Aachener Abrechnung - Ingrid Davis - E-Book

Aachener Abrechnung E-Book

Ingrid Davis

0,0

Beschreibung

Die Leiche liegt im Luxushotel Der sechste Fall für Britta Sander Bei ihrem letzten Auftrag ist Britta Sander zwar nur knapp dem Tod entronnen, und doch hat sie schon wieder alle Hände voll zu tun: Bei einem vermeintlich harmlosen Lockvogel-Auftrag stolpert sie in einem Aachener Luxushotel über die Leiche eines brutal ermordeten Geschäftsmanns mit schlechtem Ruf und zahlreichen Feinden. Gemeinsam mit dem IT-Experten Tahar Karim, ihrem Kollegen Eric Lautenschläger sowie Kriminaloberkommissar Körber stürzt sie sich mit Feuereifer in die Arbeit. Als der zweite Manager nicht minder brutal ins Jenseits befördert wird, werden die Befürchtungen der Ermittler traurige Gewissheit – der Mörder ist noch lange nicht am Ende. Unterdessen weht in der Detektei Schniedewitz & Schniedewitz unter der neuen Geschäftsführung ein eiskalter Wind. Statt Teamgeist und Ermittlungsarbeit bestimmen Kasernenhofton und Return-on-Investment den Alltag. Britta und Eric müssen sich entscheiden – zwischen ihren Jobs und der Jagd auf einen rücksichtslosen Killer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 474

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Aachener Todesreigen

Aachener Intrigen

Aachener Gangster

Aachener Untiefen

Aachener Abgründe

Ingrid Davis (Jahrgang 1969) ist gebürtige Aachenerin und begann bereits im Alter von zehn Jahren mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, Novellen und Gedichten. Ihr Weg führte sie nach dem Studium (Englische Literatur und Geschichte) jedoch zunächst nicht in die Schriftstellerei, sondern ins Marketing und Projektmanagement. Hauptberuflich ist sie auch heute noch als Marketingmanagerin tätig und lebt in Aachen. Neben dem Krimischreiben verbringt sie ihre Freizeit gerne mit Reisen, Kino, Literatur und Strategiespielen.

Aachener Abrechnung ist der sechste Band der Reihe um die schlagfertige Privat-Ermittlerin Britta Sander, die ein verhängnisvolles Talent besitzt, in gefährliche Situationen zu geraten.

Ingrid Davis

AACHENER ABRECHNUNG

Britta Sanders sechster Fall

Originalausgabe

© 2021 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von © Markus - Fotolia.de

und © rcfotostock - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-554-0

E-Book-ISBN 978-3-95441-555-7

Für Petra SimonsSchwester im Herzen

Inhalt

PROLOG MITTWOCH, 1. NOVEMBER

FREITAG, 2. MÄRZ

SAMSTAG, 3. MÄRZ

SONNTAG, 4. MÄRZ

SONNTAG, 11. MÄRZ

MONTAG, 12. MÄRZ

DIENSTAG, 13. MÄRZ - MITTWOCH, 14. MÄRZ

DONNERSTAG, 15. MÄRZ

FREITAG, 16. MÄRZ

SAMSTAG, 17. MÄRZ

MONTAG, 19. MÄRZ - DIENSTAG, 20. MÄRZ

MITTWOCH, 21. MÄRZ

DIENSTAG, 27. MÄRZ

EPILOG 1. APRIL

DANKE!

PROLOGMITTWOCH, 1. NOVEMBER

07:30 Uhr

Zwischen den schnellen Schritten der Ärzte und Schwestern, die den Flur vor der Intensivstation des Luisenhospitals zu dieser Uhrzeit verstärkt bevölkerten, hörte man langsame, bleischwere Schritte aus Richtung des Operationssaals kommen. Nach einer gefühlten Ewigkeit trat Dr. Holger Sander aus dem dunklen Gang in den gut beleuchteten Wartebereich vor der Intensivstation, wo Kommissar Körber, Jyoti Chandra, Eric Lautenschläger, Tahar Karim und Brittas Schwester Petra mit deren Mann Gregor seit fast drei Stunden saßen und um Brittas Leben bangten.

Chefarzt Dr. Holgers grüne OP-Kluft war über und über mit inzwischen getrocknetem Blut besudelt, und Tränen standen in seinen Augen. Er sah langsam von einem zum anderen und schüttelte dann den Kopf.

»Jetzt red schon, Mann«, knurrte Körber heiser.

Dr. Holger wischte sich eine Träne aus dem linken Auge und sagte ergriffen: »Eine Sternstunde der Chirurgie! Mit welcher Eleganz und Kunstfertigkeit der Kollege Schlesinger im Oberbauch operiert – selbst für einen Meister wie mich eine Ehre, Zeuge werden zu dü…«

Körber sprang auf und machte zwei Schritte auf Dr. Holger zu, packte den Chirurgen vorne am OP-Kittel und hob ihn, obwohl er etwas kleiner war, fast hoch, als er fauchte: »Was. Ist. Mit. Britta!?«

»Aber meine Herrschaften, ich muss doch sehr bitten«, sagte eine tiefe Stimme hinter Chefarzt Dr. Holger. »Wir sind hier in einem Krankenhaus, nicht im Boxring.«

Körber ließ Dr. Holger los. »Sorry, Doc.«

Dr. Holger räusperte sich pikiert und drehte sich zu seinem Kollegen um. »Fritz, möchtest du …? Du hast schließlich das Meisterwerk …«

»Ja, ja, schon gut, Sander, ich habe nur meine Arbeit gemacht«, wehrte der große, breitschultrige Frühsechziger mit wallender, grauer Mähne und dicker Hornbrille höflich ab und wandte sich an die Wartenden. »Meine Herrschaften, Friedrich Schlesinger mein Name, Chefarzt der Chirurgie hier im Luisenhospital. Ich habe Frau Sander operiert. Wir haben den Durchschuss in der linken Schulter versorgt. Natürlich sind einige Nerven und Muskeln verletzt, aber wenn sich keine Infektion bildet, gehe ich davon aus, dass die Schulter in einigen Monaten wieder voll funktionstüchtig sein wird. Eventuell wird Frau Sander Ihnen demnächst Wetteränderungen voraussagen können – aber bei der Qualität der meteorologischen Vorhersagen ist das vielleicht nicht das Schlechteste«, sagte er mit einem leichten, ironischen Lächeln. »Sehr viel mehr Sorgen hat uns der Bauchschuss bereitet. Die Kugel ist in die Leber eingedrungen, und ich muss Ihnen sagen – hätten wir sie einige Minuten später auf den Tisch bekommen, wäre es zu spät gewesen.«

Jyoti legte fürsorglich den Arm um Körber, der bei den letzten Worten des Chirurgen leichenblass geworden war.

»Sie hat sehr viel Blut verloren, bevor wir die Blutung stoppen konnten. Wir haben das Projektil entfernt, allerdings mussten wir auch ein Stück der Leber wegnehmen. Das Gewebe war zu stark beschädigt. Aber – wie Sie vielleicht wissen, regeneriert die Leber mit der Zeit, und der gesunde Teil des Organs arbeitet ja währenddessen weiter. Der wesentlich größere Teil der Leber ist verblieben, und sie hat riesiges Glück gehabt, dass keine anderen inneren Organe verletzt wurden.«

»Das heißt, sie lebt?«, fragte Körber, der wie benommen wirkte.

Schlesinger lächelte. »Ja, sie lebt. Aber machen wir uns nichts vor, solche Verletzungen sind ein massiver Schock für den gesamten Organismus, und auch wenn die Wunde an der Schulter nie lebensbedrohlich war, dürfen wir nicht vergessen, dass der Bauchschuss nicht die einzige Wunde ist, mit der Frau Sanders Körper jetzt fertig werden muss.«

»Können wir zu ihr?«, fragte Pe.

Schlesinger sah Dr. Holger an, der die übernächtigte Truppe musterte. Schließlich sagte der: »Medizinisch ratsam ist es selbstverständlich nicht, aber ich kenne diese Herrschaften inzwischen ganz gut, Fritz, und wir bekommen mehr Probleme, die hier draußen lassen zu wollen, als sie mal einen kurzen Blick durch die Tür werfen zu lassen.«

Schlesinger seufzte. »So etwas hatte ich fast befürchtet. Also schön, aber«, hier wurde sein Blick sehr streng, »unsere Regeln: Nicht mehr als zwei Personen auf einmal; Sie bleiben vor der Zimmertür stehen und schauen ausschließlich durch das Fenster ins Zimmer. Sie gehen nicht in das Patientenzimmer. Unter gar keinen Umständen. Haben wir uns verstanden?«

Alle nickten wie brave Musterschüler.

»Gut. Und bitte unterschätzen Sie die Infektionsgefahr nicht, also schaffen Sie um Gottes willen diesen Hund hier raus.«

Sammy hatte es geschafft, den Reißverschluss so weit aufzumachen, dass seine Nase herausguckte.

Gregor stand sofort auf und nahm die schwarze Reisetasche. »Ich warte draußen«, sagte er leise und küsste Pe auf den Scheitel, bevor er zügigen Schrittes verschwand.

Körber drehte sich um und wollte auf die Klingel der Intensivstation drücken, als Schlesinger sagte: »Eins noch.«

Körber sah ihn fragend an.

»Erschrecken Sie bitte nicht. Wir haben Frau Sander noch in der Narkose gelassen, und sie wird deswegen nachbeatmet. Das ist nach solch einer schweren Operation und bei dieser Art von Verletzung ein übliches Procedere und schien uns in dieser Situation angeraten. Es ist kein Grund zur Besorgnis. Wenn alles so verläuft, wie wir uns das wünschen, lassen wir sie heute im Laufe des Tages oder der nächsten Nacht aufwachen, und dann wird selbstverständlich auch der Beatmungsschlauch gezogen. Holger«, er schüttelte Dr. Holger die Hand, »wie immer ein Vergnügen. Schön, dass wir dir auch mal was vormachen konnten«, schmunzelte er, verabschiedete sich und verschwand zurück in Richtung OP.

Körber verlor keine Zeit und drückte sofort auf die Klingel der Intensivstation. Einige Minuten später meldete sich eine Stimme durch die Gegensprechanlage und versprach, die ersten beiden Besucher in wenigen Minuten abzuholen.

Als die Tür zur Besucherschleuse von einem Pfleger in altrosafarbener Montur geöffnet wurde, drehte Körber sich halb um und streckte die Hand in Richtung Pe aus.

Die sah die anderen fragend an und kam, als diese nickten, mit Jyotis Hilfe schwer auf die Füße. Man sah, dass die inzwischen beachtliche Schwangerschaftskugel sie einschränkte. Zusammen folgten sie dem Pfleger durch die Schleuse auf den Flur der Intensivstation und nach rechts an der Stationsleitstelle vorbei. Alle, an denen sie vorbeigingen, ließen für einen Moment das, was sie taten, ruhen.

Durch das Glas in der Zimmertür, auf die der Pfleger schweigend wies, sahen Pe und Körber ein großes, klobig wirkendes Bett. Britta lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, beide Arme neben ihrem Körper ausgestreckt auf der Bettdecke. Sie war sehr bleich, und ihr Gesicht wirkte schmal, ihr ganzer Körper kleiner als er eigentlich war. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rhythmisch, und selbst durch die geschlossene Tür konnte man das Zischen des Beatmungsgeräts hören, dessen Schlauch in ihren Mund führte. Pe zählte drei Monitore und sieben Infusionen. Die seitlichen Gitter des Intensivbetts hatte man vorsichtshalber hochgestellt.

Als Pe nach einer Weile die Augen von Britta abwendete und Körber einen Seitenblick zuwarf, sah sie, dass lautlos Tränen über dessen Gesicht strömten. Sachte legte sie ihm einen Arm um die Schulter.

* * *

11:10 Uhr

Tom Hartwig saß regungslos in dem kleinen Raum im Polizeipräsidium, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, und starrte vor sich hin. Er trug einen weißen Wegwerfanzug, den der Erkennungsdienst ihm gegeben hatte, als sie das, was von seiner Kleidung noch übrig war, zur Analyse mitgenommen hatten. Sein Mundwinkel verzog sich kurz zu einem wehmütigen Lächeln – Britta nannte die Dinger immer »Ganzkörperkondome«. Dank Kommissar Eduard Bienwald, dem Leiter des Kriminalkommissariats 11 – Tötungsdelikte – wusste er, dass sie lebte. Das war alles, was zählte.

Seine kurzen, braunen Haare schimmerten feucht. Nachdem die Kriminaltechniker alle möglichen Proben genommen hatten, hatten sie ihm endlich zu duschen erlaubt und sich Brittas und das Blut des Killers vom Körper zu waschen.

Als ein Schlüssel sich im Schloss drehte, wandte er seine dunkelblauen Augen zur Tür, die sich öffnete und den Blick auf seine Anwältin freigab, seine Anwältin für Strafrecht. Wieder einmal musste er feststellen, was für eine elegante Erscheinung sie war. Groß, mit einem blonden Bob, in dem nie auch nur ein Härchen aus der Reihe tanzte, wie immer in einem teuren Business-Kostüm dunkler Farbe und noch teureren Schuhen mit wahren Killerabsätzen. Hartwig schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Dank Bienwalds Intervention trug er keine Handschellen.

Isabella Wittmann legte die schwarze Ledermappe, die sie stets bei sich trug, auf den Tisch und nahm Hartwigs ausgestreckte Hand. Zwanzig Jahre zuvor, als Tom im Alter von fünfzehn Jahren das Gangster-Imperium seines Vaters übernommen hatte, war noch Isabellas Vater Toms Anwalt gewesen. Isabella war damals Anfang dreißig gewesen und gerade in die Kanzlei ihres Vaters eingestiegen. Schnell hatte sich herausgestellt, dass sie noch besser war als ihr anerkannt brillanter Vater. Vor allem jedoch war sie noch skrupelloser, besonders wenn es darum ging, ihre Mandanten aus schwierigen Situationen herauszuholen. Als Tom sich nach und nach aus den verbrecherischen Geschäften zurückzog, hatte er immer weniger Anlass gehabt, die Dienste der Wittmann-Kanzlei in Anspruch zu nehmen. Doch die alte Vereinbarung, dass Isabella stets die Wahrheit erfuhr, die ganze Wahrheit, galt nach wie vor.

Tom blieb stehen, bis sie Platz genommen hatte, und setzte sich erst dann. Wie immer kam Frau Dr. Isabella Wittmann ohne Umschweife zur Sache. »Ich höre, Herr Hartwig.«

Also erzählte er ihr, wie er in der Nacht zuvor durch seine Kontakte den Namen des Mannes erfahren hatte, der im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte fast zwanzig junge Frauen entführt, brutal gefoltert und dann getötet hatte. Das letzte Opfer hatte überlebt, ebenso wie Britta, die der Killer in der Nacht zuvor ebenso in seine Gewalt gebracht hatte.

Er erzählte, wie er in die Eifel, zum einsam gelegenen Hof des Killers gerast war und die Tür zu dessen Folterkeller gerade in dem Moment mit brachialer Gewalt aus den Angeln gerissen hatte, als Britta den Killer mit einem Feuerlöscher niederschlug. Sie hatte sich aus dem Eisenkäfig befreit, in den der sie gesperrt hatte, und hinter der Tür auf den Serienmörder gelauert.

Er berichtete, wie er Karin Franke, die sich mehr als zwei Monate in Gefangenschaft befunden hatte, aus dem Verlies heraustrug und plötzlich hinter sich zwei Schüsse hörte. Der Killer, den sie ohnmächtig oder tot glaubten, hatte es geschafft, seine gefallene Pistole zu ergreifen und hatte Britta mit zwei Schüssen niedergestreckt. Als Hartwig sah, was geschehen war, hatte er nicht lange überlegt. Um Brittas Leben zu retten, hatte er zunächst Kommissar Körber verständigt, dass ein Rettungshubschrauber benötigt werde, und dem Killer mit einem Handgriff das Genick gebrochen. Er hatte sichergehen wollen, dass er keine Gefahr mehr darstellte.

Isabella Wittmann hatte ihm aufmerksam zugehört. Ganz zu Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte es ihn immer irritiert, dass sie sich nie Notizen machte. Mit der Zeit hatte er jedoch gemerkt, dass sie nie auch nur ein einziges Detail vergaß. Ihre grünen Augen sahen ihn die ganze Zeit unverwandt an.

Als er aufhörte zu sprechen, wartete sie noch etwas ab. Dann sagte sie: »Das können Sie auf gar keinen Fall der Polizei erzählen.«

Hartwig zuckte mit den massigen Schultern. »Notwehr, oder? Er hatte Frau Sander gerade niedergeschossen und dabei lebensgefährlich verletzt.«

Isabella Wittmann verzog keine Miene. »Wie groß und wie schwer war der Serienmörder?«

Hartwig wusste sofort, worauf sie hinauswollte. »Etwas kleiner als ich, vermutlich halb so schwer, und Schreibtischtäter.«

»Also hatte der Mann physisch keine Chance gegen Sie.« Sie fragte nicht, sie stellte fest.

»Nein«, sagte Hartwig, dessen massiver, muskelbepackter Körperbau jahrelangem, hartem Training geschuldet war. Um jemandem mit einem Ruck das Genick zu brechen, brauchte man sehr viel Kraft.

»Und nachdem Sie Frau Sander angeschossen auf dem Boden gesehen und bevor Sie den Mann getötet haben, haben Sie die Polizei verständigt und um einen Helikopter gebeten.«

»Ja.« Hartwig kannte sie gut genug, um sich auf das Wesentliche zu beschränken.

»Aber am Telefon haben Sie der Polizei gegenüber angegeben, der Mann sei bereits tot.«

»Ja.«

»Wie ist Ihre Beziehung zu Frau Sander?«

Er kratzte sich am Kopf. »Das kann ich nicht genau sagen.«

Isabella Wittmann hob eine elegante Augenbraue.

Er brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um sich an ihren Duft in seiner Nase zu erinnern, an ihre Lippen, als sie sich geküsst hatten, an ihren Körper, den er endlich einmal in den Armen halten durfte. »Es ist kompliziert«, sagte er schroff.

»Sie beugte sich vor. »Kompliziert können wir uns an dieser Stelle nicht leisten, Herr Hartwig. Ich stelle die Frage anders: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Frau Sander für Sie … aussagen würde?«

»Muss sie das?«

Isabella Wittman seufzte. »Für einen ehemaligen Gangster sind Sie im Strafrecht erstaunlich schlecht bewandert.«

»Dafür habe ich ja Sie«, gab er mit einem ironischen Lächeln zurück.

»Touché. Nach meiner Einschätzung haben Sie zwei Möglichkeiten. Option eins: Sie geben an, in Notwehr gehandelt zu haben, weil Sie Ihr eigenes und das Leben von Frau Sander in direkter Gefahr sahen – immerhin hatte der Killer eine Waffe. Soweit so gut. Wenn Sie ihn totgeschlagen hätten, gäbe es kein Problem mit dieser Verteidigungsstrategie. Frau Sander ist schwerstverletzt, ihr Gegenüber hat eine Pistole, Sie stürzen sich unter Einsatz Ihres eigenen Lebens auf ihn, um weiteren Schaden von sich und Frau Sander abzuwenden. Das ist Notwehr, wie sie im Buche steht. Dabei unterschätzen Sie Ihre körperliche Kraft und statt ihn nur bewusstlos zu schlagen, töten Sie ihn. Hier würde § 33 des Strafgesetzbuches greifen – die so genannte Überschreitung der Notwehr aus Furcht, Verwirrung oder Schrecken – wenn jemand unter solchen Umständen getötet wird und die Überschreitung der Notwehr plausibel ist, bliebe diese Tötung straffrei. Bei Ihrem Körperbau und Ihrer Vorgeschichte wäre es nicht ganz einfach, dem Richter glaubhaft zu machen, dass ausgerechnet Sie in dieser Situation verwirrt, erschreckt oder so voller Angst gewesen seien, dass Sie nicht mehr wussten, wie viel Kraft Sie einsetzen müssen, um jemanden auszuschalten, anstatt ihn zu töten. Egal, welchen Richter wir bekommen – es wird niemanden geben, der nicht weiß, wer Sie sind und was Sie waren. Es wäre also nicht einfach, aber vielleicht machbar.« Sie machte eine kurze Pause und sprach dann weiter. »Unglücklicherweise haben Sie sich stattdessen dazu entschieden, Ihrem Gegenüber das Genick zu brechen. Wenn Sie das zugeben, sind wir selbst bei Anerkennung des so genannten Notwehrexzesses bei mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe. Betonung auf mindestens.«

»Was ist Option zwei?«, fragte Hartwig ruhig.

»Es gab einen Kampf. Aufgrund der körperlichen Nähe wird Ihre DNA überall auf Körper und Kleidung des Getöteten zu finden sein. Sie müssen also einräumen, dass Sie ihm sehr nahegekommen sind. Ihr Gegner stürzt unglücklich, und durch den Sturz bricht er sich das Genick.«

Tom sah sie skeptisch an. »Die Rechtsmedizin kann doch sicher feststellen, ob das Genick durch einen Sturz oder … manuell gebrochen wurde.«

Isabella Wittmann lächelte wie eine Hyäne. »Das ist ja das Schöne. Das können sie eben in vielen Fällen nicht.«

Tom antwortete nicht sofort.

»Unser Problem ist Frau Sander«, legte Isabella nach. »Wenn sie nicht die gleiche Geschichte erzählt wie wir …« Sie breitete die Hände aus.

Tom dachte an Brittas Worte, an ihr Drängen, sich abzusprechen. Er hatte das abgewehrt.

»Ich will nicht, dass sie meinetwegen einen Meineid leistet«, sagte er.

Isabella musterte ihn. »Sie sind der jungen Dame zugetan?«

Tom lächelte amüsiert. Was für wunderbar altmodische Begriffe sie doch manchmal verwendete. »Ich denke, so kann man das nennen.«

»Und erwidert sie diese Gefühle?«

Tom zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Es war das erste Mal, dass er seine Anwältin belog.

»Würde sie für Sie lügen?«

Er antwortete nicht.

»Herr Hartwig, wollen Sie allen Ernstes ins Gefängnis, weil Sie diesem Abschaum das serviert haben, was er verdient hat?«

»Natürlich nicht.« Drei Jahre, in denen er Britta nur in einem Besucherraum der JVA sehen konnte? Nach der vergangenen Nacht unvorstellbar.

»Schön. Dann sind wir uns ja einig. Lassen Sie uns keine Zeit verlieren, wir haben eine Geschichte zu schreiben, und zwar eine, die so nah bei der Wahrheit bleibt wie möglich.«

Er wollte etwas sagen, doch sie hob eine abwehrende Hand. »Ich sorge dafür, dass Frau Sander die gleiche Geschichte erzählt.«

Tom stand abrupt auf und beugte sich drohend über den Tisch. »Sie werden …«

Isabella Wittmann sah ihm ruhig in die Augen. »Glauben Sie im Ernst, ich würde auch nur versuchen, Frau Sander in dieser Angelegenheit zu irgendetwas zu zwingen? Das wäre der sichere Weg in die Katastrophe. Nur jemand, der aus Überzeugung lügt, lügt gut. Abgesehen davon – ich würde mein nicht unerhebliches Honorar darauf verwetten, dass jemand wie Frau Sander unsere Einschätzung teilt, wer in dieser ganzen vermaledeiten Geschichte der wirkliche Bösewicht ist.«

* * *

SONNTAG, 5. NOVEMBER

06:10 Uhr

Ich öffnete langsam die Augen. Draußen war es stockdunkel, und durch die großen Glasscheiben fiel sanftes Licht aus dem Flur der Intensivstation in mein Zimmer. Die große Uhr am Fußende meines Bettes sagte mir die Uhrzeit, und über die Überwachungsgeräte hörte ich den ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus meines Herzschlags.

Als ich eine der in Altrosa gekleideten Intensivschwestern neben meinem Bett stehen sah, wusste ich, was mich geweckt hatte. Schwester Katja legte mir sanft die Hand auf den Arm. »Sind Sie wach, Frau Sander?«

Ich nickte. »Und das erste Mal fühle ich mich nicht mehr ganz so bematscht«, krächzte ich, »nicht mehr so als hätte ich Watte im Kopf.«

»Wir haben gestern Abend angefangen, Ihre Schmerzmedikation umzustellen. Wir haben die Morphine deutlich zurückgefahren und durch andere Schmerzmittel ersetzt. Haben Sie Schmerzen?«

Ich horchte in mich hinein und schüttelte dann den Kopf.

»Gut.« Sie ging zum Fußende meines Bettes und kritzelte etwas auf den Überwachungsbogen. Dann kam sie wieder an meine Seite. »Wahrscheinlich wird der Chef später bei der Visite anordnen, Sie auf die Normalstation zu verlegen.«

»Muss man da auch so früh aufstehen wie hier?«, grinste ich matt, und sie lachte.

»Nein, früher.« Schwester Katja wurde wieder ernst. »Das ist aber nicht der Grund, warum ich Sie geweckt habe. Wie Sie wissen, haben wir noch keine Besuchszeiten.«

Meine Erinnerungen an die vergangenen Tage waren zwar sehr getrübt, aber an das Theater, das Körber gemacht hatte, als man ihn um 22 Uhr jeweils höflich aber bestimmt zur Tür hinauskomplimentierte, konnte ich mich noch lebhaft erinnern.

»Aber«, fuhr sie fort, »draußen steht eine Anwältin und will unbedingt mit Ihnen sprechen. Ich war nicht sicher, ob das wichtig ist. Wir könnten eine Ausnahme machen, wenn es nicht zu lange dauert und Sie sich in der Lage fühlen, mit ihr zu sprechen.«

Meine Denkprozesse liefen noch deutlich langsamer ab, als ich das gewöhnt war. Ich kannte keine Anwälte, und schon gar keine, die mich Sonntagmorgen um kurz nach sechs auf der Intensivstation besuchen würden, aber nachdem ich meine Hirnwindungen eine Weile gequält hatte, ging mir ein ganzer Kronleuchter auf. »Es wäre sehr nett, wenn Sie sie reinlassen, Schwester Katja. Es ist wirklich wichtig, dass ich mit ihr spreche.«

Und es wäre gut, wenn meine anderen Besucher sie nicht unbedingt zu Gesicht bekommen.

»Ich kläre das mit dem diensthabenden Arzt«, nickte sie, »aber denken Sie daran, dass Sie wegen der Medikamente noch nicht endgültig vernehmungsfähig sind, ja?«

Ich nickte, bat sie, mir das Kopfteil etwas höher zu stellen, und dann verließ sie das Zimmer.

Kurze Zeit später sah ich, wie sie die Besucherschleuse betrat und gefolgt von einer großen, blonden Frau in elegantem Business-Kostüm und sündhaft teurem Mantel wieder zurückkam. Sie hielt der eleganten Erscheinung die Zimmertür auf und sagte streng: »Maximal eine Viertelstunde.« Damit schloss sie die Tür, und die Blondine kam mit ihren Killer-Absätzen auf mich zu gestöckelt. Der zweite Bettenplatz im Zimmer war leer, so dass wir ungestört waren.

»Sie sind Tom Hartwigs Anwältin«, sagte ich.

Die elegante Erscheinung hob eine Augenbraue. »Wenn ich nicht schon wüsste, womit Sie Ihr Geld verdienen, könnte ich es mir jetzt denken«, sagte sie. »Isabella Wittmann, und ja, ich vertrete Herrn Hartwig in Strafsachen.« Sie sah sich nach einem Stuhl um.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht zu stehen – Sie würden mir das Leben leichter machen, wenn Sie sich ans Fußende des Bettes stellen. Meine Bewegungen sind noch etwas eingeschränkt, und so muss ich mir den Hals nicht so verdrehen«, sagte ich entschuldigend.

»Ja natürlich.« Sie ging ans Fußende des Bettes, zog ihren Mantel aus und legte ihn zusammen mit ihrer Ledermappe auf den Besucherstuhl. Dann wandte sie sich mir zu. »Können wir ganz offen sprechen, Frau Sander?«

»Ich bitte darum.«

»Dass Herr Hartwig sich in Untersuchungshaft befindet, wissen Sie?«

Ich nickte. Körber behauptete, er habe es mir mehrfach erzählt, weil ich aufgrund der anfänglich sehr hohen Morphindosen angeblich vieles wieder vergaß. Aber diesmal hatte ich es nicht wieder vergessen.

»Und dass man wegen eines Tötungsdelikts gegen ihn ermittelt?«

Ich nickte wieder, und Isabella Wittmann sah mich abwartend an.

»Dürfen wir beide uns überhaupt unterhalten?«, fragte ich. »Ich werde ja sicherlich als Zeugin vernommen, sobald das Morphium abgesetzt ist.«

»Ja, wir dürfen miteinander sprechen, diesbezüglich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Nichtsdestotrotz«, sie hob wieder die elegant geschwungene Augenbraue, »muss nun auch nicht unbedingt jeder davon erfahren.«

»Deshalb sind Sie hier, bevor die offizielle Besuchszeit beginnt.«

»Erstens das, und zweitens wollte ich sichergehen …«

»… dass wir miteinander sprechen, bevor ich meine Aussage mache.«

Der Hauch eines Lächelns huschte über ihren attraktiven Mund. »Ich sehe, wir verstehen uns.«

»Was hat Tom Ihnen erzählt?«, fragte ich.

»Die Wahrheit«, sagte sie und sah mir eindringlich in die Augen. »Die ganze Wahrheit.«

»Verstehe. Und was geschieht, falls er der Polizei ebenfalls die ganze Wahrheit erzählt?«

Sie musterte mich abschätzend und sagte schließlich: »Sollte er das tun, wandert er wegen vorsätzlicher Tötung lebenslang ins Gefängnis.«

»Und wenn er sich auf Notwehr beruft?«

»Wenn man ihm glaubt, dass er in der berechtigten Notwehr zu weit gegangen und sein Gegenüber getötet hat, reden wir immer noch von mindestens drei Jahren.«

Ich musterte sie aufmerksam. »Und Sie halten es für unwahrscheinlich, dass ihm jemand glauben würde?«

Sie legte den Kopf schief. »Würden Sie ihm glauben, dass er so verängstigt war, dass er nicht mehr wusste, wann er jemanden außer Gefecht setzt und wann er ihn tötet?«

Ich sah auf meine Hände. In jeder steckte ein Zugang mit jeweils drei Infusionen. Dann hob ich den Kopf wieder. »Sie wissen, dass ich tot wäre, wenn Tom nicht genau in diesem Moment aufgetaucht wäre?«

»Nach allem, was ich gehört habe, hatten Sie diesem Bastard auch schon eine ordentliche Abreibung verpasst. Ein Feuerlöscher – gefällt mir.« Sie hatte das Lächeln einer Hyäne.

Dich möchte ich in einem Prozess nicht auf der Gegenseite haben.

»Ich konnte meinen Fehler nur korrigieren und das Arschloch richtig niederschlagen, weil Tom in dem Moment die Tür eingetreten hat. Das hat meinen Gegner abgelenkt. Glauben Sie mir. Sonst wäre ich tot. Und Karin Franke auch.«

»Wie schön zur Abwechslung mal einen Helden zu verteidigen«, sagte sie trocken. »Bedauerlicherweise bleibt ein

Tötungsdelikt ein Tötungsdelikt, und selbst wenn der Richter es so sehen würde wie Sie, hätte er keine Wahl, als Herrn Hartwig ins Gefängnis zu schicken.«

»Dann müssen wir uns wohl was anderes einfallen lassen.« Ich sah ihr direkt in die Augen.

»Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden«, sagte sie mit einem Lächeln, das mir beinahe einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

FREITAG, 2. MÄRZ

14:15 Uhr

Kommissar Körber als Auftragskiller?« Mein Kollege Eric Lautenschläger machte große Augen.

»Na, wenn ich’s euch doch sage«, grinste ich. »Und das Beste war der Auftritt vor Gericht.«

»Sie haben ihn angeklagt?«, fragte Steffi entsetzt. »Aber er war doch underco…«

Als sich die Tür zu Silkes und meinem Büro in der Detektei Schniedewitz & Schniedewitz öffnete, verstummten alle schlagartig, aber es war nur Tahar Karim, der französische IT-Berater der Detektei und mein bester Freund. »Einö conspirativö Versammlung?«, grinste er und schloss leise die Tür hinter sich.

»Was bleibt uns anderes übrig«, sagte Kollege Marc Achten und zuckte mit den Schultern. »Alles andere wird ja inzwischen feinmaschig überwacht.«

Seit mein zweitältester Bruder Martin, seines Zeichens dubioser Investor und Finanzjongleur, vor einigen Monaten die Detektei gekauft hatte, wehte hier statt eines kollegialen Lüftchens ein scharfer Wind durch alle Ecken, und unsere neue Geschäftsführerin, die blaue Elise, versuchte grimmig entschlossen, Standard-BWL-Konzepte über unsere Arbeit zu stülpen – ein Unterfangen, bei dem wir so viel Gegenwehr wie möglich an den Tag legten, um unseren Job auch weiterhin so machen zu können, wie er gemacht werden musste.

Seit ich Anfang der Woche nach fast drei Monaten Krankenhaus, Reha und Genesungsphase wieder zur Arbeit angetreten war, durfte ich live und in Farbe das Elend miterleben, von dem die Kollegen mir schon seit Wochen berichtet hatten. Wir brauchten definitiv einen Plan.

»Lass mich ratön.« Tahar, der seit der feindlichen Übernahme wieder öfter bei uns ein- und ausging, um die barocke IT-Ausstattung der Detektei auf Vordermann zu bringen, setzte sich auf den letzten freien Stuhl in unserer kleinen Kemenate. Sammy trippelte sofort zu ihm rüber und hüpfte auf Tahars Schoß. »Du erzählst geradö die Geschichtö von Luigi Körbör, Auftragskillör im Dienstö seinör Majestät.« Grinsend lehnte er sich zurück und kraulte den entzückten Sammy hinter den Ohren.

»LUIGI?«, mädchenquietschte Silke.

»Mit Sonnenbrille, Brust-Flokati und Goldkettchen«, bestätigte ich.

Mein Partner, Kriminaloberkommissar Körber, war kurz zuvor zu einem Lockvogeleinsatz abgeordnet worden, bei dem er, getarnt als sizilianischer Auftragsmörder, mitten in der Nacht zu einem finsteren Autobahnrastplatz im Aachener Umfeld fuhr, um dort von einer drallen Mittfünfzigerin einen fünfstelligen Eurobetrag entgegenzunehmen. Im Gegenzug sollte er deren lästig gewordenen Ehemann alsbald um die Ecke bringen.

»Und was war dann bei Gericht?«, fragte Eric gespannt.

»Naja, Körber musste natürlich als Zeuge aussagen. Und zur Aussage ist er dann nicht im Auftragskillerdress erschienen, sondern in normalen Klamotten …«

»… dafür aber mit gewohnt finsterem Blick«, gluckste Marc.

»Genau so«, bestätigte ich belustigt. »Als der Staatsanwalt an der Reihe war, sagte er zur Angeklagten: ›Haben Sie allen Ernstes diesen aufrechten Staatsdiener, diesen unbescholtenen Polizeibeamten für einen Auftragsmörder gehalten?‹ Dann hat er sich Körber genauer angeguckt, der mit seinen schwarzen Augen wie immer finster vor sich hinstarrte, und schloss mit den Worten: ›Bei näherem Hinsehen … ich ziehe die Frage zurück.‹«

Unser schallendes Gelächter wurde von einem abrupten Öffnen der Bürotür unterbrochen, und diesmal war es unsere neue Geschäftsführerin, die blaue Elise höchstpersönlich, die blonden Haare wie immer zu einem schmerzhaft festen Dutt nach hinten gezogen und im unausweichlichen blauen Kostüm. Sie ließ ihren hochnäsigen Blick über die fröhliche Runde gleiten und sagte eisig: »Das hätte ich mir denken können. Kaum ist die Rädelsführerin wieder da, werden Maulaffen feilgehalten, und die Arbeit bleibt liegen. Frau Zurek«, blaffte sie Steffi, ihre Assistentin, an, »Sie begeben sich auf der Stelle wieder an Ihren Arbeitsplatz. Dass ich Post an der Tür entgegennehmen muss, wird sich nicht wiederholen. Haben wir uns verstanden?!«

Damit pfefferte sie mit erstaunlicher Treffsicherheit einen cremefarbenen Umschlag von der Tür aus auf meinen Schreibtisch und sagte im Umdrehen: »Und den Rest von Ihnen will ich in zwei Sekunden wieder an Ihren Plätzen sehen.« Dann stakste sie davon, wartete aber ganz offensichtlich, bis zumindest Steffi, Piet und Marc sich wieder an ihre Schreibtische getrollt hatten, und knallte dann ihre Bürotür geräuschvoll hinter sich zu.

»Willkommen beim Arbeitgeber des Jahres«, seufzte Eric, wandte aber die Augen nicht von dem edlen Umschlag aus handgeschöpftem Büttenpapier ab, der mit dem Rücken nach oben auf meinem Schreibtisch lag. Schon bevor ich ihn umdrehte, wussten wir, dass auf der Vorderseite in blutroter Tinte mein Name stehen und statt eines Absenders eine Zeichnung einer venezianischen Augenmaske die linke obere Ecke des Umschlags zieren würde.

»Ich hatte mich schon gefragt, ob die sich in diesem Leben noch mal melden«, murmelte ich versonnen, als ich den Umschlag öffnete und den ebenfalls cremefarbenen Briefbogen herauszog.

Tahar setzte Sammy sanft auf den Boden, stand leise auf und schloss unsere Bürotür. Kaum hatte er sich wieder niedergelassen, da war Sammy schon wieder zur Stelle und hüpfte zurück auf Tahars Schoß. »Alors?«, fragte er ungeduldig, während ich den Text überflog.

»Meine Herren, ich glaube, wir kommen endlich einen Schritt weiter im großen Rätsel um die geheimnisvolle Gilde der Unsichtbaren.«

Besagte Gilde hatte mir im Laufe der letzten Monate nacheinander erst eine schwarze Augenmaske, einen edlen, grauen Umhang und eine blutrote Spange zukommen lassen, ohne dass ich gewusst hätte, was es mit den Gegenständen, geschweige denn der Gilde, auf sich hatte. Schließlich hatten sie mir im vergangenen Oktober die Namen zweier vermisster Straßenjugendlicher zugespielt, zusammen mit einem üppigen Honorar und dem Auftrag herauszufinden, was mit den beiden jungen Frauen geschehen war.

Unsere Ermittlungen hatten uns sehr schnell auf die Spur des gefährlichsten Killers gebracht, den Aachen je gesehen hatte. Der hatte im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre achtzehn junge Frauen entführt, gefoltert und getötet. Karin Franke, sein neunzehntes Opfer, und ich selbst waren dem Monster nur dank des beherzten Eingreifens von Ex-Gangsterboss Tom Hartwig entkommen. Tom Hartwig, der seit vier Monaten in Untersuchungshaft saß und auf seinen Prozess wartete, weil er den Killer getötet hatte, um mich zu beschützen.

Ich reichte Eric und Tahar das Schreiben, und gemeinsam beugten sie die Köpfe darüber.

Einladung

Die Gilde der Unsichtbaren gibt sich die Ehre,

Frau Britta Franziska Sander

zu einer außerordentlichen Versammlung der Gilde

am ersten Tag

des vierten Monats

zur dreiundzwanzigsten Stunde

einzuladen.

Die Geladene erscheint unbewaffnet und ohne

mobile Mittel der Kommunikation.

Die zugestellten Gilde-Insignien sind mitzuführen.

Die Geladene findet sich zur angegebenen Zeit

an diesem Ort ein:

Hochachtungsvoll

Die Präfektin

Eric kratzte sich am Kopf. »Also wenn die Gilde uns nicht auf die Spur des Postkartenkillers geführt hätte, würde man doch jetzt endgültig denken, die sind vollkommen durchgeknallt, oder? Bitte finden Sie sich Samstagnacht ohne Handy, aber mit Maske und Umhang beim geheimnisvollen Dreieck ein, noch dazu am ersten April. Schöne Grüße von der maskierten Präfektin, die nicht nur unsichtbar ist, sondern es auch für unnötig hält, ihren Namen zu nennen, ganz zu schweigen von der nicht ganz unerheblichen Information, wo denn dieses geheimnisvolle Rendezvous bitte schön stattfinden soll? Jetzt doch mal im Ernst. Ist das ein besonders schlechter Aprilscherz oder hat da jemand zu viele Mantel-und-Degen-Romane gelesen?«

»Sag mal nichts gegön Mantöl-und-Degön-Romanö. Die drei Musketierö war als Kind eins meinör Lieblingsbüchör. Ich wartö immör noch auf die Gelegenheit, mal den D’Artagnan zu gebön«, grinste Tahar. »Wenn ich mir rechtzeitig Hut, Umhang und Degön besorgö, könntö ich als Leibgardö mitgehön.« Er deutete im Sitzen eine elegante Verneigung an. »Zumal es mich ohnö Endö fuchst, dass ich bisher nichts, abör auch gar nichts übör die Gildö in Erfahrung bringön konntö. So was ist mir noch nie passiert!«

»Aus Van Helsing hast du auch nichts rausgekriegt?«, fragte ich. Immerhin wussten wir, dass Tahars Studienfreund und IT-Berater-Kollege in irgendeiner Form als Administrator für die Gilde tätig war.

Tahar schüttelte den schwarzen Lockenkopf. »Selbst die Androhung einör hochnotpeinlichön Befragung hat nichts ergebön. Er sagt die ganzö Zeit nur: ›Gut Ding will Weilö habön.‹ Ich glaubö, wenn ich das noch einmal hörön muss, bring ich ihn um«, seufzte er.

Eric musterte mich kritisch. »Du hast nicht etwa vor, diese seltsame Einladung anzunehmen?«

»Naja, wie soll ich denn sonst herauskriegen, wer dahintersteckt, und vor allem, was sie diesmal von mir wollen?«

»Vielleicht wollön sie dir noch eine Nachzahlung überreichön«, spekulierte Tahar, »einö Gefahrenzulagö wärö ja für den letztön Fall mehr als angemessön.«

»Oder irgendein Irrer hat die Nase an die Geschichte mit der Gilde bekommen, und will sie in eine Falle locken«, unkte Eric.

»Ach, Herr Lautenschläger, wo bleibt denn Ihr Sinn für Abenteuer?«, zwinkerte ich. »Außerdem – solange wir nicht wissen, was dieses komische Dreieck bedeuten soll, kann dahinter stecken wer will. Ohne dieses Rätsel zu lösen, gehe ich ganz sicher nirgendwo hin. Also schärft mal eure Denkorgane und lasst die Ideen sprudeln. Ist zwar noch ein bisschen hin, aber der frühe Vogel fängt bekanntlich den Wurm.«

Tahar und Eric warfen sich einen Verschwörerblick zu, der mir hätte zu denken geben sollen.

»Also, mir fällt bei diesön Buchstabön als Erstös ein Kleidungsstück ein«, sagte Tahar.

»Tatsächlich?«, Eric blickte ratlos auf den Briefbogen. »Welches denn?«

»BH, Körbchengrößö D«, gab Tahar trocken zurück.

Ich seufzte. »Ich wusste, es war ein Fehler, euch zu fragen.«

»Vielleicht ist das ja ein magisches Dreieck«, strahlte Eric. »Wenn du es ausschneidest und dir auf die Stirn klebst, weist es dir mit seinem Licht den Weg zum Treff…«

»Spinner, alle beide. Vielleicht macht ihr euch mal ernsthaft Gedanken darüber, was gemeint sein könnte?« Ich stand auf und rupfte Tahar die Einladung aus der Hand.

»Das Bermuda-Dreieck vielleicht?«, schlug Eric vor, der immer noch grinste wie ein Honigkuchenpferd.

»Wie wärö es denn mit einöm Musikgeschäft? Das sieht doch aus wie einö Triangöl«, spekulierte Tahar.

»Was ist denn mit einem Unternehmenslogo?«, grübelte ich. »Welche Firmen kennen wir denn, die ein Dreieck im Logo haben?«

»Apollinaris«, sagte Eric.

»Mitsubishi«, sagte Tahar.

»Das kann man jedenfalls als Dreieck auslegen«, stimmte ich zu. »Aber wahrscheinlich würden wir doch eher von einem Aachener Unternehmen ausgehen, oder?« Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und tippte ein paar Suchbegriffe in den Browser ein. »Hm, Steuerberater, Werkzeugbau, der TÜV und noch ein paar andere. Wieso überfällt mich nur bei keinem davon das Gefühl, dass die was mit der Gilde der Unsichtbaren zu tun haben.«

»Die Bundesagentur für Arbeit hat auch ein Logo, das wie ein Dreieck aussieht«, sagte Eric. »Nicht direkt ein Aachener Unternehmen, aber immerhin haben wir ja an der Roermonder Straße eine Niederlassung.«

»Sag mal …«, Tahar schien Erics letzte Anmerkung nicht gehört zu haben und streckte die Hand nach dem Blatt aus. Ich reichte es ihm wieder. »Diesö Maskö hier unten unter der Unterschrift. Sind nicht Maskön häufig ein Symbol fürs Theatör?«

Ich überlegte kurz. »Gar nicht mal so doof, Herr Karim. Und was sitzt beim Stadttheater oben auf den acht Säulen über dem Eingang?«

»Ein Dreieck«, freute sich Eric. »Allerdings kein gleichschenkliges wie in der Einladung.«

»Fragt sich nur, ob es um das Symbol Dreieck geht oder ob auch die tatsächliche Ausprägung eine Rolle spielt. Könnte aber schon einen Sinn ergeben mit dem Theater. Die Schauspieler sind ja alles andere als unsichtbar, aber hinter den Kulissen gibt es ja jede Menge Leute, die man als Besucher nie zu Gesicht bekommt«, grübelte ich.

»Und die probön jetzt den Zwergenaufstand odör wie?«, gackerte Tahar. »Mit Britta als Anführerin in Schillörs Die Räuberinnön?«

»Das wäre zumindest mal ’ne Überlegung wert«, grinste ich. »Sind ja nicht umsonst die Bretter, die die Welt bedeuten.«

»Ich glaube, Sie haben da was missverstanden, Frau Sander. Wenn wir von den Unsichtbaren im Theater reden, sollten Sie eher in Richtung Kloschüsseln reinigen und die Garderobe aufhängen denken. Ihr Traumberuf – wo Ihnen doch Putzen und Ordnung halten so liegen«, grinste Eric frech.

»Tuppes. Wenn das Stadttheater gemeint ist, ist nur die Frage, wofür die drei Buchstaben stehen. Die müssen doch auch was zu bedeuten haben. Und die Maske steht zwar auf dem Brief, aber nicht in direktem Zusammenhang mit dem Dreieck«, überlegte ich.

»Und die zweitö Fragö ist, ob die drei Buchstabön jeweils einzöln für etwas stehön odör ob die nur zusammön gelesön einö Bedeutung habön.«

»Und wenn sie zusammen eine Abkürzung für etwas ergeben, fragt sich, in welcher Richtung sie zu lesen sind – im oder gegen den Uhrzeigersinn«, ergänzte ich.

»Und welcher der drei Buchstaben der Anfangspunkt für die Abkürzung ist«, sagte Eric.

* * *

Nachdem Tahar eilig aufgebrochen war, um zu einem Kundentermin zu fahren, den er beinahe verschwitzt hätte, warfen Eric und ich noch ein paar Ideen hin und her und beschlossen dann, getrennt weiter zu puzzeln, in der Hoffnung, dass wir so schneller zu einem Ergebnis kommen würden. Was Interessanteres hatten wir momentan sowieso nicht zu tun.

Den Treffpunkt nicht einfach auf die Einladung zu schreiben, sondern in einem Symbol auszudrücken, war gar nicht mal so dumm. Man beschäftigte sich nicht mehr so sehr damit, ob man überhaupt hingehen, sondern mit der Frage, wo zum Henker man sich denn überhaupt einfinden sollte.

Das Puzzeln mit den diversen Buchstabenkombinationen, die sich aus einer Lesart im oder gegen den Uhrzeigersinn und mit jeweils anderem ersten Buchstaben ergaben, trug definitiv zu meiner Allgemeinbildung bei. Dass »BHD« neben dem Birt-Hogg-Dubé-Syndrom auch für eine Selbsthilfeeinrichtung für Landwirte stand, wusste ich vorher ebenso wenig wie dass sich hinter »HDB« der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie verbarg oder die Hamburger Football-Mannschaft Blue Devils hinter »HBD«. Der Bundesverband der Deutschen Heizungsindustrie (BDH) half mir ebenso wenig weiter, und dass ich mich Samstagnacht wahlweise beim Deutschen Handballbund oder beim Deutschen Hockey-Bund einfinden sollte, hielt ich dann doch für eher unwahrscheinlich. Zu den verschiedenen Buchstabenkombinationen gab es jeweils auch einige Firmen, die diese entweder in ihren Namen aufgenommen hatten oder als Abkürzung verwendeten. Auch hier lachte mich nichts an, was meinen Puls beschleunigt hätte.

Gegen vier winkte ich Silke abwesend zu, als sie aufbrach, um sich für ihren abendlichen Einsatz schick zu machen. Die blaue Elise hatte kurz nach ihrem Amtsantritt nicht nur die Webseite der Detektei von Grund auf neu gestalten lassen – was zugegebenermaßen eine gute Idee war –, sondern sie hatte auch einen für uns ganz neuen Bereich ins Firmenportfolio aufgenommen, bei dem sich die Begeisterung der Belegschaft sehr in Grenzen hielt: Lockvogeldienste.

Was in anderen Detekteien bereits seit Jahren zum Alltagsgeschäft gehörte, war uns bisher erspart geblieben, aber unter der blauen Elise gab es keine Gnade mehr. Wollte ein Klient oder eine Klientin die Treue ihres Partners, seiner Verlobten oder Ehegattin aktiv auf die Probe gestellt wissen, war die Detektei Schniedewitz & Schniedewitz jetzt ganz vorne mit dabei. Silke machte diese Art von Job nicht gerne, hatte sich allerdings, nach allem, was ich gehört hatte, inzwischen als echtes Naturtalent erwiesen, und lebhafte Mund-zu-Mund-Propaganda unserer Klienten hatte sie innerhalb weniger Wochen zu einer äußerst gefragten Spezialistin gemacht. Ich war nur froh, dass man mich mit dieser Art von Job bisher verschont hatte.

Silke war noch keine fünf Minuten weg, als die Buchstabenkombination »DBH« außer Dopamin Beta-Hydroxylase auch ein Ergebnis produzierte, das mich aufmerken ließ: Der Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik e. V. Ich klickte durch die Website, um mir ein Bild davon zu machen, mit welchen Themen der Fachverband sich so beschäftigte, aber mein anfänglicher Enthusiasmus verflog recht schnell wieder. Zwar verfolgte der Verband mit seinem Engagement sehr löbliche Ziele wie Kriminalprävention, Straffälligenhilfe und Täter-Opfer-Ausgleich und war damit der erste Suchtreffer mit einer Verbindung zu meinem Beruf, aber mir wollte so recht nichts einfallen, was zu der geheimnisvollen Einladung und der Gilde der Unsichtbaren gepasst hätte. Der Verband war alles andere als unsichtbar. Räumlich gesehen kam er wiederum vielleicht in Frage, denn so weit war es nun nicht von Aachen nach Köln, aber überzeugt war ich noch nicht. Da passte Erics Idee mit dem Aachener Stadttheater viel eher.

Also suchte ich weiter, und als ich diejenigen durchsah, die für die einzelnen Buchstabenkombinationen plus »Aachen« ausgeworfen wurden, sah ich endlich ein Lichtlein am Ende des Tunnels. Kurze Zeit später tauchte Eric im Türrahmen auf.

»Zwei Doofe, ein Gedanke?«, fragte ich, während ich die letzte gefundene Adresse in meine Notizen kopierte.

»Vermutlich«, sagte Eric und ließ sich auf Silkes verwaistem Schreibtischstuhl nieder. »Den Burtscheider Malerbetrieb lassen wir erst mal außer Acht, oder?«

Ich nickte. »Sehe ich auch so. Aber das Don-Bosco-Haus in der Robert-Koch-Straße klingt interessant.« Das Don-Bosco-Haus gehörte der Caritas und war ein Übergangswohnheim für Menschen in schwierigen sozialen Situationen. »Die Frage ist nur, ob sich eher die Betreuer oder die Bewohner als ›unsichtbar‹ definieren würden.«

»Vielleicht sogar beide«, sagte Eric nachdenklich. »Suchtkranke oder Menschen mit anderen schwerwiegenden Problemen werden in unserer Leistungsgesellschaft ja gerne an den Rand geschoben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und die Leute, die sich mit Herzblut um diese Menschen kümmern, sind infolgedessen auch nicht gerade im zentralen Blickfeld.«

»Da ist was dran. Das Dietrich-Bonhoeffer-Haus am Kronenberg passt von der Buchstabenkombination her auch, allerdings frag ich mich, wer sich in einer evangelischen Kirchengemeinde als unsichtbar einstufen würde. Da fällt mir ehrlich gesagt nichts ein.«

»Das Einzige, was mir aufgefallen ist, ist dass beide Häuser kirchlich sind – das eine katholisch, das andere evangelisch.«

»Vielleicht ist die Gilde der Unsichtbaren ja ökumenisch, und das Motto lautet: »Lasst uns alle zusammen unsichtbar sein. Aber wer ist in einer Kirche unsichtbar?«

»Der Heilige Geist«, grinste Eric.

»Ja schon, aber kannst du mir mal verraten, mit wem der eine Gilde aufmachen soll?«

»Stimmt, selbst mit den anderen beiden Kollegen aus der Dreifaltigkeit reicht’s noch nicht für einen eingetragenen Verein.«

Ich klickte auf ein weiteres Ergebnis und seufzte. »Naja, ist auch egal, das Bonhoeffer-Haus wird nämlich abgerissen, da werden stattdessen Studentenwohnungen gebaut.«

»Ansonsten hätte ich noch den Bundesverband Rehabilitation, Kreisverband Aachen zu bieten«, ging Eric unverzagt seine Liste weiter durch. »Allerdings wird für die nur eine Bonner Adresse angegeben. Das kann’s also eigentlich auch nicht sein …«

»… und den Bundesverband Deutscher Hörgeschädigtenpädagogen in Laurensberg. Das ist aber das falsche Sinnesorgan, oder? Würden die nicht eher eine Gilde der Unhörbaren gründen?«

»Es sei denn, man wendet die gleiche Logik an wie bei den Suchtkranken. Menschen mit Beeinträchtigungen, egal ob sozial oder gesundheitlich …« Wirklich überzeugt klang Eric allerdings auch nicht.

»Alles denkbar«, grübelte ich. »Aber nirgendwo taucht ein Dreieck auf. Vielleicht gibt es unter diesen verschiedenen Kandidaten Dreiecksbeziehungen? Vielleicht arbeiten die zu dritt zusammen?«

»Möglich, aber wo wäre dann der Ort, an dem du dich einfinden sollst?«

In dem Moment klingelte es an der Tür. Da Steffi bereits das Weite gesucht hatte und von der blauen Elise kein Türdienst zu erwarten war, rappelte ich mich seufzend hoch, tappte in den Flur und drückte den Türöffner. Wenige Minuten später kam Körber die Treppe hoch.

»Nanu, was machst du denn hier, Schatziputzi«, sagte ich erfreut und küsste ihn, bevor ich die Tür hinter ihm zumachte und ihn eilig in mein Büro winkte.

»Ich dachte, ich leite unser romantisches Wochenende ein, indem ich dich aus den Klauen des blauen Ameisenbärs mit Dutt befreie, und zum Dank bist du mir dann bis Montag zu Willen«, sagte er mit einem seltenen Grinsen auf dem Gesicht.

»Wer ist hier wem zu Willen?«, fragte Eric, und Körber bekam prompt rote Ohren.

»Ach, der Kollege Lautenschläger ist auch noch da«, brummte er, als sein Blick auf den Briefbogen mit der Einladung fiel. Mit zwei Schritten war er an meinem Schreibtisch und schnappte sich die Einladung, die er mit finsterer Miene durchlas. Eric schloss leise die Bürotür.

Körber sah auf und knurrte: »Wann ist die denn gekommen?«

»Heute Mittag, wie immer mit unsichtbarem Boten.« Ich reichte ihm den Briefumschlag.

»Immerhin«, brummte er, »inzwischen kommen sie auch mal tagsüber aus der Deckung. Beim nächsten Mal erwischen wir sie vielleicht endlich mal.«

»Wieso beim nächsten Mal?«

»Wenn sie die nächste Einladung vorbeibringen, weil du dieser hier nicht folgst.« Er stutzte und fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Du willst doch da nicht etwa hingehen?«, knurrte er.

»Doch, klar, wenn ich nur wüsste, wo dieser vermaledeite Treffpunkt sein soll«, seufzte ich.

Körber sah Eric und mich entgeistert an und stöhnte. »Nee, ne?«

»Wie? Nee, ne?«, fragte Eric. »Dass sie hingehen will oder dass wir nicht wissen, wo hin?«

Körber schnaubte amüsiert durch die Nase. »Beides.«

Eric und ich tauschten einen irritierten Blick.

»Also der Herr Lautenschläger hat ja wenigstens noch die Ausrede, kein gebürtiger Öcher zu sein«, sagte Körber mit sichtlicher Erheiterung ob der großen Fragezeichen über unseren Köpfen. »Ihr seid mir vielleicht zwei Superdetektive. In Erdkunde wohl nicht aufgepasst, wie?«

Dummerweise hatte er da nicht ganz unrecht. In Erdkunde hatte ich in der Schule meist unter dem Pult Burg Schreckenstein oder Perry Rhodan gelesen. Offensichtlich rächte sich das jetzt.

»Erdkunde?«

Körber ließ sich auf meinen Schreibtischstuhl plumpsen. »Ja Herrschaftszeiten, was hat denn hier in der Region drei Ecken?«

Als es mir endlich wie Schuppen aus dem Kragen fiel, klatschte ich mir mit der flachen Hand vor die Stirn. »Das Dreiländereck – Belgien, Holland, Deutschland.«

»Also das ist nicht fair«, protestierte Eric. »Da hätte ein N stehen müssen, für Niederlande, kein H für Holland.«

»Immer diese Zugereisten«, brummte Körber und fügte erklärend hinzu: »Der Öcher sagt doch viel eher Holland als Niederlande, Eric. Außerdem hätte sonst womöglich die Gefahr bestanden, dass ihr dem BND auf die Pelle rückt. Die Gilde wollte wohl kein Risiko eingehen, dass ihr die Geheimdienste lahmlegt.«

»Unverschämtheit«, grinste ich. »Aber was soll ich sagen – durch die unbürokratische Lösung brauche ich nicht weiter zu rätseln, und du hast beste Chancen, dass dir ausnahmsweise mal jemand zu Willen …«

Das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte.

»Das wär jetzt auch zu schön gewesen«, seufzte Körber, als ich den Hörer abhob.

»Detektei Schniedewitz & Schniedewitz, Britta Sander am Apparat.«

»Britta?«, schluchzte es aus dem Hörer.

»Silke? Ist was passiert?«, fragte ich erschrocken.

»Wie man’s nimmt«, schnüffelte sie, »ich bin in der Notaufnahme …«

»WAS?! Wo? Ich mach mich gleich auf den Weg!«

»Nein, halt, stopp! Ist ja nur ein Knöchelbruch.«

»Ach du Scheiße, wie hast du das denn gemacht?«

»Ich bin mit dem Stöckelabsatz in den Teppichfransen hängen geblieben, umgeklinkt und total blöd aufgekommen.«

»Ich sag’s ja immer, Stöckelschuhe gehören verboten. Allerdings hätte ich gewettet, dass garantiert ich mir zuerst auf den blöden Dingern die Haxen breche.«

Ich hörte, wie sie unter Tränen lachte. »Ich auch.«

»Bist du alleine? Soll ich kommen?«

»Nein, alles okay, Otmar ist hier, der hat mich auch hergebracht. Aber der Termin heute Abend«, schniefte sie, »da kann ich doch jetzt nicht hin.«

O nein. Der verdammte Lockvogel-Termin!

»Ach, das ist doch gar kein Problem«, log ich tapfer, während ich in Erics und Körbers Richtung die Augen verdrehte, »den kann ich doch übernehmen.«

»Wirklich? Ach Britta, du bist ein Schatz.«

»Ich weiß«, grinste ich, »und ich sage dir, das wird ein Abend, an den man sich im Hotel Am Waldstadion noch lange erinnern wird.«

Dummerweise sollte ich damit mehr recht behalten, als mir lieb war.

* * *

Statt eines romantischen Candlelight-Dinners mit Körber und der unvermeidlichen Diskussion, ob ich nun die Einladung der Gilde annehmen sollte oder nicht, waren wahrhaft heroische Anstrengungen nötig, noch rechtzeitig zu der Firmenfeier zu kommen, auf der das Opfer meiner Lockvogel-Persona noch nicht ahnte, was ihm blühte.

Während ich die Schiebetüren des großen Wandschranks hinter meinem Schreibtisch öffnete und nach etwas Passendem an Kleid, Schuhen und Frisur suchte, spulte Silke am Telefon alle Informationen ab, die ich brauchte, um sicherzugehen, dass ich die richtige Person verlockte.

Eric und Körber schauten sich das Spektakel eine Weile an und verständigten sich dann durch einen kurzen Blick. Körber schob mich sanft auf meinen Bürostuhl und reichte mir mein Handy, auf dem gerade mehrere Fotos der Zielperson eintrafen, und ich begann hastig, mir Notizen zu machen. Eric zauberte derweil mit wenigen Handgriffen ein Ensemble aus dem Verkleidungsschrank und angelte zu meinem Entsetzen auch nach dem pinken Schminkköfferchen, das Silke vor einigen Monaten dort deponiert hatte. Manchmal musste es schnell gehen, und sie hatte vor ihren Einsätzen nicht immer Zeit, noch nach Hause zu fahren und sich zu schminken.

Während Eric mir dezent den Rücken zudrehte, kletterte ich schnell aus Jeans, T-Shirt und Kapuzenjacke und schlüpfte stattdessen in ein enganliegendes, schwarzes Cocktailkleid mit tiefem Ausschnitt sowie ein dunkelgrünes Bolerojäckchen, eine blickdichte Seidenstrumpfhose, die die hässlichen Narben auf meinem linken Bein verbarg, und flache schwarze Pumps – die niedrigen Absätze waren meine einzige Bedingung gewesen. Ich wollte nicht wenige Stunden später das zweite Bett in Silkes Krankenzimmer belegen.

»Komisch, sie meckert gar nicht«, kommentierte Körber, dessen Blick wohlwollend auf meinem neuen Aufzug ruhte.

»Keine Zeit«, knurrte ich, während ich mit der Strumpfhose kämpfte. »Aber eins muss ich dir lassen, Eric. An dir ist echt ein Berater für Damenoberbekleidung verloren gegangen.«

»Und meine Talente als Visagist erst«, strahlte er, als er sich umdrehte.

»Wirklich?«, stöhnte ich.

»Muss sein«, sagte er unerbittlich und zeigte auf meinen Bürostuhl, auf dem ich seufzend Platz nahm. »Spätestens seit dem Postkartenkiller bist du nun wirklich bekannt wie ein bunter Hund.« Er betrachtete mich eine Weile versonnen, schnappte dann das Schminkköfferchen auf, das eigentlich mehr ein Koffer war, und begann, darin herumzukramen. Nachdem er sein Handwerkszeug zurechtgelegt hatte, nahm er mein Kinn in die Hand, drehte meinen Kopf hin und her und murmelte schließlich: »Ja, so geht’s.«

Dann fing er an, mit diversen Pinseln, Quasten, Stiften und Lippenkrams an mir herumzumalen, und Körbers Augenbrauen wanderten immer mehr in Richtung Haaransatz.

»Sag mal, Kollege, wo hast du das denn gelernt?«, brummte er beeindruckt.

Eric pinselte unbeirrt weiter und sagte: »Ich hab einen Kurs gemacht. Schließlich brauchen wir so was schon mal öfter, und was passiert, wenn Britta sich selbst schminkt, habe ich ein paar Mal gesehen.« Er sah Körber an. »Schön war das nicht.«

»Also sag mal…!«, protestierte ich.

»Still halten!«, sagte er mahnend und fing an, mit Mascara, Eyeliner und Lidschatten meine Augen zu bearbeiten. »Ich war der einzige Mann im Seminar …«

»Das kann ich mir vorstellen«, gluckste Körber, der gebannt zuschaute, bis Eric fertig gemalt hatte und sich dann meinen Haaren widmete.

»Die Haare auch?«, maulte ich.

»Ja, die Haare auch«, sagte Eric, der großzügig irgendein Stylingzeugs zwischen den Handflächen verrieb und dann anfing, wild in meinen Haaren herumzuwuscheln. »Ich will schließlich nicht umsonst vier Samstage beim Frisör meines Vertrauens über die Schulter geguckt haben.«

»Ah«, gluckste Körber, »ich seh schon – Irokesenstil à la Lisbeth Salander? Ich weiß ja nicht, ob das die richtige Dynamik für eine Firmenfeier ist.«

»Also ich finde Lisbeth Salander sehr sympathisch«, sagte ich. »Wenigstens lässt die sich nix gefallen.«

»So kann man das auch nennen«, brummte Körber amüsiert.

»So, fertig!«, verkündete Eric, drehte mich samt Stuhl zum großen Spiegel in der Schranktür um. »Wenigstens brauchst du so keine Brille und keine Perücke.«

Mir fiel die Kinnlade herunter.

»Ich hätte dich wahrscheinlich nicht erkannt, wenn du mir auf der Straße begegnet wärst«, sagte Körber und klopfte Eric anerkennend auf die Schulter.

Aus dem Spiegel blickte mir ein Gesicht entgegen, das ich nur bei sehr genauem Hinsehen noch als mein eigenes erkannte. Anders als ich vermutet hatte, war Eric die Verwandlung nicht durch Masse, sondern Klasse gelungen. Er hatte mit seinen diversen Töpfchen an Farben und Substanzen bestimmte Partien meines Gesichts stärker betont, andere hingegen zurückgenommen, und meine Augen so geschickt geschminkt, dass trotz gleicher Gesichtszüge und Knochenstruktur ein völlig neues Bild entstand. Zusammen mit der stylischen Frisur, die er aus meinen verstrubbelten, schwarzen Haaren geformt hatte, konnte ich mich bedenkenlos unters Volk mischen, ohne eine Enttarnung fürchten zu müssen.

»Zapperlot, Eric! In dir schlummern ja ungeahnte Talente. Vielleicht kannst du aus Körber ja auch noch was machen«, grinste ich, während ich mein neues Aussehen von allen Seiten begutachtete.«

Ich warf einen letzten zufriedenen Blick in den Spiegel, stand auf, nahm das schwarze Damenhandtäschchen, das Eric mir reichte, und stopfte eilig alles Notwendige hinein. Mein Handy schob ich in die nachträglich eingenähte Innentasche des Bolerojäckchens, wo es zu meiner großen Überraschung nicht auftrug.

Körber reichte mir eine Dose Pfefferspray. »Falls der Kerl zudringlich wird.«

»Eigentlich ist das doch der Plan, oder?«, grinste ich und nahm das Spray. »Aber man weiß ja nie – schließlich hat man nicht immer gleich einen Feuerlöscher zur Hand.«

Sammy lag in seinem Körbchen und verfolgte jede meiner Bewegungen mit aufmerksamen Augen. Als ich einen dunklen Mantel aus dem Schrank nahm und ihn anzog, sprang er auf und kläffte begeistert.

Ich ging in die Hocke und kraulte ihm das Köpfchen. »Tut mir leid, Sammy, du musst mich heute Abend beim romantischen Abend mit Körber vertreten. Zieh dir was Hübsches an, ja?«

Sammy wuffte und wedelte mit dem Schwanz.

Ich küsste Körber zum Abschied, winkte den beiden Herren noch mal zu und klapperte eilig die Treppe runter. Gott sei Dank war es nicht weit bis zum Hotel Am Waldstadion.

* * *

18:55 Uhr

Nur gut, dass wir für unsere Missionen in Verkleidung auch die elegante Variante im Schrank hatten – sonst wäre ich im Fünf-Sterne-Superior-Hotel Am Waldstadion schon beim Reinkommen unangenehm aufgefallen. Ich fuhr den kurzen Weg vom Brüsseler Ring und bog dann an der Tankstelle auf der St. Vither Straße nach rechts in den I. Rote-Haag-Weg ab. Nach wenigen hundert Metern tauchte rechts das Tor des Waldstadions auf, und einen Steinwurf davon entfernt stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite das dreistöckige Luxushotel, das hauptsächlich aus Chrom, Glas und Stahl zu bestehen schien.

Um die Baugenehmigung im Aachener Wald hatte es ein jahrelanges Tauziehen gegeben, Bürgerinitiativen hatten sich gebildet, irgendjemand hatte sogar geklagt, aber die internationalen Investoren hatten den längeren Atem und die tieferen Taschen, und so war die Genehmigung schlussendlich doch erteilt worden. Die jahrzehntealte Kleingartenanlage, die dem Hotel eigentlich hatte weichen sollen, durfte jedoch bleiben, und obwohl ich sie im Dunkeln vom Parkplatz neben dem Hotel aus nicht sehen konnte, wusste ich doch, dass sie sich, abgetrennt durch einen Zaun, fast nahtlos an den Hotelkomplex anschloss.

Anders als befürchtet hatte die Luxusherberge, die zu Beginn des vergangenen Jahres eröffnet worden war, dem alteingesessenen Hotel am Bismarckturm wenige hundert Meter weiter an der Monschauer Straße keine Konkurrenz gemacht, die Zielgruppen waren schlicht zu unterschiedlich.

Als ich auf den überdachten roten Teppich trat, der auf die gläserne Eingangstür zuführte, war ich sehr froh, dass ich die flachen Schuhe anhatte, sonst hätte der Türsteher in Schirmmütze und schwarzem Uniformmantel richtig was zu lachen gehabt. So konnte ich die roten Meter halbwegs würdevoll hinter mich bringen und ihm huldvoll zunicken, als er mir die Tür aufhielt.

Automatische Schiebetüren waren wohl gestern.

Die Eingangshalle hatte jemand entworfen, um zu beeindrucken. Dunkle Marmorfliesen, auch hier viel Glas und Chrom, als Sitzgelegenheiten Designermöbel, die selbst ich als solche erkannte, und generell ein Hauch von Exklusivität.

Rechts vom Eingang befand sich die Hotelbar, also wandte ich mich nach links an die Rezeption, wo mich eine blonde, junge Frau mit einem warmen Lächeln begrüßte. »Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Abend«, erwiderte ich und registrierte, dass allein drei Personen an der Rezeption arbeiteten. »Ich suche nach unserer Firmenfeier.« Wenn man sich auf eine Feier einlädt, auf die man nicht gehört, immer schön so tun, als wäre es selbstverständlich, von wem man redet.

»Welche der beiden Firmen, die heute Abend zu Gast sind, ist es denn?«, fragte das Mädel freundlich.

»Ach so, Entschuldigung, woher sollen Sie auch wissen, wo ich hin will«, ich lächelte sie an, »die Kestel & Luft Maschinenbau GmbH suche ich.« Dann beugte ich mich verschwörerisch vor: »Lust habe ich ehrlich gesagt überhaupt keine, aber was wollen Sie machen, mein Chef macht mir die Hölle heiß, wenn ich nicht auftauche.« Niemand verdächtigt einen, nicht zu einer Feier zu gehören, zu der man nicht hinwill.

Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Ich weiß, was Sie meinen«, gab sie leise zurück und sagte dann in normaler Lautstärke: »Die Feierlichkeiten von Kestel & Luft finden in unserem Panorama-Restaurant im dritten Stock statt. Die Aufzüge befinden sich jeweils rechts und links der Glasfront zur Pool-Area.« Sie zeigte auf zwei Schilder rechts und links von besagter Glasfront gegenüber der Rezeption. »Der Aufzug auf der linken Seite bringt Sie direkt zum Restaurant-Empfang, der rechte«, hier zwinkerte wiederum sie verschwörerisch, »führt zum Barbereich des Restaurants.«

»Voll beim Mitdenken erwischt worden«, flüsterte ich, bedankte mich laut und machte mich auf den Weg zum Aufzug rechter Hand.

Die hohe Glasfront gab den Blick frei auf einen großen, beleuchteten Poolbereich mit Sonnenliegen, einer momentan geschlossenen Sommerbar und einem Pool, den ich auf 20 Meter Länge schätzte. Schwimmbäder ließen mich neuerdings immer an Tom denken, der normalerweise jeden Tag zwei Kilometer seine Bahnen zog und momentan mit den Sporteinrichtungen der JVA Aachen vorliebnehmen musste, um seine legendäre Fitness aufrechtzuerhalten.

Als die Aufzugtür sich öffnete und ich darin einen leibhaftigen Liftboy erblickte, muss ich so verdattert geguckt haben, dass der lachen musste. »Nicht erschrecken, ich beiße nur am Wochenende.«

»Es ist Wochenende«, gab ich grinsend zurück und betrat den Lift. »Aber abgesehen davon hätte ich nicht gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch mal einen Liftboy zu Gesicht bekomme.«

Er wartete, bis die Aufzugtür sich geschlossen hatte. »Naja, eigentlich bin ich gar kein Liftboy, sondern der Hans-Dampf-in-allen-Gassen, Gepäck, Zimmerservice und so, aber wenn das Hotel voll und sonst nichts zu tun ist, leisten wir uns halt auch mal ’nen Liftboy. Das hebt das gefühlte Hotelniveau gleich um einen halben Stern.«

»Tatsächlich?«, staunte ich.

»Doch, doch«, bestätigte er, und nachdem ich ihm gesagt hatte, wo ich hinwollte, drückte er auf den Knopf fürs Panorama-Restaurant.

»Aber bei drei Stockwerken wäre ein Vollzeit-Liftboy auch ein bisschen übertrieben, oder?«, grinste ich.