Ach Mama. Ach Tochter - Gisela Steineckert - E-Book

Ach Mama. Ach Tochter E-Book

Gisela Steineckert

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Beschreibung

"Töchter lernen von niemandem so wenig wie von der eigenen Mutter. Das ist eine Behauptung. Ich bin Tochter, Mutter, Enkelin, Großmutter. Darüber erzähle ich, von mir in solcher Lage und von anderen aus meiner Sicht." Nähe und Konflikt, was uns prägt und was wir weitergeben, Ungesagtes, Hingabe und die Männer, die hineinspielen - das Band zwischen Müttern und Töchtern ist fest und fragil zugleich. Gisela Steineckert spürt dieser besonderen Beziehung nach; anrührend, doch nie sentimental - ein Buch über und für starke Frauen.

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Impressum

ISBN eBook 978-3-355-50003-6

ISBN Print 978-3-355-01806-7

© 2012 Verlag Neues Leben

Umschlaggestaltung: Verlag

Neues Leben Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.verlag-neues-leben.de

Gisela Steineckert

Ach Mama

Ach Tochter

Meiner Mutter Elisabeth

meinen Töchtern, allen

und Laura Marie

Fürs Leben eine Frau

Ich schreibe dir dies am kalten Vormittag eines Sonntag im fiebrigen Jahr neunzig, ehe ich aus dem Haus renne. Ich werde dir diesen Brief geben, an einem Herbsttag, im Winter, aber das wäre schon spätestens.

Der Mann wird dann abgehauen sein. Damit stürzt dir noch einmal die Welt zusammen. Du wirst vor dem Spiegel stehen und erkennen, daß deinem Gesicht eine Schwerarbeit anzusehen ist, die du Liebe nanntest. Nicht nur du, wir alle tun das.

Du bist unnötig gealtert, eine Frau, die nie Zeit für sich hatte, weiße Haare durchziehen die dunklen, und noch immer siehst du aus wie eine Beiwagenfahrerin, ganz auf den anderen angewiesen, ein bißchen lächerlich. Immer noch bemüht um eine Miene, die du gefälligst zu machen hattest.

Du wirst weinen, verzweifeln, mit dem Tod spielen, das tapfere Schneiderlein vorführen und des Mannes schweißige Klamotten streicheln. Er hat sie und alles vorerst zurückgelassen. Dies drängt dir den Gedanken an immerhin selbstloses Verhalten auf. Aber er wird kommen und sich alles holen, wovon er glaubt, es stünde ihm zu. Du wirst dann begreifen, daß ihr in den letzten Jahren nur für aufwendige Anschaffungen zu seinem Nutzen gearbeitet habt. Und auch das wird dir weh tun. Er wird nicht so mutig sein, daß er klaren Tisch macht, eure finanziellen Probleme klärt und dir über die Schwelle in ein leeres Zimmer hilft. Er wird ein Chaos brauchen, um zu verschwinden. Also wird er ein Chaos schaffen. Die Tür muß knallen, äußerste Erregung den Boden bereiten für deine Zweifel, so daß du unter Tränen deine Schuldaktien vorzeigst.

Das Abhauen stand ihm schon im Gesicht, als du das erste Mal mit ihm einkehrtest. Deine Füße berührten kaum den Boden, so klebtest du an seinen Schritten. Aber du warst auch eine Summe deiner schönsten Momente.

Manch mal huschelst du beim Gehen, als müßtest du dir mit den Armen im Wasser nötigsten Platz schaffen, während die Füße immer rennen. Aber als du mit ihm kamst, sah ich, daß du noch immer aufrecht gehen und schön sein kannst. Mir fiel auf, daß du keinen Büstenhalter trugst. Da wußte ich, daß er eine Theorie dafür hat. Wer eine hat, hat auch viele. Wer einer Frau über Nacht den gewohnten Büstenhalter ausredet, wird ihr auch einreden, daß er sich damit ein bleibendes Verdienst an ihr schafft. Ich begriff, daß er dich für sich demontieren wollte. Wem hätte ich das sagen, klagen sollen, was hätte es genützt, hätte ich mir die Haare gerauft oder mir die Oberkleider samt Büstenhalter aufgerissen.

Ihr habt aus einem Glas getrunken und euch am selben Streichholz die Zigaretten angezündet. Fast hätte es des Feuerleins nicht bedurft, so glühtet ihr beide. Das ist schön, und vielleicht, so dachte ich, sind meine Augen überheblich geworden und mein Signalsystem, das auf kleine Zeichen abfährt, läßt sich von Vorurteilen leiten.

Aber nur so konnte es nicht sein. Wie er deine Sätze um die Ecke leitete oder umbog, das sollte uns zeigen, nun hat einer die Sorge für sie übernommen. Übergebt sie mir, ich habe ab jetzt die Verantwortung. Für wen denn? Woran gebrach es? Versagten ihr die Beine? Hatte der Arzt ihr ein Los verkündet, das nur wir nicht kannten, er aber wohl? War sie plötzlich Legasthenikerin geworden, hatte er sie aus den Armen einer Geliebten gerissen und in den Kreis der »Normalen« zurückgeführt?

Du solltest vor ihm stehen, wie du halt bist. Ohne Geheimnisse, ohne Schminke, ohne Vergangenheit, ohne Büstenhalter, Du hattest insgesamt ein bißchen dümmlich zu wirken.

Wer beim andern so viel abräumt, hat selber viel hinzuräumen. Du wurdest die Seine, sein Eigentum. Dein Leben vorher sollte wie ein Konto gelöscht werden. Natürlich war es ein überzogenes, ständig unordentlich geführtes. Ach wie schade, es hatte dir soviel Spaß gemacht. Dein höchster kulinarischer Genuß wurden seine gerühmten Kohlrouladen, die er meines Wissens viermal mit dem Aufwand erschuf, der für eine halbe Pyramide gereicht hätte.

In derselben Zeit hast du eintausenddreihundertvierundzwanzig Mittagessen auf den Tisch gestellt, von den Atzungen für Gäste zu schweigen. Aber du brauchtest nicht die ganz große Liebe, um täglich an Lebensmitteln zu schleppen, dich beim Schälen und Schneiden und Brutzeln und Braten zu verschleißen. Und nach dem langen Kochen und dem kurzen Essen das ganze Geschirr allein abzuwaschen.

Es ist deine Sache gewesen. Aber es wurde schwer, deine Abgeschabtheit und sein Ausgeruhtsein hinzunehmen. Der Anblick deiner Fingernägel und deiner aufgeplatzten Hände hat mir wehgetan. ER hat dir beim Leben nicht geholfen, aber du hattest nun eine Theorie dafür, die hieß Liebe, auch mütterliche, immer, wie es gebraucht wurde. Ein gefährlicher Pfad, den man besser nicht einschlagen sollte. Wer einem großen starken Kerl Unreife zugesteht, der nimmt sie auch hin. Wenn es sich um einen Mann handelt, darf er sich zugleich für Lanzelot und den großen Zampano halten.

Er war omnipotent. Solche Männer sind nach meiner Erfahrung nicht nur darin Angeber. Wer behauptet, er brauche fünfmal jeden Tag seinen Sex, der will späterem Einwand vorbauen. Man glaubt ihm als Frau gern, und wenn er nur eine Woche durchhält, ist die Geliebte Zeugin gegen sich selber. Der unausgesprochene oder gebrüllte Vorwurf von seiner Seite lautet: Früher, als ich noch durch deine leider nicht bedeutenden Reize unaufgehalten war, brauchte ich fünfmal am Tag meinen Sex. In Klammern: das hast du mir versaut. Aus biblischen Zeiten muß sich überliefert haben, daß Männer ihre Frauen ewig links oder rechts liegenlassen, aber ihre Begierden kaum unterdrücken können, sobald die Frauen durch Walten der Natur verhindert sind. Es scheint echt zu sein, daß sie dann gekränkt sind. Aber sie verzeihen uns.

Der Deine neigte dazu, dir auch solche Dinge zu verzeihen, die andere Leute völlig selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Und du dientest: Er brauchte sein Frühstück ans Bett, denn morgens ist er nicht gut drauf. Ein Morgenmuffel. Oder ein allmorgendlich durch das Nikotin vom Vortag armer Vergifteter? Flugs hast du vergessen, daß du bis dahin auch als Lerche nicht zu gebrauchen warst. Zwei Eulen finden sich am Morgen nicht zurecht, also sei Lerche am Morgen und Eule bei Nacht, sei alles. Widerspruchslos hast du dich als Morgenriesin behauptet und den Blödsinn angefangen, ihm jeden Morgen das Tablett ans Bett zu schleppen.

Ich hätte dir sagen können, daß du es ihm spätestens an einem Migränetag innerlich übelnimmst, aber du hattest nur zwei Ohren, nur zwei Augen, nur einen Sinn, und der war auf ihn gerichtet. Und damit wir dir deine neuen Gewohnheiten nicht als alte Abhängigkeiten ankreiden konnten, erfuhren wir leuchtende Berichte über deine unbezähmbare Lust, morgens über die Kreuzung zu eilen und schwere Taschen zu schleppen, viel zu schwere für dich leichte kleine Person. Wo war die Alternative? Es gab keine.

Nach dem Essen, während du abgewaschen hast, braucht er seinen Kaffee und hat es gern gemütlich. Nun ja, mit dreißig ist man nicht mehr der Jüngste. Er denkt dann. Über eventuelle Arbeit denkt er nach, und er liebt es, wenn du neben ihm im Bett liegst, während er raucht und Sportsendungen guckt, gern Nüsse knackt, bis der Bildschirm nur noch flimmert. Ich kenne weibliche Langmut aus eigenem Vertun, wir bringen die falsche Toleranz in den Genen mit auf die Welt.

Schöne Absichten: Wir gehen einmal in der Woche schwimmen, ich helfe dem Kind bei Mathe und Physik, ich nehme meinem Spatzi das Denken ab. Das hat er nicht so gesagt, aber in dem Wort »mein Spatzi« steckten alle anderen Linien der Entwicklung. Du das kleine hilflose Spatzi, er der große starke Beschützer, auf Knopfdruck oder durch Laune unfähig, jemanden anzurufen, sich durchzusetzen, einer Lage gewachsen zu sein, sich anzustrengen. Mach du, du kannst das besser.

Du konntest es besser und hast dich trotzdem für jedes Streicheln hinten angestellt.

Deine Eltern schienen mir ungewohnt närrisch. Deiner Mutter mag ihr eigener schmächtiger Mann auf einmal als dürftig erschienen sein. So beneidete sie dich und gönnte dir alles und hätte am liebsten mit in dem Glückstopf gesessen, in den sie dich rigoros steckte.

Dabei habe ich selten einen Mann gesehen, dem die Unfähigkeit zu partnerschaftlichem Verhalten so deutlich anzusehen war. Er trug es wie auf dem Shirt, wie ein Sandwich-Man lief er mit dem Slogan »ganz alte Masche« durchs Leben. Er war mehr als jede Frau, viel mehr als eine, die ihn liebt. Er ist ein Mann, der andere ungern zu Wort kommen läßt. Vielleicht hat er Angst vor einem Argument, das ihn widerlegt in seinen Vorläufigkeiten, die er für gesicherte Wahrheiten hält. Fragst du ihn, wie das Wetter ist, erklärt er dir die Entstehung von Wettern in allen Erdteilen, als wärest du eine Papua, die bis eben glaubte, ihr Stammesvorsitzender mache den Wind und den Regen. Dabei weiß er nichts über Wind und Regen. Er weiß was über Völkerball, Würste grillen, Karten spielen und Gespräche nächtelang. Aus denen dann kein Handeln rausschaut.

Du als Büchernärrin hast ertragen, daß er nie ein Buch in die Hand genommen hat, ihr wart nie im Theater, nicht mal im Kino. Aber: Er wollte für Ordnung sorgen in deinem Leben, für eine Art Entsorgung. Alle schnorrenden unverschämten Mitesser und Übernachter, sippenweise Anreisenden, ihren Urlaub auf deine Kosten Verbringenden würden dank seines Durchgreifens um den allzu einseitigen Freitisch kommen.

Er hat das gemacht. Er hat alle deine sogenannten oder wirklichen Freunde und Bekannten, alte Schulkumpels und alle beladenen Seelen vergrault. Nun kehren alle seine Freunde und Kollegen und Bekannten und Kumpels zu Tisch, solche, die kostenlos an seinem Auto basteln oder ihm sonst billig Gefälligkeiten erweisen. Die dürfen ins Gästezimmer.

Du hast das nicht nur hingenommen, all die vertanen Tage und verlorenen Nächte, sondern, außer in Momenten der Wut aus Überanstrengung, auch noch gerechtfertigt.

Er hat gesagt »Familie«, und mein Unbehagen war vollkommen, als ich erfuhr, daß er in Wahrheit eigentlich nur seine Eltern liebt. »Jeder andere muß sich das Vertrauen erst einmal verdienen, das sie sich an mir verdient haben.« Er hat auf der Schulbank gesessen, hat Sport getrieben, studiert und nun steht er im Leben herum und schlägt die Tage tot. Weil die Verhältnisse sich geändert haben, die Chancen werden nicht mehr ins Haus getragen, da kann ja er nichts dafür. Er wartet auf ein Wunder. Wenn das nicht erscheint, wartet er auf nichts als auf deine Vorschläge. Die bringst du, sogar erstaunlich. Das macht ihn dir aber nicht geneigter. Nun gehen die Kräche darum, daß du dich wohl aufspielen willst. Er läßt sich nicht unterdrücken. Das heißt: Er kommt und geht, wann er will.

Vielleicht ist er gutmütig. Mit gelegentlichen Ausfällen dieser schönen Eigenschaft. Aber Brutalität steckt ja nicht nur in der Faust, es reicht, dem anderen dreimal täglich das Selbstbewußtsein zu verletzen. Es machte alle Leute, die dich mögen, unduldsam, wie verstiegen und abgelegen du ihn zu entschuldigen versuchtest. Geholfen haben wir dir nicht. Es war etwa dein achtzehntes Unglück, da wird der Eifer lahm. Wir haben ihn dir übelgenommen. Und euch zusammengepackt. Wenn wir den einen mißbilligten, nahmen wir auch den anderen nicht aus.

Dreimal seid ihr zu dritt schwimmen gegangen. Für deine Tochter war das eine neuerliche Erfahrung, daß es auf sie nicht ankam. Dabei hätte sie ihn gern als Vater geliebt. Aber als die Wohnung wieder bevölkert und verqualmt war, schrieb sie euch als Paar ab, widerstrebend, nicht ohne Rückfälle. Jeder hängt am Glauben, der einem so nötig ist.

Deine Tochter nahm dir deinen Heldenmut im Alltag übel. Du wolltest zeigen, daß du jung, stark, tüchtig und begehrenswert bist. Keiner belastet sich mit dir unzumutbar.

Aber du warst eine Frau von nun dreißig Jahren, zarter Gesundheit, aufgeschobenem Wollen und Können, die jeden Tag überfordert lebte. Als deiner Tochter bewußt wurde, daß es wieder einmal gegen dich lief, sagte sie: »Sie will es immer allen recht machen. Das ist unerträglich.«

Wenns soweit ist, werden wir dich trösten. Du wirst verzweifelt sein, das füttert die abgekühlte Liebe der jetzt Befremdeten. Und dann kommst du eines Tages wieder und bist die Summe deiner schönsten Momente. Möglich, daß du dich geändert hast. Das wäre der Anfang des einzigen Wunders, das dir heraushelfen könnte.

Wir haben alles verloren

Was hast du verloren? Einen Menschen?

Das wissen wir noch nicht. Vielleicht haben wir auch Menschen verloren. Freunde, die sich auf einmal fix anders geben, tüchtig, schlau. Die uns nicht mehr so oft anrufen, und wenn, dann erzählen sie von wunderbaren Leuten, die von Vorteil sind, offenbar häufig anwesend und auch noch sehr, sehr nett.

Vielleicht verlieren wir eins der Kinder an ganz andere, an für uns schmerzend andere Ideen. Und weil wir nicht weise sind inmitten all unserer Überlegungen, von Sorgen zu schweigen, tun wir nicht das einzig Richtige.

Was das einzig Richtige ist, wenn unser Kind sich auf einmal in bedrohliche Nähen begibt, dort vielleicht nicht nur mitrennt, sondern auch mit dem Zeigefinger den Weg weist oder drohend auf einen Menschen deutet, der nicht mehr dazugehört – das wissen wir nicht. Es steht geschrieben, daß man Humor aufbringen soll, an die eigenen Erfahrungen denken, ausreden lassen, lieber den Mund halten, damit sie nicht aufhören, mit uns zu reden. Unser Geduldsfaden reißt. Was nützt es, zu denken, daß er ihnen vorher mit uns gerissen sein muß, sonst würden sie nicht nach den Sätzen suchen, die uns am meisten treffen.

Wir haben alles verloren.

Damals, vor Jahrzehnten hieß das: Die Wohnung, die Möbel, die Kostbarkeit der Sachen, die man nie mehr ersetzen kann. Meine Mutter kam mitten im Krieg aus Berlin mit einem Waschtopf aus Zink, stellte ihn bedeutungsvoll ab und sagte: das ist das einzige, was ich retten konnte. Alles andere haben wir verloren. Es stimmte nicht. Das unmenschliche Haus hatte den Krieg überlebt, ausgerechnet dieses. Wir hatten alles behalten, die ganze Armseligkeit. Später mußte noch das geringste von Wert für Brot hergegeben werden.

Um die wirklichen Verluste trauere ich. Von meinen Großeltern väterlicherseits gibt es kein Foto mehr. Ich klappere die Verwandten ab, die jahrzehntelang nicht mehr gesehenen, einer schickt mich zum anderen. Mir dämmert die Erkenntnis, die Fotografien sind um der alten vergoldeten Gipsrahmen wegen weggeworfen worden. Die Rahmen waren alt genug, für Spiegel in jungen Wohnungen zu taugen.

Damals, das war im Krieg, als die Bomben fielen und die Menschen sagten: Jeden Tag trocknes Brot, aber das nie wieder. Sie hatten alle Illusionen verloren. Und gewannen schnell neue. Was war das? Überlebenskunst, oder noch immer, daß es in unseren Köpfen nicht erwachsen werden wollte?

Eine schwierige Zeit, und wir sind auf sie nicht vorbereitet gewesen. Oder besser: Wir haben sie uns ganz anders vorgestellt. Wir haben nicht gedacht, daß wir um alles auf einmal bangen müssen, um die eigenen alten Eltern ebenso wie um unser eigenes Altsein. Menschen verlieren mit der Wohnung Unwiederbringliches. Die Erinnerungen, den Lohn für die Mühe, die Belohnung für sparsam leben, für Verzicht, für eine unendlich scheinende Kette von Belastungen, die man auf sich nimmt, wenn man jung genug ist, sich das vorher nicht genau vorstellen zu können.

»Angst essen Seele auf.« Das meiste läßt sich erklären. Ohne harte Schnitte ist die Ökologie nicht zu verbessern, ohne Subventionen sind Scheinarbeitsplätze nicht zu halten.

Es ist auch wahr, daß wir uns langweilten in unserem absehbaren Leben mit seinen kalkulierten Risiken und seinen engen Grenzen für Abenteuer, Einfälle, Eigenart.

Wir wollen nicht zurück, niemals. Aber nach vorn, was ist das? Und was bleibt von uns?

In vielen von uns noch lange die Schüchternheit, etwas frei heraus zu bejahen, ehe wir uns umgeguckt und ein überwiegendes Bejahen bemerkt haben.

Aber auch die Erinnerung an Nähe.

Wir haben nicht alles verloren. So, wie wir nicht alles gewonnen haben. Wir lebten in der Enge des Nestes und haben zusammengehalten, vor allem gegen oben und gegen die tagtägliche Abnutzung. Einer allein hätte es nicht gepackt.

Das sind Begründungen, die wollen den Zusammenhalt kleinlich machen. Aber er war groß, er war wichtig in unserem Leben: Es gab Nähe, es gab Wärme, es gab Hilfe. Wir wissen jetzt, daß wir etwas versucht haben, das so nicht gehen konnte. Es war zuviel Irrtum und Aberglauben, schon wieder Dienlichsein und Gläubigkeit in den Anfang gebracht. Am Ende kam heraus: Rechts gegen links. Aber links, das waren am Ende nicht mehr wir. Und wer links bleiben wollte, sah sich zu den Aufstörern und Aufrührern gestellt.

Seit in dieses Land die Sprache der Politik als erfrischende und die eigenen Gedanken erreichende Neuigkeit drang, war das Ende absehbar. Weil die Vorschläge zur Konterbande erklärt wurden. Es war Weltpolitik, da waren Mächte und Kräfte im Spiel, die unser Einbringen weit überstiegen, das alles ist wahr. Aber viele von uns sind zurückgezuckt davor, daß alles noch einmal neu bedacht und geordnet werden muß, daß die Mauer nicht ewig stehen wird und Waffen vernichtet werden können.

Wir haben zeitweise das Wort ICH verloren. Wir sagten WIR, auch wenn uns Denkwelten von einem Vorgang trennten. Wir haben wieder die Kartoffeln nicht rechtzeitig in die Erde gebracht, wir hätten Ceausescu nicht den Karl-Marx-Orden geben sollen, wir sollten den »Sputnik« nicht verbieten – nein, da stimmte es schon nicht mehr.

Zu dieser Zeit gewannen viele von uns das Wort ICH zurück.

Nicht wir haben so isoliert in Wandlitz gewohnt. Aber wir haben nichts dagegen getan, außer an den Kreuzungen einander ins andere Auto zu blicken und den Kopf zu schütteln, wenn wir die Umwelt verpesten mußten, bis jemand auf freier Straße an seinen Schreibtisch sausen konnte.

Wir haben eine soziale Sicherheit verloren, die auch mit dem Verlust schöner Landschaften und einem Teil der Substanz dieses Landes bezahlt wurde. Nicht nur, gewiß nicht nur, aber auch.

Haben wir den Verlust flächendeckender Beachtung zu feiern? Das wissen wir so genau nicht, und sicher, wenn überhaupt, dann nicht jeder von uns. Es ist schon verwunderlich, wie viele Leute und Firmen und Kettenbriefverfasser unsere Adresse und Wohnungsnummer kennen. Unsere Daten scheinen derzeit auf dem Marktplatz herumzuliegen. Wir haben immer gewußt, daß Observierung möglich ist, daß auch unser Telefon gelegentlich dran war, oder daß wir etwas gesagt oder unternommen haben, das Aufmerksamkeit auf uns lenkte. Dokumentationen im Fernsehen machen den Atem schmerzhaft. Da war jemand an jemandem ganz nahe dran, und es schien ganz ausgeschlossen, daß etwas anderes als Freundschaftlichkeit die Beziehung bestimmte. Verrat war nicht die Regel. Obwohl es kühn ist, die Ausnahme mit einem so harmlos klingenden Wort, »Ausnahme« zu benennen, ein gewaltigeres mit einem biblisch anmutenden will her.

Nachträglich erstaunt es mich, wie wenig wir das beachtet haben, wenn wir nur irgend die Chance hatten, einander arglos zu sein.

Nun haben wir auch Sehnsüchte verloren.

Nach einem Salat im Dezember, dem Licht in der Provence oder der Landschaft, die wirklich aussieht wie im Heimatfilm. Viele von uns haben sie nun gesehen.

Ach, und die so lange erträumten, nun endlich möglichen Besuche bei unseren Verwandten in Heidelberg oder Neuklietz an der Klunze. Zwischen uns hat sich etwas verändert. Sie sind einen Vergleich losgeworden, der ihrem Ego schmeichelte. Ihre eigenen sozialen Schwierigkeiten wogen geringer, wenn sie an uns arme Luder dachten, die nicht einmal nach Mallorca konnten.

Das Pfund Kaffee wiegt nichts mehr. Dieser Eintrittspreis in unsere geschniegelte Wohnung, für ihren Besuch reichlich mit Koteletts und Kuchen ausgestattet, ist in eine schlimme Baisse geraten. Kaffee haben wir selber, und außerdem wissen wir nun, daß sie die Päckchen mit den abgelegten Sachen, wie neu, sehr begehrt, von den Steuern absetzen konnten.

Jetzt suchen wir selber nach Containern und wissen, wie schwierig Entsorgung ist.

Wir werden uns seltener sehen und können uns darüber nur zu geringem Bedauern aufschwingen.

Und wir haben auch viel anderes vor. In einige Bereiche unseres Lebens ist Normalität eingekehrt, die Freude darüber wird vorerst nicht kleiner. Wir haben nicht viel Geld, die meisten von uns jedenfalls nicht, aber wenn wir das Portemonnaie öffnen und etwas bezahlen, dann wechseln wir Geld gegen Ware. Eine Mark ist eine Mark und keine Kränkung, und wir können unsere Kleinkriminalität beim schwarzen Umtausch vergessen. Nicht vergessen, das wohl doch nicht. Es hat uns gedemütigt, für Inflationsgeld zu arbeiten. Die eigenen guten Waren mußten wir für eine fremde Währung erwerben. Soweit das Geld reicht, werden wir nun fahren, laufen, Erschauen und Erschauern, unsere Seele darf sich öffnen und verschließen nach dem, was wir uns selber schulden oder danken.

Wenn wir gesehen haben, wovon wir nicht glaubten, daß wir es in unserem Leben noch sehen dürfen, dann werden wir vielleicht sagen, daß es zu Hause schön ist.

Zuhause, das sind aber immer die Menschen. Die sind jetzt nicht bei sich. Und das ganze Land wird umgebrochen, aufgebrochen, umgeordnet, geordnet, verspielt, verschenkt, verkauft, verschönert, verändert auf jeden Fall. Im Land wie in der Familie bleibt kein Stein auf dem anderen.

Neulich las ich, daß es bei uns für Mädchen nur sechzehn Ausbildungsberufe gegeben habe. Das ist so eine Nachricht, von der man nicht weiß, ob sie sich der Redakteur aus den Fingern gesogen hat oder ob so nebenbei eine Wahrheit ausgesprochen wird, die man übersehen hat, und wenn es eine Wahrheit gewesen ist, dann hätten wir sie doch nicht hinnehmen dürfen.

Nun stehen wir Frauen als Arbeitskräfte, außer im Dienstleistungsbereich, über, und also werden unsere natürlichen Fähigkeiten als Bewahrerin von Kind und Herd und Feuer gefeiert. Es wird uns wieder eine natürliche Bestimmung eingeredet, die uns eben als mit beruflicher Arbeit überaus angenehm zu verbinden eingeschränkt wurde.

Der Zustand einer scheinbaren Gleichberechtigung war verhornt. Aber die Kehrseite ist auch nur eine zu einfache, nicht hinnehmbare Wahrheit.

So werden wir es denn nun erstmals, Mann und Frau, miteinander austragen müssen. In der Hoffnung, uns dabei nicht zu verlieren. Nicht die Achtung voreinander, nicht die Liebe. Unabhängig vom Geschlecht gibt es Gründe für Mitfühlen und Mittragen. Schmerzliche mögliche Hilfe. Aber nebeneinander muß es gehen, nicht mehr der Reihe nach. Dazu waren wir zu lange berechtigt, ein Konto zu führen, Wunschkinder zu haben und unseren Arbeitsplatz selber zu suchen.

Wir müssen für die meisten Dinge einen neuen Namen und einen neuen Ton finden. Wir haben als Abkürzung gelebt. Jetzt können wir sagen: Ich als Deutsche. Ich als Deutscher. Das können wir jetzt sagen, aber es geht uns nicht leicht über die Lippen. Und warum nicht: Ich als Europäerin? Als Kind der Erde? Als Friedrichshainer und Teil der dritten Welt?

Wir sind derzeit so etwas wie die zweite.

Und andere gehen bei uns an Land und es fehlte nur, daß sie wie dereinst Bundespräsident Lübke in Afrika sagen: Liebe Neger! Soviel Schnöseligkeit, soviel Herablassung, soviel Überheblichkeit. Es fällt schwer, die eigenen Versäumnisse und den eigenen Schuldanteil anders als in der eigenen Brust zu verarbeiten. Oder mit Freunden, mit Andersdenkenden oder Gleichgesinnten, aber nicht vor diesen Ohren, die im Zuhören nicht geübt scheinen.

Auch diese smarten Vertreter, diese cleveren Unternehmer, diese zu Hause längst aus dem Zenit getretenen, hier wieder in die Sonne blinzelnden Politiker werden eine Lehrzeit absolvieren müssen, ob sie das wollen oder nicht. Besser, sie wollen. Sie wissen zu wenig über uns und treffen deshalb zu oft die falschen Entscheidungen. Mir wird angst, wenn ich sie im Fernsehen erlebe, pfeiferauchend oder nur einfach in sich ruhend. Sie haben so viele Antworten. Und fast gar keine Fragen. Wie kann das sein? Inmitten eines solchen Desasters. Inmitten einer solchen historischen Situation, die alles in Frage stellt? Woher nehmen sie ihre dumpfen, furchteinflößenden Sprüche – und ihre freudigen, das Gegenteil behauptenden? Vielleicht sind wir bald genauso, sagen auch dauernd, daß alles o.k. ist und verbergen jede Niederlage und jede Untüchtigkeit, jede Krankheit und jede Trauer. Weil man immer optimistisch, dynamisch und leistungsorientiert sein muß, sonst wirft es uns vom Karussell. Wenn wir denn je wieder auf ein Pferdchen gelangen. Wir sind zu empfindlich und jetzt so hellhörig, wie wir hätten sein sollen, als wir knapp am Bürgerkrieg vorbeigeschrammt sind. Es ist doch aber nicht unehrenhaft, aus dem eigenen Leben und der eigenen Geschichte zu lernen. Niemand ist zu alt, eine Wahrheit anzunehmen, die weh tut, die man am liebsten widerlegen würde, aber es ist eine Wahrheit und es lebt sich nur weiter, wenn man die Kraft gewinnt, sie anzunehmen und ihre Lehre zu erkennen. Aufgeben ist jetzt so leicht wie weinen. Warum geben die meisten von uns dennoch nicht auf? Wohl, weil wir zu Ende leben müssen, worüber unsere Enkel amüsiert, wütend, angeekelt, mitleidig die Achseln zucken mögen.

Wir geben nicht auf, weil unsere erwachsenen Kinder so ratlos sind. Sie wittern unsere Ratlosigkeit, und es macht sie aggressiv, wie wir gewesen sind und wie wir ihnen jetzt vorkommen. Es kommt kein Wunder, kommt kein guter Hirt. Wir selber müssen versuchen, zu verstehen und einzustehen und uns verständlich zu machen.

Nicht, daß wir unterlegen waren, so lange, ist unsere Schande. Als einen Teil meiner Schande empfinde ich, daß ich das Signal der Straflosigkeit von Gorbatschow wohl vernommen habe, aber dennoch nicht auf die Barrikade ging. Weil uns Meinungen trennten, weil es nicht genau meine Barrikade war, nicht mein Zeitpunkt, noch nicht das Ende meiner Hoffnung, wir können dies Land behalten und es selber in Ordnung bringen.

Die Wohnung DDR haben wir verloren. Manchem scheint es, wir haben damit alles verloren.

Aber wir packen ein. So wenig es scheint, die Koffer werden überquellen. Auch von den Zeugnissen unserer Niederlagen. Der hat es nicht einmal zu einem Telefon gebracht. Der hat sich im engen Trabant geschämt und sich dennoch kein anderes Auto leisten können.

Die beiden haben eine Tochter, die ist achtzehn und mißtraut jedem Lehrer mehr als einem Zuhälter, den sie nicht erkennen würde. Ihre Wachsamkeit ist geschult, aber auf Dinge, die es nicht mehr gibt. Unsere gespielte Unschuld haben wir nun auch verloren. Auf einmal steht in der Zeitung, wo die Prostituierten flanieren und daß die Drogen schon hier sind, schon länger. Keine Angst ist da zu groß. Kundigkeit hilft nicht bis zu Ende, aber sie ist besser, als die Illusion, der Kelch mit dem bösen Inhalt wird an uns vorübergehen.

Das wird er nicht.

Wir haben eine Art von Heimat verloren und sind in der neuen unvertraut. Wir sind zu sentimental. Zu unselbständig. Zu aufgeregt. Die neuen Landsleute lachen darüber, wie wir versuchen, ihr Steuersystem zu verstehen und wie wir uns wundern über soviel Bürokratie und soviel wegzuwerfendes Glanzpapier.

Wir werden schnell umlernen. Neue Genüsse wecken die Sinne, wir wollen arbeiten und etwas davon haben. Es war aber unser Leben. Und wir wollten hierbleiben. Es ist nicht wahr, daß uns nur der Schneid für den Aufbruch fehlte. Wir hatten unsere Kinder, unser Gebrauchtwerden, wir haben hier gelebt, und wir waren auch glücklich.

Es wäre gut, das nicht zu leugnen. Obwohl es jetzt Mut braucht, es auszusprechen.

Worüber wir uns früher gefreut haben, mag uns in der Erinnerung nichtig erscheinen.

Aber wir haben gelernt, aus jedem Fetzen etwas zu machen. Da werden wir wohl auch in Würde etwas aus einem Stück tragen, ohne es gleich das Gewand des Erlösers zu nennen.

Ach, wer begabt ist, glücklich zu sein, der wird es auch wieder. Wie uns das Leben geraten war, mußten wir wohl alles verlieren, um einen Anfang zu finden, in dem ein wirkliches, erwachsenes Ich zu gewinnen ist.

P. S.

Nein, wir haben keins der Kinder an schmerzend andere Ideen verloren. Dazu waren die neuen Erfahrungen zu lehrreich. Nun sind fast anderthalb Jahrzehnte vergangen, seit wir wie auf einem anderen Stern gelandet sind. Manche Befürchtung hat sich weggelebt, andere konnten vorher nicht gedacht werden, nicht von uns und nicht von jenen, die einen Sieg feiern, der in diesem Ausmaß ihre kühnen Träume übertraf.

Ohne die Niederlage einer Idee, die zum schwer lebbare Dogma gefroren war, würde unser Leben anders aussehen, fast in biblischem Ausmaß. Wenn wir Bilanz ziehen, bleiben wir immer im Versuch stecken.

Was also ist anders, was eingetroffen, was sogar überboten?

Meine Tochter würde nicht mehr leben. Das ist gewiß. Die Hilfe, die uns da zuteil geworden ist, war nur in eurpäischer Zusammenarbeit möglich. Ein Geschenk, nahe am Wunder.

Fast verbietet sich ein Aber, nur: Die Tochter der Tochter, glänzend ausgebildet, brauchte vermutlich kein Trainy für die Bewerbung. Mit ihrem Diplom und der schönen Zensur als Abschluß müßte sie sich nicht so verbiegen und anbieten, und noch ist nicht absehbar, welche Art von Job der Lohn für zwanzig Jahre Streben sein könnte. Einstellungsstop heißt eine der Grausamkeiten, die schwer zu ertragen sind. Da nützt weder Begabung noch der heiße Wunsch, etwas aus dem zu machen, was sich als Aufgabe aus all dem überflüssigen Vermittelten herausgehoben hat.

Rückgabe vor Entschädigung, das hat uns nicht betroffen. Später Dank für unsere frühe Einsicht, daß unsere Art zu leben sich eher mit der Platte als dem Idyll im abgelegenen Grünen verträgt. Aber rings um uns haben sich Dramen abgespielt, die in die Lebensgefühle reichten, denn da entstand nicht endlich Gerechtigkeit, sondern im wesentlichen neues Unrecht. Es war gelebt und gearbeitet worden, und die moralischen Hemmungen der Rückforderer, die doch schon einmal entschädigt worden waren, erwiesen sich als nicht eben aufhaltend. Aus Bruchbuden waren vielerorts in Jahrzehnten Wohngebäude geworden, jene Orte, an denen gezeugt, gearbeitet und gelebt worden war. »Gefällt uns sowieso nicht« reichte aus, um den neuen Vertriebenen auch noch die Kosten für den Abriß aufzuladen oder hohe Summen für nochmaligen Kauf.

Das bleibt bitter, darüber wird kein Gras wachsen.

Was da an neuen dramatischen Situationen entstand, ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Sich raushalten, zurückziehen ins Lyrische, in die Resignation und die ständige Wertung ohne wirkliche tiefere Kenntnis, oder Eingreifen, sich dem aussetzen, was manchmal schwer zu ertragen ist und manchmal hilft, auch der eigenen Seele, die in all dem bereichert wie abgeschabt wird in unbekanntem Maße. Arglos sind wir einander nicht mehr. Bei Anruf erwarten wir neue Schwierigkeiten, Zusammenbrüche, vergebliche Bemühungen. Soviel Absage war nie. Aber wir haben nicht gewußt, wie wir arbeiten werden, wenn wir arbeiten dürfen, nicht müssen. Unsere frühere Mittelmäßigkeit können wir uns nicht mehr leisten. Das neue Leben verlangte, daß wir die Spielregeln eines anderen gesellschaftlichen Systems begreifen, aber auch benutzen lernen. Zu Schaden, zu Gewinn, das wissen wir vorher nie. Nur eins: Wenns nicht gelingt, was vielen nützen soll, dann muß es eben wieder versucht werden. Gekränktsein und Bestehen auf Stolz und Würde gilt für das eigene Leben, nicht gegen Bürokratie, Schlamperei und Kränkenwollen.

Wer im Schwarzwald lebt, gar zu den Besserverdienenden gehört, der hat »von alledem« nur gemerkt, daß es ihn Geld kostet. Jedenfalls glaubt er das fest. Es ist zu anstrengend, jemandem, der das nicht wissen will, etwas anderes zu erklären.

Glück ist, daß den Töchtern und den Töchterlichen die Welt offensteht. Nicht mehr gezwungen, bis zur Rente zu Hause zu bleiben, bekommen sie manchmal Heimweh, und die Fremde erweist sich als lehrreich, aber nur als Station.