Aber nach drei Strophen ist Schluss! - Renate Bergmann - E-Book

Aber nach drei Strophen ist Schluss! E-Book

Renate Bergmann

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Beschreibung

Christbaum, Sissi, Gänsebraten - das neue Weihnachtsbuch der beliebten Online-Omi! «Ja, schmunzeln Se ruhig über mich, aber für mich gibt es Dinge, die gehören zu Weihnachten einfach dazu. Ich habe mich von D-Mark auf Euro umgewöhnt, von Mauer auf keine Mauer und daran, dass meine Männer jetzt zwei Meter tiefer schlafen, aber an Weihnachten wird nicht gerüttelt.»  Ob Weihnachten oder nicht, bei Renate Bergmann sind die guten Gläser immer poliert und das Silber geputzt. Man will ja auf alles vorbereitet sein! Aber was jetzt ins Haus steht, konnte wirklich niemand ahnen: Die Bauarbeiter fallen ein, und Chaos bricht aus. Zusammen mit Gertrud, Ilse und Kurt und der ganzen Hausgemeinschaft muss Renate alles in Bewegung setzen, um Weihnachten zu retten… Renate Bergmanns neues Weihnachtsbuch: Garantiert der originellste Blick auf Weihnachten, der in einem Buch zu finden ist! 

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Seitenzahl: 304

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Renate Bergmann

Aber nach drei Strophen ist Schluss!

Die Online-Omi rettet Weihnachten

 

 

 

Über dieses Buch

Zement, Zement, ein Lichtlein brennt …

 

«Ja, schmunzeln Se ruhig über mich, aber für mich gibt es Dinge, die gehören zu Weihnachten einfach dazu. Ich habe mich von D-Mark auf Euro umgewöhnt, von Mauer auf keine Mauer und daran, dass meine Männer jetzt zwei Meter tiefer schlafen, aber an Weihnachten wird nicht gerüttelt.»

Ob Weihnachten oder nicht, bei Renate Bergmann sind die guten Gläser immer poliert und das Silber geputzt. Man will ja auf alles vorbereitet sein! Aber was jetzt ins Haus steht, konnte wirklich niemand ahnen: Die Bauarbeiter fallen ein, und Chaos bricht aus. Zusammen mit Gertrud, Ilse und Kurt und der ganzen Hausgemeinschaft muss Renate alles in Bewegung setzen, um Weihnachten zu retten …

Vita

Renate Bergmann, geb. Strelemann, 82, lebt in Berlin-Spandau. Sie war Reichsbahnerin, kennt das Leben vor, während und nach der Berliner Mauer und hat vier Ehemänner überlebt. Renate Bergmann ist Haushalts-Profi und Online-Omi: Ihre riesige Fangemeinde freut sich täglich über ihre Posts und Lebensweisheiten im «Interweb» – und über jedes neue Buch in der analogen Welt.

 

Torsten Rohde, Jahrgang 1974, hat in Brandenburg/Havel Betriebswirtschaft studiert und als Controller gearbeitet. Sein Social-Media-Account @RenateBergmann entwickelte sich zum Internet-Phänomen. «Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker» unter dem Pseudonym Renate Bergmann war seine erste Buch-Veröffentlichung – und ein sensationeller Erfolg –, auf die zahlreiche weitere, nicht minder erfolgreiche Bände und ausverkaufte Tourneen folgten.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Rudi Hurzlmeier

ISBN 978-3-644-02182-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Hier schreibt Renate Bergmann, guten Tag!

«Wer auch sonst?», werden Se sich jetzt denken. «Das steht doch auf dem Buch drauf!» Da haben Se recht. Das war nicht richtig überlegt. Aber nun bin ich schon mitten beim Schreiben, nun lasse ich das so. Wissen Se, mir kommt es so vor, als ob die Zeiten immer hektischer werden. Alles ändert sich ständig, was gestern noch ganz wichtig war, darüber spricht morgen schon keiner mehr. Jeden Tag wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben, und die Meute stürzt sich gackernd drauf. Man kommt gar nicht mehr zur Ruhe! Wissen Se, noch vor ein paar Jahren haben se uns alten Menschen vorgeworfen, wir würden die Vergangenheit zur «guten alten Zeit» verklären und die Erinnerungen mit dem goldenen Pinsel malen. So ein Unsinn! Man kommt ja gar nicht mehr dazu, sich nach «früher» zu sehnen: Ich wäre schon zufrieden, wenn sich nicht jeden Tag alles ändern würde.

Verstehen Se mich nicht falsch. Ich bin keine, die vergangene Zeiten festhalten oder wiederhaben will. Bloß, weil wir alles lassen, wie es ist, wird es nicht bleiben, wie es ist. Nein, man muss sich anpassen und nach vorne gucken. Und wenn wir alten Leute schon nicht vorangehen, dann müssen wir doch wenigstens mitgehen. Dabei sollten wir aber ein bisschen sachte machen, meine ich, und immer mal wieder gucken, ob wir auf dem richtigen Weg sind und ob auch alle mitkommen. Der Mensch braucht schließlich Halt im Leben und ein paar Dinge, an denen er sich orientieren kann, erst recht in so überreizten Zeiten, in denen immer weniger miteinander geredet, sondern nur noch gebrüllt wird. Ein paar Pfeiler, die unveränderlich sind, Sachen, die man immer so macht und die sich nicht ändern. Verstehen Se, was ich meine?

Die Tage, Wochen und Monate rasen nur so dahin, erst recht, wenn man älter wird. Irgendwann versteht man, dass man nicht mehr so viele Kilometer Reststrecke auf dem Weg des Lebens vor sich hat, und dann scheint einem die Zeit noch schneller zu verstreichen als in jüngeren Jahren. Gerade in all dieser Hektik und Aufgeregtheit freut man sich über alles, was sich nicht verändert. Über die Traditionen, die feststehen und die wir schon immer so gemacht haben – auch wenn die Jungschen daran rütteln und fragen: «Warum müssen wir Buttercremetorte essen, nur weil Weihnachten ist?» Ja, weil es eben ein Rezept von Oma Strelemann ist und eine Familientradition! Diese jungen Leute! Und dann piksen sie mit der Kuchengabel drin rum und tun so, als ob sie mir einen Gefallen tun, wenn sie ein schmales Stückchen essen. Dabei begreifen sie gar nicht, dass diese Buttercremetorte der Anker ist, der uns seit Jahrzehnten zusammenhält, der auch ihnen Halt geben und sie mal zur Ruhe kommen lassen könnte.

Gerade die Advents- und Weihnachtszeit ist für mich eine Zeit der Besinnung. In diesen Wochen versuche ich, alles ein bisschen langsamer zu machen und schöne weihnachtliche Rituale ganz bewusst zu zelebrieren. Da lasse ich dann auch mal alle viere gerade sein und die Wassergymnastik mit Fräulein Tanja sausen. Nee, warten Se. Viere sind ja gerade! Es muss «alle fünfe» heißen. Wie dem auch sei, im Advent bleibt jedenfalls mein Platz im Becken auch mal leer, und ich backe mit Ilse Christstollen und Plätzchen. Das gehört dazu wie das Fensterputzen, dass die Betten frisch bezogen werden, dass wir die Gänse vom Bauern holen und den Weihnachtsbaum kaufen, dass das Lametta aufgebügelt wird und wir die Geschenke liebevoll verpacken, dass man zur Christmesse geht und dass Konfekt gegessen wird, bis einem schlecht wird. Und natürlich dürfen «Traumschiff», «Sissi», «Michel aus Lönneberga», «Die Feuerzangenbowle», «Der kleine Lord» und Helene Fischer nicht fehlen. Früher wurde an den Feiertagen oft auch Zirkusfestival oder «Die Nacht der Prominenten» übertragen, aber da nun keine Tiger mehr mitmachen dürfen wegen Tierschutz beim Zirkus und Herr Kerkeling kein Trapezturnen kann, haben se das irgendwann gelassen. Viele gucken ja auch gerne «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel», aber ich sage Ihnen ganz offen: Das habe ich über. Das kommt jede Saison ab Anfang November so oft, das kann ich nicht mehr sehen. Letztes Jahr habe ich die Fernsehzeitung kontrolliert, und tatsächlich: In einer Nacht am 17. November gab es zwischen halb drei und sechs Uhr morgens einmal eine Lücke, in der der Film mal nicht auf mindestens einem Sender lief.

Ja, schmunzeln Se ruhig über mich, aber für mich gehört das alles dazu. Ich habe mich von D-Mark auf Euro umgewöhnt, von Mauer auf keine Mauer und daran, dass meine Männer jetzt zwei Meter tiefer schlafen, aber an Weihnachten wird nicht gerüttelt. Da kommt die Familie zusammen, wir essen Kartoffelsalat und Würstchen, ich mache Pökelbraten und Gans, und wir gucken alte Fotos an. Das sind die Traditionen, die gehören dazu, und bei allem Trubel das ganze Jahr über und auch wenn die Leute ein bisschen mit den Augen rollen, freut sich im Grunde seines Herzens doch jeder auf all diese Dinge, die sich nicht ändern. An Weihnachten macht auch Ariane eine Ausnahme. Da dürfen die Kinder naschen, ohne dass es abgezählt ist, da krabbelt Stefan trotz Rückenschmerzen unter den Weihnachtsbaum und sucht das kleine Waschpulverpäckchen für den Kaufmannsladen, und da drückt meine Tochter sogar mal ihr weganes Auge zu und tunkt ihren Grünkernklops in einen Löffel Soße vom Gänsebraten.

Aber bei einer Sache mache ich nicht mit: Mir braucht keiner was zu schenken zu Weihnachten. Ob sie mir eine Flasche Doppelherz aus der Apotheke holen (am Ende sogar noch das alkoholfreie, überlegen Se mal den unsinnigen Quatsch!) oder nicht, ist mir egal, ganz ehrlich. Was mich glücklich macht, das sind die strahlenden Gesichter meiner Lieben. Wenn sich das Licht der Kerzen in den Augen meiner Familie und Freunde spiegelt, wenn der eine oder andere ein lobendes «Mmmmh!» ausstößt, wenn er meinen Kuchen kostet, wenn wir einfach alle beisammen sind und über alte und neue Zeiten reden – das macht mich froh. Und allerspätestens, wenn die Ersten den obersten Hosenknopf aufmachen, dann ist es ein schönes Weihnachten!

Spätsommer

Auf so ein schönes Fest freute ich mich schon im letzten Sommer. Es war ein merkwürdiges Jahr gewesen bis dahin. Wissen Se, es gibt ja immer mal wieder Zeiten, in denen alles schiefläuft, und dieses Jahr hätte man fast denken können, es wäre ein Schaltjahr, so schief lief vieles. Im Schaltjahr schimmeln auch mir manchmal trotz penibelster Hygiene die eingeweckten Erdbeeren, da kann man gar nichts machen. Kurt hat da auch oft Pech mit den Karnickeln. Sie werfen nur läppische zwei oder drei Jungen und setzen kaum Fleisch an. Und im Garten wachsen zwar die Einlegegurken wie verrückt, aber der Dill mickert. Das gibt es oft. Aber gut, das ist eigentlich unabhängig vom Schaltjahr so, dass es nie Dill gibt, wenn die Gurken reichlich tragen. Und wenn der Dill prächtig in den Reihen steht, wollen die Gurken nicht recht gedeihen. Na, wie auch immer, wir hatten kein Schaltjahr, und trotzdem war es ein komisches Jahr. Die räumten die Lebkuchen erst in der ersten Septemberwoche in die Kaufhalle statt Ende August, denken Se sich das mal, und auf dem Friedhof ist mir die Gießkanne durchgerostet, die eigentlich verzinnt ist angeblich und gar nicht rosten kann. Zu allem Überfluss wurde auch noch Ilses Schwägerin beim Melken von der Kuh getreten, und Ilse musste im Herbst für zwei Wochen runter nach Thüringen und ihrem Bruder den Haushalt führen. Es war irgendwie der Wurm drin.

Sogar unser Urlaub war voller Pannen! Ich verreiste wie jedes Jahr mit meiner Freundin Gertrud mit dem Bus. Das wird auch immer teurer, aber das gönnen wir uns, nur wir beide. Gertrud besteht darauf, ohne ihren Gatten Gunter in die Sommerfrische zu fahren. Verheiratet hin oder her, wissen Se, Gertrud ist so eine, die festhält, um weiter zu suchen, wenn Se verstehen, was ich meine. Gertrud sagt immer: «Man ist verheiratet, aber nicht erblindet. Gucken darf man!» Im Klartext heißt das, sie hat ein eher loses Verhältnis zu Treue und Anstand. Die Gute hat Gunter zwar geehelicht, aber sie lässt sich gerne weiter von Herren einladen und poussiert rum. Natürlich würde sie gewisse Grenzen nie überschreiten, so was dürfen Se nicht glauben. Obwohl, letzthin gab es mächtigen Ärger mit der Schornsteinfegerinnung. Gleich im Januar kam der Essenkehrer zur Inspektion von Gertruds Öfen, und weil es Glück bringen soll, einen Schornsteinfeger anzufassen, ihm ein Küsschen zu geben oder seinen Knopf zu reiben, ergriff Gertrud die Gelegenheit und auch den jungschen Schornsteinfeger beim Schopfe. Was genau vorgefallen ist, weiß ich nicht, und auch nicht, wo sie hingelangt hat und welchen Knopf sie sich ausgesucht hat zum Reiben. Und ob sie die Zähne schon drinhatte, weiß ich auch nicht. Jedenfalls gab es mächtig Ärger, es kamen Briefe vom Schornsteinfegermeister und von der Innung, und im nächsten Jahr schicken sie eine junge Frau, weil sich alle Männer weigern, bei Gertrud die Esse zu kehren.

Gertrud hatte für uns eine Busfahrt ins Münsterland ausgesucht. Wir wollten nicht zu weit weg, wissen Se, die Sitzerei im Reisebus wird nicht angenehmer, je älter man wird. Die Knie werden einem dick, und der Rücken meldet sich auch. Und Deutschland hat doch so viele schöne Ecken, die wir gar nicht kennen! Wie heißt es so schön? «Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah!» Also, ich gebe zu, dass Gertrud keinen Fehler gemacht hat beim Aussuchen – ich habe die Panne auch nicht bemerkt.

Das Hotel war an sich prima. Man muss ja immer darauf achten, dass da nicht «familienfreundlich» dransteht. Das ist ganz gefährlich, dann pullern da die Blagen in den Swimmingspool, und zum Abendbrot gibt es Grießbrei mit Erdbeeren. Nee, das passte schon alles, die Unterkunft war ruhig und gediegen.

Was jedoch schiefgegangen war, fiel uns erst am Abend auf: Wir hatten mit dem Termin nicht aufgepasst und waren ausgerechnet an dem Wochenende dort eingekehrt, als großes Schützenfest war. Ach du heiliger Bimbam! Wissen Se, wir sind beide gesellige Menschen. Aber das ganze Brauchtum der Schützenbrüder ist uns Berlinern fremd. Wir haben es ja auch nicht so mit Fasching, Hellau und Alaaf. Dabei bin ich kein Karnevalsmuffel, denken Se das nicht! Nur ist das eben hier in Berlin nicht so verbreitet wie im Rheinland. Damals in Karlshorst, wo ich lebte, als ich noch mit Wilhelm verheiratet war, hatten wir eine Truppe, die zusammen Karneval gefeiert hat. Ich habe sogar bis in die Siebzigerjahre rein das Funkenmariechen gemacht, stellen Se sich das mal vor! Es fand sich einfach keine, die den Posten übernehmen wollte, und mir hat das viel Spaß gemacht. Ich habe erst aufgehört, als ich dann Franz geheiratet habe und nach Staaken zog.

Jetzt gehe ich jedes Jahr zweimal mit Gertrud zum Seniorenfasching, einmal im November, um den 11.11. herum, und dann noch mal am Rosenmontag. Wir machen da aber kein großes Kostüm, wir ziehen nur ein Hütchen auf und werfen ein paar Luftschlangen. Es geht ja mehr um die Geselligkeit und um den Tanz. Und für Gertrud ist es eh nur eine weitere Gelegenheit, sich den Männern an den Hals zu werfen. Bei der Polonaise können Sie sicher sein, dass sie spätestens bei der zweiten Strophe ihre Hände an fremden Männerhüften hat.

Ja, der Seniorenfasching fühlt sich immer an wie ein kleiner Ausflug in eine andere Kultur, mir gefällt das gut, mal rauszukommen aus dem Trott. Aber in Uniform über die Straße marschieren mit Musik … nee, das machen wir seit den Zeiten des Hauptmanns von Köpenick nicht mehr. Schützenfest und Berlin – das passt nicht recht zusammen, da muss man schon ehrlich sein. Dafür feiern wir Frauentag und «Grüne Woche», das ist doch auch was, nicht?

Wie auch immer. Die angereisten Schützen aus allen möglichen Teilen des Landkreises – als hätte das Städtchen, in dem wir waren, nicht genug junge Männer in Bierlaune zu bieten – machten großes Tamtam und brachten das Fachwerk tüchtig zum Beben. Die waren unglaublich kreativ darin, immer wieder neue Namen für «Bier trinken» zu erfinden: Am Freitag hieß es «Festabend», am Sonnabend nannten sie es «Schützenball» und am Sonntag zunächst «Frühschoppen» und später «Gemütlicher Ausklang auf dem Festplatz». Aus vielen der unzähligen Fachwerkhäuser kamen Schläuche, meistens aus den Kellern: Bierschläuche! Man konnte kaum treten und musste aufpassen, dass man nicht böse stolpert. Die hatten überall Schankanlagen auf der Straße stehen, und während auf dem Marktplatz der Schützenkönig ermittelt wurde, man die Majestäten proklamierte, auch noch Wettbewerbe im Fahnenschwenken stattfanden und ganz viele Platzkonzerte von Blaskapellen über die Häuser plärrten, wurden wohl Hunderte Fässer «Hopfensmufie», wie Kurt immer sagt, in Biertulpen gezapft und geleert. Aber, das muss ich doch sagen, alles geschah ohne große Ausfälle und im Rahmen der Geselligkeit und Gemütlichkeit. Es war nicht so, dass wie beim Oktoberfest die Bierleichen am Straßenrand lagen, bei den Bierschläuchen. Nein, die Männer waren gerade so angeschickert, dass der ein oder andere sogar mit seiner Frau tanzte. Für Gertrud war es das Paradies: «Jajaja, Kokojambo, jajajaja!», sang sie untergehakt mit einem ergrauten Herren in Schützenuniform und wackelte mit dem Steiß. Er hieß Herr Immelmann, und glauben Se mir, niemals hat jemand Späße mit seinem Namen gemacht und gedacht, was Sie jetzt denken! Außer Gertrud. Auf Gertrud war wie immer in solchen Fällen Verlass.

Als sie sich die Knie dick getanzt und ich mein sehr angenehmes Gespräch mit einem jungen Mann beendet hatte, der mir, nun doch etwas lallend, von seiner verstorbenen Großmutter Renate erzählte, konnten wir endlich zurück in unser Hotel. Ich war heilfroh. Für mich war das nicht die Art Urlaub, die mir vorgeschwebt hatte.

Wissen Se, mal neue Ecken zu entdecken, ist ja gut und schön, aber richtige Ferien sind es doch nur, wenn man am Meer entlangspaziert und einem die Wellen die Fußknöchel umtanzen. Vitamin C mag wichtig sein, aber für mein Gemüt ist Vitamin See noch viel wichtiger. Das macht mich glücklich, da tanke ich richtig auf und zehre noch lange Zeit von dem schönen Gefühl. Wenn man die Weite des Horizonts sieht, die Möwen hört, die krakeelen wie die Frau Berber, wenn das Pizzaauto zu spät kommt – DAS ist doch erst richtiger Urlaub. Nicht so was, das Gertrud hier zusammengebucht hat. Nächstes Jahr passe ich besser auf!

Als wir dann endlich wieder zu Hause waren, gab es noch ein paar sonnige Wochen, bis der Sommer sich dem Ende neigte und die drückende Hitze, die wochenlang über der Stadt gelegen hatte, langsam wich. Jetzt konnte man den Advent schon am Horizont erahnen. Wie ich sagte, für mich ist die Vorweihnachtszeit die schönste im ganzen Jahr. Aber erst mal kamen nun die Wochen, in denen ich auf den Friedhöfen noch mal gut düngen musste, damit ich die Eisbegonien halbwegs anständig in den Herbst bekam. Wenn man denen nicht noch mal ordentlich Stickstoff gibt, werden die ganz schnell mäkelig und gehen ein, und dann hat man die Ödnis auf den Gräbern und muss extra Herbstbepflanzung machen mit Erika. Also, mit Heidekraut, nicht mit Erika Puschert. Die würde mir auch helfen, wenn ich fragen würde, aber ich hab das schon so oft gemacht, ich brauche keine Hilfe. Nicht, wenn ich die Eisbegonien bis zum ersten Frost hin gerettet kriege, und ob ich das schaffe, steht gar nicht zur Debatte. Wissen Se, ich habe vier Gräber mit vier Männern drin, und die noch mal neu zu bepflanzen, das geht ganz schön ins Geld! So üppig ist die Rente einer alten Eisenbahnerin nun auch nicht.

Trotz all der Arbeit freute ich mich auf die langsam einziehende Gemütlichkeit. Ich bin keine, die erst auf den letzten Drücker anfängt, die Weihnachtsgeschenke zu kaufen oder zu planen. Wer mich kennt, weiß das: Ich habe meist im Mai die Geschenke beisammen und gucke auch im Sommer schon die Lichterkette durch, ob nicht ein Lämpchen kaputt ist. Man kennt das doch, Ersatzteile sind heutzutage kaum zu beschaffen. Es ist alles so produziert, dass es schnell kaputtgeht, und dann sagen se einem: «Die Reparatur lohnt nicht.» Aber ich kenne noch Zeiten, in denen wir nicht alles im Überfluss hatten und in denen wir wertschätzten, dass sich die Dinge reparieren ließen. Wenn ich das sehe, dass die Leute heute jedes Jahr ein neues Händitelefon brauchen, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Ich hatte meinen Apparat aus Bakelit noch bis vor wenigen Jahren im Flur stehen, und der tat prima seine Dienste. Es ist ja mit dem Telefon wie mit dem Fernseher: Die Nachrichten und das Programm werden nicht besser, nur weil das Gerät neu ist! Deshalb gucke ich bis heute, ob man nicht noch heile kriegt, was andere wegschmeißen. So was dauert ein bisschen und macht etwas Mühe, lohnt sich aber oft. Die Herren vom Reparatur-Café im Nachbarschaftstreff helfen gerne. Die sind zweimal im Monat nachmittags mit ihren Lötkolben zugange und haben sogar Gertruds Plattenspieler wieder auf Vordermann gebracht. Der hat ein bisschen geeiert, und die «Schützenliesel» jaulte etwas. Es passte im Grunde genommen ganz gut, weil Gunter Herbst, ihr Ehegatte, beim Tanzen das Bein ein bisschen nachzieht – aber trotzdem ist es schön, dass wir die Aufnahmen von Marika Rökk und die Weinlieder von Willy Schneider nun wieder abspielen können, ohne dass die Platten eiern.

Die Herren im Reparaturcafé haben uns schon oft geholfen, das muss man sagen. Meist reichen der Lötkolben, das Ölkännchen oder ein paar Schräubchen, nur manchmal müssen besondere Teile beschafft werden. Da hilft das Interweb, aber bis die Post die Ersatzbirnen aus Taiwan dann auch bringt, vergeht seine Zeit.

Also, es schadet nicht, rechtzeitig mit den Weihnachtsvorbereitungen anzufangen. Es ist doch nett, wenn man entspannt und ohne große Hektik in die schönste Zeit des Jahres gehen kann, nicht wahr? Und spätestens Ende August, wenn in den Kaufhallen die Marzipankartoffeln und die Lebkuchen in die Gänge geschoben werden, kann es dann richtig losgehen mit der Gemütlichkeit.

Doch daraus sollte nichts werden, und Schuld daran war die Hausverwaltung.

Ich ahnte nichts Schlimmes, als ich an einem lauen Spätsommermorgen die Treppe runterstieg und die Zeitung reinholen wollte. Nachdem wir wochenlang tropische Nächte gehabt hatten, war es jetzt morgens angenehm frisch, und man konnte schön durchlüften. Die Zeitung war mal wieder sehr dünn an diesem Tag. Wenn nicht noch die Hälfte Reklame gewesen wäre, hätte das Ganze auch auf einen Doppelbogen Pergament gepasst. Schon mein Opa Strelemann hat immer gestaunt, dass am Tag zuvor genau so viel in der Welt passiert war, dass es am nächsten Tag in eine Zeitung passt. Das stimmte natürlich nicht, denn obwohl im Moment sehr viel auf der Welt passierte, beim Russen, beim Ami oder mit Prinzessin Kät, wurde die Zeitung immer dünner.

Während ich darüber nachsann, fiel mein Blick auf was anderes: Es hing ein Zettel an der Haustür. Von innen, mit vier Streifen durchsichtigem Klebeband an die Scheibe gedatscht. Da würde ich tüchtig mit Fenstersprüh rubbeln müssen, um das wieder rückstandsfrei wegzukriegen. Der Schrieb war mit dem Computer verfasst, und ohne Stempel und Datum stand darauf sinngemäß, dass wir Bewohner uns nicht wundern sollten, wenn es in den nächsten Wochen etwas lauter würde, und dass hier und da ein bisschen Dreck durch Bauarbeiten entstehen könnte. Es wäre an der Zeit, das Haus auf einen modernen Stand zu bringen, und sie würden verschiedene Firmen beauftragen, die dies und das herrichten sollten. Das Treppenhaus würde schick gemacht, eine neue Heizung käme rein, so mit Bio und Solar auf dem Dach und allem Pipapo. Außerdem würde die Fassade neu gedämmt und bepinselt, und wir bekämen alle neue Fenster und neue Fliesen in der Badestube. Wir, die Mieter, sollten doch bitte schön Verständnis haben und schon mal die Abbuchung für die Mietzerhöhung … Mieterhöhung, meine ich natürlich … vorbereiten. Man versprach, dass alles mit so wenig Dreck wie möglich ablaufen würde. Genaue Termine würden durch die Bauleitung mit den einzelnen Mietern abgestimmt, und man verblieb mit freundlichen Grüßen und ohne Unterschrift.

Ach du liebes bisschen!

Ich rückte erst mal die Brille zurecht und las das noch mal. Das war ein Problem, und kein kleines, das wusste ich in dem Moment, als ich den Wisch noch vor mir hatte.

Sofort dachte ich an unsere Hausgemeinschaft. Man hat ja oft welche dabei, die sich aufregen über den Solar und den Öko, weil sie einfach immer gegen alles sind, was neu ist. Meist wissen die selber, dass es einfältig ist, sich dem zu verweigern, aber sie bleiben stur dabei, dass so ein Windrad angeblich Vögel tothäckselt. Denen brauchen Se auch nicht mit Argumenten kommen, nämlich, dass der Hähnchenwagen auf dem Parkplatz vom Baumarkt für mehr tote Vögel verantwortlich ist als alle Windräder im ganzen Land zusammen. Die sind bockig und aus Prinzip dagegen. Das war jedoch gar nicht meine Sorge. Bei uns im Haus gehen eigentlich alle mit der Zeit und denken vernünftig.

Nein, als ich das las, zog ich wegen anderer Sachen die Brauen hoch. Obacht, Renate!, dachte ich bei mir. Wenn die schon von ein bisschen Dreck und geringfügigen Beeinträchtigungen schrieben, konnte man sich ja denken, was da auf uns zukam!

Meine Nachbarinnen stört so was nicht. Die Frau Berber nimmt höchstens einen Putzlappen in die Hand, wenn ihr der Sekt überschäumt, und die Frau Meiser … na, den Abwasch macht sie schon. Da will ich gar nichts sagen. Aber sie nimmt den gleichen Lappen für Küche und Bad, denken Se sich das mal! Da lief es mir gleich heiß und kalt den Rücken runter. Man weiß doch, was «ein bisschen Dreck und ab und an Beeinträchtigungen» wirklich bedeutet, wenn solche Hausverwaltungsleute das sagten. Was die alles aufzählten, war mehr, als am Haus gemacht wurde, nachdem wir im Krieg ausgebombt worden waren. Da sollten die mir doch nicht weismachen, dass das in ein paar Wochen erledigt wäre! Ich kenne mich doch aus, ich weiß doch, wie es auf dem Bau läuft. Die haben keine Leute, kein Material und oft auch keine Lust und keine Ahnung.

Zum Glück kam der Herr Alex dazu, als ich gerade den Aushang studierte. Das ist der Student, der oben in der WC wohnt, wissen Se?

Huch, da wollten die Finger wohl nicht. WC … hihihi!

WG meine ich natürlich. Selbstredend haben die oben in ihrer Wohngemeinschaft – das heißt WG nämlich, die kürzen ja heute alles ab! – auch ein WC, und zwar in der Wohnung und nicht auf der halben Treppe. Wie auch immer, der Herr Alex aus der WG also. Ein ganz höflicher, charmanter und zuvorkommender junger Mann ist das. Einer mit Manieren und Anstand, so etwas hat man selten heutzutage. Er studiert auf Rechtsanwalt.

Herr Alex überflog den Zettel, zog die Stirn kraus und sagte: «Oh, oh, da steht uns aber was ins Haus, Frau Bergmann.»

Er knipste das Pamphlet mit seinem Händi – man muss ja immer wieder staunen, was die Dinger alles können! – und sagte, er würde sich kümmern. So ist er, der Herr Alex, ein sehr höflicher junger Mann mit Umgangsformen und Charakter. Das Gegenteil von dem Bild, das viele von den jungen Leuten heutzutage haben. Wenn ich Herrn Alex sehe, macht mir das immer Mut, dass unsere Jugend doch nicht komplett verdorben ist und dass es um unsere Zukunft gar nicht so schlecht bestellt ist. Auch wenn es meine Zukunft nicht mehr sein wird, das ist mir schon bewusst, aber man will ja dennoch beruhigt sein.

Jedenfalls bin ich erst mal wieder hoch mit meiner Zeitung, habe aber gar nicht reingeguckt. Meist steht ja sowieso nichts drin von Belang. Mehr als die Hälfte ist Werbung, und sie berichten viel über Fußball und wer die größte Sonnenblume im Garten hat. Wenn die Todesanzeigen nicht wären, gäbe es für mich an manchen Tagen nicht viel Neues. Ich versorgte schnell Katerle, der schon wieder herzzerreißend maunzte, als würde er verhungern. Dabei hat der Schlawiner immer was im Napf! Dann bin ich ans Telefon und habe versucht, jemand Kompetentes bei der Hausverwaltung an die Strippe zu kriegen – wobei das mit dem Telefon heute ja meist ohne Strippe funktioniert. Ach, ich habe das noch so drin, ich kann mich da gar nicht umgewöhnen. Ich sage auch immer noch Sprechmuschel, Wählscheibe und dass es geläutet hat. Dabei läutet es heute gar nicht mehr, sondern piepst nur, oder es spielt eine Melodie. Leute wie mein Neffe Stefan, die sich auskennen, können da sogar Wunschmusik einstellen. Jedenfalls bin ich rein in die Leitung und wählte.

Auf dem ausgehängten Zettel stand natürlich keine Durchwahlnummer, aber die hatte ich im kleinen schwarzen Telefonbüchlein notiert. Stattdessen hatten sie nur eine Adresse mit diesem Kringel angegeben, wissen Se, diesem Affenschwänzchen «@». Da sollte ich hinschreiben, falls noch Fragen sind.

Pah!

Und ob ich Fragen hatte! Erst mal kann ja da jeder kommen und so einen Wisch in den Flur kleben. Vor ein paar Wochen habe ich einen erwischt, der wollte uns einreden, wir müssen alle neues Interweb bestellen für an die 100 €. Ja, es purzelt einem so mancher Betrüger ins Haus, wenn man nicht genau aufpasst und die Türe geschlossen hält. Und da ist der Fahrer vom Bofrost noch das geringste Übel. Ewald Püschke klebt auch manchmal seine Einladungen zur Karnickelschau an jeden Hauseingang, und wenn sie im Gasthof «Zum schwarzen Keiler» wieder Lederjacken verkaufen oder der Zirkus kommt, haben Se das auch ständig an der Tür hängen, wenn man dem nicht Einhalt gebietet.

Ich habe also versucht, die Hausverwaltung anzurufen. Versucht, schreibe ich, denn das ist gar nicht so einfach. Es hat ja heute keiner mehr einfach so ein Telefon, das auf dem Schreibtisch neben einem steht und wo ein Kunde die Durchwahl anbimmelt. Da ging dann Herr Hoppe oder Frau Reiter dran, und wenn die nicht da waren, eine Kollegin, und die sagte dann, dass der Hoppe oder die Reiter in der Pause sind oder in einer Besprechung (was meist das Gleiche war), und dann fragte sie, ob Frau Reiter oder Herr Hoppe zurückrufen sollen oder ob man sich in einer halben Stunde noch mal melde. In der halben Stunde hoffte man inständig, dass die beiden kein Techtelmechtel anfangen und womöglich bald einen Doppelnamen tragen, und so verging die Zeit. Bestenfalls rief nach ein paar Minuten einer zurück, und man besprach das Problem, im schlimmsten Fall wiederholte sich das Ganze zwei-, dreimal. So kannte man es, und so hat das auch jahrzehntelang prima funktioniert.

Aber wenn etwas funktioniert, ist es ja heutzutage zu teuer und muss unbedingt geändert werden. Da rechnen dann überstudierte Zahlenmenschen aus, dass es soundso viel kostet, wenn die Hoppe-Reiters angerufen werden, die Kollegin drangeht oder sogar jemand zurückruft. Da sehen sie dann Potenzial, dass was gespart werden kann, und deshalb haben sie bei unserer Hausverwaltung jetzt eine Computermaschine angeschafft, die «Tüddeltüdü» macht und einem sagt, dass noch 34 Anrufer vor einem in der Leitung sind. Ich kenne das schon von der Krankenkasse, von der Post, von der Sparkasse und sogar vom Grünflächenamt, wo ich immer die Liegezeiten meiner Männer auf den Friedhöfen verlängern lassen muss. Der Apparat der Hausverwaltung machte jetzt alle paar Sekunden die Musik immer ein bisschen leiser, sodass ich jedes Mal erschrak und dachte, es ginge nun los, und schon zum Sprechen ansetzte. Aber dann kam nur eine Stimme, die mich mahnte, ich solle erst auf der Interwebseite gucken, ob meine Fragen da nicht beantwortet würden, und fragte, ob ich schon wüsste, dass die Wohnungsbaugesellschaft nun auch Penthäuser verkauft und dass ich die Vier drücken und mich informieren soll. So ging das wohl zwanzig Minuten lang. Ab und an wurde ich wieder für meine Geduld gelobt, und die Sprechmaschine sagte, dass nun bloß noch 20, 15 oder 10 Anrufer vor mir in der Leitung wäre. Irgendwann wurde ein gewisser nächster freier Mitarbeiter, der gleich für mich da wäre und der sich persönlich um mein Anliegen kümmern wurde, ins Spiel gebracht. Diesen ominösen Mitarbeiter, ob der nun Hoppe hieß oder wie auch immer, hielten sie mir vor die Nase wie eine Möhre dem Kaninchen. Genau wie bei der Sparkasse und bei der Post! Mir treibt das ja regelmäßig den Blutdruck hoch. Wenn der mal zu niedrig sein sollte, muss ich keine Tabletten einnehmen, sondern mich nur ein paar Minuten ans Telefon setzen und eine beliebige Firma mit Warteschleife anrufen.

Irgendwann hatte ich dann also tatsächlich einen echten Menschen dran, nach nicht mal einer Viertelstunde. Das ging schneller als gedacht. Aber was soll ich Ihnen sagen: Dass man eine wirkliche, echte Person erreicht, ist ja bestenfalls ein Zwischenerfolg. Das heißt nämlich noch lange nicht, dass die einem auch helfen kann oder will. Meine hieß Evelyn oder Beverly oder so, es ist auch ganz egal, denn sie war völlig inkompetent. Das hörte ich schon, als sie fragte, wo in München ich denn genau wohnte! Ich las ihr mehrfach meine Adresse vor, meine Kundennummer und meinen halben Mietvertrag, und offenbar tippte die das alles in ihren Computer. Der war jedoch auch nicht schlauer als Evelyn-Beverly: Beide fanden nichts. Sie wollte dann einen Kollegen fragen, denn sie stieß in ihrem Computer auf den Hinweis, dass ein gewisser Herr Borchert aus unserem Haus auch schon angerufen hatte. Borchert … Borchert … das sagte mir was.

Ach, die Frau meinte Herrn Alex!

Der hatte sich seinerzeit, als er hier einzog, sehr freundlich vorgestellt: «Ich bin der Alexander Borchert, Sie dürfen gern Alex zu mir sagen.» Die Duzerei ist meine Sache nicht, aber ich wollte das wirklich nette Angebot nicht zurückweisen und ihn nicht vor den Kopf stoßen. Das wirkt manchmal sehr frostig, wenn man stur «Lassen Sie uns bei ‹Herr Borchert› bleiben» sagt. Wir einigten uns auf «Herr Alex», und ich finde das bis heute sehr angemessen. Und deshalb konnte ich mit «Herr Borchert» auch erst gar nichts anfangen, als die Dame den Namen erwähnte.

Der Herr Alex hatte also offenbar ebenfalls bereits angeläutet, und auch wenn der Computer nichts wusste und mich in München wähnte, merkte Evelyn-Belinda, dass irgendwas faul war, und versprach, sich zu kümmern und zurückzurufen.

Das ist nun eine ganz gefährliche Situation, das muss ich zwischendurch unbedingt anmerken. Wenn die sagen, dass sie zurückrufen, seien Se vorsichtig. Das heißt übersetzt nichts anderes als: «Jetzt reicht es mir mit Ihnen, ich lege auf.» Und dann legen die auf, rollen mit den Augen, und man hört nie wieder was von denen. Da muss man ganz vorsichtig sein, sonst fällt man zurück vor die Stufe Evelyn-Beverly und muss wieder Werbung für Penthäuser vom Computerband hören. Lassen Se sich deshalb vor dem Auflegen unbedingt die Durchwahlnummer geben, den Namen, den Vornamen, die Zimmernummer vom Büro, und das alles auch von dem, der angeblich zurückruft. Wenn man sich mal anguckt, was die alles von einem abfragen, darf man das ja wohl ebenfalls erbitten, denk ich mir.

Die Evelyn hieß Frau Ranstätter. Aber nicht verwandt mit der Ranstätter aus der Kirchgasse, ich habe das gleich gefragt. Das hätte mich auch gewundert, wissen Se, ich kenne die Ranstätters gut und wüsste doch, wenn die Verwandtschaft in der Hausverwaltung sitzen hätten!

Ich ließ mir also ihre Durchwahl und Büroadresse geben, sicher ist sicher, falls sie sich doch nicht wieder meldete. Das ist meist keine Bosheit, sondern eine Folge von vielen Missständen, mit denen wir uns dieser Tage rumschlagen: Personalmangel, Doofheit mangelnde Qualifikation, die eine Kollegin ist im Home-Offiss, der andere arbeitet Teilzeit, der erste hat dem nächsten einen I-Mehl geschickt, aber die ist nicht angekommen … na, man kennt das. Es ist ja überall dasselbe! Wegen Work-Leif-Ballänz arbeiten sie alle nur noch ein paar Stunden, damit noch genug Zeit bleibt für Hatschi-Joga und Netzfix gucken. Vier-Tage-Woche hier und freitags frei da, und am Ende kriegen Se niemanden mehr ans Telefon und schon gar nicht auf die Matte.

Es dauerte jedenfalls fast zwei Wochen, bis ich den Herrn Hoppe am Hörer hatte, der für unser Haus zuständig war. Jawoll, murmelte er, es stimmte. Das Gebäude würde gründlich renoviert, saniert und umgebaut. Wir müssten aber eigentlich schon vor längerer Zeit ein Schreiben bekommen haben. Müssten, pah! Natürlich hatten wir nicht! Außer dem Wisch im Treppenhaus war da gar nichts gewesen, nicht die Spur eines Schreibens. Bestimmt geht bei der Post mal was verloren, aber wenn niemand aus dem Haus was weiß, gehe ich mal davon aus, dass die ihr Schreiben gar nicht rausgeschickt hatten. So machen die das nämlich, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen.

Es nützte jedoch nichts, sich aufzuregen, und ich war ja auch gar nicht dagegen, dass hier alles schick gemacht wird. Nur wüsste man eben gern vorher, was auf einen zukommt, was die überhaupt machen und mit welchen Einschränkungen und Kosten man zu rechnen hat.

Der Hoppe sagte fest zu, der zuständigen Kollegin Frau Hufreiter, die allerdings gerade auf Bildungsurlaub war und naturverbunden und achtsam durch das Bergische Land wanderte, noch mal Bescheid zu sagen, dass die eine Kopie des Schriebs rausschickt.

Nach ein paar Wochen, als die Hufreiterin genug gewandert hatte und an den Schreibtisch zurückgekehrt war, kam tatsächlich ein Brief mit genauen Informationen an alle Mieter im Haus.

Da waren die Bauarbeiten jedoch schon im vollen Gange.

 

Ich muss sagen, das Ganze war sehr merkwürdig organisiert. Im Grunde ist das Wort «organisiert» schon nicht richtig, denn eben das war es nicht. Immerhin waren in all dem Durcheinander drei Konstanten auszumachen.

Nummer eins: