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Auch Killer haben Sorgen ...
Will Robie ist der professionellste und beste Auftragskiller der US-Regierung. Er infiltriert die feindseligsten Länder der Welt, überwindet die fortschrittlichsten Sicherheitsmaßnahmen und beseitigt Bedrohungen, ehe sie Amerika überhaupt erreichen.
Doch dann, urplötzlich, versagt Robie. Bei einem Einsatz in Übersee bringt er es nicht fertig, den Abzug zu drücken. Ohne seine tödlichen Fähigkeiten ist Robie ein Mann ohne Mission und Lebensinhalt. Um wiederzubekommen, was er verloren hat, muss er sich dem stellen, was er 20 Jahre lang zu vergessen versuchte: seiner eigenen Vergangenheit.
"Falsche Wahrheit" ist der vierte Band aus David Baldaccis spannender Thriller-Reihe um den Auftragskiller Will Robie.
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Seitenzahl: 546
Auch Killer haben Sorgen … Will Robie ist der professionellste und beste Auftragskiller der US-Regierung. Er infiltriert die feindseligsten Länder der Welt, überwindet die fortschrittlichsten Sicherheitsmaßnahmen und beseitigt Bedrohungen, ehe sie Amerika überhaupt erreichen. Doch dann, urplötzlich, versagt Robie. Bei einem Einsatz in Übersee bringt er es nicht fertig, den Abzug zu drücken. Ohne seine tödlichen Fähigkeiten ist Robie ein Mann ohne Mission und Lebensinhalt. Um wiederzubekommen, was er verloren hat, muss er sich dem stellen, was er 20 Jahre lang zu vergessen versuchte: seiner eigenen Vergangenheit. »Falsche Wahrheit« ist der vierte Band aus David Baldaccis spannender Thriller-Reihe um den Auftragskiller Will Robie.
David Baldacci wurde 1960 in Virginia geboren, wo er heute lebt. Er wuchs in Richmond auf. Sein Vater war Mechaniker und später Vorarbeiter bei einer Spedition, seine Mutter Sekretärin bei einer Telefongesellschaft.
Baldacci studierte Politikwissenschaft an der Virginia Commonwealth University (B. A.) und Jura an der University of Virginia. Während des Studiums jobbte er u.a. als Staubsaugerverkäufer, Security-Guard, Konstrukteur und Dampfkesselreiniger. Er praktizierte neun Jahre lang als Anwalt in Washington, D.C., sowohl als Strafverteidiger als auch als Wirtschaftsjurist.
Von David Baldacci wurden bislang 29 Romane in deutscher Sprache veröffentlicht. Seine Werke erschienen auch in Zeitungen und Zeitschriften wie USA Today Magazine und Washington Post (USA), Tatler Magazine und New Statesman (Großbritannien), Panorama (Italien) und Welt am Sonntag (Deutschland). Außerdem hat er verschiedene Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben.David Baldaccis Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt und in mehr als 80 Länder verkauft. Alle Romane von David Baldacci waren nationale und internationale Bestseller. Die Gesamtauflage seiner Romane liegt bei über 110 Millionen Exemplaren.
Neben seiner Arbeit als Schriftsteller engagiert sich Baldacci für eine Reihe karitativer und gesellschaftlicher Institutionen, darunter der National Multiple Sclerosis Society, der Barbara Bush Foundation for Family Literacy, der Virginia Foundation for the Humanities, der America Cancer Society, der Cystic Fibrosis Foundation und der Viriginia Commonwealth University.
David Baldacci ist verheiratet und hat zwei Kinder: Tochter Spencer und Sohn Collin. Er lebt mit seiner Familie in Virginia, nahe Washington, D.C.
DAVID BALDACCI
FALSCHE WAHRHEIT
Thriller
Will Robies vierter Fall
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Uwe Anton
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Guilty«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Columbus Rose, Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Judith Mandt
Textredaktion: Wolfgang Neuhaus, Oberhausen
Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin
Unter Verwendung eines Motives von © Arcangel/Nik Keevil
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-3984-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Zum Andenken an Donald White.Du warst einzigartig.
Will Robie und Jessica Reel sind Romanfiguren, die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Ich habe das Gefühl, dass ich sie kenne wie gute Freunde, sofern man mit Attentätern gut befreundet sein kann. Robies Leben war bislang voller Herausforderungen; deshalb möchte ich ihn in diesem Roman nach Hause führen. Er soll sich mit den Dämonen befassen, die er als Teenager in Mississippi hinter sich ließ. Damals verschwand er wegen einer zerbrochenen Liebesbeziehung von dort, vor allem aber wegen des immer schlechteren Verhältnisses zu seinem Vater Dan. Seitdem sind über 20 Jahre vergangen. Doch Robies Entscheidung, nun in die Heimat zurückzukehren und sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, wird dadurch erschwert, dass sein Vater, ein Richter, wegen Mordverdachts verhaftet wurde.
Will Robie hat sich als einer meiner beliebtesten Charaktere erwiesen; daher will ich in diesem vierten Band der Reihe den Lesern ein paar Einzelheiten über Robies Hintergrund vermitteln und darüber, was diesen außergewöhnlichen Mann ausmacht. Robie mag hervorragend ausgebildet sein, körperlich fit und ein Könner in seinem Job, aber er ist nicht unfehlbar. Und er hat Gefühle wie jeder andere.
Dieser Roman unterscheidet sich schon deshalb von den anderen dieser Reihe, weil die Handlung sich nicht auf einen von Robies Einsätzen an einem der Krisenherde irgendwo auf der Welt konzentriert; vielmehr führt die Geschichte ihn zurück in seinen Heimatort. Dort bekommt er es nicht mit einer terroristischen oder kriminellen Organisation zu tun, sondern mit etwas viel Mächtigerem, möglicherweise Tödlichem: mit seiner eigenen Vergangenheit. Sie, lieber Leser, werden erfahren, woher Will Robie kommt. Doch seine Reise nach Hause, in die eigene Vergangenheit, ist alles andere als angenehm. Wie viele von uns am eigenen Leib erfahren haben, kann es eine Last sein, nach Hause zu kommen. Für Will Robie wird es zur schwierigsten Mission seines bisherigen Lebens.
Die Kulisse für diesen Roman ist der Bundesstaat Mississippi im Südwesten der USA. Robies Heimat. Es hat mir große Freude gemacht, die atemberaubende Landschaft dieser faszinierenden Gegend als Kulisse für Will Robies neuestes Abenteuer zu nutzen.
Danke, dass Sie diesen Roman lesen. Ich hoffe, er gefällt Ihnen, und ich würde gern erfahren, was Sie davon halten.
David Baldacci
Will Robie kauerte an einem Fenster in einem verlassenen Gebäude, reglos wie eine Statue, lautlos wie ein Schatten.
Er war nicht in den USA, sondern in einem Land, das derzeit Verbündeter der Vereinigten Staaten war. Doch schon morgen könnte sich das ändern.
Robie war im Lauf der Jahre in vielen leerstehenden Gebäuden gewesen, überall auf der Welt – taktisch positioniert an Fenstern wie diesem, auf sich allein gestellt wie auch diesmal, eine Waffe in der Hand wie auch jetzt wieder. Doch das Alleinsein gehörte zu seinem Job. Man tötet nicht aus großer Entfernung mit einem Präzisions-Scharfschützengewehr, dessen Kugel dem Objekt das Gehirn wegpustet, wenn andere Leute einem zuschauen.
Robie selbst war eine taktische Waffe, blitzschnell einsatzbereit und ebenso schnell wieder verschwunden. Langzeitstrategien fielen in den professionellen Bereich anderer, hauptsächlich von Politikern. Sicher, sie konnten ebenfalls gute Attentäter sein, nur benutzten sie keine Kugeln, sondern Gesetze, die sie durchpaukten, weil sie von Leuten bestochen wurden, die mehr Geld hatten, als gut für sie war. Und sie fügten einer viel größeren Zahl von Menschen schweren Schaden zu, als Will Robie es je könnte.
Robie suchte die Straße vier Stockwerke unter ihm mit Blicken ab.
Alles ruhig.
Aber so wird es nicht bleiben. Nicht, sobald ich getan habe, weshalb ich hier bin.
Eine Stimme erklang in seinem Ohrmikro. Sie gab eine lange Reihe aktueller Informationen durch und bestätigte noch einmal sämtliche Details des »Exekutionsplans«, wie er zutreffend genannt wurde. Robie nahm alles in sich auf, wie er es schon in der Vergangenheit oft getan hatte. Er verarbeitete die Informationen, stellte Fragen und erhielt den Befehl, sich bereitzuhalten.
Das alles gehörte zur professionellen Gleichung. Es war normal – falls es in einer Situation, die damit endete, dass jemand eines gewaltsamen Todes starb, so etwas wie Normalität überhaupt gab.
Es war nie Robies Lebensziel gewesen, andere Menschen auf Befehl einer Elite zu töten. Und doch war er hier – als Teil einer Einheit, die unter falscher Flagge agierte und eng mit einem Geheimdienst verbunden war, der auf der ganzen Welt unter seinem Akronym mit drei Buchstaben bekannt war.
CIA.
Robie hatte sich seinem jetzigen Job langsam, Schritt für Schritt, angenähert. Zuerst kam die Ausbildung, bei der die Ziele anfangs aus Papier bestanden, dann aus Ton und schließlich aus Puppen, aus deren Wunden verblüffend echt aussehendes Blut spritzte, das sich in Köpfen und Körpern aus Stoff oder Plastik befand. Wann genau Plastikfleisch und Hollywoodblut zu echtem Fleisch und Blut geworden waren, konnte Robie nicht sagen. Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein es verdrängt. Jedenfalls hatte er nie einen Blick zurück geworfen und herauszufinden versucht, wie er an diesen Punkt hier gelangt war.
Er hatte mit grobkalibrigen Waffen geschossen, hatte mit Klingen zugestochen und Fäuste geschwungen, hatte Finger, Beine, Ellbogen, sogar seinen Kopf mit wuchtigen und präzisen Bewegungen eingesetzt und eine erschreckend große Zahl von Menschen getötet, ohne sich groß Fragen über die moralische Bewertung seines Tuns zu stellen.
Offizielle Auftragsmörder, die Fragen stellten, waren nicht besonders beliebt und deshalb zum größten Teil arbeitslos. Oder – wahrscheinlicher – tot.
In letzter Zeit jedoch hatte Robie sich angewöhnt, Fragen zu stellen. Deshalb war er nicht mehr so beliebt wie zuvor bei dem Geheimdienst mit der Drei-Buchstaben-Abkürzung. Der in der Mitte stand für Intelligence. Robie war mitunter der Meinung, dass es bei diesem Verein entschieden an Intelligenz mangelte.
Er schüttelte den Gedanken ab, denn heute Abend musste er wieder einen Abzug betätigen.
Er nahm das Nachtsicht-Fernglas auf und ließ den Blick über das schmale Gebäude ihm gegenüber schweifen. Anders als das Haus, in dem Robie kauerte, war es nicht verlassen, sondern beherbergte viele Personen. Leute mit mehr Waffen, als Robie zur Verfügung standen. Doch Robie benötigte nur eine.
Ihm gegenüber befanden sich vierundzwanzig Fenster, vier auf jedem der sechs Stockwerke. Ihn interessierte nur das zweite Fenster von links im dritten Stock. In seiner Vorstellung klebte eine Zielscheibe auf dem Glas.
Im Augenblick waren die Vorhänge zugezogen, aber das würde sich ändern müssen. So gut Robie auch war – was er nicht sehen konnte, vermochte er nicht zu töten. Und im Augenblick hätten die dünnen Baumwollvorhänge ebenso gut fünf Zentimeter dicke, mit Kevlar verstärkte Polycarbonat-Scheiben sein können.
Robie schaute auf die Uhr.
Noch fünf Minuten.
Viereinhalb davon würden ihm wie eine Ewigkeit vorkommen. Die letzten dreißig Sekunden jedoch würden in Windeseile verstreichen. Normale Menschen würden in diesen Sekunden heftige Adrenalinstöße verspüren, Atmung und Puls würden sich beschleunigen. Aber was das anging, war Robie kein normaler Mensch. Sein Herz würde nicht schneller schlagen, sondern langsamer. Und sein Körper würde sich entspannen, nicht straffen.
Er streckte die linke Hand aus und berührte das bereits zusammengesetzte, nach seinen Wünschen gefertigte Langstreckengewehr, das zum Teil noch im Seesack steckte. Es war für solch eine Waffe relativ leicht. Die ummantelte Unterschallpatrone steckte bereits in der Kammer. Robie würde nur eine Chance auf einen Schuss bekommen. Aber mehr hatte er noch nie gebraucht.
Er klopfte leicht aufs Fensterbrett. Selbst vom Staat sanktionierte Attentäter wie er brauchten manchmal ein bisschen Glück.
Robie kannte den Background des Mannes, den er an diesem Abend töten würde. Es war wie bei vielen anderen, deren Leben er ausgelöscht hatte. Die Interessen und Ziele des Objekts stimmten nicht mit denen der Vereinigten Staaten überein. Und die USA wiederum hatten sich mit konkurrierenden – wenn auch ähnlich barbarischen – Gruppierungen verbündet, die nun die Beseitigung dieser Person verlangten. Weshalb diese Gruppierungen die Tötung nicht selbst übernahmen, war eine gute Frage, die Robie aus einem einfachen Grund jedoch nie gestellt hatte: Er hätte keine Antwort bekommen.
Also hatte man ihn und seine Waffe ausgewählt, um den Mann zu beseitigen, im Interesse der nationalen Sicherheit – ein Sammelbegriff zur Rechtfertigung jeder Tötung wie dieser, zu jeder Zeit, an jedem Ort.
In Robies Ohr erklang wieder die abgehackte Stimme.
»Bis auf die beiden Bodyguards und den Hausherrn ist das Objekt allein in der Wohnung. Die Vorhänge werden in drei Minuten geöffnet.«
»In allen Punkten bestätigt?«, fragte Robie. Er wollte keine Überraschung erleben.
»In allen Punkten.«
Robie schaute über die Schulter zum Fenster hinter ihm. Das sollte sein Fluchtweg werden. Es sah nicht gerade wie ein toller Fluchtweg aus und war wohl auch keiner, aber er hatte schon Schlimmeres überlebt. Und Schatten wie ihn konnte man weder fangen noch töten.
Er sah auf die Uhr, synchronisierte in Gedanken die Zeit mit dem Countdown, den er soeben erhalten hatte. Ein Countdown zur Beruhigung, sagte er sich. Ein Countdown für den Todesschuss.
Robie hatte die Fensterscheibe, vor der er kniete, fünf Zentimeter hochgeschoben. Die Fensterbank war sein grober Angelpunkt. Er nahm das Gewehr aus dem Seesack, schob den Lauf durch die Öffnung, bis die Mündung sich zehn Zentimeter hinter dem Glas befand, keinen Zentimeter weiter. Er hatte eine hellrote Linie auf den Lauf gezeichnet, die ihm zeigte, wann er innehalten musste.
Die Nacht war dunkel, das Licht der Umgebung schwach. Der Schuss würde hoffentlich unerwartet kommen. Jeder, der den dunklen Metalllauf sah, musste außergewöhnlich schnell sein, um das Verhängnis vielleicht noch aufzuhalten, und über jemanden von diesem Kaliber verfügte die andere Seite nicht. Aus diesem Grund hatte Robie sich Zutritt zu diesem leerstehenden Gebäude verschaffen können, aus dem man freie Sicht auf das Haus des Objekts hatte. So etwas wäre bei den Russen nie passiert. Oder bei den Iranern.
Genau zum angekündigten Zeitpunkt wurden die Vorhänge geöffnet. Es war eine ganz normale, simple Bewegung, wie sie überall auf der Welt jeden Tag Millionen Mal vollzogen wurde. Nur dass Vorhänge in der Regel tagsüber geöffnet wurden, um Sonnenlicht hindurchzulassen. Und normalerweise wurden sie abends wieder zugezogen.
Unregelmäßigkeiten wie diese waren jedes Mal der Haken an der Sache. Doch Robie wusste normalerweise sofort, ob so etwas in eine Katastrophe führen konnte.
Das Dienstmädchen trat vom Fenster zurück.
Robie glaubte zu sehen, wie der Blick der Frau sich kurz zum Gebäude auf der anderen Straßenseite hob. Und sie schien ein bisschen zu lange vor dem Glas zu verweilen.
Beweg dich, dachte Robie und versuchte, diese Botschaft über die Breite der Straße hinweg in den Kopf der Frau zu zwingen. Beweg dich!
Es hatte viel Mühe und noch mehr Geld und Geschick gekostet, sie dorthin zu bringen, wo sie im Augenblick war und sein musste, wenn Robies Plan funktionieren sollte.
Doch wenn sie jetzt zu lange dort stehenblieb, würde nichts von alledem geschehen. Die Frau würde sterben, und der Mann, für den sie arbeitete, würde weiterleben. Dann wäre Robie vergeblich hierhergekommen. Vielleicht würde er sogar hier sterben, denn die USA würden jede Verbindung zu ihm leugnen. So lief das nun mal.
Einen Augenblick später trat die Frau vom Fenster zurück, und Robies Blickfeld wurde frei.
Er atmete auf, entspannte seine Muskeln und drückte die rechte Wange gegen die linke Seite des Karbonschafts. Die Verwendung dieses Materials hatte das Gewicht der Waffe von vier Kilo auf anderthalb gesenkt. Und wie bei einem Flugzeug war das Gewicht von entscheidender Bedeutung für den Erfolg: je leichter, desto besser.
Robie spähte durchs Zielfernrohr, das auf die Picatinny-Schiene montiert war. Der nur wenige Zentimeter breite Spalt zwischen den Vorhängen wurde scharf. Durch die Präzisionsoptik betrachtet, erschien er Robie einen Kilometer breit. Er konnte das Ziel unmöglich verfehlen.
Er sah einen Tisch. Auf dem Tisch ein Telefon. Kein Handy, sondern ein altmodischer Festnetz-Apparat mit Spiralschnur. Der Anruf würde in weniger als zwei Minuten kommen.
Die Bühne war bereitet, alles bis ins Detail geplant.
Ein Teil Robies konnte nicht glauben, dass dem Mann oder seinen Bodyguards nicht auffiel, wie sorgfältig alles arrangiert worden war.
Durch die geöffneten Vorhänge beobachtete er, wie die Bodyguards auf und ab gingen, misstrauisch auf alle Einzelheiten achteten und versuchten, ihre Paranoia so weit im Zaum zu halten, dass sie ihren Job erledigen konnten. Aber kein einziges Mal schauten sie zum Fenster. Und sie dachten wahrscheinlich auch nicht darüber nach, warum das Telefon vor diesem Fenster positioniert war.
Keiner von ihnen.
Kein einziges Mal.
Was bedeutete, dass sie Trottel waren. Robies Leute hatten diese für sie angenehme Wahrheit schon vor geraumer Zeit herausgefunden. Deshalb hatten sie auch gar nicht erst versucht, diese Männer zu bestechen. Sie waren das Geld nicht wert.
Robie atmete in immer langsameren Zügen, um seine körperlichen Marker auf ein Level zu drücken, das einem Schuss dieser Art angemessen war.
Das kalte Nichts, hatte er es immer genannt.
Der eigentliche Schuss würde nicht schwierig sein. Die schmale Straße war einschließlich der Bürgersteige kaum dreißig Meter breit, was auch der Grund dafür war, dass Robie die leisere Unterschall-Munition verwendete. Sie war für einen Schuss über eine so geringe Distanz völlig ausreichend. Sein Ziel befand sich ein Stockwerk tiefer als er, und er musste durch eine Glasscheibe schießen, aber das war auf diese geringe Entfernung kein Problem. Es ging kein nennenswerter Wind, und zusätzliche Lichtquellen, die einen Schützen blenden konnten, gab es nicht.
Kurz und gut, es hätte ein einfacher Schuss werden können.
Aber Robie hatte herausgefunden, dass es so etwas nicht gab.
Die Stimme in seinem Ohr sagte: »V eins.«
Es war derselbe Begriff, den Piloten im Cockpit benutzten. V-1 bedeutete, dass der Start nicht mehr gefahrlos abgebrochen werden konnte. Es gab kein Zurück. Aber hier gab es einen kleinen Unterschied. Robie kannte ihn genauso gut wie die Person am anderen Ende der sicheren Verbindung.
Ich kann diesen Einsatz noch so lange abbrechen, bis mein Finger den Abzug betätigt.
»Dreißig Sekunden«, sagte die Stimme.
Wieder ließ Robie den Blick nach links und rechts schweifen. Dann spähte er durchs Zielfernrohr, konzentrierte sich auf den Spalt zwischen den Vorhängen.
Das Zimmer dahinter, so hatte man Robie versichert, war leer bis auf das Objekt, zwei Bodyguards und das Dienstmädchen.
»Zehn Sekunden.«
Der Anruf würde der Auslöser für alles sein, was nun folgte.
»Fünf.«
Robie zählte die verbleibenden Sekunden stumm herunter.
»Anruf getätigt«, sagte die Stimme.
Dieser Anruf, das wusste Robie, wurde über einen ferngesteuerten Computerlink erledigt. Am anderen Ende der Leitung würde kein menschliches Wesen sprechen.
Ein Mann trat in den Bereich zwischen den Vorhängen.
Er war von durchschnittlicher Größe und Statur, aber das war auch schon alles, was durchschnittlich an ihm war. Er besaß die außergewöhnliche Fähigkeit, seine Mitmenschen in eine so fanatische, rauschhafte Hingabe zu versetzen, dass sie jede Scheußlichkeit begingen, die er befahl. So wie Hitler es vermocht hatte. Diese Befähigung hatte den Mann zu einem Feind der Kategorie Alpha eines wichtigen, wenn auch unzuverlässigen Verbündeten der USA gemacht. Und die USA waren bereit, für Staaten, die ihnen Gefolgschaft leisteten, die Rolle einer globalen Abrissbirne zu spielen.
Kategorie Alpha war Personen vorbehalten, die in Gefahr waren, eines plötzlichen, unerwarteten gewaltsamen Todes zu sterben, so wie das Objekt hier und jetzt.
Robies Finger berührte den Abzugsbügel. Dann den Abzug, seinen persönlichen V-1-Punkt.
In diesem Augenblick sah er eine Bewegung rechts vom Objekt. Er schoss trotzdem. Mit einer ruhigen, sauber abgestimmten Bewegung drückte er den Abzug, wie schon so oft zuvor.
Wie er es immer tat, hielt er nach dem Rückstoß den Blick durchs Zielfernrohr auf das Objekt gerichtet. Er musste den Weg der Kugel bis zum Ende ihrer Flugbahn verfolgen. Die einzige Möglichkeit, sich einer Tötung zu versichern, bestand darin, sie zu beobachten. Robie war in dieser Hinsicht schon einmal hereingelegt worden; das würde ihm kein zweites Mal passieren.
Das Glas bekam einen Sprung. Nanosekunden später traf das Mantelgeschoss das Objekt und durchschlug es. Der Mann brach an Ort und Stelle zusammen. Seine zuckende, tote Hand umkrampfte noch den Telefonhörer.
Jetzt lebte an beiden Enden der Leitung niemand mehr.
Als Robie den Blick abwenden wollte, verschwand das Objekt außer Sicht.
In diesem Moment sah er es.
Das Kind, das hinter dem Objekt stand – wahrscheinlich die verschwommene Bewegung, die er Sekundenbruchteile vor dem Abdrücken wahrgenommen hatte. Nachdem das Mantelgeschoss den Schädel des Objekts durchschlagen hatte, besaß es noch genug Energie, um das zweite, kleinere Ziel zu treffen und zu töten.
Durch das Zielfernrohr sah Robie das Mädchen, das auf dem Boden lag, ein Loch mitten in der kleinen Brust.
Ein Schuss, zwei Leichen.
Eine davon beabsichtigt.
Die andere nicht. Nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen.
Will Robie schnappte sich seine Ausrüstung und rannte los.
Sein Fluchtweg führte Robie durch das Fenster im vierten Stock, aus dem er den Schuss abgefeuert hatte, durch den ein Mann und ein Mädchen getötet worden waren.
Er stieß sich ab und sprang, den Seesack über der Schulter. Seine Stiefel landeten auf dem Kiesdach des benachbarten dreistöckigen Gebäudes. Er hörte das Krachen von Waffen, das Klirren von zerbrechendem Glas.
Die Bodyguards feuerten Salven auf das Gebäude ab, in dem Robie sich verborgen hatte.
Dann hörte er zwei weitere, schnell hintereinander abgegebene Schüsse. Vermutlich hatte das Dienstmädchen die Bodyguards erledigt.
Hoffentlich nimmt sie jetzt die Beine in die Hand und rennt, so schnell sie kann, schoss es Robie durch den Kopf, als er das Kreischen von Reifen auf dem Asphalt hörte.
Er war hart aufgekommen und spürte, wie die von einer alten Verletzung vernarbte Haut am rechten Arm teilweise riss, als sie die Wucht des Aufpralls abbekam. Lautlos fluchend sprang er auf und rannte zum Treppenhaus, das vom Dach ins Gebäudeinnere führte. Er nahm immer drei Stufen auf einmal, durchquerte das Gebäude und erreichte die schmale Gasse dahinter. Dort standen zwei Fahrzeuge. In eines warf Robie seine Ausrüstung, seine Oberbekleidung und die Stiefel, bis er in Unterwäsche dastand. Der Fahrer fuhr los, ohne ihm auch nur einen Blick zu gönnen.
Robie stieg hinten in das andere Fahrzeug, einen Rettungswagen. Ein Mann in blauem Arztkittel erwartete ihn. Robie schwang sich auf die mobile Krankenliege. Der Mann bettete ein Laken über seinen Körper, zog ihm eine Operationshaube über den Kopf, schloss ihn an mehrere Infusionsschläuche an und drückte ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Dann injizierte er Robie eine Lösung in die Wange, die das Gesicht anschwellen ließ und die Haut flammend rot färbte. Die Wirkung würde etwa eine halbe Stunde anhalten.
Der Rettungswagen fuhr mit heulender Sirene und flackernden Lichtern los. Zwei Minuten später hielt der Wagen. Die hinteren Türen wurden aufgerissen. Robie schloss die Augen und atmete flach.
Männer mit Gewehren kamen in Sicht. Einer stieg ein und rief dem Mann im Kittel etwas zu. Der antwortete in seiner Muttersprache und mit genau dem richtigen Maß an beruflicher Empörung, ehe er auf Robie zeigte. Der Bewaffnete kam näher, beugte sich dicht über Robies Gesicht und inspizierte die Infusionsschläuche, die Sauerstoffmaske und Robies angeschwollenes, flammend rotes Gesicht. Er stellte eine weitere Frage, die der Mann im Kittel beantwortete. Dann stieg der Bewaffnete aus und schloss die Türen des Fahrzeugs. Der Rettungswagen fuhr weiter.
Robie hielt die Augen geschlossen. Er öffnete sie erst eine halbe Stunde später, als der Rettungswagen neben einem Maschendrahtzaun hielt.
Der Mann im Kittel tippte Robie auf die Schulter, zog die Infusionsschläuche heraus, nahm ihm die Sauerstoffmaske ab und reichte ihm ein Handy.
Robie stieg aus dem Wagen; seine nackten Füße berührten das kalte Straßenpflaster. Er setzte sich in einen Pkw, der neben dem Rettungswagen wartete. Jemand gab ihm Kleidung und Schuhe, und Robie zog sich schnell an.
Eine halbe Stunde später saß er auf einem Notsitz im Frachtraum einer Boeing 777 von UPS, die ihn als zusätzlichen Passagier an Bord genommen hatte. Die riesige Frachtmaschine zog scharf nach Norden, dann nach Westen, und begann ihren Steigflug auf dem langen Rückweg in die USA.
Robie blieb auf dem Notsitz. Er holte das sichere Handy hervor, das der Mann im Rettungswagen ihm zugesteckt hatte, und blickte auf das Display. Eine Textnachricht war eingegangen.
ZIEL AUSGESCHALTET. EINSATZ IN JEDER HINSICHT ERFOLGREICH BEENDET.
Der erste Teil der Nachricht war Robie nur zu bekannt. Und jetzt wusste er, dass das Dienstmädchen ihre Rolle zu Ende gespielt hatte und ebenfalls entkommen war. Außerdem erkannte er, dass die Leute am anderen Ende der Leitung versuchten, dem ganzen Schlamassel etwas Positives abzuringen.
Robie tippte eine Antwort und schickte sie ab.
Alles, was er vor seinem geistigen Auge sehen konnte, war das Gesicht des kleinen Mädchens mit dem lockigen dunklen Haar, das er an diesem Abend getötet hatte. Ob beabsichtigt oder nicht – das Mädchen war trotzdem tot. Nichts auf Erden konnte sie zurückbringen. Und nun wollte Robie wissen, wie das geschehen konnte.
Ein leiser Ton setzte ihn davon in Kenntnis, dass die Antwort eingetroffen war.
UNKLAR. SEINE TOCHTER. KLASSIFIZIERT ALS KOLLATERALSCHADEN.
Kollateralschaden? Wollten die ihn wirklich mit dieser windelweichen Erklärung abspeisen? Ihn, Will Robie?
Sein Finger schwebte über der Tastatur. Er wollte eine Antwort geben, die seine ohnmächtige Wut ausdrückte. Dann aber steckte er das Handy ein, lehnte sich gegen die Wand des Flugzeugs und rieb sich über Stirn und Wangen.
Er schloss die Augen, schauderte. Ein kleines Gesicht schien sich auf den Innenseiten seiner Lider eingebrannt zu haben. Ein Gesicht, das im Tod erstaunt ausgesehen hatte. Aber wie hätte es anders sein können? Schließlich war das Mädchen zu seinem Daddy gelaufen und hatte ihn sterben sehen – einen Sekundenbruchteil vor ihrem eigenen Tod.
Schon einmal hätte Robie um ein Haar ein Kind getötet, hatte aber nicht auf den Abzug gedrückt. Es hatte ihn fast seine Karriere und sein Leben gekostet.
Aber diesmal hatte er es getan.
Robie öffnete die Augen, als das Flugzeug in eine so heftige Turbulenz geriet, dass es durchgeschüttelt wurde. Er beugte sich zur Seite, übergab sich. Doch es hatte nichts mit dem unruhigen Flug zu tun, sondern mit dem kleinen Gesicht, das ein immer tieferes Loch in sein Hirn und seine Seele brannte.
Robie ließ den Kopf gesenkt. Der hartgesottene Agent, der er stets war und stets sein musste, zerbrach, zerriss an den Nahtstellen, so wie das aufgerissene Narbengewebe seines Arms.
Ich habe ein Mädchen getötet. Ich habe ein kleines Mädchen ermordet. Wegen mir ist es tot.
Er starrte auf seinen Zeigefinger, der schwielig war von den ungezählten Übungsschüssen, die er im Lauf der Jahre abgefeuert hatte.
Weißt du, wann es an der Zeit ist, das alles hinter dir zu lassen?, fragte er sich.
Vielleicht hatte er die Antwort soeben gefunden.
Wieder summte das Handy. Er nahm die SMS entgegen, schaute aufs Display.
BLUE MAN.
Die einzige andere Person neben seiner gelegentlichen Partnerin Jessica Reel, auf die Robie sich blind verließ. Blue Man sprach stets Klartext, ob es ihm nun gefiel oder nicht.
WERDE SIE ABHOLEN, WENN SIE LANDEN. MÜSSEN REDEN.
Robie versuchte, die Bedeutung hinter diesen dürftigen Wörtern herauszufinden.
Reden? Worüber? Was gab es da noch zu reden? Er, Robie, hatte abgedrückt, die Mission war abgeschlossen. Ende, aus. Die offizielle Reaktion auf den sinnlosen Tod eines Kindes lautete »Kollateralschaden«. Robie vermutete, dass diese Formulierung sich in irgendeiner Akte fand und dass diese Akte dort abgelegt wurde, wo diese Leute solche Unterlagen abzulegen pflegten.
Robie würde seinen nächsten Auftrag erhalten. Und man würde von ihm erwarten, dass er vergaß, was er vor Kurzem getan hatte. Wie ein Flügelstürmer, der nicht an einen Steilpass herangekommen war. Man verdrängte Wut und Enttäuschung und wartete auf den nächsten Angriff, die nächste Chance.
Nur dass beim Fußball niemand stirbt.
In Will Robies Welt starb immer jemand.
Immer.
Robie stieg die Metalltreppe hinunter.
Zum ersten Mal seit einem Monat berührten seine Füße amerikanischen Boden. Er schaute starr geradeaus, als er den Mann im zerknitterten Trenchcoat neben der hinteren Tür des schwarzen Suburban stehen sah. Es kam ihm so vor, als würde vor ihm ein Schwarz-Weiß-Film aus der Zeit des Kalten Krieges auf einem dieser alten ratternden Projektoren abgespult.
Die Fahrzeuge waren jedes Mal schwarz, und jedes Mal schienen es Suburbans zu sein. Und die Leute trugen jedes Mal zerknitterte Trenchcoats, als wollten sie dieses Klischee erhärten.
Robie ging zu dem SUV und stieg ein. Die Tür schloss sich. Der Mann im Trenchcoat setzte sich hinters Steuer, und der Suburban fuhr los.
Erst dann schaute Robie nach rechts.
Blue Man erwiderte seinen Blick.
Sein richtiger Name war Roger Walton.
Doch für Robie würde er immer Blue Man sein – was mit der Farbeinstufung der Sicherheitsfreigabe Waltons bei der Agency zu tun hatte. Blau war nicht die höchste, die es gab, aber sie war hoch genug, dass Blue Man alles wusste, was vor sich ging. Fast alles.
Wie üblich trug er einen blauen Anzug von der Stange mit gestärktem Kragen und eine rote Krawatte. Er war frisch rasiert, und sein silbergraues Haar war ordentlich nach hinten gekämmt. Blue Man war ein Mann der alten Schule und jede Sekunde seines Lebens durch und durch Profi. Nichts konnte ihn erschüttern. Nichts konnte die tief verwurzelten Gewohnheiten einer langen Karriere verändern, die es oft mit sich gebracht hatte, dass man einige wenige Menschen töten musste, um viele zu schützen.
Nach elf Stunden im Frachtraum eines Flugzeugs, inmitten von Kartons voller Produkte, die von Billiglohnarbeitern in fernen Ländern hergestellt worden waren, sah Robie im Vergleich zum Blue Man wie eine Leiche aus. Er fühlte sich nicht wie ein Profi. Er fühlte eigentlich überhaupt nichts. Er schwieg. Er hatte nichts zu sagen. Noch nicht. Er wollte es zuerst von Blue Man hören.
Der räusperte sich. »Offensichtlich«, sagte er dann, »ist nicht alles nach Plan verlaufen.«
Robie schwieg.
»Die Informationen waren unvollständig«, fuhr Blue Man fort. »Wie Sie wissen, ist das da drüben oft der Fall. Und wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Das Kind war angeblich bei seiner Mutter. Anscheinend gab es in letzter Sekunde eine Änderung. Die Mutter hat ganz plötzlich ihre Pläne geändert. Die Tochter blieb zu Hause. Aber wir konnten den Einsatz unmöglich abbrechen, ohne dass ein Verdacht auf die Agentin gefallen wäre, die wir eingeschleust hatten.«
Alles, was Blue Man bislang von sich gegeben hatte, klang vernünftig. Und Robie wusste, dass es den Tatsachen entsprach. Doch er fühlte sich deshalb kein bisschen besser.
Sie fuhren eine Zeit lang schweigend weiter.
»Wie alt war sie?«, fragte Robie schließlich.
»Hören Sie, Robie, Sie konnten nicht …«
»Wie alt?«
Robie hatte den Blick auf den Hinterkopf des Fahrers gerichtet. Er sah, dass der Mann die Nackenmuskeln spannte.
»Vier«, erwiderte Blue Man. »Sie hieß Sasha.«
Robie hatte gewusst, dass sie sehr jung war. Es hätte also keine Überraschung sein dürfen. Doch die Wellen der Übelkeit und ein überwältigendes Gefühl der Klaustrophobie trafen ihn mit der verheerenden Wucht jenes Geschosses, das er vor etwa zwölf Stunden abgefeuert hatte. Wie die Kugel, die die vierjährige Sasha getötet hatte.
»Halten Sie an«, verlangte Robie.
»Was?«
»Halten Sie an.« Robie hob seine Stimme nicht. Sie klang gleichmäßig und ruhig und doch tödlicher, als hätte er losgebrüllt und eine Maschinenpistole in Anschlag gebracht.
Der Fahrer schaute in den Innenspiegel. Als er sah, dass Blue Man nickte, hielt er am Straßenrand und drückte den Hebel der Automatik in die Parkstellung.
Robie hatte die Tür geöffnet, bevor der SUV ausgerollt war, stieg aus und ging den Randstreifen des Highways entlang.
Blue Man streckte die Hand aus und zog die Tür zu. Dann musterte er den Fahrer, der ihn im Innenspiegel beobachtete und offensichtlich auf Anweisungen wartete. Vielleicht die, zu beschleunigen und Robie über den Haufen zu fahren.
»Folgen Sie ihm auf dem Randstreifen, Bennett. Schalten Sie die Warnblinkanlage ein. Wir wollen schließlich keinen Unfall riskieren.«
Bennett tat wie geheißen. Der SUV folgte Robie langsam am Straßenrand, während Autos und Lastwagen vorüberbrausten.
»Hoffentlich halten die Cops uns nicht an«, meinte Bennett.
»Falls doch, werde ich es regeln«, erklärte Blue Man unbeeindruckt.
***
Robie ging langsam. Seine Muskeln waren verspannt, und die zerrissene Haut auf seinem Arm schmerzte, als wäre er mit einem Rasiermesser verletzt worden. Vor einiger Zeit hatte man ihm gesagt, er benötige eine Hautverpflanzung – wie es aussah, eine zutreffende Diagnose.
Eine steife Brise zerrte an seiner Kleidung und in seinem Haar. Seine Füße fühlten sich seltsam schwer und klobig an, seine Sinne arbeiteten langsam. Er hatte seit sechsundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen, hatte mehrere Zeitzonen durchflogen und litt an Jetlag.
Und er hatte ein kleines Mädchen getötet.
Er schaute nicht nach rechts, nicht nach links. Er reagierte nicht, als ein achtzig Tonnen schwerer Sattelschlepper mit hundert Stundenkilometern an ihm vorbeidonnerte und seinen Mantel flattern ließ.
Der SUV folgte dem einsamen Mann einen halben Kilometer, bevor Robie zu dem Wagen zurückging und einstieg. Bennett lenkte den SUV zurück auf den Highway.
»Wo ist Jessica?«, erkundigte sich Robie nach seiner Partnerin.
»Auf einem Einsatz außer Landes«, antwortete Blue Man.
»Wann kommt sie zurück?«
»Wird noch ein Weilchen dauern.«
Robie schaute aus dem Fenster. Er musste mit Jessica über die Sache reden. Blue Man konnte nicht alles verstehen, was in seinem Innern vor sich ging. Das konnte nur Jessica.
Aber da war noch etwas. Etwas, das Robie so schnell wie möglich erledigen musste. Er spürte es in jeder Ader, jeder Pore, jeder Zelle seines Gehirns.
»Ich muss wieder auf Außeneinsatz«, platzte es aus ihm heraus. »So schnell wie möglich. Was immer Sie haben, geben Sie es mir.«
»Ich weiß nicht, ob das ratsam wäre.«
»Ich muss wieder auf einen Abzug drücken.« Robie richtete den Blick auf Blue Man. »Sie haben doch sicher irgendetwas in der Mache.«
Blue Man räusperte sich erneut. »Wir haben tatsächlich eine Mission, die zunächst abgeblasen wurde, jetzt aber wieder aktuell ist.«
»Ich übernehme sie.«
»Sie wissen doch gar nicht, worum es sich handelt.«
»Spielt keine Rolle.«
Blue Man atmete flach aus und rückte seine Krawatte zurecht. »Glauben Sie nicht, es wäre besser …«
Robie hob die Hand und machte mit dem Zeigefinger eine Bewegung, als würde er einen Abzug betätigen. »Es ist mein Job, Sir. Ohne diesen Job bin ich nichts. Ich muss wissen, dass ich es noch kann.«
»Also gut. Morgen früh bekommen Sie die Briefing-Unterlagen.« Blue Man hielt kurz inne. »Was Ihnen passiert ist, war eine schreckliche Tragödie. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollte. Es gibt noch einen.«
Robie sah ihn an. »Welchen?«
»Eine persönliche Angelegenheit.« Blue Man gab dem Fahrer ein Zeichen. »Bennett? Die Scheibe, bitte.«
Bennett drückte einen Knopf auf dem Armaturenbrett. Eine mehrere Zentimeter dicke Glasscheibe fuhr hoch und isolierte wie eine massive Wand die Vordersitze von der Rückbank.
»Eine persönliche Angelegenheit?«, wiederholte Robie und richtete sich kerzengerade auf. »Ist etwas mit Julie?«
Julie Getty war ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor einiger Zeit auf dramatische Weise in Robies Leben geschleudert worden war, als sie beide bei der Explosion eines Busses mit knapper Not davonkamen. In der Folgezeit war Julies Leben wegen ihrer Verbindung zu Robie und Jessica Reel immer wieder in Gefahr geraten.
Wenn ihr etwas zugestoßen war …
Doch Blue Man hob bereits die Hand. »Miss Getty geht es ausgezeichnet. Es hat nichts mit ihr zu tun.«
»Dann verstehe ich nicht, was Sie mit ›persönlich‹ meinen. Außer Jessica und Julie …«
»Es ist Ihr Vater«, unterbrach Blue Man ihn.
Robie versuchte, sich auf diese fünf Silben zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er sah nur ein Gesicht, das Blue Mans Züge überlagerte.
Das Gesicht von Dan Robie.
Die harte, unerbittliche Miene, von der Robie gedacht hatte, er würde sie nie wieder sehen. Seit mehr als zwanzig Jahren war er seinem Vater nicht mehr begegnet. Er schüttelte den Kopf, versuchte, Erinnerungen loszuwerden, an die er lange nicht gedacht hatte. Doch nun, nach Blue Mans Worten, stürmten sie mit Macht auf ihn ein.
»Ist er tot?« Dan Robie war mittlerweile in einem Alter, dass er einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben könnte.
»Nein.«
»Was dann, verdammt?«, fragte Robie grob. Er war es leid, dass Blue Man das Gespräch in die Länge zog. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Normalerweise kam dieser Mann ohne Umschweife zur Sache. Genau das, was Robie jetzt brauchte.
»Ihr Vater wurde verhaftet.«
»Weshalb?«
»Wegen Mordes.« Blue Man legte eine kurze Pause ein. Robie schwieg. »Ich dachte, Sie wollten das wissen«, fügte Blue Man hinzu.
Robie wandte den Blick ab. »Tja, da haben Sie falsch gedacht.«
Robie schwankte im Rhythmus der unsanften Bewegungen des Lasters, in dem er saß.
Staub fing sich in seiner Kehle. Die Hitze des Tages brannte sich durch das Segeltuchdach. Robie kam sich vor wie in einem Backofen.
Er hatte einen Begleiter dabei, seinen Beobachter. Normalerweise arbeitete er nie mit einem »Spotter« zusammen, doch Blue Man hatte bei diesem Einsatz darauf bestanden. Und Robie war nicht in der Lage gewesen, ihm die Stirn zu bieten.
Beim Militär wurden Scharfschützen fast immer in Zwei-Personen-Teams eingesetzt. Ein Spotter bedeutete zusätzliche Sicherheit und Feuerkraft; er bereitete Schüsse vor, berechnete sie und behielt den Wind im Auge, der den Flug einer Kugel beeinflussen konnte. Falls der Schütze müde wurde, was häufig vorkam, da das Warten auf den tödlichen Schuss eine erschöpfende Angelegenheit war, konnten die beiden Teammitglieder die Rollen tauschen, und der Beobachter wurde zum Scharfschützen.
Doch in Robies Branche wurden Spotter nur selten eingesetzt. Dafür gab es viele Gründe. Der wichtigste war, dass Robie nicht in ein Kampfgebiet geschickt wurde, in dem der Einsatz von Zwei-Personen-Teams taktisch sinnvoll war. Vielmehr ging er verstohlen vor und setzte sich mit einer Tarngeschichte und örtlichen Helfern hinter den feindlichen Linien fest. Es war schwer genug, so etwas mit einer Person durchzuziehen, geschweige denn mit zwei Leuten, besonders, wenn man sich in einem Teil der Welt befand, in dem man schon äußerlich fremd aussah.
Robie warf seinem Beobachter einen Blick zu. Randy Gathers war Anfang dreißig, klein, schlank und drahtig, mit rotblondem Haar und Sommersprossen. Er war früher beim Militär gewesen, wie fast alle von ihnen. Nachdem er Robie vorgestellt worden war, hatten sie den Einsatz beinahe qualvoll lange in allen Einzelheiten durchgesprochen. Ihr Verhältnis entsprach in gewisser Weise dem eines Golfspielers und seines Caddys, sah man davon ab, dass der Begriff »einlochen« in Robies Welt eine vollkommen andere Bedeutung hatte als bei der PGA-Tour.
Ihr Plan war ausgearbeitet, ihre Tarngeschichte perfekt. Sie waren auf einem Frachter hier eingetroffen, der unter türkischer Flagge fuhr, hatten den Hafen in einem klapprigen Bus verlassen und waren noch vor Tagesanbruch auf den Lastwagen umgestiegen.
Nun war es hell. In zwanzig Minuten würden sie ihr nächstes Ziel erreichen.
Robie zog den Zeltstoff hoch und spähte hinaus. Sein Blick richtete sich zum Himmel, der sich bedrohlich düster färbte. Ein lästiger Sturm zog auf.
Gathers hatte sein iPad hervorgeholt. »Das verdammte Unwetter wird heute Abend über uns hereinbrechen«, sagte er. »Wind, Regen, Gewitter.«
»Heftiger Wind?«, fragte Robie.
»Heftig genug. Brechen wir ab?«
Robie schüttelte den Kopf. »Nicht unsere Entscheidung. Zumindest noch nicht.«
Der Lastwagen rumpelte weiter und erreichte schließlich den nächsten Zwischenhalt. Die beiden Männer stiegen in einen Pkw um, der bereits auf sie wartete. Im Kofferraum lagen die Gegenstände, die sie für ihren Einsatz benötigten.
Robie setzte sich hinters Lenkrad und schlug die Strecke ein, die er sich während des Briefings für diese Mission eingeprägt hatte. Sollten sie angehalten werden, was durchaus denkbar war, hatten sie die nötigen Papiere dabei, die sie durch die meisten Straßensperren bringen würden, ohne dass der Kofferraum durchsucht wurde. Falls doch, blieb ihnen nur eine Möglichkeit: Sie mussten die Leute töten, die sie angehalten hatten.
Zwei Straßensperren weiter erreichten sie unbehelligt ihr Ziel. Inzwischen wurde es dunkel, und der Wind frischte auf. Robie fuhr an das Rolltor eines großen Lagerhauses, das an einem Flussufer aufragte. Gathers stieg aus und gab an einer Konsole neben der Tür einen Kode ein. Das Tor öffnete sich rumpelnd. Robie fuhr den Wagen hindurch, während Gathers das Rolltor wieder schloss und sicherte, indem er einen Riegel durch die Rollenbahn schob. Die beiden Männer holten ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum. Dann reinigten sie gründlich den Wagen und beseitigten sämtliche Spuren ihrer Anwesenheit.
Als sie fertig waren, schaute Robie sich in dem zweistöckigen Lagerhaus um. Es war riesig und vollkommen leer. Aber das war ohne Bedeutung. Es ging darum, dass sie hier vor allen Blicken verborgen blieben.
Regen setzte ein. Die Tropfen trommelten immer lauter auf das Metalldach des Gebäudes. Gathers wirkte mürrisch, wahrscheinlich, weil sie ihren Einsatz unter so widrigen Umständen durchführen mussten.
Robie schaute auf die Uhr und schickte dann übers Handy eine sichere Nachricht ab. Die Antwort kam, als er auf halber Höhe der Leiter war, die zur Laufplanke im Obergeschoss des Lagerhauses führte.
GRÜNES LICHT.
Er steckte das Handy weg und kletterte weiter, erreichte die Laufplanke und balancierte über das schmale Metallgerüst, bis er die Vorderseite des Gebäudes erreichte.
Gathers kam mit der Ausrüstung nach, die sich in zwei großen Reisetaschen befand. Die Männer hockten sich hin und setzten die Geräte zusammen, die sie an diesem Abend brauchen würden, um ihre Mission durchzuführen: Zielfernrohr, Wetter- und Wind-Messgeräte sowie das Scharfschützengewehr.
Sie benötigten aber noch ein weiteres Werkzeug. Hier oben gab es keine Fenster, sodass Robie einen Behelf schaffen musste. Mit einer batteriebetriebenen Säge schnitt er zwei unterschiedlich große Löcher in die Metallwand, wobei er die Metallstücke mit einem Saugnapf sicherte, zu sich heranzog, als er fertig war, und die Stücke in die Tasche steckte.
Ein Loch war so groß, dass die Gewehrmündung und das Zielfernrohr gleichzeitig hindurchpassten. Das andere Loch war für das Spektiv gedacht, das Beobachtungsfernrohr, das Gathers benutzte.
Beide nahmen ihre jeweiligen »Waffen« und schoben sie durch die Öffnungen. Robie suchte mit dem Zielfernrohr die Straße ab, Gathers mit dem Spektiv. Es würde ein Schuss auf viel größere Entfernung werden als bei Robies letztem Einsatz, fast zweitausendzweihundert Meter weit. Ein britischer Soldat hielt derzeit den Weltrekord für den weitesten Schuss mit einem Scharfschützengewehr. Im Jahr 2009 hatte er zwei afghanische Aufständische über eine Entfernung von fast zweieinhalb Kilometern erschossen – eine so große Distanz, dass die .338er Lapua-Magnum-Geschosse fast fünf Sekunden benötigt hatten, um die Objekte zu erreichen und auszuschalten.
Robies Schuss würde um fast dreihundert Meter kürzer ausfallen. Doch die Bedingungen waren alles andere als ideal, und die Kugel würde ihren Weg zwischen zwei Gebäuden nehmen, die einen Windtunnel erzeugten, der den Schuss versauen konnte. Auch aus diesem Grund war Gathers als Beobachter dabei. Er würde Robie alle Informationen geben, die dieser benötigte. Robie musste sich allein darauf konzentrieren, dass er sein Ziel traf.
Das Gute an der Sache war, dass die Sicherheitskräfte des Objekts das verlassene Lagerhaus nicht als mögliche Bedrohung in Betracht zogen. Es war einfach zu weit von dem Ereignis entfernt, das ungefähr zwei Kilometer von hier stattfinden würde. Robie hoffte, an diesem Abend beweisen zu können, dass die Bodyguards mit ihrer Einschätzung falschlagen.
Er überprüfte zweimal seine Munition und vergewisserte sich dann, dass die Waffe in einwandfreiem Zustand und funktionsfähig war. Währenddessen trug Gathers sämtliche Daten zusammen, die Auswirkungen auf Robies Schuss hatten.
Danach lehnten beide Männer sich gegen die Wand. Jeder aß einen Energieriegel, den sie mit einem Energydrink herunterspülten.
»Hab von Ihrem letzten Einsatz gehört«, sagte Gathers.
Robie warf die Verpackung des Energieriegels zusammen mit der leeren Plastikflasche in die Reisetasche. Von Verpackungen konnte man Fingerabdrücke nehmen, und benutzte Flaschen enthielten DNS. Obwohl es in keiner Datenbank Informationen über Robie gab, lautete das Prinzip: Kein Detail ist zu klein, als dass man es übersehen darf.
»Nach dem Schuss haben wir dreißig Sekunden, um hier rauszukommen«, erklärte Robie. »Die anderen warten mit dem RIB auf uns«, fügte er hinzu, wobei er sich auf ein Festrumpfschlauchboot bezog. »Zehn Minuten Fahrt auf dem Wasser, dann nimmt uns ein Hubschrauber auf und bringt uns zum Hafen, wo wir an Bord des Frachters gehen. Drei Minuten später legt das Schiff ab.«
Gathers nickte. Das alles war ihm bekannt, aber es konnte nie schaden, die Einzelheiten mehrmals durchzugehen.
Während der nächsten Minuten bemerkte Robie, dass Gathers ihn verstohlen musterte. »Haben Sie was auf dem Herzen?«, fragte er und schaute seinen Beobachter fest an.
Gathers zuckte mit den Achseln. »Sie wissen, warum ich hier bin.«
»Als mein Spotter.«
»Sie arbeiten allein, Robie, das weiß jeder.«
»Nicht immer.«
»Fast immer. Sie haben unabsichtlich ein Kind getötet. Hätte jedem von uns passieren können.«
»Aber es ist nicht Ihnen passiert.«
»Ich bin hier, weil gewisse Leute …«
»Zweifel haben? Sie auch? Zweifeln Sie ebenfalls, dass mir der Schuss gelingt?«
»Nein. Wenn Sie noch immer der alte Robie sind, zweifle ich keine Sekunde daran.«
»Und wenn ich nicht mehr der alte Robie bin?«
»Dann habe ich die Anweisung, selbst zu schießen.«
Robie runzelte die Stirn. Das hatte man ihm verschwiegen.
Gathers deutete Robies Gesichtsausdruck richtig. »Ich finde, Sie sollten das wissen. Wenn Sie wollen, können wir die Rollen tauschen. Niemand wird davon erfahren.«
»Haben Sie schon mal einen Schuss über zwei Kilometer gemacht, Gathers?«
»So was in der Art. Auf dem Schießstand.«
»So was in der Art. Auf dem Schießstand, wo die Bedingungen ideal sind.« Robie zeigte nach oben. Der Regen trommelte noch immer aufs Dach. »Diese Bedingungen sind aber nicht ideal. Sie sind beschissen. Sie sind verheerend für einen Schuss über eine lange Distanz. Glauben Sie trotzdem, Sie können das Objekt treffen?«
Gathers atmete tief ein. »Ja, das glaube ich.«
»Hoffen wir, dass wir es nicht herausfinden müssen. ›Das glaube ich‹ genügt nämlich nicht.«
Zwei Stunden später bekam Robie eine weitere Nachricht.
»Wir haben ein endgültiges Go«, sagte er zu Gathers.
Gathers nickte, las noch einmal die Wetterinstrumente ab und schaute dann wieder durchs Fernglas.
Robie griff nach dem Gewehr und schob die Mündung durch die Öffnung, die er geschnitten hatte. Der Lauf war nass vom Regen, aber die Optik befand sich unter dem Dach und war trocken. Robie legte die Wange an den synthetischen Schaft und spähte durchs Zielfernrohr. Dieses optische Gerät war das beste, das man für Geld kaufen konnte, ein Wunder der Technik, das es einem ermöglichte, mit unglaublicher Präzision über große Entfernungen hinweg zu sehen – und zu schießen.
»Okay«, sagte Robie. »Geben Sie mir sämtliche Informationen.«
Gathers nannte ihm Details über das Wetter und die Entfernung. Robie nahm die erforderlichen Einstellungen am Zielfernrohr vor. Es war von entscheidender Bedeutung, dass er die Wetterbedingungen berücksichtigte. Bei der großen Entfernung, die das Geschoss zurücklegen musste, hatten Wind und Wetter reichlich Gelegenheit, den Schuss zu vermasseln. Und da war noch die Schwerkraft, die allerdings im Unterschied zu den Elementen exakt zu berechnen war.
Wieder spähte Robie durchs Zielfernrohr, und das gläserne Atrium kam in Sicht.
»Gut, dass die ’ne Fahne aufs Gebäudedach gepflanzt haben«, meinte Gathers. »Vereinfacht die Windberechnung. Ist wie ein Windsack auf ’nem Flughafen.«
»Deshalb haben unsere Leute sie ja dort angebracht«, erwiderte Robie knapp.
Er sah auf die Uhr und justierte sein Ohrmikrofon. Die Stimme meldete sich und brachte ihn auf den neuesten Stand. Wieder ein Blick durchs Zielfernrohr. Personen kamen in Sicht. Die Party schien gerade anzufangen. Der Ehrengast würde in etwa zwanzig Minuten eintreffen. Er war so reich, wie nur ein Mann werden konnte, der ein ganzes Land ausgeplündert hatte. Hätte er sich damit zufriedengegeben, wäre er nicht zum Zielobjekt geworden. Aber er hatte die Todsünde begangen, terroristische Aktivitäten zu finanzieren, die sich unmittelbar gegen die USA und deren Verbündete richteten. Deshalb hatte man Robie ausgewählt, den reichen Mann und seine Ambitionen für immer zu stoppen.
An diesem Abend feierte dieser Mann seinen fünfundachtzigsten Geburtstag.
Seinen letzten, so viel stand fest.
In seinem verarmten Land gab es einige wenige Reiche, und sie alle würden an diesem Abend auftauchen. Kämen sie nicht, wäre es ihr Todesurteil.
Deshalb trudelten diese Leute allesamt ein. Sie kamen wie die gehorsamen Haustiere, die sie waren, weil sie viel mehr zu verlieren hatten als ihre geknechteten Mitbürger. Was für einen Sinn hatte es, reich zu sein, wenn man tot war?
»Windansage«, sagte Robie.
Gathers schaute auf seine Instrumente und gab ihm die verlangten Daten durch. Robie nahm die notwendigen Einstellungen am Zielfernrohr vor. Das größte Problem, da war er sicher, war die Lücke zwischen den Gebäuden. Der Wind wirkte dort wie ein Trichter. Außerdem musste das Geschoss Glas durchschlagen, das – anders als bei Robies letztem Einsatz – auf diese große Entfernung erhebliche Wirkung auf die Flugbahn einer Kugel haben würde, die bereits fast zwei Kilometer zurückgelegt hatte.
Außerdem musste der Fall der Kugel genau berechnet werden. Das würden der Spotter, das Entfernungsmessgerät und die Wetterbedingungen entscheiden. Hätte Robie das Fadenkreuz auf die Brust des Objekts gerichtet und abgedrückt, wäre die Kugel, wenn sie fünf Sekunden später eintraf, in den Boden eingeschlagen. Die erforderlichen Berechnungen waren kompliziert und erlaubten keine Fehler. Sie beinhalteten die Newtonsche Dynamik, die Erdanziehungskraft und mathematische Formeln, die sogar Einstein verblüfft hätten.
Als es allmählich Zeit für den Schuss wurde, rutschte Gathers zu Robie hinüber und kauerte sich halbrechts hinter ihn. Auf diese Weise nutzte er dieselbe Öffnung, durch die Robie feuerte, und konnte dem Flug der Kugel durch seinen Sucher folgen. Das war erforderlich, falls der erste Schuss das Objekt nicht töten sollte. In einer Kampfzone gab es normalerweise Gelegenheiten für weitere Schüsse, aber nicht hier, bei diesem Szenario. Sollte der erste Schuss nicht treffen, würden die Leute panisch auseinanderlaufen. Bodyguards würden einen schützenden Kordon um das Objekt bilden und es in Sicherheit zerren.
Aber weil das Geschoss fast fünf Sekunden brauchte, um sein Ziel zu erreichen, hatte Gathers Gelegenheit, notfalls Anpassungen für einen zweiten Schuss vorzunehmen, noch bevor die erste Kugel einschlug. Wenn sie Glück hatten, würde das zweite Geschoss sein Ziel finden. Hatten sie noch mehr Glück, würden sie den zweiten Schuss nicht brauchen.
Das Objekt traf ein und betrat den Raum. Es war ein hochgewachsener Mann, dessen Appetit auf Essen und Getränke seiner Gier nach Macht und Reichtum kaum nachstand. Er nahm auf seinem Stuhl am Kopf des Tisches Platz.
»V eins«, erklang es in Robies Ohrmikrofon.
Robie blickte zu Gathers. »Letzter Aufruf.«
Gathers machte ein paar letzte Berechnungen, konzentrierte sich auf den Windtunnel und die Flagge zwischen den beiden Gebäuden. Dann gab er die Informationen an Robie weiter, der kaum wahrnehmbare Veränderungen am Zielfernrohr vornahm.
»Eingewählt und verbunden«, sagte er schließlich. Er würde keine weiteren Justierungen vornehmen. Mit dem bloßen Auge schaute er noch einmal zur Flagge hinüber, ehe er wieder durchs Zielfernrohr spähte. Von diesem Augenblick an bis zum Moment des Abdrückens würde dieses Fernrohr sein einziges Auge sein. Er musste ihm vertrauen wie ein Pilot seinen Navigationsinstrumenten, wenn er durch Nebel flog.
Robies Finger glitt an den Abzugsbügel.
Der Mann, der gleich sterben sollte, griff nach einem Glas Rotwein und hob es, als wollte er einen Toast auf sich selbst ausbringen. Er trug einen Smoking. Das weiße Hemd mit den silbernen Manschettenknöpfen bildete für Robie den kaum zu verfehlenden Mittelpunkt einer unregelmäßigen Zielscheibe, doch er würde nicht dorthin zielen. Weil die Flugbahn des Geschosses sich wegen der großen Entfernung senkte, zielte er stattdessen auf eine Stelle über dem Kopf des Objekts.
Alles war vorbereitet. Es konnte losgehen. Gathers würde ihm Bescheid geben, wenn der Mann sich von der Stelle bewegte.
Robie entspannte sich. Sein Blutdruck fiel, sein Herzschlag wurde langsamer. Er atmete tief und gleichmäßig, als er sich dem glatten, kalten Nichts näherte.
Jetzt.
Nichts geschah.
Gar nichts.
Robies Blutdruck schnellte in die Höhe. Mit einem Mal raste sein Puls, und seine Atemzüge gingen keuchend. Er zuckte zusammen, als ihm trotz der kalten Luft ein Schweißtropfen über die Stirn ins linke Auge rann. Er konnte ihn nicht wegwischen. Nicht jetzt.
Er konzentrierte sich von Neuem. Sein Finger glitt zum Abzug. Doch bevor er das dünnste und wichtigste Stück Metall an seiner Waffe berühren konnte, sah er das Kind.
Der kleine Junge lief durch den Raum und hob die Arme, damit der alte Mann ihn hochhob. Der Mann erfüllte ihm den Wunsch, drückte den Jungen an seine Brust.
Die Stimme in Robies Ohrhörer rief: »Schießen Sie, Robie! Verdammt, schießen Sie!«
Robies Finger erstarrte wenige Millimeter vom Abzug entfernt.
Ein Schuss peitschte.
Sekunden später explodierte in der Ferne das Glas, und der tödlich getroffene Mann kippte vom Stuhl.
Robie spähte nicht mehr durchs Zielfernrohr, sondern schaute fassungslos seinen Finger entlang. Er hatte den Abzug nie berührt.
»Rückzug, Rückzug!«, rief die Stimme in seinem Ohrmikro.
Gathers zog Robie bereits auf die Füße. »Bewegen Sie sich, Robie. Na los!«
Obwohl Robie benommen war, gelang es ihm, Gathers die Metalltreppe hinunter zu folgen. Ihre Taschen hatten sie über die Schultern geworfen. Im nächsten Augenblick rannten sie Hals über Kopf die schmalen, dunklen Straßen entlang zum Wasser.
Später erinnerte sich Robie, in das Festrumpfschlauchboot gestiegen zu sein, das sofort ablegte und in hohem Tempo über das dunkle Wasser jagte.
Dann kam der Flug im Hubschrauber – kurz und turbulent, da der Sturm noch einmal auffrischte.
Zehn Minuten später eilten Robie und Gathers den Landungssteg des Frachters hinauf.
Nur drei Minuten später entfernte sich das riesige Schiff vom Pier und nahm Geschwindigkeit auf, während es durch die Bucht in Richtung Meer glitt.
Robie schaute zu Gathers hinüber, der in der engen Kabine ihm gegenüber auf der Koje saß. »Der Schuss?«
»Es gab ein Reserveteam vor Ort«, sagte Gathers. »Nur für den Fall.«
»Sie haben gesagt, Sie würden schießen, wenn ich es nicht könnte.«
Gathers wirkte nervös. »Ich hatte strikte Befehle, Robie. Tut mir leid.«
Robie wandte den Blick ab.
»Warum haben Sie nicht geschossen?«, fragte Gathers. »Sie hatten ihn doch im Visier.«
Robie sah ihn ungläubig an. »Warum ich nicht geschossen habe? Der kleine Junge, deshalb! Einen Wimpernschlag, bevor ich abdrücken wollte, sprang er dem Objekt genau in die Arme. Hätte ich geschossen, wäre das Kind jetzt tot.«
Gathers musterte ihn. Seine Miene wirkte besorgt. »Da war kein Kind, Robie.«
Robie starrte Gathers fassungslos an, sah aber nicht ihn, sondern einen Jungen. Einen kleinen Jungen, der ihm bekannt vorkam. Aber er konnte ihn nicht einordnen.
Schließlich legte er sich schwerfällig auf die Koje. Den Rest der Fahrt rührte er sich nicht.
Eine einzige Frage hämmerte in seinem Kopf.
Verliere ich den Verstand?
Spät am Abend in Washington, DC.
Noch ein Akronym: DC. Und DC war ein Ort, wo es mehr Behörden mit Akronymen gab als in irgendeiner anderen Stadt auf Erden.
Wenn normale Menschen schliefen, blieben Mitarbeiter dieser Behörden wach, um sie zu schützen.
Oder um ihre Mitbürger auszuspionieren.
Robie ging den vertrauten Weg zur Arlington Memorial Bridge entlang, wobei er das Lincoln Memorial passierte. Doch er warf dem sechzehnten Präsidenten der Vereinigten Staaten keinen einzigen Blick zu, als er daran vorbeiging. Er musste über vieles nachdenken. Und in der Dunkelheit konnte er das besonders gut, vor allem, wenn obendrein leichter Regen fiel.
Robie erreichte die Brücke, ging weiter, bis er auf halber Höhe war, und blieb stehen. Er schaute auf den von weißer Gischt bedeckten Potomac River hinunter. Am Himmel war kein Flugzeug, da der Reagan National wegen des Nachtflugverbots zu dieser Stunde geschlossen war. Alles war still und friedlich, doch in Robies Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Er hatte den Einsatz gründlich vermasselt. Er hatte ein Kind gesehen, obwohl es kein Kind gegeben hatte. Offensichtlich hatte er mitten in einer Operation halluziniert – ein Novum für ihn. Verdammt, wahrscheinlich war das noch keinem Agenten der Agency passiert.
Und so wenig Robie es sich erklären konnte: Das glatte, kalte Nichts kurz vor dem Abdrücken hatte sich nie bei ihm eingestellt. Diesmal nicht.
Robie schaute auf seine Hände. Sie zitterten. Er legte einen Finger an die Stirn, auf der sich der Schweißtropfen gebildet hatte, der ihm ins Auge gelaufen war. Er schüttelte den Kopf. Bis er herausfinden konnte, was wirklich geschehen war, war er erledigt. Er konnte seinen Job nicht mehr machen. Und das bedeutete, dass er ein Nichts war. Ein Niemand.
Offiziell hatten sie ihm Urlaub verordnet. Bis er das Chaos in seinem Kopf halbwegs beseitigt hatte, falls es ihm jemals gelang, würde Will Robie nicht mehr auf einen Außeneinsatz gehen.
Er schaute aufs Wasser hinunter. In den trüben Tiefen sah er erneut das Gesicht. Doch nun war ihm klar, dass er Sasha gesehen hatte, das tote Mädchen. Er, Robie, hatte im Geiste ihr Geschlecht verändert, hatte sie über Tausende von Kilometern versetzt und ihr einen anderen Vater gegeben. Und damit hätte er einen Grund gehabt, den tödlichen Schuss nicht abgeben zu müssen.
Er hätte wissen sollen, dass etwas nicht in Ordnung war. Wie hätte er einen kleinen Jungen sehen können, den sein Vater an die Brust drückt, wenn das Zielfernrohr auf eine Stelle über dem Kopf dieses Mannes gerichtet war?
Sein Mund wurde trocken, und seine Hände zitterten noch heftiger, als er daran dachte. Es war ihm unerklärlich, dass sein Verstand ihm solch einen Streich gespielt hatte. Aber nachdem es nun geschehen war, konnte er sich nicht mehr sicher sein, dass etwas Derartiges nicht noch einmal passierte. Deshalb konnte er sich nicht mehr auf die einzige Person verlassen, der er bislang blind vertraut hatte.
Auf sich selbst.
»Sind Sie zu irgendwelchen Schlussfolgerungen gelangt?«
Robie drehte sich um und sah, dass Blue Man auf der anderen Seite der Brücke stand. Er war aus den Schatten des Sockels hervorgetreten, auf dem sich die große Statue eines Reiters und seines Pferds erhob. Genau genommen gab es zwei dieser Statuen, eine auf jeder Seite der Brücke. Sie hießen Valor und Sacrifice, Tapferkeit und Opferbereitschaft. Es waren passende Skulpturen für eine Brücke, die zum ehrwürdigsten Militärfriedhof der Nation führte, dem Arlington National Cemetery.
»Ich habe Sie gar nicht kommen hören.« Robie klang verärgert.
»Konnten Sie auch nicht. Ich habe hier auf Sie gewartet.«
»Woher wussten Sie, dass ich hierherkomme?«
»Sie waren schon öfter hier, meistens nach besonders schwierigen Einsätzen.«
»Sie sind mir gefolgt?«
»Ja. Weil ich meine Leute gern im Griff habe.« Blue Man überquerte die Straße und trat neben ihn.
»Also sind Sie hier, um mir zu sagen, dass ich offiziell erledigt bin?«
»Nein. Ich bin hier, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«
»Sie haben den Bericht gelesen. Ich habe versagt. Ich habe ein Kind gesehen, das es nicht gab.«
»Ich weiß.«
»Sie müssen auch gewusst haben, dass diese Möglichkeit besteht. Deshalb haben Sie ein Reserveteam vor Ort gebracht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich bekomme dieses kleine Mädchen nicht aus dem Kopf.«
Blue Man musterte Robie abwägend. »Es war kein kleines Mädchen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie haben Gathers gesagt, ein kleiner Junge habe die Arme nach seinem Vater ausgestreckt. Von einem kleinen Mädchen war nicht die Rede.« Blue Man ging an ihm vorbei und schaute über die Seite der Brücke auf den Fluss hinunter. »Der Verstand kann einem üble Streiche spielen. Besonders, wenn man ungelöste Probleme hat.«
»Was für ungelöste Probleme?« Robies Stimme wurde scharf.
Blue Man drehte sich zu ihm um. »Diese Frage muss ich Ihnen wohl kaum beantworten. Ich sage Ihnen lediglich, dass Sie freigestellt sind. Und dass Sie diese Zeit so gut wie möglich nutzen sollten. Wenn Sie aus der Welt schaffen können, was Sie beschäftigt, werden wir Sie wieder willkommen heißen. Wenn nicht, dann nicht. Die Wahl ist ganz einfach, und die Entscheidung hängt zum größten Teil von Ihnen ab.«
»Hören Sie, das hat nichts mit meinem Vater zu tun, falls Sie das andeuten wollen.«
»Vielleicht. Aber falls doch, müssen Sie sich darum kümmern.« Blue Man reichte Robie eine Akte. »Hier sind die Einzelheiten.«
Mit diesen Worten ging er davon. Kurz darauf hörte Robie, wie sich eine Autotür öffnete und wieder schloss, wie ein Motor angelassen wurde und der Wagen davonfuhr.
Robie schaute wieder auf das Wasser hinunter. Dann öffnete er die Akte und begann im Licht seines Smartphones zu lesen.
Sein Vater war wegen Mordes verhaftet worden.
Die Fakten waren unklar.
Ein Mann namens Sherman Clancy war tot. Clancy hatte Robies Vater gekannt. Es gab Hinweise, dass Robie Senior den Mann getötet hatte. Deshalb war er verhaftet worden.
Cantrell, Mississippi, war ein unscheinbarer Punkt auf der Landkarte, an der südlichen Grenze zu Louisiana, knapp zehn Kilometer von der Golfküste entfernt.
Robies Vater, ein ehemaliger Marineinfanterist, der sich der Welt als tollwütiger Pitbull aus der Vietnam-Ära präsentierte, war wegen Mordes verhaftet worden. Ein Teil von Robie konnte es glauben, doch ein anderer, tiefer sitzender Teil vermochte das nicht. Sein Vater war ein harter Hund, da gab es keinen Zweifel, und er konnte gewalttätig sein. Er konnte töten. Er hatte in diesem Krieg sogar getötet. Aber auch jede Mission, die Robie erfolgreich abgeschlossen hatte, war streng genommen ein Mord gewesen. Trotzdem hielt er sich nicht für einen Mörder.
Warum nicht?
Weil andere Menschen ihm befohlen hatten, die Tat zu begehen? Nun, das war aber auch bei Auftragsmördern der Mafia der Fall.
Cantrell, Mississippi. Ein Ort, der Robie einst vertraut gewesen war. Achtzehn Jahre seines Lebens waren dieser Ort alles gewesen, was er gekannt hatte. Dann war eine Zeit gekommen, da er von Cantrell die Nase voll gehabt hatte. Dorthin wollte er ganz sicher nicht mehr zurückkehren.
Abgesehen von seinem Vater hatte er keine Verwandtschaft mehr dort. Er hatte keine Geschwister. Und auch keine Mutter mehr.