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Der fulminante Abschluss der Erfolgsserie um FBI-Ermittlerin Atlee Pine. Was wurde aus Mercy?
Ihr Leben lang hat Agentin Atlee Pine nach ihrer Zwillingsschwester Mercy gesucht. Endlich hat sie Anlass zur Hoffnung. Denn Mercy konnte ihren Entführern vor Jahren entkommen. Doch seitdem ist sie nie wieder aufgetaucht. Sinnt sie auf Rache? Ist sie wirklich noch der Mensch, an den sich Atlee erinnert? Auf ihrer Flucht hat Mercy eine Leiche zurückgelassen, und das ist nicht das einzige Verbrechen, mit dem sie in Verbindung gebracht wird. Zudem hat sie sich gefährliche Feinde gemacht. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt. Denn nicht nur Atlee ist ihrer Schwester auf den Fersen …
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Seitenzahl: 557
DASBUCH
Verbrechen, Lügen und Geheimnisse – ihre düstere Kindheit hat Agentin Atlee Pine immer verfolgt. Seit ihre Zwillingsschwester Mercy mit sechs Jahren entführt wurde, ist Atlee auf der Suche nach ihr.
Dank jahrelanger Nachforschungen ist der Agentin ein Durchbruch gelungen: Sie hat den Beweis, dass ihre Schwester noch lebt. Auf der Flucht aus ihrem Gefängnis im ländlichen Georgia hat Mercy jedoch eine Leiche zurückgelassen, seitdem ist sie erneut wie vom Erdboden verschluckt. Da Atlee gerade einen brandgefährlichen Fall gelöst hat, wird sie vom FBI freigestellt und ist fest entschlossen, ihre Schwester zu finden. Obwohl sie der Wahrheit noch nie so nahe war, plagen sie Zweifel: Erinnert sich Mercy überhaupt an ihre Familie? Was für ein Mensch ist sie geworden? Ist der Tote der Anfang eines Rachefeldzugs? Und werden sich Atlee und Mercy am Ende als Feindinnen gegenüberstehen? Fast zu spät erkennt Atlee, dass sie und die Polizei nicht die einzigen sind, die Mercy finden wollen. Es ist ein Rennen gegen die Zeit …
DERAUTOR
David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New York Times-Bestsellerliste. Mit über 150 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. In der Bestsellerserie um die Ermittlerin Atlee Pine ist Abgerechnet der vierte und letzte Band nach Ausgezählt, Abgetaucht und Eingeholt.
DAVID BALDACCI
ABGERECHNET
ATLEE PINE BAND 4
THRILLER
Aus dem amerikanischen Englisch
von Norbert Jakober
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel MERCY
bei Grand Central Publishing/Hachette Book Group Inc., New York.
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Copyright © 2021 by Columbus Rose, Ltd.
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarker Straße 28, 81673 München
Redaktion: Wolfgang Neuhaus
Herstellung: Mariam En Nazer
Covergestaltung: Nele Schütz Design/Margit Memminger
Covermotiv: Shutterstock.com/Dave Allen Photography
und plainpicture/Mark Owen
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-29401-4V004
www.heyne.de
Zur Erinnerung an unseren wunderbaren Finnegan,
den besten Freund des Menschen.
In unseren Herzen wirst du weiter bei uns sein.
Danke, dass du das Leben unserer Familie
fünfzehn Jahre lang bereichert hast.
1
Atlee Pine verfolgte gespannt, wie der verschrammte Sarg Zentimeter für Zentimeter aus der Erde gehoben wurde, in der er fast zwanzig Jahre gelegen hatte. Särge und Leichen sollten eigentlich nicht ausgegraben werden. Sie sollten an ihrem Platz in der Erde bleiben, zumindest bis eines fernen Tages die erlöschende Sonne in einem letzten wilden Ausbruch den Planeten in eine Gluthölle verwandelt.
Für Pine fühlte sich schon der heutige Tag so ähnlich an.
Eigentlich schon das ganze Jahr.
Sie schaute zu einer krächzenden Krähe auf dem Ast einer kränklichen Kiefer, die das geöffnete Grab überragte. Der Vogel wirkte aufgeregt, als würde man ihm eine frisch ausgegrabene Mahlzeit in der Lunchbox servieren.
Das ist nichts gegen meine Ungeduld, dachte Pine. Ich warte schon dreißig Jahre fieberhaft.
Atlee Pine war FBI-Spezialagentin. Sie war barfuß eins achtzig groß und durch langjähriges Gewichtheben von kräftiger Statur. In jungen Jahren hatte sie es noch als Leistungssport betrieben; heute ging es ihr nur noch darum, fit zu bleiben und den Anforderungen ihres Berufs gewachsen zu sein. Es gab Agenten, die ihre gesamte Laufbahn an ihrem Schreibtisch hockten und auf einen Computerbildschirm starrten oder die Kollegen beaufsichtigten, die draußen im Feldeinsatz ihren Job machten. Zu dieser Sorte gehörte Pine definitiv nicht.
Ihr Arbeitsplatz befand sich in Arizona, in der Nähe des Grand Canyon. Als einzige FBI-Agentin in diesem Territorium war sie für ein riesiges Gebiet zuständig. Pine hatte es selbst so gewählt. Sie hasste die Bürokratie und jene, die über die Einhaltung der zahllosen Vorschriften wachten, die oft genug die Arbeit behinderten und einem das Leben schwer machten. Vor allem, wenn man die Aufgabe hatte, Verbrecher aus dem Verkehr zu ziehen.
Aber genau das war der Grund gewesen, dass Pine sich für diesen Job entschieden hatte.
Derzeit war sie in Virginia mit einer persönlichen Angelegenheit beschäftigt. Eine bedeutsame Sache. Eine Sache von existenzieller Wichtigkeit. Für Pine war es die Chance, endlich etwas unendlich Schmerzliches aus der Welt zu schaffen, das sie fast ihr Leben lang gequält und ihre Existenz verdüstert hatte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.
Neben Pine stand ihre Assistentin beim FBI, Carol Blum.
Atlee Pine und Blum waren seit langer Zeit auf der Suche nach Pines Zwillingsschwester Mercy, die vor dreißig Jahren aus dem gemeinsamen Schlafzimmer der beiden Mädchen in Andersonville, Georgia, entführt worden war, als Atlee und Mercy sechs Jahre alt gewesen waren. Mercys Entführer hatte Atlee in jener albtraumhaften Nacht schwer verletzt. Sie hatte mit viel Glück überlebt. Vielleicht auch, sagte Pine sich manchmal, weil sie sich so verzweifelt ans Leben geklammert hatte.
Seit jenem schrecklichen Tag hatte sie Mercy nicht mehr gesehen. Der tragische Vorfall hatte ihre Familie auseinandergerissen. Es war ein Trauma, das Pine durch ihr weiteres Leben begleitet hatte.
Vor Kurzem erst hatte sie herausgefunden, dass Mercy sich nach ihrer Entführung in Georgia aufgehalten hatte, in der Nähe von Crawfordville im Taliaferro County, der bevölkerungsärmsten Gegend im gesamten Bundesstaat. Dort war sie unter dem Namen Rebecca Atkins wie eine Gefangene gehalten worden, wie ein Tier, bis ihr vor Jahren die Flucht gelungen war. Dann verlor sich ihre Fährte. Mittlerweile war auch diese Spur so kalt wie ein Kühlraum im Leichenschauhaus.
Joe Atkins, das Oberhaupt der Familie, die Mercy wie eine Sklavin gehalten hatte, war am Tag nach ihrer Flucht tot aufgefunden worden. Und seine Frau Desiree war seither spurlos verschwunden. Pine hatte außerdem herausgefunden, dass Mercys Entführer, ein gewisser Ito Vincenzo, der Bruder eines Mafiosos war, der sich an Pines Mutter Julia hatte rächen wollen. Julia Pine hatte in den 1980ern als Maulwurf für eine Regierungsbehörde gearbeitet, die mächtige Mafiafamilien zu Fall bringen wollte. Besonders Mafiosi nahmen solche Dinge sehr persönlich. Auf Drängen seines Bruders, eines langjährigen Mafiakillers, hatte Ito Vincenzo versucht, die gesamte Familie Pine auszulöschen, was ihm aber nur teilweise gelungen war.
Rätsel über Rätsel.
Immerhin war Pine erst vor Kurzem auf ein vergilbtes Polaroidfoto gestoßen, das Mercy im Alter von etwa vierzehn Jahren zeigte, flankiert von Len und Wanda Atkins, Joes Eltern. Pine hatte das Foto auf dem Dachboden von Ito Vincenzos Strandhaus in New Jersey entdeckt. Mercy trug ein altmodisches Baumwollkleid, das ihr schlaff bis über beide Knie hing. Sie war barfuß, die Haare zerzaust, die Haut schmutzig und verschorft, der Blick zu Boden gerichtet, der Körper leicht gekrümmt, als hätte sie Schmerzen.
Außerdem hatte Pine in Joe Atkins’ ehemaligem Haus, das längst den Besitzer gewechselt hatte, durch Zufall eine altmodische Videokassette entdeckt, auf der ebenfalls Mercy zu sehen war. Es war die zwanzig Jahre alte Aufnahme einer Kamera, mit der Joe und Desiree Atkins die Höhle überwacht hatten, in der sie Mercy jahrelang wie ein Stück Vieh gehalten hatten.
Das FBI hatte erst kürzlich einen Suchaufruf herausgegeben, der mit einem Foto von Mercy versehen war. Es war ein Standbild aus dem Video und zeigte sie in dem Augenblick, als ihr der Ausbruch aus der Höhle gelungen war. Pine hatte gehofft, dass Mercy auf diese Weise von der Suche nach ihr erfuhr und sich meldete, doch ihre Hoffnungen waren enttäuscht worden.
Also hatte Pine beschlossen, eine andere Spur zu verfolgen.
Vor Jahren hatte Pines Mutter ihr erzählt, dass ihr Vater, Tim, sich das Leben genommen habe – am Geburtstag seiner beiden Töchter. Seither hatte dieser Gedanke Pine furchtbare Qualen bereitet, bis sie vor nicht allzu langer Zeit erfahren hatte, dass Tim gar nicht ihr leiblicher Vater war, sondern ein gewisser Jack Lineberry. Doch Pines Erleichterung, nicht auf irgendeine Weise in den Tod ihres Vaters verwickelt zu sein, war nur von kurzer Dauer gewesen, denn Lineberry wäre bei Pines Ermittlungen in einem anderen Fall beinahe ums Leben gekommen – bei einem Angriff, der gegen Pine gerichtet war.
Was für eine aberwitzige Geschichte. Pine schüttelte den Kopf.
Die Nachricht, dass Lineberry ihr leiblicher Vater war, hatte sie gänzlich unerwartet getroffen. Und noch schockierender war, was sie wenig später herausgefunden hatte und was der Grund dafür war, dass sie nun hier stand und bei einer Exhumierung zuschaute.
Tja, es gibt wohl in den meisten Familien Leichen im Keller, aber wir Pines dürften die unangefochtenen Weltmeister sein.
Der Sarg wurde aus der Erde gehoben und neben dem Grab ins Gras gestellt. Der Metallrahmen war rostig und voller Dreck. Pine fragte sich, in welchem Zustand sich der Leichnam befand.
Die Forensiker traten an den Sarg, öffneten ihn und betteten die sterblichen Überreste vorsichtig in einen Leichensack. Nachdem sie den Reißverschluss zugezogen hatten, legten sie den Leichnam in einen schwarzen Van, der sogleich davonfuhr.
Pine glaubte zu wissen, wer in dem Grab gelegen hatte. Doch glauben heißt nicht wissen, wie das Sprichwort besagte, das besonders für eine FBI-Agentin galt, aber auch für eine trauernde Tochter, die endlich Gewissheit haben wollte. Deshalb war die Exhumierung unumgänglich gewesen. Nur eine DNA-Analyse konnte klären, wer über die vielen Jahre hinweg in dem Sarg vermodert war.
Pine hatte dieses Grab im ländlichen Virginia nie besucht, weil ihre Mutter Julia gelogen hatte, was den Ort des vermeintlichen Selbstmords von Pines angeblichem Vater Tim betraf. Doch damit hatten Julias Lügen noch kein Ende gehabt: Sie hatte Atlee erzählt, Tims Leichnam sei verbrannt und die Asche an einem Ort verstreut worden, den nur sie allein kannte.
Pines Augen wurden feucht. Lügen, alles Lügen, ging es ihr durch den Kopf.
Pine hatte Grund zu der Annahme, dass der Tote in diesem Grab Mercys Entführer Ito Vincenzo war. Ito hatte damals anscheinend herausgefunden, wo Tim Pine sich aufhielt, und ihn aufgesucht, um ihn aus Rache zu töten. Doch am Ende war vermutlich Ito selbst es gewesen, der in einem Sarg gelandet war, während vom vermeintlichen Selbstmörder Tim seither jede Spur fehlte.
Pine hatte lange in dem Glauben gelebt, dass ihre Eltern sich nach Mercys Entführung heillos zerstritten und schließlich getrennt hatten. Heute wusste sie, dass Tim seinen Tod nur vorgetäuscht und ihre Mutter die eine Tochter, die ihr geblieben war – Atlee –, sich selbst überlassen hatte. In Wahrheit war Julia Pine zusammen mit ihrem Ex-Mann untergetaucht.
Sie haben mich allein zurückgelassen. Ein junges, unerfahrenes Mädchen, das seine Eltern gebraucht hätte. Was habe ich bloß für tolle Erzeuger.
2
Pine schaute zu Carol Blum, ihrer Assistentin. Blum war Anfang sechzig, Mutter von sechs erwachsenen Kindern und schon seit Jahrzehnten beim FBI beschäftigt. Obwohl sie erst wenige Jahre zusammenarbeiteten, war Carol Blum für Pine fast so etwas wie eine Ersatzmutter geworden, nachdem Julia sie im Stich gelassen hatte.
Blum musterte ihre Chefin mit fragendem Blick. Pine hatte die Hände tief in den Jeanstaschen vergraben und blickte mit düsterer Miene auf die Überreste des Grabes.
»Wann werden wir wissen, ob es Ito Vincenzo ist?«, fragte Blum.
»In spätestens zwei Tagen, hoffe ich. Ich habe dem Labor eine DNA-Probe zukommen lassen.«
Blum fragte erstaunt: »Woher hatten Sie die?«
»Von den Leichen seines Sohnes und seines Enkels. Das sollte unter den gegebenen Umständen für eine aussagekräftige Analyse reichen.«
Blum nickte. »Ja. Es kann ja wohl kaum ein anderer Vincenzo in diesem Grab gelegen haben.«
Sie gingen zum Wagen und fuhren los.
»Was nun?«, fragte Blum.
»Wir werden ein bisschen Zeit totschlagen. Das Bureau hat uns ja offiziell Urlaub gewährt.«
»Das war auch das Mindeste, was man erwarten konnte. Immerhin haben Sie und Agent Puller diesen Fall in New York aufgeklärt.«
John Puller, ein Spezialagent der Militärstrafverfolgungsbehörde CID, hatte zusammen mit Pine einer Bande von Erpressern das Handwerk gelegt, deren Verbindungen bis in die höchsten Machtetagen des Landes gereicht hatten. Puller war dabei angeschossen und schwer verletzt worden, war aber auf dem Weg der Besserung.
»Sie hatten auch Ihren Anteil daran, Carol«, sagte Pine. »Und es hätte Sie beinahe Kopf und Kragen gekostet, weil ich Mist gebaut hatte.«
»Aber dann haben Sie mir das Leben gerettet.«
»Nachdem ich Sie unnötig in Gefahr gebracht hatte.«
»Mag sein, aber mich gibt es immer noch.«
Pine bog vom Friedhof in die Straße ein und wechselte das Thema. »Falls Mercy von dem Suchaufruf hört, meldet sie sich vielleicht … was natürlich der Idealfall wäre.«
»Und wenn sie nichts von sich hören lässt?«
»Könnte es bedeuten, dass sie tot ist.« Pine warf Blum einen kurzen Blick zu. »Ich habe gelernt, diese Möglichkeit zu akzeptieren, Carol. Schon vor langer Zeit. Immerhin wissen wir jetzt, dass Mercy noch lebte, bis zu ihrer Flucht aus der Höhle, in der Joe und Desiree Atkins sie wie eine Sklavin hielten, aber seitdem kann viel passiert sein.«
»Und wie es aussieht, haben die Atkins Mercy regelrecht verwildern lassen, ohne ihr etwas beizubringen, das sie auf ein Leben in Freiheit hätte vorbereiten können …« Ihre Stimme verebbte, und sie sah ihre Chefin unsicher an.
»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Carol. Auf dem Foto sieht Mercy wie eine Irre aus, wie eine Figur aus einem dieser Hinterwäldler-Horrorfilme«, sagte Pine. »Ich frage mich, wie sie sich mutterseelenallein zurechtgefunden hat. Am Rande der Gesellschaft lebt es sich gefährlich.« Pine schaute aus dem Autofenster. »Wie könnte dieses … Wesen, das wir auf dem Video gesehen haben, in einer Welt überleben, von der es kaum etwas weiß?«
»Mercy hat sich als zäh und ziemlich schlau erwiesen, Agentin Pine. Sie hat die Gefangenschaft bei den Atkins überlebt, hat sie ausgetrickst und ist geflohen.«
»Und Joe wurde mit einem Messer im Rücken tot aufgefunden«, fügte Pine tonlos hinzu.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, wie ich es sehe. Der Bastard hatte es nicht anders verdient.«
»Da widerspreche ich Ihnen nicht, Carol. Ich meine nur, wenn Mercy ihn tatsächlich umgebracht hat, spricht viel dafür, dass sie auch später in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt war. Sie hat es bestimmt nicht leicht gehabt.«
»Sie meinen, Mercy könnte Leute angegriffen und verletzt haben?«
»Noch wahrscheinlicher ist, dass sie selbst angegriffen wurde«, erwiderte Pine.
»Das führt uns zu meiner ursprünglichen Frage zurück«, sagte Blum nach längerer Pause. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Indem wir dort anknüpfen, wo Mercy zuletzt gesehen wurde. Bei den Atkins in Georgia, in der Nähe von Crawfordville. An dem Abend, an dem Mercy geflohen ist … allem Anschein nach.«
»Allem Anschein nach? Wie meinen Sie das?«, fragte Blum.
»Desiree Atkins wurde nie gefunden. So wie ich es sehe, gibt es mindestens drei mögliche Erklärungen dafür.« Pine zählte an den Fingern ab. »Erstens, Desiree hat ihren Mann umgebracht und ist geflohen. Zweitens, Mercy hat Desiree umgebracht und ist geflohen. Und drittens, Desiree hat Mercy getötet und ist untergetaucht.«
»Wieso hätte Desiree ihren Mann umbringen sollen?«
»Nach allem, was wir wissen, war sie ein sadistisches Biest. Auf dem Video haben wir einen Schuss gehört, erinnern Sie sich? Wir sind bisher davon ausgegangen, dass Joe Atkins auf Mercy geschossen hatte. Aber könnte es nicht ebenso gut sein, dass Desiree das Gewehr hielt und den Schuss abgegeben hat? Und dass Joe sie aufhalten wollte? Dass er Desiree die Waffe entrissen hat, worauf sie Joe mit dem Messer attackiert und getötet hat?«
»Sie meinen, Joe wollte Mercy entkommen lassen? Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ehrlich gesagt, kann ich es mir nicht vorstellen. Wäre die Wahrheit herausgekommen, hätten beide Atkins großen Ärger gekriegt.«
»Eine andere Erklärung wäre, dass Desiree Mercy getötet hat, worauf Joe es mit der Angst bekam und die Polizei rufen wollte. Also hat Desiree ihn erstochen und ist mit Mercys Leichnam verschwunden. Dann stellt sich allerdings die Frage, wie sie die Leiche in Joes Pick-up bekommen hat. Desiree war klein und schmächtig, Mercy groß und geschätzte dreißig Kilo schwerer als Desiree. Außerdem wurde die Gegend mit Leichensuchhunden durchkämmt, aber nirgends waren menschliche Überreste vergraben. Also können wir diese Möglichkeit wohl ausschließen.«
»Und was«, meinte Blum, »wenn Joe seiner Frau geholfen hat, Mercys Leichnam zu beseitigen, dann aber von Schuldgefühlen geplagt wurde, worauf Desiree ihn erstochen hat?« Sie überlegte einen Augenblick. »Oder Mercy hat beide umgebracht. Den toten Joe hat sie zurückgelassen, während sie Desirees Leiche mitgenommen und irgendwo weit weg vergraben hat.«
»Aber dann müsste Mercy mit dem Pick-up weggefahren sein.«
»Sie meinen, das hätte sie nicht gekonnt?«
Pine schüttelte den Kopf. »Der Pick-up hatte ein Schaltgetriebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der noch nie Auto gefahren ist und nichts darüber weiß, von allein herausfinden kann, wie man mit Gas und Kupplung umgeht. Schon gar nicht jemand, der jahrelang in einer Höhle eingesperrt war. Noch dazu in einer so buchstäblich mörderischen Situation. Und dass die Atkins Mercy das Autofahren beigebracht haben, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
»Was schließen Sie daraus?«
»Dass es Desiree war, die an dem Abend mit dem Wagen weggefahren ist. Allein.«
»Weil sie erkannt hat, dass es aus und vorbei ist und sie sich aus dem Staub machen muss?«
Pine nickte. »Ja. Und um Ihre Frage zu beantworten, wie es jetzt weitergeht: Ich schlage vor, wir fahren zurück nach Georgia und überprüfen eine sehr, sehr kalte Spur.«
»Und Jack Lineberry? Werden Sie ihn besuchen, wenn wir in Georgia sind?«
Pine schwieg.
Sie hatte gemischte Gefühle, was ihren biologischen Vater betraf. Ihre letzte Begegnung war ein Desaster gewesen. Sie glaubte nicht, dass ein weiteres Treffen anders verlaufen würde. Aber das war Lineberrys Schuld, nicht ihre. Wer seiner Tochter so viele Lügen erzählte, konnte nichts anderes erwarten.
3
Pine schaute aus dem Fenster ihres Mietwagens auf die dicht bewaldete Gegend bei Crawfordville im Taliaferro County, Georgia. Hier würde man einen Angreifer erst sehen, wenn es zu spät war. Dichtes Laub war der beste Freund des Jägers, ob er es nun auf Wild abgesehen hatte oder auf Menschen.
Pine und Blum waren von Virginia nach Atlanta geflogen und anschließend mit dem Mietwagen in dieses ländliche Idyll gefahren. Als Erstes hatten sie Dick Roberts besucht, den pensionierten Sheriff, der ihnen bereits geholfen hatte, als sie das erste Mal hier gewesen waren. Roberts war damals zum Tatort gefahren, nachdem jemand Joe Atkins’ Leiche gefunden und den Notruf verständigt hatte. Die Frage, wer Joe mit einem Messer getötet hatte, war bis heute offen. Roberts war auch an Pines Seite gewesen, als sie kurz darauf die Höhle in einem Waldstück unweit des Hauses entdeckt hatten – eine Bruchbude, in der damals die Atkins hausten. Joe und sein bestialisches Weib hatten Mercy über Jahre hinweg wie ein Tier in dieser Höhle in der Nähe des Hauses eingesperrt, inmitten von Unrat und Schmutz. Als Pine und die anderen dann auch noch das Videoband fanden, auf dem Mercys Flucht aus dieser Höhle zu sehen war, erkannte Roberts, dass das verdreckte, abgerissene Mädchen Atlees Schwester war und dass dieser Fall Atlee schon von daher unermesslich viel bedeuten musste.
Und so ist es ja auch, ging es Pine durch den Kopf. Ich setze meine Karriere aufs Spiel, um den Fall zu lösen, und es ist mir egal. Ein Zurück gibt es nicht.
Für einen Augenblick stieg Panik in ihr auf, als wäre sie zu weit hinausgeschwommen und in eine gefährliche Strömung geraten. Sie schaute aus dem Seitenfenster, atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und ärgerte sich über ihr kindisches Verhalten.
Sheriff Roberts hatte ihnen dargelegt, auf welcher Route der Pick-up der Atkins zu der Stelle gelangt sein musste, an der man ihn später gefunden hatte. Diese abgelegene Landstraße sahen Pine und Blum sich nun genauer an. Die einzigen Lebewesen in weitem Umkreis waren Tiere, die sich aus den Wäldern hervorwagten. Auf dem ganzen Weg kamen sie an lediglich fünf Häusern vorüber, von denen nur drei bewohnt waren. Sie hielten bei jedem dieser Häuser an, stellten den Leuten ein paar Fragen und bekamen zur Antwort, dass von den heutigen Bewohnern damals noch niemand hier zu Hause gewesen sei.
Anschließend fuhren Pine und Blum zu der Stelle, an der man den Pick-up gefunden hatte. Es handelte sich um eine alte, längst aufgegebene Esso-Tankstelle. Die vier Buchstaben und die Neonröhren, die sie einst beleuchtet hatten, waren irgendwann als Zielscheiben für Schießübungen benutzt worden. Es war ein schwacher, verfallener Abglanz von Zivilisation inmitten eines Waldes, der im Begriff war, verlorenes Terrain zurückzuerobern.
Pine parkte an der Stelle, an der einst die Zapfsäulen gestanden hatten, und schaute sich um. Der Anblick war so trostlos wie ihre Aussichten. Wie sollte sie hier irgendwelche Anhaltspunkte finden?
»Hier also hat Desiree den Pick-up abgestellt«, sagte sie nachdenklich. »Warum ausgerechnet hier?«
Blum ließ ebenfalls den Blick schweifen. »Es wäre ein guter Treffpunkt gewesen. So nach dem Motto: ›Hey, kannst du mich mal an der Esso-Tankstelle abholen?‹ Wahrscheinlich war sie der einzige markante Punkt in der Gegend. Desiree konnte ja nicht wissen, wann man Joes Leiche finden würde. Sie wollte sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen, aber nicht in einem Fahrzeug, nach dem gefahndet wurde.«
»Es kommen nicht viele Leute infrage, die Desiree angerufen haben kann«, meinte Pine. »Im Grunde sind es nur zwei.«
»Len und Wanda Atkins, ihre Schwiegereltern«, führte Blum den Gedanken fort. »Aber Sheriff Roberts sagte doch, er habe mit den beiden gesprochen, nachdem Joe ermordet und Desiree verschwunden war. Len und Wanda sagten aus, nichts mehr von Desiree gehört zu haben.«
»Dann haben sie gelogen, um ihren Hals zu retten. Denken Sie an das Foto, Carol. Len und Wanda haben sich mit Mercy fotografieren lassen. Sie müssen gewusst haben, dass Mercy gegen ihren Willen festgehalten wurde. Und auch, dass man sie ins Gefängnis werfen würde, wenn das herauskäme. Also haben sie sich schleunigst vom Acker gemacht, nachdem Mercy entkommen und Joe erstochen worden war. Ich bin mir sicher, dass Desiree die beiden noch am gleichen Abend angerufen und ihnen alles erzählt hat. Sie müssen sich hier getroffen haben. Desiree ließ den Pick-up hier zurück, und die drei sind zusammen weggefahren. Vielleicht haben sie Desiree zu einer Bushaltestelle oder einem Bahnhof gebracht. Auf diese Weise konnte Desiree sich absetzen, um irgendwo ein neues Leben anzufangen, wahrscheinlich unter einem anderen Namen. Danach sind Len und Wanda zurück zu ihrem Wohnwagen, wo sie am nächsten Tag die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhielten.« Sie schaute zu Blum. »Kommt Ihnen irgendwas daran unlogisch vor?«
»Im Gegenteil, es klingt absolut plausibel, Agentin Pine.«
Pine kniff die Augen zusammen. Plötzlich schien sie sich ihrer Sache nicht mehr so sicher zu sein. »Eines erscheint mir aber doch ziemlich unwahrscheinlich. Len und Wanda hätten irgendwie reagieren müssen, wenn Desiree ihnen gesagt hätte, dass ihr Sohn tot ist. Selbst wenn sie ihr nicht geglaubt hatten, wären sie zumindest zu dem Haus gefahren, um sich zu vergewissern. Sie hätten doch Angst haben müssen, dass Joes Leichnam von wilden Tieren zerfetzt wird. Und wir wissen, dass das nicht der Fall war.«
»Dann waren es möglicherweise Len und Wanda, die dafür gesorgt haben, dass Joes Leiche unversehrt blieb.«
»Ja. Aber so oder so – wir müssen sie finden und fragen, wie es wirklich war.«
»Falls sie noch leben«, meinte Blum.
»Dann können wir sie über die Sozialversicherung aufspüren.«
»Stimmt. Außerdem ist Len Vietnamveteran und wurde im Krieg verwundet.«
Pine griff den Gedankengang auf. »Und das wiederum könnte bedeuten, dass er beim Veteranenministerium registriert ist, um Behandlungen oder Medikamente zu bekommen. Auf diesem Weg kämen wir schneller an ihn heran als über die Bürokratie des Gesundheitsministeriums. Leider habe ich kaum Kontakte dorthin. Aber es gibt jemanden, der mir möglicherweise helfen kann.«
Pine zog ihr Handy hervor.
»Wen rufen Sie an?«, fragte Blum.
»John Puller, wen sonst. Er hat mir Len Atkins’ Militärunterlagen verschafft.«
Sie rief Puller an, der ihr zu ihrer Erleichterung mitteilte, dass ersich gut von seinen Verletzungen erhole. Und er war sofort bereit, Pine zu helfen. Er kenne einige Leute im Veteranenministerium, ließ er sie wissen, da sein Vater in einem Veteranenkrankenhaus untergebracht sei.
Pine bedankte sich und beendete das Gespräch. »Okay, dann lassen wir John mal Wunder wirken.«
Blum fragte: »Was halten Sie davon, Jack Lineberry zu besuchen, während wir auf die Informationen warten?«
Pines Gesicht verhärtete sich, und sie schaute aus dem Seitenfenster. Der Gedanke an Lineberry weckte albtraumhafte Gedanken in ihr. »Das haben Sie schon mal gefragt.«
»Ja. Aber Sie haben nicht geantwortet, deshalb frage ich noch einmal.«
»Warum sollte ich ihn besuchen?«, erwiderte Pine hitzig.
»Ob es Ihnen gefällt oder nicht, er ist Ihr Vater. Und wenn ich daran denke, was bei Ihrem letzten Besuch passiert ist …«
»Ich bin nicht stolz darauf, dass ich durchgedreht bin, Carol.«
»Dann wäre es vielleicht an der Zeit, das Vergangene hinter sich zu lassen und eine neue Gesprächsbasis aufzubauen.«
Pine musterte ihre ältere Freundin verdutzt. »Warum?«
»Weil Sie seine Hilfe brauchen werden, ob Sie Mercy nun finden oder nicht.«
Pines Verwirrung wuchs. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich nehme doch an, Sie wollen immer noch wissen, wo Ihre Mutter ist. Und Tim Pine, wo Sie jetzt so gut wie sicher sein können, dass seine Leiche nicht in dem Grab lag. Jack könnte Ihnen wertvolle Hinweise geben. Ich sage ja nicht, dass Sie besonders nachsichtig mit ihm sein sollen …«
»Das habe ich auch nicht vor«, betonte Pine.
»Ich glaube trotz allem, dass Jack Lineberry versucht, das Richtige zu tun«, fuhr Blum unbeirrt fort. »Und wie gesagt, er ist Ihr Vater. Wenn Sie nicht wenigstens versuchen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, könnten Sie es irgendwann bereuen.«
»Ich habe eine Menge zu bereuen, Carol, da kommt es auf ein bisschen mehr oder weniger nicht an.«
Dennoch griff Pine den Vorschlag auf und fuhr los, um jenen Mann aufzusuchen, der sie so oft belogen hatte wie niemand anders in ihrem Leben.
Außer meiner verdammten Mutter.
4
Jack Lineberrys Anwesen lag eine Autostunde südlich von Atlanta. Er hatte mit Investments ein Millionenvermögen verdient und besaß außer dieser stattlichen Residenz noch ein zweigeschossiges Penthouse in Atlanta, ein Luxusapartment in New York und einen Privatjet. Er führte ein Leben, um das ihn die meisten Menschen beneiden würden. Nicht Pine.
Wenn man so viel Spielzeug braucht, um sein Leben zu genießen, ist man im Grunde noch ein Kind.
Sie hatten ihren Besuch telefonisch angekündigt, sodass sie am Eingangstor sofort eingelassen wurden. Eine Hausangestellte führte sie zu Jack Lineberry. »Mr. Lineberry liegt allerdings noch im Bett«, ließ die Frau sie wissen.
Pine runzelte beunruhigt die Stirn. Im Bett? Am frühen Nachmittag?
Sie betraten das Schlafzimmer, und die Angestellte ließ sie allein. Es war dunkel im Zimmer, denn die Jalousien waren noch unten. Außerdem war es nach Pines Geschmack viel zu warm. Es kam ihr so vor, als würde sie eine Gruft betreten, die mit Teppichen und tapezierten Wänden ausgestattet war. Ein alarmierender Gedanke.
»Jack?«, fragte sie leise.
Auf dem Bett rührte sich etwas. Mit viel Mühe gelang es Lineberry, sich aufzusetzen. Pine und Blum traten näher, schauten auf ihn hinunter und erschraken, als sie sein Gesicht sahen. Lineberry war in den Sechzigern, schien aber um zwanzig Jahre gealtert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Der einst gut aussehende, hochgewachsene Mann wirkte eingefallen, abgezehrt und gebrechlich. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen.
»Jack …« Blums Stimme klang belegt. »Was ist passiert?«
Er richtete seine müden, blutunterlaufenen Augen auf sie und furchte gereizt die Stirn. »Nichts … ist passiert. Alles … in Ordnung.«
»So siehst du aber gar nicht aus«, sagte Pine ihm auf den Kopf zu.
»Deine Meinung«, erwiderte er mürrisch. »Andere sehen das anders.«
»Ich glaube, so würde es jeder sehen, der Augen im Kopf hat«, konterte Pine.
»Ich wurde angeschossen, Atlee. Das ist ein bisschen schlimmer als ein Schnupfen. Davon erholt man sich nicht so schnell, schon gar nicht in meinem Alter.«
»Du hast recht, tut mir leid.« Pine schaute kurz zu Blum. »Auch dass ich beim letzten Mal einen ziemlichen Wutanfall hatte.«
»Du hattest jedes Recht, wütend zu sein. Im Endeffekt bin ich noch glimpflich davongekommen.«
»Jetzt sei mal nicht zu edelmütig«, sagte Pine versöhnlich. »Sonst machst du es noch schwerer, als es ohnehin schon …«
Lineberry unterbrach sie, indem er eine Hand hob. »Ich habe viel nachgedacht, Atlee. An diesem Punkt in meinem Leben ist das auch dringend notwendig.«
»Nachgedacht? Worüber?«, fragte sie alarmiert und warf Blum einen Blick zu. Sein fatalistischer Tonfall gefiel ihr gar nicht.
»Über dich, über Mercy, über deine Mutter und Tim. Und natürlich auch über mich.«
Pine nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett. »Und was ist dabei herausgekommen?«
Sie war sich keineswegs sicher, ob sie die Antwort hören wollte, aber im Leben war es leider unvermeidlich, sich auch den unangenehmen Dingen zu stellen, mochten sie einen noch so hart treffen.
»Erstens«, begann Lineberry, »hinterlasse ich dir alles, was ich besitze. Dir und Mercy.«
Pine schüttelte entschieden den Kopf. »Jack, ich glaube nicht …«
»Lass mich bitte ausreden. Es ist wichtig.«
Wieder schaute Pine kurz zu Blum; die nickte beinahe flehend.
Pine lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und machte ein trotziges Gesicht. »Also gut. Das heißt aber nicht, dass ich einverstanden bin.«
»Hör zu, Atlee. Ich bin dein und Mercys Vater. Daraus ergibt sich eine Verantwortung, der ich in keiner Weise gerecht geworden bin.«
»Du hast ja nicht gewusst, wo …«
Er ließ sie nicht ausreden. »Ich habe mehr gewusst, als ich zugegeben habe. Und was ich nicht wusste, hätte ich herausfinden können. Die Wahrheit ist, dass ich mich euch beiden gegenüber hundsmiserabel verhalten habe. Einen schlechteren Vater als mich kann man sich kaum vorstellen.«
Er war so verzweifelt, dass Pine spürte, wie ihr Zorn auf ihn verflog. Sie beugte sich vor, legte ihm die Hand auf den Arm. »Jack, du warst damals in einer Zwickmühle. Die Situation war schrecklich kompliziert.«
»Heute sehe ich die Dinge klarer. Ich habe zwei Töchter. Ihr seid meine einzigen Angehörigen, meine Kinder. Deshalb werde ich euch meinen gesamten Besitz vererben. Wenn du dein Erbe nicht willst, ist es deine Entscheidung. Dann gib es an jemanden weiter, wer immer das sein mag.« Entschieden fügte er hinzu: »Aber du kannst mir nicht verwehren, dir und Mercy alles überschreiben zu lassen. Ich habe meine Anwälte schon damit beauftragt. Die Papiere sind bereits ausgefertigt.«
»Na schön, Jack, wenn du es so willst.«
»So und nicht anders.«
»Aber du hast noch viele Jahre vor dir. Warum diese Eile?«
»Niemand kann sagen, was morgen sein wird, Atlee. Das weißt du so gut wie ich. Gerade du und Mercy habt es am eigenen Leib erfahren.« Bevor sie etwas erwidern konnte, fragte er: »Hast du etwas Neues über Mercy herausgefunden? Oder über deine Mutter und Tim?«
Pine berichtete ihm von der Exhumierung, auf deren Ergebnis sie noch wartete. Noch war nicht bestätigt, dass es sich tatsächlich um Ito Vincenzos Leichnam handelte. Sie erzählte ihm auch, was sie und Blum unternahmen, um Desiree Atkins’ Spur zu folgen. Auch von ihrer Annahme, dass Desiree an jenem Abend Len und Wanda angerufen und sich von ihnen bei der Flucht hatte helfen lassen.
»Du redest von den Leuten, die auf diesem Foto mit Mercy zu sehen sind?«, fragte Lineberry.
»Ja.«
»Glaubst du, du kannst sie nach so langer Zeit noch finden?«
»Heutzutage ist es kaum noch möglich, spurlos von der Bildfläche zu verschwinden. Jeder hinterlässt Spuren, ob er will oder nicht. Denk an die moderne Technologie, die Datenbanken und das alles.«
»Und du meinst, diese Leute können dir sagen, was aus Desiree geworden ist?«
»Ja. Und wenn ich die Frau aufgestöbert habe, erfahre ich sehr wahrscheinlich, was an jenem Abend geschehen ist. Vielleicht sogar, wo Mercy sein könnte.«
»Diese Desiree … sie wird nicht besonders gesprächig sein«, gab Lineberry zu bedenken.
»Es gibt Mittel und Wege, jemanden zum Reden zu bringen. Ihr droht in jedem Fall eine Gefängnisstrafe. Und wenn sie noch dazu ihren Mann ermordet hat, und vielleicht auch …« Pine zog scharf den Atem ein. »Sie wird reden.«
Mühsam setzte Lineberry sich ein wenig auf. Das Gespräch schien eine belebende Wirkung auf ihn zu haben. »Es gibt da noch etwas …«
Pine schaute ihn argwöhnisch an. Lineberry hatte sie schon mit der Erbschaft auf dem falschen Fuß erwischt. Sie hatte keine Lust auf eine weitere faustdicke Überraschung. »Ja?«
»Ich weiß, dass du die Suche nach deiner Schwester aus eigener Tasche bezahlst.«
Pine zog die Stirn in Falten. »Und?«
»Das ist nicht fair. Mit meinen Mitteln könntest du …«
Pine verstand, worauf er hinauswollte. »Nein, Jack, das ist meine Angelegenheit.«
»Meine genauso!«, konterte er so entschieden, dass sie alle einen Augenblick perplex waren. Selbst Lineberry schien sich über seine plötzliche Energie zu wundern. Ruhiger fügte er hinzu: »Wenn du auf meine Mittel zurückgreifst, kommst du vielleicht schneller ans Ziel. Du könntest beispielsweise meinen Jet benutzen.«
Wider Willen musste Pine lächeln. »Hör zu, Jack. Ich bin FBI-Agentin, und zwar aus Überzeugung. Ich kann nicht mit Millionen um mich werfen, mit einem Privatflugzeug durch die USA düsen und mich von einem Chauffeur zum Büro fahren …«
»Du bist nicht immer im Dienst«, unterbrach Lineberry. »Und was hat das FBI mit dem Privateigentum seiner Agenten zu tun?«
Pine musterte ihn schweigend.
»Reden Sie weiter, Jack«, sagte Blum.
Pine funkelte sie missbilligend an, schwieg jedoch.
»Ich weiß, dass du immer mit Mietwagen unterwegs bist, Atlee. Das muss nicht sein. Nimm den Porsche SUV. Der steht sowieso nur in der Garage. Und … ich habe ein Konto eröffnet, auf das du jederzeit zugreifen kannst.« Er zog die Schublade seines Nachttisches auf und nahm zwei Karten heraus. »Bank- und Kreditkarte. Du kannst sie unbegrenzt nutzen. Als PIN habe ich deinen Geburtstag genommen, Monat und Tag.«
»Jack, ich kann dein Geld nicht annehmen.«
»Es ist nicht mein Geld, Atlee. Es ist unser Geld. Außerdem benutzt du es ja nicht für einen Urlaub, sondern um deine Schwester zu finden. Und deine Mutter und Tim. Und in deinem Job als FBI-Agentin bedeuten mehr Ressourcen bessere Erfolgsaussichten, oder irre ich mich?«
»Nein«, gab sie zu.
»Wo ist dann das verdammte Problem?«, sagte er mit aller Entschiedenheit, um keine Zweifel aufkommen zu lassen.
Pine musste zugeben, dass er es geschickt eingefädelt hatte. Es machte sie sogar ein bisschen stolz, wie clever und entschlossen er die Dinge in die Hand genommen hatte.
Blum ging bereits einen Schritt weiter und nahm die beiden Karten entgegen. »Es gibt kein Problem damit, Jack. Wir wissen Ihre großzügige Hilfe zu schätzen. Nicht wahr, Agentin Pine?«
Pine schaute sie an; dann fiel ihr Blick auf Lineberrys müdes, aber hoffnungsvolles Gesicht. »Danke, Jack«, sagte sie versöhnlich. »Das hilft uns wirklich weiter.«
Erleichtert lehnte er sich ins Kissen zurück.
Blum gab Pine die beiden Karten.
»Ich nehme nicht an, dass du hier wohnen willst«, fuhr Lineberry fort. »Aber mein Apartment in Atlanta könntest du als Basis nutzen. Dort kannst du auch jederzeit mit meinem Jet starten und landen. Ich sorge dafür, dass er immer startklar ist. Ich werde ihn sowieso längere Zeit nicht brauchen.«
»Okay, Jack.« Pine schaute zu Blum. »Das wäre hilfreich. Aber wir werden uns sicher nicht oft dort aufhalten. Wir können ja nicht wissen, wohin die Spur uns führt.«
»Schon klar«, sagte Lineberry rasch.
»Jetzt komm mir aber bloß nicht mit Bediensteten. Carol und ich können uns um uns selbst kümmern.«
»Ich wusste, dass du das sagst. Deshalb habe ich den Angestellten drei Monate bezahlten Urlaub gegeben. Ihr habt das Apartment für euch allein.«
»Du bist ganz schön gerissen, Jack, das muss man dir lassen«, sagte Pine und blickte zu Blum, die selbstzufrieden dreinschaute.
»Es ist das Mindeste, was ich tun kann«, erwiderte Lineberry.
Pine schaute ihn nachdenklich an. »Fällt dir noch irgendetwas ein, das uns einen Hinweis geben könnte, wohin meine Mutter und Tim damals gegangen sind?«
Lineberry erwiderte ihren Blick ernst, beinahe feierlich. »Um diese Frage zu beantworten, gebe ich dir etwas, von dem deine Mutter nicht wollte, dass du es je zu sehen bekommst.«
Pine richtete sich auf, ihre Muskeln spannten sich, und Adrenalin schoss in ihre Adern. »Was?«, brachte sie mühsam hervor.
Wieder griff Lineberry in die Schublade und zog einen grauen Umschlag heraus. »Wenn du das hier liest, solltest du bedenken, dass du das genaue Gegenteil von dem tun musst, was deine Mutter da schreibt.«
»Wann hat sie dir das geschickt?«, fragte Pine, ohne auf seinen seltsamen Rat einzugehen.
»Ungefähr zu der Zeit, als sie dich verlassen hat. Der Brief war eines Tages in meiner Büropost. Ich hatte Tim meine Kontaktdaten gegeben, als wir uns in Virginia sahen. Auf dem Brief steht keine Absenderadresse. Aber am Poststempel siehst du, dass er in Charleston, South Carolina, aufgegeben wurde. Wahrscheinlich war Julia auf dem Weg zu Tim, als sie den Brief abgeschickt hat.«
Er hielt Pine den Umschlag hin. Zuerst starrte sie darauf, als hätte sie eine Pistole vor sich, die Jack auf sie richtete, nahm den Umschlag dann aber zögernd entgegen und betrachtete die Handschrift auf dem grauen Papier. Es war eindeutig die Schrift ihrer Mutter.
»Ich … ich glaube, ich lese es später«, sagte sie leise.
»Ich hätte dir den Brief schon längst geben sollen«, sagte Lineberry mit zittriger Stimme. »Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich es nicht getan habe, außer vielleicht, dass ich in meinem früheren Beruf ein bisschen zu gut gelernt habe, Geheimnisse zu bewahren. Ich will mich damit nicht herausreden, es ist einfach so.«
»Gibt es in dem Brief einen Hinweis, wo Julia und Tim sein könnten?«, fragte Pine.
»Ich kann jedenfalls keinen finden.«
»Was hast du damit gemeint, ich soll das genaue Gegenteil von dem tun, was Julia geschrieben hat?«
»Du wirst es wissen, wenn du es liest.«
5
Pine nahm den Porsche, während Blum mit dem Mietwagen zum Flughafen fuhr, um ihn zurückzugeben. Anschließend fuhren sie zu Lineberrys Penthousewohnung in der Innenstadt von Atlanta. Pine kannte die Wohnung von einem Besuch mit Lineberry, Blum jedoch sah das Apartment zum ersten Mal.
»Meine Güte«, sagte sie, als sich die Türen des privaten Aufzugs im Vorraum des Apartments öffneten. »Das ist ja wie aus einem Traum.«
»Ich weiß«, sagte Pine mürrisch.
»Ach, kommen Sie, Agentin Pine. Das ist doch eine ganz andere Welt als das Motel, in dem wir letztes Mal abgestiegen sind. Die Heizung war kaputt, und aus der Dusche kam das Wasser nur tröpfchenweise.«
»Jack hat uns schon sein Apartment in New York überlassen. Jetzt fahren wir seinen Porsche, wohnen in dieser Luxussuite und dürfen seinen Privatjet benutzen. Und wenn Jack mal nicht mehr ist, schwimme ich in so viel Geld, dass ich nie mehr einen Finger rühren muss.«
»Ja, Sie können einem wirklich leidtun«, sagte Blum mit einer Ironie, die Pine den Wind aus den Segeln nahm.
»Ich weiß, Carol, ich weiß«, seufzte sie. »Für die meisten wäre es so, als hätten sie in der Lotterie gewonnen.«
»Aber Sie sind nicht wie die meisten«, sagte Blum, nun wieder ernst.
»Ich mache mir nichts aus solchen Dingen. Hab ich nie getan. Mein Apartment in Shattered Rock ist perfekt für mich. Und mein altes Mustang Cabrio ist für mich das schönste Auto auf der Welt. Mehr brauche ich nicht.« Sie schnaubte abfällig. »Am wenigsten einen Privatjet.«
»Ich kann Sie ja verstehen. Trotzdem sollten wir die Dinge benutzen, die Jack uns bietet. Schon deshalb, weil wir damit schneller vorankommen.«
»Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich das alles akzeptiere.«
Blum schaute auf ihre Uhr. »Ich würde sagen, es ist Zeit fürs Abendessen. Das Personal ist bekanntlich auf Urlaub, also sollte ich mich vielleicht mal in der wahrscheinlich märchenhaften Küche umsehen und uns eine Kleinigkeit zaubern, oder? Ich wette, der Kühlschrank ist reich bestückt.«
Pine zog die Kreditkarte hervor. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Essen einlade? Oder vielmehr, wenn Jack uns einlädt?«
Der Concierge gab ihnen ein paar Tipps, und sie entschieden sich für ein französisches Bistro, das zu Fuß nur ein paar Minuten entfernt war.
Sie bestellten ihr Essen und eine gute Flasche Wein und unterhielten sich die nächsten zwei Stunden über belanglose Dinge. Für Pine war es die reinste Erholung, die ihr aber auch ein schlechtes Gewissen bereitete. In den letzten Monaten hatte sie fast jede Minute ihrer Suche nach Mercy gewidmet. Schon die kleinste Pause fühlte sich wie Verrat an ihrer Schwester an.
»Wir kommen schon voran, Agentin Pine«, meinte Blum, als würde sie Pines Gedanken lesen, »aber wir müssen auch mal durchatmen.«
Pine nickte und schaute sich im Restaurant um. Die Leute hier hatten ihre eigenen Sorgen und Probleme, vielleicht nicht so gravierend wie ihre, aber wahrscheinlich auch nicht immer leicht zu lösen. Sie fürchtete nur, dass ihr Problem sich trotz aller Fortschritte vielleicht nie würde lösen lassen. Oder dass es damit endete, dass sie die Leiche ihrer Schwester fand.
Könntest du das ertragen, Lee? Du sagst dir zwar, dass du darauf vorbereitet bist, aber belügst du dich da nicht ein bisschen?
Auf dem Rückweg zum Apartment fragte Blum: »Werden Sie den Brief heute Abend lesen?«
Pine nickte. »Ich muss. Obwohl sich irgendetwas in mir dagegen sträubt.«
»Das kann ich verstehen. Aber vielleicht enthält er ja irgendeinen Hinweis.«
»Mag sein«, erwiderte Pine skeptisch.
Zurück im Apartment, nahm sie eine lange, dampfend heiße Dusche, schlüpfte in Jogginghose und T-Shirt und legte sich aufs Bett, den Brief in der Hand. Sie betrachtete den Umschlag und zog mit dem Finger behutsam die ebenmäßige Handschrift ihrer Mutter nach, die ihr auch nach so vielen Jahren noch vertraut war.
Also dann, Lee.
Sie hob die Hand, um den Umschlag zu öffnen, sprang dann aber auf, schnappte sich ihr Handy und verließ das Schlafzimmer. Sie stieg in den Weinkeller hinunter, den Lineberry ihr bei ihrem ersten Besuch gezeigt hatte. Aus einem Regal nahm sie eine Flasche des gleichen italienischen Weins, den sie schon einmal hier getrunken hatte. Sie hatte zwar schon ein paar Gläser Wein intus, aber offenbar zu wenig, um für den Brief ihrer Mutter bereit zu sein.
Sie ging hinaus auf die verglaste Terrasse, die sich über drei Seiten des Apartments erstreckte. Es war wie eine kleine Oase mit all den exquisiten Topfpflanzen, gepolsterten Korbstühlen, Springbrunnen und dem Gaskamin. Ein privates Paradies.
Wieder krochen Schuldgefühle in ihr hoch.
Wo Mercy jetzt wohl sein mag? Wahrscheinlich an keinem so schönen Ort.
Pine setzte sich auf den Boden und entzündete mit einer Fernbedienung den Gaskamin. Sie rückte näher ans Feuer, legte ihr Mobiltelefon weg, öffnete die Weinflasche, schenkte sich großzügig ein und nahm einen kräftigen Schluck.
Jetzt aber, Lee.
Sie sprach sich selbst manchmal mit der Kurzform ihres Namens an. In ihrer Kindheit und Jugend war sie für alle nur »Lee« gewesen. Es war Mercy, der sie diesen Namen verdankte, weil ihre Schwester anfangs »At-lee« nicht aussprechen konnte und sie deshalb einfach Lee genannt hatte. Der Name war ihr geblieben, bis sie aufs College wechselte. Heute würde sie viel dafür geben, sich von ihrer Schwester wieder so ansprechen zu lassen.
Sie zog den zweiseitigen Brief hervor und faltete ihn auseinander. Stirnrunzelnd bemerkte sie, dass ihre Hand zitterte. Sie nahm noch einen Schluck Wein, um ihre Nerven zu beruhigen. Es funktionierte nicht.
Komm schon! Es ist doch bloß ’n Brief.
Aber natürlich war es in Wahrheit viel mehr. Es war eine einmalige Gelegenheit zu erfahren, was in ihrer Mutter vorgegangen war, als sie ihre Tochter vor so vielen Jahren verlassen hatte. Pine leerte das Weinglas und schenkte sich nach.
Dann mal los, sagte sie sich, atmete tief ein und hielt den Atem an, wie um ins Wasser einzutauchen.
Lieber Jack,
wieder einmal hast Du in höchster Not geholfen. Tim und ich können Dir nicht genug danken. Es ist schrecklich, was in Virginia passiert ist. Dieser Mensch wollte wahrscheinlich mir wehtun, indem er Tim umbringt. Vielleicht hat er auch angenommen, ich wäre bei Tim. Ich bin immer noch geschockt, dass ich ihn beinahe verloren hätte.
An dieser Stelle wollte Pine den Brief fast schon weglegen. Es war nicht angenehm zu erfahren, wie schwer es ihre Mutter getroffen hatte, beinahe den Mann zu verlieren. Andererseits hatte sie selbst keine Skrupel gehabt, ihre Tochter im Stich zu lassen. Pine gab sich einen Ruck und las weiter.
Und dann kam etwas, das noch schlimmer für mich war. Ich musste meine geliebte Lee zurücklassen. Ich kann selbst nicht glauben, dass ich das schreibe, Jack. Sie ist alles, was ich noch habe. Nachdem man mir Mercy genommen hatte, was allein meine Schuld war, wie wir beide wissen, war Lee das Einzige, was mich hat weitermachen lassen. Ich weiß, ich habe sie erdrückt mit meiner Fürsorge und zugleich eine Wand zwischen uns aufgebaut. Ich hatte Angst, wenn wir uns zu nahe wären, könnte mir etwas herausrutschen, mit dem ich sie in Gefahr bringen würde. Das konnte ich meinem kleinen Mädchen nicht antun. Als ich im Krankenhaus an ihrem Bett saß und nicht wusste, ob sie überleben wird, und keine Ahnung hatte, was mit Mercy geschehen war, hat etwas in mir zugemacht. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich habe mich in mich selbst zurückgezogen und war nur noch damit beschäftigt, die Schuldgefühle zu verarbeiten, die mich geplagt haben. In dem Augenblick, als meine Mädchen mich gebraucht hätten, war ich nicht für sie da. Dabei ist das die wichtigste Pflicht einer Mutter. Diese Pflicht habe ich nicht bloß vernachlässigt – ich habe auf der ganzen Linie versagt. Lee ist heute eine kluge, talentierte junge Frau. Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf sie bin. Und sie hat das ganz allein geschafft. Ich weiß, sie hält mich für distanziert und abweisend, und das macht meine Schuldgefühle noch unerträglicher. Es tut sehr weh, einem Menschen, den man in Wahrheit über alles liebt, diese Liebe nie zu zeigen. Es verändert einen für immer und lässt sich nicht wiedergutmachen. Aber ich muss jetzt auf diesem Weg bleiben. Es geht nicht anders. Wenn Lee denkt, dass ich sie nicht lieb habe, wird sie mich nicht vermissen, wenn ich fort bin. Hoffe ich wenigstens. Weißt Du, Jack, ich bin zu etwas Geld gekommen – wie, möchte ich jetzt nicht näher erklären. Nur so viel: Ich habe etwas herausgefunden, und als ich die betreffende Person damit konfrontierte, hat sich herausgestellt, dass ich richtiglag. Mit diesem Geld kann Lee aufs College gehen und sich ein Leben ohne mich aufbauen. Und es gibt Tim und mir eine Starthilfe. Es macht mich unendlich traurig, Lee zu verlassen, aber ich bin zuversichtlich, dass sie in Sicherheit sein wird.
Als Du mich damals angeworben hast, war ich jünger, als Lee heute ist. Ich hatte schreckliche Angst. Ich wollte es nicht tun, aber Du hast mir klargemacht, wie viel Gutes ich damit bewirken kann. Und wahrscheinlich war es auch so – nur nicht für meine Familie. Ich habe immer gewusst, dass ich mich auf etwas Gefährliches einlasse, und Tim ebenso. Aber nicht Mercy und Lee. Sie hatten keine Wahl. Tim und ich werden wieder zusammen sein, und dennoch weiß ich jetzt schon, dass ich mich so allein fühlen werde wie noch nie im Leben. Ohne meine Töchter bin ich nichts. Ich hatte geglaubt, ein großes Opfer für sie zu bringen, aber am Ende waren es meine Töchter selbst, die ich geopfert habe. Ich habe als Mutter versagt. Ich glaube, ich habe gar kein Recht mehr, mich »Mutter« zu nennen. Jeden Tag denke ich an Mercy und Lee, und das wird so bleiben, solange ich lebe. Sie waren meine kleinen Blumen, und ich habe sie verwelken lassen. Ich werde den Rest meines Lebens versuchen, es irgendwie gutzumachen. Irgendwie.
Danke für alles, Jack. Falls Du Lee irgendwann wiedersiehst, sprich bitte nicht mit ihr über mich. Sag ihr nichts, was alte Erinnerungen wecken könnte, die ihr nur wehtun würden. Ich bin es nicht wert, eine Rolle in ihrem Leben zu spielen. Sie soll ihr eigenes Leben führen und nicht zurückschauen.
Julia hatte den Brief mit ihrem richtigen Namen unterschrieben. Amanda, nicht Julia.
Die Tränen, die aufs Papier getropft waren, hatten feuchte Flecken hinterlassen. Pine las den Brief noch dreimal und fand jedes Mal neue Wörter und Sätze, die ihr ins Auge stachen. Schließlich faltete sie die Seiten zusammen und legte sie neben sich, während sie zusah, wie die Nacht sich über die beleuchtete Skyline von Atlanta senkte.
Irgendwo da draußen war ihre Familie. Doch es war genauso gut möglich, dass alle drei tot waren. Würde es ihr dann genügen, ihre Gräber zu finden? Falls es überhaupt welche gab. Würde sie dann endlich Frieden finden?
Das kannst du heute unmöglich wissen, Atlee.
Ihr Mobiltelefon gab einen Klingelton von sich. Sie schaute aufs Display. Es war eine Nachricht von John Puller.
Sie richtete sich auf. Leonard Atkins wurde tatsächlich vom Veteranenministerium unterstützt. Das Geld ging an eine Adresse in Huntsville, Alabama, die Puller ebenfalls angegeben hatte. Pine führte eine kurze Google-Suche durch und erfuhr, dass die Stadt dreieinhalb Autostunden von Atlanta entfernt war.
Sie ging ins Zimmer und legte sich ins Bett.
Mach einfach weiter, Atlee, war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief. Tag für Tag, dann kommst du irgendwann ans Ziel. Du wirst sie finden, so oder so.
6
Die Frau erhob sich von dem zerschrammten Holzschemel zu ihrer vollen Größe: eins fünfundachtzig barfuß. Sie beugte und streckte die rechte Hand, dann die linke. Die schwieligen Finger waren so kräftig wie ihr ganzer Körper. Ihre Knochen und Sehnen knirschten und knackten, als sie die Muskeln spannte und den Kopf im Nacken kreisen ließ. Nicht jede Körperpartie ließ sich durch solche Übungen lockern, aber es war eine Art Ritual, das die Gegnerin beeindrucken und einem die eigene Kraft und Kampfbereitschaft versichern sollte. Die hochgewachsene Frau fixierte ihre Widersacherin, ließ ihre runden, kräftigen Schultern kreisen und spürte, wie die Spannung in den Rücken- und Schultermuskeln spürbar nachließ.
Sie trug ein abgetragenes schwarzes Sport-Top mit ausgeblichenem Nike-Symbol, einen Brustschutz darunter sowie schwarze Lycra-Shorts. Die enge Sportkleidung betonte ihre athletische Statur und ihre langen, schlanken Muskeln.
Der gepflegt aussehende kleine Mann, der bei ihr stand, half ihr, die Handschuhe überzustreifen, und massierte ihre langen, muskulösen Arme.
»Bereit?«, fragte er und blickte zu ihr auf.
Sie schaute stirnrunzelnd auf ihn hinunter. »Was glaubst du, Jerry? Wäre ich sonst hier?«
Er schob ihr den Mundschutz zwischen die Zähne und bekreuzigte sich; eines seiner dämlichen Rituale, an die sie sich nie würde gewöhnen können.
»Für wen machst du das, Mann? Für deinen Buchmacher?«, murmelte sie durch ihren Mundschutz.
»Wir sehen uns auf der anderen Ringseite, El«, sagte Jerry und sprang hastig aus dem Käfig.
Eloise »El« Cain war eigentlich ein bisschen zu alt für das, was sie hier tat. Aber sie brauchte das Geld. Ihre heutige Gegnerin war zehn Zentimeter kleiner als sie, aber stämmig und gedrungen, ein wahres Kraftpaket. Mit ihren 85 Kilo war sie fünf Kilo schwerer als Cain. Und so wie Cain hatte auch sie kaum ein Gramm Fett am Leib. Sie schien nur aus Knochen, Sehnen und vor allem Muskelmasse zu bestehen, von den breiten Schultern über die brettharte Bauchmuskulatur bis zu den strammen Oberschenkeln und den kraftvollen Waden. Sie hätte wahrscheinlich 99 Prozent der anwesenden Männer auf die Bretter geschickt und das restliche eine Prozent in die Flucht geschlagen. Ihre Kampftechnik war so einfach wie effektiv. Angreifen, zuschlagen, fertig. Sie konnte den ganzen Tag im Ring stehen, konnte endlos einstecken und hatte enorme Kraft in den Gliedmaßen. Außerdem war sie fast fünfzehn Jahre jünger als Cain und ehrgeizig. Viele meinten, sie habe das Zeug für einen Platz ganz oben auf der Rangliste. Die Frage war nur, ob sie auch den berühmten Ringinstinkt und die mentale Stärke mitbrachte. Hinzu kam, dass die UFC, die amerikanische Dachorganisation für Mixed-Martial-Arts-Kämpfe, für Frauen das Federgewicht als höchste Gewichtsklasse festgelegt hatte, also Kämpferinnen mit einem Körpergewicht von maximal 66 Kilo.
Cain hatte das immer schon für eine verdammte sexistische Ungerechtigkeit gehalten. Es gab Frauen, die unglaublich kämpfen konnten, aber aufgrund des Gewichtslimits nicht bei den lukrativen UFC-Fights antreten durften. Für Männer gab es höhere Gewichtsklassen; aus welchem Grund also wurden Frauen wie sie von der UFC ausgeschlossen? Vielleicht sollten sie ihre eigene Liga gründen oder den Sprung zum Profiboxen wagen, wo es die höheren Gewichtsklassen auch bei den Frauen gab. Jedenfalls war es verdammt unfair, fand Cain, und es traf mal wieder die Frauen, wie fast immer.
Cains Gegnerin hatte mehr tätowierte als blanke Haut. In ihren Tattoos ging es in erster Linie um Gewalt und Tod, dicht gefolgt von Sado-Maso-Folterszenen.
Cain wusste, dass sie für diese Fighterin nur ein Schritt auf der Karriereleiter im Mixed-Martial-Arts-Business war.
Tja, Baby, kann gut sein, dass ich was dagegen habe.
Es war eindeutig kein Spitzenkampf, der via Pay per view übertragen wurde. Auf diesem Level gab es nur primitive Ringschlachten. In dieser Spelunke bekam man die großen Kaliber nie zu Gesicht, keine Ronda Rousey, Holly Holm oder Cris Cyborg. Hier wurde kein Millionengeschäft gemacht. Es war nicht die große sportliche Bühne, obwohl immerhin zweihundert – zum großen Teil betrunkene – Zuschauer anwesend waren. Man spürte die Erwartung, ein blutiges Spektakel geboten zu bekommen. Der Kampf fand in einer ehemaligen Fabrikhalle statt, die für verschiedene Zwecke genutzt wurde, die allerdings nie von irgendeiner Behörde genehmigt und in den meisten Fällen illegal waren. Aber konnte man den Leuten ein bisschen Spaß verwehren? Und dazu die Möglichkeit, beim Wetten ein paar Dollar nebenbei abzukassieren?
Für mich ist heute jedenfalls ein kleiner Jackpot drin.
Das offizielle Preisgeld betrug fünf Riesen. Falls Cain den Kampf gewann, würde sie allerdings nur tausend Dollar bekommen. Die Verliererin erhielt immerhin noch dreihundert Mäuse dafür, dass sie sich verprügeln ließ. So lief das nun mal auf diesem Niveau.
Cain sah die Sache vollkommen nüchtern. Hier ging es nicht um Ruhm oder irgendwelche Medaillen, es ging schlicht und einfach darum, sich gegenseitig die Scheiße aus dem Leib zu prügeln, während die Zuschauer Bier in sich reinschütteten, Gras rauchten und johlten. Das restliche Geld strichen zwielichtige Halbwelttypen ein, die nichts zu dem Spektakel beitrugen, kein Risiko eingingen und keinen Finger rührten. Aber sie verfügten über Macht und Einfluss, also krallten sie sich den Löwenanteil.
Dennoch waren tausend Dollar kein schlechter Anreiz für Cain, hier im Ring zu stehen – mit Mundschutz, Kampfhandschuhen, einer klaren Strategie im Kopf und jeder Menge Adrenalin in den Adern.
Die Frauen trafen sich in der Mitte des improvisierten Käfigs, der von zweieinhalb Meter hohem Maschendraht umzäunt und mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Im Gegensatz zu dem bei UFC-Kämpfen üblichen achteckigen Käfig war der Maschendraht hier nicht mit weichem Vinyl überzogen, und auch die Metallpfosten hatten keine Schutzverkleidung. Es war extrem schmerzhaft, wenn man dagegenknallte. Dasselbe galt für den nackten Betonboden. Aber das alles machte Cain nichts aus. Im Vergleich zu dem, was sie durchgemacht hatte, war das hier ein Kinderspiel. Was ihr nicht gefiel, war die verschlossene Käfigtür. Aber sie war groß genug, um im Notfall über den hohen Zaun klettern zu können.
Sie beäugte ihre Gegnerin, die ihrerseits mit starrem Blick versuchte, Cain einzuschüchtern. Dennoch unterschied sich der Gesichtsausdruck der Gegnerinnen von dem der Männer in solchen Augenblicken. Während diese testosterongesteuerten Machos in solchen Psychospielchen meist übertrieben, um ihrem Gegner zu zeigen, dass sie ihn massakrieren wollten, ließen Frauen oft nicht erkennen, wie schlimm sie einen verprügeln würden. Doch der Blick von Cains Gegnerin schien zu besagen: Ich mach dich alle.
»Das hättest du wohl gerne«, sagte Cain und setzte ein breites Lächeln auf, was ihre Gegnerin erst so richtig auf die Palme zu bringen schien.
Ah, du lässt dich provozieren, dachte Cain. Umso besser.
Der Kampf war auf drei Runden zu je fünf Minuten angesetzt, es sei denn, eine Kämpferin ging k.o. oder war nicht mehr imstande, sich zu verteidigen. Cain war noch nie k.o. gegangen, doch sie wusste, dass es ihr genauso passieren konnte wie jeder anderen. Dass der Kampf so kurz war, bedeutete, dass es von Anfang an knallhart zur Sache gehen würde. Es würde kein langes Abtasten geben. Die Menge wollte Blut sehen und nicht zu knapp. So wie American Football verkörperte auch dieser Sport eine typisch amerikanische Grundeinstellung: Die Harten und Rücksichtslosen waren Helden, die anderen Loser.
Nur die beiden Kämpferinnen und der Ringrichter befanden sich jetzt noch in diesem provisorischen Gefängnis, in dem die Höchststrafe fünfzehn Minuten betrug. Der Unparteiische war ein stämmiger, arroganter Typ, dem man zu Recht nachsagte, ein frauenfeindlicher Scheißkerl zu sein, der es nicht unter seiner Würde fand, Mädchen zu betatschen, die am Boden lagen oder gar k.o. gegangen waren. Einmal hatte er es auch bei Cain versucht, als sie für einen Augenblick groggy war. Was sie davon hielt, hatte sie ihm gezeigt, indem sie ihm beinahe einen Finger abbiss. Danach hatte er sich ihr nie wieder genähert, doch Cain wusste, dass der Kerl es ihr heimzahlen würde, indem er ihrer Gegnerin alle miesen Tricks durchgehen ließ.
So oder so war Cain nicht übermäßig zuversichtlich. Sie hatte sich schon allerhand Blessuren zugezogen, die zum Teil nicht richtig verheilt waren, darunter eine Schulterverletzung, die sich meist in den ungünstigsten Augenblicken bemerkbar machte. Zudem würde ihre Gegnerin kaum einen zusätzlichen Vorteil brauchen, um Cain auszuknocken.
Der Ringrichter gab seine Anweisungen, warf Cain einen finsteren Blick zu und wedelte mit seinem dauerhaft lädierten Zeigefinger. Die Kämpferinnen gingen in ihre Ecken und warteten noch ein paar Sekunden. Dann erklang das Hornsignal, und der Kampf begann.
7
Die Frauen stürmten los und trafen in der Ringmitte aufeinander, die Nasenflügel gebläht, die Muskeln angespannt, der Blick voller Entschlossenheit. Der Lärm der Menge schwoll an und erfüllte das alte Fabrikgebäude. Das Ganze wurde von ohrenbetäubender Musik untermalt. Eye of the Tiger lief in Endlosschleife, dazu hatte jemand Stroboskoplichter aus den Siebzigerjahren installiert, und eine Nebelmaschine sorgte für zusätzliche Effekte. Eine furchtbar kitschige Inszenierung, doch die Anwesenden genossen die Atmosphäre – mit Ausnahme der beiden Frauen, die hier ihren Fight auszutragen hatten. Sie hatten andere Dinge im Kopf. Überleben, zum Beispiel. Und die paar Kröten, die es zu holen gab.
Während die Geräuschkulisse anschwoll, belauerten Cain und ihre Gegnerin einander ein paar Sekunden lang. Cain feuerte eine kurze Gerade ab, gefolgt von einem Tritt, um zu testen, wie die Gegnerin reagierte. Diese machte es genauso und traf Cain mit einem wuchtigen Schlag in die Bauchmuskeln. Cain wich zwei Schritte zurück und konterte mit einem Tritt, ohne die volle Reichweite ihres langen Beins zu nutzen.
Kaum berührte ihr Fuß wieder den Beton, steckte sie eine krachende rechte Gerade ans Kinn ein, dann einen Knietreffer in die Magengrube, der ihr für einen Moment den Atem raubte. Ihre Gegnerin war schneller als sie, musste Cain sich eingestehen, aber damit hatte sie rechnen müssen. Dabei ging diese junge Kampfmaschine noch nicht einmal voll aus sich heraus. Noch nicht. Eins stand jedenfalls fest: Sie hatte genug Wumms, um Cain auszuknocken.
Cain täuschte eine kurze linke Gerade an und traf die Tätowierte mit einem rechten Aufwärtshaken mitten in die Magengrube. Die Bauchmuskeln der Gegnerin waren hart wie Beton. So konnte sie ihr nicht wehtun. Die einzige Reaktion war ein scharfes Ausatmen gewesen, doch ihr Blick blieb klar, ihre Miene noch siegessicherer als vorher. Sie nahm wahrscheinlich an, dass Cain ihre ganze Kraft in den Schlag gesteckt hatte. Doch die Arme waren meist die schwächere Waffe. Die wahre Stärke, die Kraft für den alles entscheidenden Treffer, lag in den Beinen, wie Cain sehr wohl wusste.
Zwei Runden vergingen mit zahllosen schmerzhaften Faustschlägen, Tritten und Kniestößen. Es floss viel Blut und noch mehr Schweiß, während die Körper der Gegnerinnen immer wieder gegeneinanderstießen und sich voneinander lösten, um sich für den nächsten Angriff zu sammeln, wie zwei Grizzlybären, die einander mit ihren mächtigen Tatzen bearbeiteten.
Der Betonboden war mit den Bluts- und Schweißtropfen der beiden Frauen übersät, die von ihren sich ständig bewegenden nackten Füßen zu unregelmäßigen Mustern verschmiert wurden, wie aus einem frühen Meisterwerk von Jackson Pollock. Ihre Arme, Beine und Oberkörper waren voller blauer Flecken, ihre Gesichter von Cuts gezeichnet. Man betrieb diesen Sport nicht, wenn einem viel an seinem Aussehen lag. Ein wuchtiger Schlag mit dem Unterarm gegen die Nase oder ein Tritt ans Kinn, und man landete auf dem Boden, aber sicher nicht auf dem Cover einer Modezeitschrift.
Bei einem kurzen Clinch keuchte Cain durch ihren Mundschutz: »Was ist, du Lahmarsch? Du willst doch ganz nach oben. Du hast mich nicht ein Mal richtig getroffen, Lusche!«
Die zornige Frau versuchte, einen Armhebel anzubringen, doch Cain stieß sie zurück und erntete dafür ein wütendes Knurren. Die Tätowierte sprang vor, und Cain steckte einen harten Kopftreffer ein. Sie wich zurück, aber nicht auf schwankenden Beinen, sodass ihre Gegnerin sie womöglich für wehrlos hielt und mit wütenden Schlägen und Tritten nachsetzte, um den Fight zu entscheiden. Cain war überzeugt, dass der Ringrichter