt, das Sakko stets offen, denn schließlich habe ich keinen Stock im Arsch. Das Sakko passte zum tief hängenden Gürtel, leicht schräg über den Hüften, sodass die Pistole immer voll zu sehen war.

»Gibt’s was Neues zu den Kokosnüssen?«, fragte Arthie, als Jin nach einer Bürste aus Kokosfaser griff, um einen besonders hartnäckigen Blutfleck zu bearbeiten. Aus Kokosbast ließen sich wirklich exzellente Bürsten herstellen.

Das Spindrift importierte Tee und Kokosnüsse aus Arthies Heimatland Ceylan, aber eine Fäule hatte die Ernte auf der ganzen Insel befallen, und sie hatten ihr Kokosnusslager schon seit Monaten nicht mehr auffüllen können.

Jin schüttelte den Kopf. Er hätte schwören können, dass Arthies Augen ein wenig an Licht verloren, während sie die Dosen mit losem Tee in ordentliche Reihen rückte. Sie hatten eine große Auswahl, angefangen bei einfachen, robusten schwarzen Tees bis zu zarten weißen Tees und auserwählten Mischungen, die mit Früchten und anderen Aromen versetzt waren – allerdings weigerte sich Arthie strikt, irgendeine Abscheulichkeit im Spindrift aufzubrühen, die nicht wirklich Tee war, so etwas wie Kamille oder Pfefferminz.

»Immerhin ist unser Tee sicher, hm?«, sagte er. Ohne Tee keine Teestube. Kokosnüsse nutzten sie lediglich, um den Gästen des Bluthauses etwas mehr zu bieten.

»Und noch immer keine Nachricht von unseren Palastspitzeln. Pol hat wohl gehört, der Palast könnte komplett abgeriegelt werden«, sagte Jin. Sie hatten ein Netzwerk aus Dienerinnen und Dienern und anderem Palastpersonal, die bereit waren, Geflüster gegen bare Münze einzutauschen, doch seit fast zwei Wochen hatten sie von niemandem im Palast mehr etwas gehört.

»Der Palast wird abgeriegelt?«, fragte Arthie und hob überrascht die Augenbrauen.

Jin nickte. Er wusste nicht, ob das bedeutete, dass der Widder sich Sorgen machte, jemand könne hineinkommen oder hinausschlüpfen.

»Sie sind fast da!«, rief der Späher über das Gepolter der sich verschiebenden Tische und das Geklapper von Teetassen hinweg.

Jin verspannte sich.

»Dulce periculum, Bruder«, erinnerte Arthie ihn und hob den linken Arm.

Er schlug mit seinem Handrücken gegen ihren. Ihre Knöchel rieben aneinander. »Du und ich, wir wurden für Ärger geschaffen.«

Schatten krochen über die Milchglasscheiben in der Tür, genau in dem Moment, als das letzte Sofa in der Wand verschwand und der Rest der Crew aus dem Schankraum huschte. Jin riss den zusammengeklappten Tisch aus dem Boden, wo eben noch das Sofa gewesen war, und trat dann rasch hinter den Tresen. Arthie blieb vor ihm stehen.

Die Türen flogen auf, ohne dass zuvor jemand anklopfte, und uniformierte Gardisten traten ein. Der silbern gestickte Umriss eines grausam gehörnten Kopfs prangte auf ihrer Brust. Das Zeichen des Widders, Ettenias maskiertem Monarchen.

Eine Serviererin stolperte vor. »Hallo, die Herren. Darf ich Ihnen eine Tasse von White Roarings bestem Tee anbieten? Royal Ettenian ist mein persönlicher Favorit.«

Die Gardisten sahen verblüfft aus. Keine Teestube mit ein wenig Selbstachtung hätte um diese Zeit überhaupt noch geöffnet, doch Arthie machte es Spaß, sie ein wenig zu überrumpeln, sie etwas zu verwirren und abzulenken, sie zu verhöhnen mit dem, was sie längst wussten – vor allem, da die Alternative unangenehmes Schweigen gewesen wäre.

»Versuchen Sie den Ceylani Supreme. Der beste Tee im ganzen Land«, rief ein anderes Mitglied ihrer Crew und sah vom Spülbecken auf. »Ganz zu schweigen von der Stadt.«

»Ich nehme immer den Crimson Gem«, sagte ein drittes und lehnte sich weit vor. »Nichts kommt an einen guten, gewürzten Pekoe heran.«

Wäre Arthie ein Tee, dann dieser. Er wurde mit höchster Sorgfalt gebraut und zog mit einer genau abgemessenen Dosis Gewürze, die seine erdigen, rauchigen Untertöne hervorhoben, während sich die Blätter entfalteten. Dieser Tee verlangte Perfektion, nahm nur das Beste auf und bestrafte alles andere – mit regelrechter Bitterkeit.

»Gentlemen.« Wie aufs Stichwort neigte Arthie den Kopf.

Jin konnte nur die Rückseite von Arthies malvenfarbenem Kopf sehen, aber er wusste, dass sie ein rasiermesserscharfes Lächeln aufgesetzt hatte. »Lärmbeschwerde? Absolut verständlich, das Geklapper von Teetassen um zwei Uhr morgens ist sicher ein wenig … aufdringlich. Aber wir haben immer viel aufzuräumen und vorzubereiten für die morgendlichen Gäste.«

Der Anführer warf sich in die Brust und stampfte auf sie zu. Seine Uniform war von einem hellen Grau und stand in starkem Kontrast zu dem Pechschwarz der anderen. Wenn der wüsste, dass alle Beweise, die diese Dummköpfe brauchten, unter den Dielen zu seinen Füßen lagen. »Du hältst dich wohl für einen König, Casimir. Wie du dich dem Gesetz widersetzt.«

»Hast du das gehört, Jin? Jetzt bin ich schon König Arthie.« Sie wandte sich wieder den Gardisten zu. »Gesetze, durchgesetzt von Männern wie Ihnen? Die große Worte hinkritzeln, die sie zu verstehen glauben? Gesetze, die all jene zu Bösewichten machen, die nicht ganz so bleich sind wie ihr?« Sie lehnte sich zurück, schlang lässig einen Arm über den Tresen. Er war wirklich furchtbar bleich. »Nein, Sergeant. Ein Gesetz, das mich nicht sieht, kann ich auch nicht brechen.«

Da hatte sie recht. Ettenische Gesetze wurden für den weißen Mann gemacht, meist auf Kosten jener, die nicht ebenso blass waren. Darum konnte jemand wie Matteo Andoni ein vollkommen anderes Leben führen als jemand wie Arthie.

Die Miene des Sergeants hellte sich auf vor Eifer. »Da hab ich wohl einen Nerv getroffen, was? Wie ich höre, habt ihr hier Schwierigkeiten, eure Miete zu zahlen. Das ist das Problem mit Leuten wie euch an einem Ort, wo man Regeln befolgen muss. Angeblich nur noch eine Frage der Zeit, bis du und deinesgleichen vor die Tür gesetzt werdet.«

Jin zog die Stirn kraus. Sie hatten bisher jede Miete gezahlt, und zwar pünktlich.

»Dann sollten Sie sich vielleicht mal die Ohren waschen, wenn Sie solche Dinge hören«, sagte Arthie, ohne irgendetwas preiszugeben.

»Ach ja? Warum siehst du dann so aus, als wolltest du mir gleich an die Gurgel springen?«, fragte der Sergeant mit einem hämischen Grinsen.

»Ach, das ist nur mein Gesicht«, gab Arthie zurück. »Man entwickelt eine Vorliebe für Blut, wissen Sie, wenn man gezwungen ist, die eigenen Wunden zu lecken.«

Einen Moment lang starrte der Sergeant sie nur an, suchte wohl nach einer guten Antwort, dann ruckte er einfach nur mit dem Kopf in Richtung seiner Männer. »Durchsucht den Laden.«

Jin zuckte zusammen, als erst ein Tisch und dann ein Stuhl gegen eine Wand geschleudert wurden, gefolgt von mehreren Hockern. Die Männer führten sich auf wie auf einem Spielplatz, rissen die Bodenbretter nahe den abgetrennten Räumen hoch, die jetzt wieder Sitznischen waren. Einer steckte den Kopf in das Loch und kam mit leeren Händen zurück zu seinem Anführer.

»Ich habe nicht gesagt, dass ihr hier alles kurz und klein hacken sollt«, sagte der Sergeant erschöpft. »Wenn ihr die Dielen hochnehmt, klopft den Boden erst nach einer hohlen Stelle ab.«

»Wie rücksichtsvoll«, kommentierte Jin und senkte dann die Stimme, um Arthie zu fragen: »Wovon redet der, seit wann kommen wir mit der Miete nicht nach?«

Arthie antwortete nicht. Etwas zersprang lautstark.

Jin seufzte und hob das Kinn in Richtung der wütenden Männer. »Braucht ihr Hilfe da drüben?«

Mit einem höhnischen Grinsen ließ sich einer der Männer nahe der Eingangstür auf die Knie sinken und klopfte den Boden mit den Knöcheln ab. Selbst hier, hinter dem Bartresen, hörte Jin das verräterische Echo.

Der Sergeant sah Arthie an.

Arthie erwiderte seinen Blick. »Bitte sehr. Ich werde Sie nicht aufhalten.«

Aber Jin wollte ihn aufhalten. Er wollte, dass sein Leben unbeschadet blieb. Er wollte, dass das Spindrift unbeschadet blieb, und das war im Grunde dasselbe.

Der Sergeant rammte die Klinge seines Messers zwischen die abgetretenen Dielen.

»Drück Schalter zwei«, murmelte Arthie Jin zu.

Matteo Andoni hatte ihr offensichtlich gehörig zugesetzt, wenn sie allen Ernstes glaubte, damit jetzt noch etwas reißen zu können. Eine Glühbirne platzen zu lassen, das war wirklich der älteste Trick. Noch dazu der albernste. Amateurhaft.

»Jin«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne.

Eines Tages würde sie ihn noch umbringen, und dann wäre er zu tot, um sich noch darüber zu beschweren.

Er drückte den Schalter, den er vor langer Zeit dort angebracht hatte. Eine der Glühbirnen über ihren Köpfen sirrte und fauchte leise. Die Männer sahen auf, als das Licht grell pulsierte und die Birne erst beunruhigend summte und schließlich platzte und Glas auf die Männer herabregnen ließ. Der Draht schwang traurig hin und her, und der Sergeant schnipste Glasscherben von seiner Uniform und machte sich ungerührt wieder an die Arbeit.

Großartig, das hatte ja wirklich überhaupt nichts gebracht. Jetzt war es einfach nur ein wenig dunkler im Raum.

»Geduld, Jin«, sagte Arthie, als er ihr einen verzweifelten Blick zuwarf. An die Männer gerichtet, sagte sie wie nebenbei: »Entschuldigen Sie bitte, aber Sie wissen ja, wie es in diesem Teil von White Roaring ist. Der Strom kann hier sehr unbeständig sein.«

Denn dies war der Teil White Roarings, der von der Gesellschaft ausrangiert worden war, wo der Schuss aus einer Waffe so alltäglich war wie das Wiehern eines Pferds. Das Spindrift saß ganz am Rand, halb aussätzig, halb Oberschicht, erhob es sich über den Trümmern seiner Umgebung, mit der Kraft seines puren Willens. Mit jedem neuen Geheimnis, das einem ihrer Gäste entschlüpfte, sortierte Arthie ein weiteres hohes Tier in ihr Arsenal, verwandelte den Slum in ein eigenes Königreich, und das Spindrift saß als Krone auf all dem.

Und dem Widder, das belegten die ständig neuen Razzien, war das offenbar nur allzu bewusst.

Und doch, jetzt, da nur noch wenige Herzschläge die Gardisten von den Beweisen trennten, die sie alle an den Galgen bringen würden, schien Arthie gelassener denn je.

Der Sergeant riss die Bretter hoch. Für einen langen Moment herrschte Stille, dann murmelte er etwas, ehe die Männer sich wieder erhoben, und Jin sah, dass der Hohlraum unter den Dielen … tatsächlich einfach nur hohl war. Keine Kanüle, keine Blutphiole, obwohl er doch selbst gesehen hatte, wie Arthie sie erst vor ein paar Minuten in ebendiesem Loch verstaut hatte.

»Scheint, als hätten Sie sich die Nacht für nichts und wieder nichts um die Ohren gehauen«, frohlockte Jin und stützte das Kinn in die Hände.

»Hab ich doch gesagt«, murrte einer der Gehörnten Gardisten und gähnte laut.

Der Sergeant warf ihm einen bösen Blick zu, dann fasste er Arthie ins Auge. »Du hältst dich für so –«

Doch Arthie schnitt ihm das Wort ab, indem sie ihm die Tür aufhielt. »Was auch immer Sie sagen wollten, Sergeant. Ich halte mich nicht nur dafür, ich bin es.«

So unbeständig wie der Strom war auch die Macht, und in der wankelmütigen Landschaft von White Roaring waren die Casimirs unantastbar.

Kapitel 3

ARTHIE

Verschütteter Tee und gesprungene Tassen waren besser als eine Gefängniszelle, und so machte die Crew sich in bester Laune ans Aufräumen. Arthie verriegelte die Türen und beobachtete, wie sich die Kutsche, nur ein verwischter Fleck hinter der Milchglasscheibe, die Straße hinunter entfernte.

»Dann erzähl doch bitte mal, was mit unserem Kram passiert ist«, sagte Jin, den dunkelgrünen Mantel über den Arm gelegt. Jemand reichte ihm eine Tasse Tee, und er atmete den kräftigen Duft ein, das süßlich-stechende Aroma von Bergamotte und weichem Lavendel. Lady Slate mochte er am liebsten. Der Tee passte zu ihm, so elegant und gepflegt wie er.

»Ja, Boss, wo ist denn alles hin?«, fragte auch Chester, und die anderen hielten in ihrer Arbeit inne, um zuzuhören. Chester hatte noch nicht einmal richtig laufen können, als er zu Arthie und Jin kam, und er hatte nie etwas anderes als das Spindrift gekannt.

»Ist alles noch da.« Arthie nahm abermals das Bodenbrett hoch und holte Felix’ Spiegel hervor, die an zwei Seiten des Hohlraums gesessen hatten. Und dahinter, ganz an den Rand geschoben, kam das Bluthaus-Bündel zum Vorschein. Arthie hob die Spiegel. »Wisst ihr noch?«

»Hast du mir gar nicht gesagt«, sagte Jin stirnrunzelnd und setzte die Teetasse kurz auf der Untertasse in seiner anderen Hand ab. Arthie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen, als er die Tasse mit abgespreiztem kleinem Finger an die Lippen führte und ein weiteres Schlückchen nahm.

»Und warum dann die geplatzte Glühbirne?«, fragte Reni griesgrämig und ruhig wie immer.

Arthie reichte ihm die Spiegel. »Weil jeder halbwegs brauchbare Gardist den Trick mit dem Spiegel sofort durchschaut hätte. Aber als sie aufgeblickt haben, hat das flackernde Licht sie gerade genug geblendet, damit sie nichts bemerkten.«

Alle nickten anerkennend.

»Aber diese Kohlköpfe waren echt nah dran!«, rief Chester. Es wurde immer brenzliger. Das sprach niemand laut aus, doch die gesamte Crew wusste es.

Obwohl Ettenia von einem Königreich zu einem Imperium geworden war, war das regierende Oberhaupt geblieben.

Niemand wusste, wie der Rat die maskierten Monarchen wählte, und niemand kannte die Gesichter hinter der jeweiligen Maske. Vor dem Widder kam der Adler, und davor der Fuchs, und jeder von ihnen hatte grenzenlose, unkontrollierte Macht besessen.

Der Widder war dennoch anders, denn er hatte sich die Angst vor Vampiren zunutze gemacht, verschärfte die Vampir-Mensch-Gesetze und sprach laut aus, was jeder Ettenier befürchtete. Und dazu hatte er nichts weiter tun müssen, als die Existenz von Vampiren anzuerkennen, während vorherige Monarchen sich zu diesem Thema stets ausgeschwiegen hatten. Nie hatte das ettenische Volk bereitwilliger eine ihnen vollkommen unbekannte Person die Krone tragen und über ein Land herrschen lassen, das nach und nach die ganze Welt an die Leine nahm.

Doch Arthie würde nicht zulassen, dass der Widder das Spindrift so kontrollierte wie Ettenia seine Kolonien.

»Niemand wird uns das Spindrift wegnehmen.« Sie traf Jins Blick, erriet seine Gedanken. »Und nein, Jin, nicht einmal unser Eigner.«

Ein Problemchen, um das sie sich noch in dieser Nacht kümmern würde.

Das Spindrift war nur ein Rädchen in ihrem ganz persönlichen Vergeltungsgetriebe für das, was dieses Land ihr angetan hatte. Es war kein Zufall, dass sie ihr Geschäft auf Teeblättern aufgebaut hatte, nachdem die Ettenier ihre winzige Insel Ceylan gefunden und nach ihrem Gutdünken kultiviert hatten. Die Leben, die die ettenischen Soldaten in ihren roten Uniformen nicht mit eigenen Händen gestohlen hatten, wurden später gefordert, entweder von Krankheit oder von den Folgen der Entwaldung, die Erdrutsche und Flutkatastrophen über ein Land brachte, das auf diesen Zorn einfach nicht vorbereitet gewesen war. Und das alles nur, um Platz zu schaffen für Kulturpflanzen wie Kautschuk und Tee.

Sie nahmen sich Ceylan und nannten die Insel Kolonie, als wäre das ein Ehrentitel, dabei hatten sie sowohl aus Land als auch aus Leuten einfach nur Besitztümer gemacht und sich selbst für ihre Boshaftigkeit gepriesen, ein ums andere Mal.

Wenn die Bleichnasen das Blut ihrer Landsleute ausbeuteten, um Gewinn daraus zu schlagen, dann würde Arthie sie in ihrem eigenen Land dafür zahlen lassen, ihre Geheimnisse einstecken und ebenso viel Chaos anrichten wie sie – so gut sie eben konnte.

Vermutlich war das Spindrift nicht einfach nur Teil ihres Rachefeldzugs, sondern das Herzstück – obwohl Calibore nah drankam.

So weit das ettenische Gedächtnis zurückreichte, hatte ein steinerner Sockel inmitten des White Roaring Square gestanden, und darin steckte eine Pistole, unbeweglich. Zeit und Alter hatten ihre stets glänzende Oberfläche mit Legenden und Gerüchten umsponnen. Märchen vielmehr, von verzweifelten Zungen gesprochen, aus Verzweiflung geboren.

Wer Calibore befreit, wird uns erretten. Wer Calibore führt, ist Ettenias einzig wahres Oberhaupt.

Arthie wurde mit diesen Zeilen nicht beschrieben, sie war einfach nur ein aufmerksames Mädchen. Schwierig, an Märchen zu glauben, nachdem sie einen Albtraum durchlebt hatte, aber es stellte sich heraus, dass Legenden gut fürs Geschäft waren.

Die Pistole hatte Ettenias Wirtschaft einen neuen Markt beschert. Händler verkauften alles Mögliche, von Glücksbringern bis zu Salben, die einen guten Griff versprachen. Doch erst als Arthie einen solchen Händler durch mehrere dunkle Gassen bis zum herrschaftlichen Anwesen eines Funktionärs verfolgte, wurde ihr klar, dass die Monarchie ihre Finger im Spiel hatte.

Ein Strom von Besuchern bedeutete fließendes Geld und gezahlte Steuern, und in diesem Komplott war Ettenia der ultimative Strippenzieher. Mit Jin im Schlepptau hatte Arthie beobachtet und gewartet, bis der White Roaring Square vollständig von Spalier stehenden Gehörnten Gardisten abgesperrt und die Pistole von zwei Männern problemlos aus einer versteckten Haltevorrichtung gezogen wurde, ganz offensichtlich zu Wartungsarbeiten. Calibore war ein Schwindel: Die Pistole war künstlich fixiert worden, um hoffnungsvolle Ettenier auszunehmen. Und doch war die Waffe etwas Besonderes; silbern und sonderbar, mit einer einzigen Kugel in der makellosen Kammer. Nicht von dieser Welt, das ja, doch keine Legende hielt sie an Ort und Stelle.

Hätte Arthie nicht mit eigenen Augen gesehen, was Ettenia ihren Landsleuten angetan hatte, vielleicht hätte sie sich dann bei dieser Enthüllung ebenso betrogen gefühlt wie Jin. Stattdessen verspürte sie Freude, so einschneidend, so akut, dass sie sich selbst heute, fast ein Jahrzehnt später, noch genau daran erinnerte.

Arthie war nicht wie Jin, dessen Eltern die Einwanderung für ihn übernommen hatten, die Dornen unter seinen Schuhen gestutzt und die Dolche stumpf gemacht hatten, die jedem entgegensirrten, der anders war. Arthie war vor über einem Jahrzehnt in einem Boot nach Ettenia gekommen. Allein und hungrig hatte sie sich in keiner der ihr bekannten Sprachen verständlich machen können. Sie konnte nur beobachten.

Es hatte Wochen gedauert, bis sie zu schwindeln gelernt hatte und das Spiel beherrschte, das jeder Mann mit glänzenden Schuhen und Koteletten ein »gutes Geschäft« nannte. Sie war noch immer ein Kind, aber wer die Grausamkeit der Welt mit eigenen Augen gesehen hatte, wurde selbst ein wenig grausam.

Eine Unzahl an Leuten musste involviert sein, um eine derart komplexe, erlogene Legende wie die um Calibore aufrechtzuerhalten, und Arthie fand genügend auskunftswillige Münder und geheime Vergangenheiten, die sie gegen das eintauschen konnte, was sie haben wollte: Informationen über den jahrelangen Schwindel. Jin kümmerte sich um den Rest, erklärte ihr, warum ein bestimmter Winkel morgens besser war als am Nachmittag, während er ihr eine Kokosnuss mit Strohhalm in die Hand schob und ihren Plan perfektionierte.

Nach Tagen der Vorbereitung wurde der White Roaring Square zu ihrem ersten Ziel, und sie würde niemals vergessen, wie die Menschen sie im nachmittäglichen Licht ansahen.

Das Mädchen, das eine Pistole aus Gips zog. Sie war staubig und schmutzig, aber das war ihr egal. An diesem Tag hatte sie einen Sinn für sich gefunden. Die Gehörnte Garde, die um Calibore herum Wache stand, sah aus, als wollte sie sie festnehmen, aber kein Gesetz besagte, dass die Pistole zurückgegeben werden musste, nachdem sie endlich befreit worden war.

Die Pistole gehörte ihr.

Die Waffe hatte nicht auf den göttlichen Griff gewartet. Sie war nicht von einem lang vergessenen Zauberer für einen zukünftigen König dort hinterlassen worden. Die Pistole war einfach nur eines von vielen Artefakten, die Ettenia an sich gerissen hatte. Ettenia sammelte Trophäen für die Errungenschaft, Länder zu zivilisieren, die niemals um eine Neudefinition dieses Wortes gebeten hatten.

Genau wie ihre tote Familie, ihre toten Nachbarn und ihr geplündertes Land konnte Arthie davon ein Lied singen. Mit Handel fing alles an, doch jeder ettenische Bürger kam mit einer schier unfassbaren, wahnhaften Vorstellung von Überlegenheit auf die Welt, in der die Worte handeln und nehmen Synonyme waren. Ettenia eroberte, und dann kam die East Jeevant Company und nahm sich einfach, was sie wollte.

Ohne den Calibore-Schwindel hätte Arthie niemals ihre wahre Berufung gefunden: Rache. Sie wäre weiter in ihrer eigenen Haut gefangen geblieben, wäre ihrem Schmerz nicht entkommen, hätte ihre Wut nicht entfesseln können. Und seitdem wartete die Gehörnte Garde jeden Tag darauf, dass sie einen Fehler machte, den falschen Mann erschoss oder das richtige Dokument stahl – was auch immer nötig wäre, um sie endlich festzunehmen und einzusperren.

Doch statt dem Gesetz zu folgen, bog sie es sich zurecht. Sie trug vielmehr Ungehorsam als eine Waffe – und war das nicht sowieso ein und dasselbe?

Jin nahm seinen Regenschirm und reichte Arthie ihren Mantel.

»Statten wir unserem Eigner einen Besuch ab?«, fragte sie.

Er nickte. »Wir sollten ihm wohl mal ein paar Fragen stellen.«

Arthie klappte den Kragen hoch, als die Tür hinter ihnen zuschwang und den Lärm im Innern des Spindrifts dämpfte.

Jin zog seine liebsten Handschuhe mit offenem Handrücken über und seufzte wehmütig, als sie an dem verlassenen Lagerhaus vorübergingen, in dem früher ihre Fälscherin gearbeitet hatte, ein zweistöckiges Gebäude, das sich zum Wasser hin neigte wie Unkraut, das sich dem Sonnenlicht entgegenstreckte.

Im Licht der Gaslaternen auf der anderen Straßenseite warteten Huren auf Freier, Rauch züngelte von den Zigarren zwischen ihren Fingern in den Himmel, ihre unbereiften Röcke sahen ebenso abgemagert aus wie die meisten Menschen auf dieser Seite White Roarings. Jungen mit tief in die Stirn gezogenen Mützen strichen durch die nächtliche Menge und erschwindelten sich ein paar Duvin. Arthie entdeckte vier Stammgäste des Bluthauses, die hier nicht weiter auffielen.

Dank des Spindrifts mussten sie nicht in den Straßen auf die Jagd gehen und dabei riskieren, dass ihre Opfer starben, oder – noch schlimmer – aus dem Nebel, der einem Vampirbiss folgte, wieder aufwachten und eine Beschwerde wegen nicht einvernehmlichen Trinkens bei der Gehörnten Garde vorbrachten. Im Spindrift zahlten Vampire Menschen für ihre Dienste.

Transaktionen, das hatte Arthie gelernt, vereinfachten alles. Niemand tat irgendetwas für nichts, und sie hielt es genauso.

Ob sie mahnend eine geheime Affäre vor jemandem baumeln ließ, damit eine unlizenzierte Lieferung durchgewinkt wurde, oder einen Funktionär an ein uneheliches Kind erinnerte, damit man sie vor einer Razzia warnte; Arthie hatte so ziemlich alles in ihrer Tasche – Münzen, Geheimnisse und einflussreiche Leute, sehr zur Betrübnis aller, die auf der glänzenderen Seite von White Roaring lebten.

»Wie macht sich die Neue?«, fragte sie. Ein Banner, das die Eröffnung eines weiteren, neuen Geschäfts ankündigte, flatterte über ihnen in der Brise.

»Das wird«, antwortete Jin. »Ich glaube, sie wird sich gut machen.«

»Hübsch heißt nicht fähig. Bleib vorsichtig.«

»Weißt du, vielleicht solltest du mal etwas mehr vor die Tür gehen und dir jemanden suchen«, sagte Jin nach einer kleinen Pause. Vor zehn Jahren hätte er so etwas niemals gesagt. Der verwöhnten Göre aus vornehmen Kreisen, die er damals gewesen war, hatte es überhaupt nicht behagt, ohne Anstandsdame mit der neunjährigen Arthie herumzulaufen, einfach nur, weil sie ein Mädchen war. Aber auf dieser Seite von White Roaring drehte sich die Welt ein wenig anders. »Such dir ein kleines Techtelmechtel.«

Arthie warf ihm einen fragenden Blick zu. Sie war nicht wie er. Sie war keine Herzensbrecherin; sie brach andere Dinge, Gesetze, Verträge und Knochen.

»Wie die Bleichnasen sagen, du bist wirklich sehr hübsch für eine Ausländerin. Matteo jedenfalls schien das –«

Ihr Gesicht wurde warm. »Kein. Weiteres. Wort.«

Jin lachte, und als sie nichts erwiderte, wurden seine Züge weicher. »Entspann dich, Arthie. Was auch immer der Widder uns entgegenschleudert, wir werden es schon abwehren. Wir machen uns keine Sorgen. Wir machen die Sorgen.«

»Und wenn der Eigner kompromittiert wurde?« Sie war nur deshalb so weit gekommen, weil sie ihr eigenes Spiel spielte. Aber was, wenn andere plötzlich in dieses Spiel einstiegen? Wenn der Widder es müde wurde, einen Sergeant nach dem anderen loszuschicken?

»Unser Eigner steht seit fünf Jahren hinter uns«, rief Jin ihr in Erinnerung.

Wolken wickelten den Mond in Tüll, Rauch schlängelte sich aus einem Fenster und legte sich mit der salzigen Brise an. Arthie wusste nur zu gut, was es einem abverlangte, um in diesem Land zu den Gewinnern zu zählen; die Wahrscheinlichkeiten, die man abwägen musste, die Kosten, all die Quittungen, die sich auch in ihrem Kopf umwälzten, so schwer wie die Bücher in ihrem Büro.

Jin führte sie zwischen zwei schiefen Häusern hindurch zur nächsten Straße, damit sie sich nicht an den Feuern vorbeizwängen mussten, die in einigen alten Fässern brannten und an denen sich die Huren wärmten. Er warf Arthie einen Blick zu. Niemand sonst konnte sie so gut lesen, und ihr war ein wenig leichter zumute, als er vorgab, kurz in die Schatten zu blinzeln, nur um sich dann wieder zu ihr umzudrehen und ihr eine Taschenuhr an einer Kette vor der Nase baumeln zu lassen. Arthie klopfte ihre Weste ab. Ihre Taschenuhr.

»Hast du –«

Jin lachte und warf sie ihr zu. »Komm schon, du Schnecke«, sagte er und verfiel in eine Art Galopp. »Wer schneller am Dock ist?«

Kapitel 4

JIN

Jin liebte das Meer. Das Schhh-Schhh der Wellen, das träge Schaukeln der festgemachten Boote. Er liebte die Lüge dahinter, die Ruhe, die die Kraft verbarg, wie ein schlafendes Ungeheuer.

Es erinnerte ihn an Arthie, die schon am Trockendock auf ihn wartete, wo die Schiffsskelette lagen, gebrochene Knochen und traurige Masten, die in alle Richtungen abstanden. Die Fenster des Hafenamts waren dunkel, doch der Lieblingsschlupfwinkel ihres Eigners, die Teestube Eden, war auch zu später Stunde noch so hell erleuchtet wie ein Leuchtturm auf einer Landzunge.

Jin steckte die Hände in die Taschen und ignorierte das Gefühl in seinen Armen und Beinen, die sich beim Anblick des Feuers in einer Tonne neben einer Treppe verkrampften. Gelb. Orange. Rot. ROT. Das Aufblitzen einer Taschenuhr zog ihn aus dem Strudel, gefolgt von Arthies beruhigendem Duft nach Kokosnuss und einer dunklen Teemischung, die ihn an eine Mittsommernacht erinnerte.

Arthie warf einen flüchtigen Blick auf die Flammen und dann auf ihn, entschied sich dann jedoch gegen die Worte, die ihr wohl gerade auf der Zunge lagen, und strich sich das Haar aus den Augen. »Dann bringen wir’s mal hinter uns, oder?«

Sie gingen am Dock entlang, wo die Steine mit dunklem Schimmel überzogen waren. Sich vergewissernd, ließ Arthie die Hand an ihrer Seite hinuntergleiten. Für sie war Calibore eine Art Glücksbringer, obwohl sie das niemals zugegeben hätte. Jin verstand das; sie hatte sich immer nur auf sich selbst verlassen können.

»Master Eigner«, rief Arthie, während sie die drei knarzenden Stufen zur offenen Terrasse hinaufstiegen, wo ihr Vermieter an einem Tisch in der salzigen Luft saß. Das dreistöckige Gebäude der Teestube bestand aus feuchtem Holz, nicht aus Stein, und statt mit Lack war es von Meeresfäule überzogen. Eden – sowohl das Lokal als auch die Getränke, die es servierte – war eine Schande für Tee.

»Casimir!« Die Stimme des Eigners brach vor Überraschung. Er war ein gepflegter älterer Gentleman mit winzigem Schnurrbart und Brillengläsern so rund wie sein Melonenhut. Zufällig war er auch einer der wenigen, die Arthie ohne Vorbehalte monatlich aufsuchte, um einen Haufen Duvin zu überreichen.

»Lange Nacht?«, fragte sie, weil sie Small Talk so gar nicht beherrschte.

»Ziemlich«, entgegnete der Eigner und zuckte zusammen, als Arthie sich einen Stuhl von einem anderen Tisch schnappte, ihn über den Boden schleifte und sich ihm gegenübersetzte. Jin lehnte sich neben ihr gegen einen Pfosten der kleinen Überdachung vor dem Haus und klopfte gegen das schmutzige Fenster des Lokals. Er hätte dieses Treffen lieber im Innern abgehalten, befürchtete aber, von innen sah das Eden auch nicht viel besser aus.

Quietschend schwang die Tür auf, und ein schlanker Mann schlüpfte heraus. »Willkommen im Eden. Wo unser Tee Sie in den Himmel –« Als er Jin und Arthie sah, die sich mit hochgezogener Augenbraue anblickten, brach er ab, dann wandte der Mann sich an den Eigner. »Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Sir?«

Jin war sich nicht sicher, ob er beleidigt sein sollte, weil sie nicht einmal gefragt wurden, oder geehrt, weil dieser Kelch an ihnen vorübergehen würde.