Abenteurer des Schienenstrangs - Jack London - E-Book

Abenteurer des Schienenstrangs E-Book

Jack London

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Beschreibung

Jack London berichtet über seine Zeit als Tramp nach der Wirtschaftskrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Er erzählt, wie er Bekanntschaft mit den "Schienenjungmännern" schließt und so den Verlockungen des (überall hinführenden?) Schienenstranges erliegt. Man lernt die Gefahren und Strapazen des Lebens als Landstreicher kennen. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Reisen als Hobo per Bahn auf einem der vorderen Wagen, der nicht von den anderen Wagen her durch Ziehharmonikatüren betreten werden konnte, einem sogenannten "Blinden", oder unter dem Zug, stets in Gefahr "runtergeschmissen" zu werden. Der Autor geht auch auf „General“ Kellys Armee von Arbeitslosen und auf einen Gefängnisaufenthalt ein.

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Jack London

Abenteurer des Schienenstrangs

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Text

Bookworm Klassiker – Band 1

Jack London – Abenteurer des Schienenstrangs

1. eBook-Auflage – August 2013

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.gratis-foto.eu/

Übersetzung: Chris Schilling

Lektorat: Hermann Schladt

 

 

 

Jack London

Abenteurer des Schienenstrangs

 

Ein Bekenntnis

Im Staate Nevada wohnte eine Frau, die ich einmal andauernd, konsequent und schamlos mehrere Stunden lang belogen habe. Ich will mich nicht bei ihr entschuldigen, keineswegs. Aber ich möchte ihr eine Erklärung geben. Unglücklicherweise kenne ich ihren Namen nicht, und noch weniger ihre jetzige Adresse. Sollten ihr jedoch diese Zeilen zufällig vor Augen kommen, so hoffe ich, dass sie mir schreiben wird.

Es war in Reno (Nevada) im Sommer 1892. Dazu war Jahrmarkt und die ganze Stadt voller Spitzbuben und Taschendiebe, gar nicht zu reden von einer ungeheuren Horde hungriger Landstreicher. Diese hungrigen Landstreicher waren es, die die Stadt so ungastlich machten. Sie belagerten die Hintertüren der Bürgerhäuser, bis sich keine mehr öffnete.

Eine schlechte Stadt für brave Leute – so nannten die Landstreicher sie damals. Ich weiß noch, dass ich manches liebe Mal herumlief, ohne einen Bissen zu bekommen. Ja, so schlimm ging es mir in dieser Stadt, dass ich eines Tages dem Schaffner einen Streich spielte und den Salonwagen eines reisenden Millionärs enterte. Als ich auf der Plattform stand, fuhr der Zug ab, und ich stürzte auf besagten Millionär los, der Schaffner hinter mir her, um mich zu packen. Es wurde totes Rennen, denn ich erreichte den Millionär in demselben Augenblick wie der Schaffner mich. Ich hatte keine Zeit, viele Umstände zu machen. »Geben Sie mir einen viertel Dollar, damit ich mir Essen kaufen kann«, platzte ich heraus. Und so wahr ich lebe: der Millionär fuhr in die Tasche und reichte mir ... gerade ... genau einen viertel Dollar. Ich bin überzeugt, er war so verblüfft, dass er automatisch gehorchte, und ich habe später bitter bereut, dass ich nicht einen Dollar verlangte. Ich weiß, dass ich ihn bekommen hätte. Ich sprang vom Trittbrett, während der Schaffner versuchte, mir einen Tritt ins Gesicht zu versetzen. Es gelang ihm nicht. Man ist nicht mehr viel wert, wenn man von einem fahrenden Zuge abspringen muss, von dem Tritt eines Negerstiefels – Nummer fünfzig! – bedroht; aber jedenfalls: ich erhielt meinen viertel Dollar! Wahrhaftig!

Doch um wieder von der Frau zu erzählen, die ich so schamlos belog: Es war mein letzter Abend in Reno. Ich war auf der Rennbahn gewesen und hatte dabei mein Mittagessen eingebüßt. Ich war hungrig, und zudem war gerade eine Art Wohltätigkeitskomitee gegründet worden, um die Stadt von hungrigen Individuen meiner Art zu befreien. Die Polizei hatte sich schon eines Teils meiner Kollegen bemächtigt, und ich konnte gleichsam die sonnigen Täler Kaliforniens mich über die eisigen Zinnen der Sierra rufen hören. Zweierlei hatte ich noch zu tun, ehe ich den Staub Renos von meinen Füßen schütteln konnte. Erstens: einen Platz auf dem blinden Gepäckwagen des Abends abgehenden Überlandzuges nach Westen zu erwischen. Zweitens: eine Mahlzeit zu erbetteln. Selbst ein junger Mann bedenkt sich, ehe er sich darauf einlässt, mit leerem Magen die ganze Nacht hindurch außen auf einem Zuge zu verbringen, der durch Tunnels und ewigen Schnee auf himmelanstrebenden Bergen dahin saust. Aber dieses »Eine-Mahlzeit-Erbetteln« war keine Kleinigkeit. Ich hatte ein Dutzend Häuser vergebens abgeklappert. Zuweilen machte man unangenehme Bemerkungen über schwedische Gardinen, hinter die ich gehörte, wenn es mir nach Verdienst ginge. Das schlimmste von allem war aber, dass solche Behauptungen nur allzu sehr stimmten. Deshalb wollte ich gerade am Abend machen, dass ich nach dem Westen kam. Das Auge des Gesetzes suchte sehr eifrig in der Stadt nach Hungrigen und Obdachlosen, denn für sie war das Haus mit den schwedischen Gardinen bestimmt.

Anderswo wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, so dass ich mein höflich und demütig vorgebrachtes Ersuchen, mir etwas zu essen zu geben, jäh unterbrechen musste. In einem Hause öffneten sie nicht einmal die Tür. Ich stand davor und klopfte an, und sie beguckten mich durchs Fenster. Ja, sie hoben sogar einen kräftigen kleinen Jungen hoch, damit er über die Schultern seiner Eltern den Vagabunden sehen konnte, der in ihrem Hause nichts zu essen haben sollte.

Es sah aus, als müsste ich zu den ganz Armen gehen, um mein Essen zu bekommen. Die ganz Armen sind die letzte, aber sichere Hoffnung des Vagabunden. Auf die ganz Armen kann man sich stets verlassen. Sie jagen niemals einen Hungrigen von ihrer Tür. Immer habe ich etwas zu essen bekommen, wenn ich zu den Hütten kam, wo die Löcher in den zerschlagenen Scheiben mit Lumpen verstopft sind.

O ihr Wohltätigkeitskrämer! Geht zu den Armen und lernt von ihnen, denn nur die Armen sind wirklich wohltätig. Sie geben weder vom Überfluss, noch versagen sie ihn, denn sie haben keinen Überfluss. Sie geben – und sie versagen nie – von dem, was sie selbst nötig und oft bitter nötig haben. Einem Hunde einen Knochen zuzuwerfen, ist keine Wohltätigkeit. Wohltätigkeit ist, den Knochen mit dem Hunde zu teilen, wenn man selbst ebenso hungrig ist wie der Hund.

Besonders aus einem Hause wurde ich an diesem Abend regelrecht hinausgeworfen. Die Fenster der Vorhalle gingen ins Speisezimmer, und drinnen sah ich einen Mann, der Pastete aß – eine große Fleischpastete. Ich stand in der offenen Tür, und er aß weiter, während er mit mir sprach. Er hatte Glück gehabt, und aus seinem Glück war Groll gegen seine weniger glücklichen Brüder erwachsen. Er unterbrach meine Bitte, mir etwas zu geben, mit einem schnarrenden: »Ich glaube, Sie haben keine Lust zum Arbeiten.«

Nun hatte das gar nichts mit der Sache zu tun. Ich hatte nichts von Arbeit gesagt. Der Gegenstand, auf den ich das Gespräch gebracht hatte, war lediglich »Essen«. Und ich hatte in der Tat keine Lust zum Arbeiten. Ich wollte heute Nacht mit dem Überlandzuge weg.

»Ich glaube, Sie würden nicht einmal arbeiten, wenn Sie Gelegenheit dazu hätten«, knurrte er. Ich sah das bedrückte Gesicht seiner Frau und wusste, dass ich eine gute Portion von der Fleischpastete bekommen haben würde, wenn der Zerberus nicht dagesessen hätte. Aber der Zerberus saß da und schaufelte die Pastete in sich hinein, und ich sah, dass ich mich bei ihm beliebt machen musste, wenn ich etwas erreichen wollte. Folglich ging ich seufzend auf seine moralischen Betrachtungen über die Arbeit ein.

»Natürlich möchte ich gern arbeiten«, schützte ich vor.

»Das glaube ich nicht«, schnaubte er.

»Versuchen Sie es«, antwortete ich und wurde jetzt selber warm.

»Schön«, sagte er. »Kommen Sie morgen früh an die und die Ecke.« – Ich habe die Adresse vergessen. – »Sie wissen, wo das Haus abgebrannt ist. Da werde ich Ihnen Arbeit geben; Sie können Steine tragen.«

»Schön, ich werde kommen.«

Er grunzte und aß weiter. Ich wartete. Nach einigen Minuten blickte er auf mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: ›Ich denke, Sie sind längst fort!‹, und fragte:

»Nun?«

»Ich ... ich warte darauf, dass ich etwas zu essen bekomme«, sagte ich höflich.

»Ich wusste ja, dass Sie nicht arbeiten wollen!« brüllte er.

Er hatte recht, selbstverständlich; aber er muss durch Gedankenlesen auf seinen Schluss gekommen sein, denn er konnte es durch nichts belegen. Aber der Bettler an der Tür muss demütig sein, und so beugte ich mich vor seiner Logik, wie ich mich vor seiner Moral gebeugt hatte.

»Sehen Sie, ich bin jetzt hungrig«, sagte ich immer noch höflich. »Morgen früh bin ich noch hungriger. Denken Sie sich, wie hungrig ich sein werde, wenn ich einen ganzen Tag Steine geschleppt habe, ohne etwas zu essen zu bekommen. Wenn Sie mir jetzt aber etwas zu essen geben, werde ich morgen ganz anders arbeiten können.«

Er erwog ernsthaft meinen Einwand, während er gleichzeitig weiter aß und seine eingeschüchterte Frau beinahe ein paar freundliche Worte gesagt hätte, sich aber beherrschte.

»Ich werde Ihnen sagen, was ich tun will«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Sie kommen morgen früh, und mittags gebe ich Ihnen einen Vorschuss, so dass Sie etwas essen können. Dann kann ich ja sehen, ob Sie es ernst meinen oder nicht.«

»Aber inzwischen –« begann ich, doch er unterbrach mich.

»Wenn ich Ihnen jetzt etwas zu essen gäbe, so bekäme ich Sie sicher nie mehr zu sehen. Oh, ich kenne Leute Ihres Schlages. Sehen Sie mich an! Ich schulde keinem Menschen etwas. Ich habe mich nie so weit erniedrigt, dass ich einen Menschen um Essen gebeten hätte. Ich habe mir mein Essen immer redlich verdient. Das schlimme bei Ihnen ist, dass Sie faul und liederlich sind. Das kann ich Ihnen ansehen. Ich habe gearbeitet und bin ein anständiger Mensch. Was ich bin, habe ich mir selbst zu verdanken. Und Sie können es ebenso haben, wenn Sie arbeiten und ein anständiger Mensch sind.«

»So wie Sie?« fragte ich.

Ach, nie hatte auch nur ein Funken Humor die düstere, durch Arbeit abgebrühte Seele dieses Menschen erhellt.

»Ja, wie ich«, antwortete er.

»Wir alle?« fragte ich.

»Ja, ihr alle«, entgegnete er mit innerlicher Überzeugung.

»Aber wenn es uns allen so wie Ihnen ginge«, sagte ich. »so müssen Sie mir schon erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es dann keinen gäbe, der Mauersteine für Sie schleppte«.

Ich schwöre darauf, dass ein Anflug von Lächeln in den Augen der Frau zu sehen war. Was ihn betrifft, so war er einfach entsetzt – ob aber über die schreckliche Aussicht, dass er bei einer Reform der Menschheit niemand mehr bekommen könnte, der Steine für ihn schleppte, oder über meine Frechheit, das werde ich nie erfahren.

»Ich will meine Worte nicht an Sie verschwenden«, brüllte er. »Machen Sie, dass Sie wegkommen, Sie undankbarer Lümmel!«

Ich machte einen Kratzfuß, um ihm meine Absicht, zu gehen, kundzutun, und fragte:

»Und ich bekomme also nichts zu essen?«

Er sprang auf. Er war ein großer Kerl. Ich war ein Fremder in einem fremden Lande, und das Auge des Gesetzes suchte nach mir. Ich machte, dass ich fort kam. ›Aber warum undankbar?‹ fragte ich mich, als ich die Gartenpforte hinter mir schloss. ›Was, zum Kuckuck!, hat er mir gegeben, dass ich undankbar sein könnte?‹ Ich blickte mich um. Durchs Fenster konnte ich ihn noch sehen. Er war zu seiner Pastete zurückgekehrt.

Jetzt hatte ich fast den Mut verloren. Ich ging an vielen Häusern vorbei, ohne mich hineinzuwagen. Alle Häuser sahen gleich aus, aber keines einladend. Nachdem ich ein halbes Dutzend Ecken weitergekommen war, schüttelte ich meine Niedergeschlagenheit ab und nahm mich zusammen. Ich entschloss mich, mein Glück im nächsten Hause zu versuchen. Es begann schon dunkel zu werden, als ich es erreichte und nach hinten an die Küchentür ging.

Ich klopfte vorsichtig an, und als ich das freundliche Gesicht einer Frau in mittleren Jahren sah, die mir öffnete, fiel mir plötzlich die »Geschichte« ein, die ich ihr erzählen musste. Denn man muss wissen, dass für einen Bettler viel vom Erzählen einer guten Geschichte abhängt. Vor allem, und zwar im ersten Augenblick, muss der Bettler sein Opfer »abschätzen«. Hierauf muss er eine Geschichte erzählen, die sich nach Persönlichkeit und Temperament des jeweiligen Opfers zu richten hat. Und gerade hier beginnt die Hauptschwierigkeit: Man muss im selben Augenblick das Opfer abschätzen und seine Geschichte anfangen. Man hat nicht eine Minute zur Vorbereitung. Blitzschnell muss man die Eigenart des Opfers erraten und eine Geschichte ausdenken, die Eindruck macht. Der erfolgreiche Landstreicher muss ein Künstler sein. Er muss spontan und ohne sich zu bedenken erfinden – und darf nicht aus dem Überfluss seiner Phantasie schöpfen, sondern aus dem, was er in dem Gesicht der Person liest, die ihm die Tür öffnet, einerlei, ob es Mann, Frau oder Kind, ob das Gesicht freundlich oder mürrisch, freigebig oder geizig, gutmütig oder boshaft, jüdisch oder christlich, schwarz oder weiß, von Rassenvorurteilen geprägt oder von brüderlichem Geist beseelt, von Kurzsichtigkeit oder Weitblick, oder was es sonst sein kann, gezeichnet ist. Ich habe oft gedacht, dass ich meine Erfolge als Schriftsteller der Erfahrung zu verdanken haben muss, die ich in meinen Vagabundentagen gesammelt habe. Um die Nahrung zu erhalten, die ich zum Leben brauchte, war ich genötigt, Geschichten zu erzählen, die wahrscheinlich klangen. Wenn man, von einem unerbittlichen Zwange getrieben, an der Küchentür steht, entwickelt sich die Fähigkeit, zu überzeugen und aufrichtig zu wirken, die von den Kritikern als erste Voraussetzung, gute Erzählungen zu schreiben, betrachtet wird. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass es meine Lehrzeit als Vagabund war, die mich zu einem Realisten gemacht hat. Realismus ist die einzige Ware, die man gegen Nahrungsmittel an der Küchentür eintauschen kann.

Überhaupt: Kunst ist nur vollendete Kunstfertigkeit, und Kunstfertigkeit hat schon manche ›Geschichte‹ gerettet. Ich weiß noch, wie ich einmal auf einer Polizeistation in Winnipeg (Manitoba) log. Ich wollte mit der Kanada-Pazifikbahn nach dem Westen. Natürlich verlangte die Polizei eine Geschichte, und die erfand ich denn auch – stehenden Fußes. Sie waren Landratten mitten im Festlande, also was konnte ich Besseres tun, als eine Geschichte von der See erzählen? Dabei konnten sie mich nie fangen. Und so erzählte ich ihnen denn eine herzerweichende Geschichte von meinem Leben auf dem Höllenschiff ›Glenmore‹. (Ich hatte die ›Glenmore‹ einmal in San Francisco vor Anker liegen sehen.) Ich wäre englischer Schiffsjunge, sagte ich. Aber da sagten sie, ich spräche nicht wie ein Engländer, und so musste ich sofort eine neue Geschichte erfinden. Ich wäre in den Vereinigten Staaten geboren und erzogen worden. Dann wären meine Eltern gestorben, und man hätte mich zu meinen Großeltern nach England geschickt. Die hätten mich auf die ›Glenmore‹ gegeben. Ich hoffe, der Kapitän der› Glenmore‹ wird es mir verzeihen, dass ich seinen guten Namen an jenem Abend auf der Polizeistation in Winnipeg angeschwärzt habe. Solche Grausamkeit! Solche Roheit! So teuflisch in der Erfindung von Strafen! Das erklärte, dass ich von der ›Glenmore‹ weggelaufen war, als sie in Montreal lag.

Aber weshalb ich mich denn mitten in Kanada befände und nach dem Westen wollte, wenn meine Großeltern in England wohnten? Ich erdichtete sofort eine verheiratete Schwester in Kalifornien. Sie würde für mich sorgen. Ich verbreitete mich weitläufig über ihr liebevolles Gemüt. Aber sie waren noch nicht mit mir fertig, diese hartherzigen Polizisten, ich war in England auf die ›Glenmore‹ gekommen; was hatte ich in den beiden Jahren getan, ehe ich weggelaufen war, was hatte die ›Glenmore‹ getan, und wo war sie gewesen? Und so hatte ich mit diesen Landratten eine Reise um die Welt unternommen. Von gewaltigen Seen umher geworfen, während der Schaum ihnen das Gesicht peitschte, hatten sie mit mir gegen einen Orkan in der japanischen Küste angekämpft. Sie luden und löschten mit mir in allen Häfen der sieben Meere. Ich nahm sie mit nach Indien, Rangoon und China, ließ sie mir das Eis bei Kap Horn aufbrechen, und schließlich vertäuten wir in Montreal.

Und dann sagten sie, ich sollte einen Augenblick warten, und einer der Polizisten ging in die Nacht hinaus, während ich mich am Ofen wärmte und mir den Kopf darüber zerbrach, was sie mir jetzt für eine Falle stellen würden.

Ich stöhnte inwendig, als ich ihn auf den Fersen des Polizisten zur Tür hereinkommen sah. Diese winzigen Goldringe in seinen Ohren waren kein Zigeunerschmuck, diese Haut war nicht vom Präriewind zu runzligem Leder verwittert, und nicht Schneegestöber und Bergeshänge hatten seinen Gang so wiegend gemacht. In diesen Augen, die mich jetzt anblickten, sah ich den unverkennbaren Sonnenglanz des Meeres. Ach, das war eine schwere Aufgabe für mich! Hier standen fünf oder sechs Polizisten und sahen mich an – und ich hatte nie das Chinesische Meer befahren, war nie bei Kap Horn gewesen, hatte nie Indien und Rangoon gesehen.

Ich war verzweifelt. Der Zusammenbruch grinste mich an in Gestalt dieses alten verwitterten Seebären mit den goldenen Ringen in den Ohren. Wer war er? Was war er? Das musste ich ergründen, ehe er mich ergründete. Ich musste eine neue Richtung einschlagen, sonst gaben mir diese bösen Polizisten die Richtung an, in eine Zelle, vor Gericht, in andre Zellen. Wenn er mich fragte, ehe ich wusste, wie viel er wusste, so war ich verloren.

Aber glauben Sie, dass ich etwas von der verzweifelten Lage, in der ich mich befand, vor diesen wachsamen Hütern des öffentlichen Wohles von Winnipeg verriet? Nicht die Spur. Ich begegnete dem alten Seemann froh und lächelnd, mit all der gutgespielten Erleichterung über die Befreiung aus einer Gefahr, die ein Ertrinkender an den Tag legen mag, wenn er in seinem letzten Verzweiflungskampf einen Retter findet. Hier war ein Mann, der mich verstand, und der den Bluthunden, die mich nicht verstanden, meine wahre Geschichte bestätigen würde, das war die Rolle, die ich zu spielen hatte. Ich bemächtigte mich seiner, bombardierte ihn mit Fragen über ihn selber. In Gegenwart meiner Richter wollte ich den Charakter meines Retters erforschen, ehe er mich rettete.

Er war ein freundlicher Seemann – eine »leichte Beute«. Die Polizisten wurden ungeduldig, als ich ihn so ausfragte. Zuletzt sagte einer von ihnen, ich sollte den Mund halten. Ich hielt den Mund; aber während ich den Mund hielt, dichtete ich eifrig, arbeitete fieberhaft an dem Text für den nächsten Akt. Ich hatte genug erfahren, um vorläufig mit ihm fertig zu werden. Er war Franzose. Er war immer auf französischen Kauffahrteischiffen gefahren, mit Ausnahme einer einzigen Reise auf einem englischen Segler. Und schließlich – welches Glück! – war er seit zwanzig Jahren nicht mehr auf See gewesen.

Der Polizist bat ihn, mich nachdrücklich zu verhören.

»Du hast Rangoon angelaufen?« fragte er.

Ich nickte. »Wir mussten den dritten Steuermann an Land schicken. Fieber.«

Hätte er mich gefragt, welche Art Fieber, so würde ich »gastrisches« gesagt haben, obgleich ich keine Ahnung hatte, was gastrisches Fieber war. Aber das fragte er nicht. Statt dessen war seine nächste Frage:

»Und wie ist Rangoon?«

»Wie es sein soll. Es regnete ziemlich stark, als wir da waren.«

»Hast du Landurlaub gehabt?«

»Gewiss«, antwortete ich. »Drei von uns Schiffsjungen waren zusammen in der Stadt.«

»Erinnerst du dich des großen Tempels?«

»Welches Tempels?« wich ich aus.

»Des großen, oben auf der Treppe.«

Ich wusste, hätte ich mich des Tempels erinnert, so wäre ich genötigt worden, ihn zu beschreiben. Ein gähnender Schlund öffnete sich vor mir.

Ich schüttelte den Kopf.

»Du kannst ihn vom Hafen aus sehen«, sagte er. »Man braucht nicht einmal Landurlaub, um ihn zu sehen.«

Nie in meinem Leben habe ich mich so über einen Tempel geärgert. Aber mit dem Tempel in Rangoon wurde ich doch fertig.

»Er ist nicht vom Hafen aus zu sehen«, widersprach ich. »Er ist auch weder von der Stadt noch oben von der Treppe aus zu sehen, weil« – ich machte eine Pause, um die Wirkung zu steigern – »weil gar kein Tempel da ist.«

»Ich habe ihn aber mit eigenen Augen gesehen!« rief er. – »Wann war das?« forschte ich.

»Einundsiebzig.«

»Aber der ist doch bei dem großen Erdbeben achtzehnhundertundsiebenundachtzig zerstört«, erklärte ich. »Er war sehr alt.«

Es trat eine Pause ein. Er versuchte eifrig, sich das Bild des schönen Tempels am Meere, den er in seiner Jugend gesehen hatte, vor seine alten Augen zurückzurufen.

»Die Treppe ist noch da«, sagte ich, gleichsam um ihm zu helfen. »Man kann sie vom Hafen aus sehen. Und erinnern Sie sich der kleinen Insel rechts von der Hafeneinfahrt?« Ich denke mir, dass dort irgendwo eine Insel gewesen war (ich war entschlossen, sie gegebenenfalls auf die linke Seite zu versetzen), denn er nickte. »Die ist weg«, sagte ich.

»Sieben Faden Wasser, wo sie lag.«

Ich konnte einen Augenblick Atem schöpfen. Während er darüber nachgrübelte, wie die Zeit alles verändert, bereitete ich mich auf den Rest meiner Geschichte vor.

»Kennen Sie das Zollgebäude in Bombay?« Er kannte es.

»Bis auf den Grund abgebrannt«, teilte ich ihm mit.

»Kennst du Jim Wan?« drang er auf mich ein.

»Tot«, sagte ich; aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer Jim Wan war.

Jetzt befand ich mich wieder auf Glatteis.

»Kennen Sie Billy Harper in Schanghai?« fragte ich meinerseits schnell.

Der alte Seemann dachte angestrengt nach, um sich Billy Harpers zu erinnern, aber diese Ausgeburt meiner Phantasie war zu viel für sein geschwächtes Gedächtnis.

»Selbstverständlich kennen Sie Billy Harper«, sagte ich eindringlich. »Den kennt doch jedermann. Er ist seit vierzig Jahren dort. Na ja, und er ist immer noch da, das ist alles, was ich darüber sagen kann.« Und da geschah das Wunderbare. Der Seemann erinnerte sich Billy Harpers. Vielleicht gab es einen Billy Harper, und vielleicht hatte er vierzig Jahre in Schanghai gelebt und war noch da, aber ich hörte jedenfalls zum ersten Mal von ihm.

Eine gute halbe Stunde sprachen der Seemann und ich weiter auf diese Art. Schließlich sagte er zu den Polizisten, ich wäre der, für den ich mich ausgäbe, und nachdem ich freies Logis für die Nacht und Frühstück erhalten hatte, wurde ich in Freiheit gesetzt und konnte nach San Francisco zu meiner verheirateten Schwester fahren.

Aber nun zurück zu der Frau in Reno, die mir in der Dämmerung die Tür öffnete. Sobald ich den ersten Schimmer ihres freundlichen Gesichtes sah, war ich mir gleich klar, wie ich mich zu verhalten hatte. Ich wurde ein lieber, unschuldiger, unglücklicher Junge. Ich konnte nichts herausbringen. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Noch nie hatte ich einen Menschen um Essen gebeten. Ich, der ich das Fechten als eine angenehme, lustige Beschäftigung betrachtete, machte aus mir einen braven Bürgerknaben, mit der ganzen Moral des Bürgerstandes belastet. Und ich versuchte, mein Gesicht in müde und traurige Falten zu legen, wie es sich für einen treuherzigen, hungrigen Burschen schickte, der nicht gewohnt war, zu betteln.

»Sie sind hungrig, armer junger Mann«, sagte sie. Ich hatte sie dazu gebracht, das erste Wort zu sprechen.

Ich nickte und schluckte.

»Es ist das erste Mal, dass ich je ... gebettelt habe«, sagte ich mit zitternder Stimme.

»Kommen Sie herein!« Die Tür wurde weit geöffnet. »Wir haben selbst gerade fertig gegessen, aber es ist noch Feuer auf dem Herde, und ich kann Ihnen schnell etwas machen.«

Als ich ins Licht trat, betrachtete sie mich forschend. »Ich wünschte, mein Junge wäre so gesund und stark wie Sie«, sagte sie. »Aber er ist nicht stark. Manchmal fällt er hin. Gerade heute Nachmittag ist er wieder hingefallen und hat sich bös gestoßen, der arme Junge!«

In ihrer Stimme lag eine unsagbare Mütterlichkeit und Milde, und ich sehnte mich, teil daran zu haben. Ich sah ihn an. Er saß dünn und blass, mit verbundenem Kopfe an der andern Seite des Tisches. Er regte sich nicht, aber seine Augen, die im Schein der Lampe schimmerten, ruhten anhaltend und verwundert auf mir.

»Gerade wie mein armer Vater«, sagte ich. »Er hatte die Fallsucht. Eine Art Schwindel. Die Ärzte waren ratlos. Sie konnten nicht herausbekommen, was mit ihm los war.«

»Ist er tot?« fragte die Frau sanft und legte mir ein halbes Dutzend weichgekochte Eier vor.

»Tot«, schluchzte ich. »Vor vierzehn Tagen. Ich war bei ihm, als es geschah. Wir wollten über eine Straße gehen. Auf einmal fiel er hin. Er kam nicht wieder zum Bewusstsein. Man trug ihn in eine Apotheke, und dort starb er.«

Und so verbreitete ich mich über die mitleiderregende Geschichte meines Vaters – wie er mit mir nach dem Tode meiner Mutter den Hof verlassen hatte und nach San Francisco gegangen war; wie seine Pension (er war alter Soldat) nicht ausreichte, und wie er sein Glück als Kolporteur versucht hatte. Auch von meinen traurigen Erlebnissen in den wenigen Tagen nach seinem Tode erzählte ich, die ich allein und verlassen in den Straßen San Franciscos verbracht hatte. Die gute Frau briet Speck und kochte noch mehr Eier, und ich aß alles, was sie mir vorsetzte, und dabei verbreitete ich mich mit immer größerer Beredsamkeit über den armen elternlosen Jungen. Immer mehr Einzelheiten erzählte ich. Ich wurde wirklich dieser arme Junge. Ich hätte selbst über mich weinen können. Ich weiß, dass meine Stimme zuweilen von Tränen erstickt war. Es war sehr wirkungsvoll.

Tatsächlich: bei jedem neuen Zuge, mit dem ich das Bild ausstattete, gab mir die gute Seele mehr. Sie packte mir etwas zum Mitnehmen ein, darunter viele gekochte Eier und Pfeffer und einen großen Apfel. Sie versah mich mit drei Paar dicken rotwollenen Socken. Sie schenkte mir reine Taschentücher und andere Sachen, die ich vergessen habe Und unterdessen gab sie immer mehr zu essen, und ich stopfte immer mehr in mich hinein. Ich fraß wie ein Wilder, aber es war auch eine weite Strecke in einem blinden Güterwagen über die Sierra, die vor mir lag, und ich wusste nicht, wann und wo ich das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde. Und die ganze Zeit über saß ihr eigener unglücklicher Junge, wie ein Totenkopf beim Feste, stumm und unbeweglich da und starrte mich von der andern Seite des Tisches an. Für ihn stellte ich wohl die Mystik, die Romantik, das Abenteuer dar – alles, was ihm bei seiner schwach zuckenden Lebensflamme versagt war. Und doch schoss es mir ein paarmal durch den Kopf, dass er mich vielleicht bis auf den Grund meiner verlogenen Seele durchschaut hätte.

»Wohin gehen Sie jetzt?« fragte die gute Frau mich. »Nach Salt Lake City«, sagte ich. »Dort habe ich eine Schwester, eine verheiratete Schwester.« (Ich dachte nach, ob ich sie zur Mormonin machen sollte, ließ es dann aber bleiben.) »Ihr Mann ist Unternehmer.«

Nun wusste ich gut, dass Unternehmer in der Regel viel Geld verdienen. Aber ich hatte es einmal gesagt. Ich musste es nach Möglichkeit wieder gutmachen.

»Sie würden mir das Reisegeld geschickt haben, wenn ich darum gebeten hätte«, erklärte ich, »aber sie haben Krankheit und geschäftliches Unglück gehabt. Sein Kompagnon hat ihn betrogen. Und da wollte ich nicht schreiben und um Geld bitten. Ich wusste, dass ich schon irgendwie hinkommen würde. Ich ließ sie in dem Glauben, dass ich genug hätte, um nach Salt Lake City zu kommen. Sie ist lieb und gut. Sie ist immer gut gegen mich gewesen. Ich denke, ich werde zu meinem Schwager in die Lehre kommen und später in sein Geschäft eintreten. Sie haben zwei Töchter. Die sind jünger als ich. Eine ist noch ganz klein.«

Von allen verheirateten Schwestern, die ich über die Vereinigten Staaten ausgestreut habe, ist die Schwester in Salt Lake City sicher die beste. Sie steht ganz lebendig vor mir. Wenn ich von ihr erzähle, kann ich sie, ihre beiden kleinen Mädchen und ihren Mann, den Unternehmer, gleichsam vor mir sehen. Sie ist eine große, mütterliche Frau, die ein wenig stark zu werden beginnt, wie es oft der Fall bei gutmütigen Frauen ist, die gut kochen können und nie böse werden. Sie ist dunkel. Ihr Mann ist ein ruhiger, bequemer Mensch. Manchmal ist mir fast, als kennte ich ihn. Und wer weiß, ob ich ihm nicht eines Tages begegnen werde? Wenn der alte Seemann sich Billy Harpers erinnern konnte, so sehe ich nicht ein, warum ich nicht eines Tages dem Unternehmer begegnen sollte, der mit meiner Schwester verheiratet ist, die in Salt Lake City wohnt.