Adam Bede - George Eliot - E-Book

Adam Bede E-Book

George Eliot

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Beschreibung

Keine Ménage-à-trois steht im Mittelpunkt von George Eliots erstem Roman, sondern es sind gleich vier Personen, die in einen tragischen Liebesreigen verstrickt sind: Der bodenständige Zimmermann Adam Bede ist in die schöne, aber eigensüchtige Hetty Sorrel verliebt. Doch Hetty strebt nach Höherem als dem eintönigen Leben auf dem Land, und so verfällt sie dem jungen gutaussehenden Arthur Donnithorne, der eines Tages das Anwesen seines Großvaters erben soll. Und dann ist da noch Dinah Morris, Hettys Cousine, eine glühende, tugendhafte und schöne methodistische Laienpredigerin. Vor dem Hintergrund rauer Landschaften und dem beschaulichen Landleben entspinnt Eliot eine sehr persönliche Geschichte, über die sie später sagt: »Ich liebe es sehr und bin zutiefst dankbar dafür, es geschrieben zu haben, was die Öffentlichkeit auch immer darüber sagen mag.« – Mit einer kompakten Biographie der Autorin.

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Seitenzahl: 1107

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George Eliot

Adam Bede

Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Eva-Maria König

Reclam

Englischer Originaltitel: Adam Bede

 

1987, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Durchgesehene Ausgabe

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: Emile Claus, Zusammenkunft auf einer Brücke – © Sothebyʼs/akg-images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962064-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020685-0

www.reclam.de

Inhalt

Erstes Buch

Kapitel 1: Die Werkstatt

Kapitel 2: Die Predigt

Kapitel 3: Nach der Predigt

Kapitel 4: Häusliche Kümmernisse

Kapitel 5: Der Pfarrer

Kapitel 6: Die Hall Farm

Kapitel 7: Die Milchkammer

Kapitel 8: Eine Berufung

Kapitel 9: Hettys Welt

Kapitel 10: Dinah besucht Lisbeth

Kapitel 11: Im Häuschen der Bedes

Kapitel 12: Im Wald

Kapitel 13: Abend im Wald

Kapitel 14: Die Heimkehr

Kapitel 15: Die beiden Schlafkammern

Kapitel 16: Verbindungen

Zweites Buch

Kapitel 17: In welchem die Geschichte eine kleine Pause macht

Kapitel 18: Kirchgang

Kapitel 19: Adam an einem Arbeitstag

Kapitel 20: Adam besucht die Hall Farm

Kapitel 21: Die Abendschule und der Schulmeister

Drittes Buch

Kapitel 22: Man geht zum Geburtstagsfest

Kapitel 23: Essenszeit

Kapitel 24: Die Trinksprüche

Kapitel 25: Die Spiele

Kapitel 26: Der Ball

Viertes Buch

Kapitel 27: Eine Krise

Kapitel 28: Ein Dilemma

Kapitel 29: Der nächste Morgen

Kapitel 30: Die Aushändigung des Briefes

Kapitel 31: In Hettys Schlafkammer

Kapitel 32: Mrs Poyser sagt ihre Meinung

Kapitel 33: Weitere Verbindungen

Kapitel 34: Das Verlöbnis

Kapitel 35: Die verborgene Furcht

Fünftes Buch

Kapitel 36: Die Reise in Hoffnung

Kapitel 37: Die Reise in Verzweiflung

Kapitel 38: Die Suche

Kapitel 39: Die Nachricht

Kapitel 40: Die bitteren Wasser verbreiten sich

Kapitel 41: Der Vorabend des Prozesses

Kapitel 42: Der Morgen des Prozesses

Kapitel 43: Das Urteil

Kapitel 44: Arthurs Rückkehr

Kapitel 45: Im Gefängnis

Kapitel 46: Die Stunden der Spannung

Kapitel 47: Der letzte Augenblick

Kapitel 48: Eine weitere Begegnung im Wald

Sechstes Buch

Kapitel 49: Auf der Hall Farm

Kapitel 50: Im Häuschen der Bedes

Kapitel 51: Sonntagmorgen

Kapitel 52: Adam und Dinah

Kapitel 53: Das Erntemahl

Kapitel 54: Die Begegnung auf dem Hügel

Kapitel 55: Hochzeitsglocken

Epilog

Anmerkungen

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Nachwort

Zeittafel

Erstes Buch

Kapitel 1

Die Werkstatt

Mit einem einzigen Tropfen Tinte als Spiegel unternimmt es der ägyptische Zauberer, einem jeden, der gerade kommen mag, weit in die Vergangenheit reichende Bilder zu enthüllen. Das ist es auch, was ich für dich, lieber Leser, zu tun unternehme. Mit diesem Tropfen Tinte am Ende meiner Feder will ich dir die geräumige Werkstatt des Mr Jonathan Burge, Zimmermann und Baumeister im Dorfe Hayslope, zeigen, so wie sie sich am achtzehnten Juni im Jahre des Herrn 1799 darbot.

Die Nachmittagssonne fiel warm auf die fünf Arbeiter, die dort mit Türen, Fensterrahmen und Täfelungen beschäftigt waren. Der Kiefernduft eines zeltförmigen Bretterstapels vor der offenen Tür mischte sich mit dem Duft der Holunderbüsche, die ihren Sommerschnee dicht vor dem offenen Fenster gegenüber ausbreiteten; die schrägen Sonnenstrahlen schienen durch die durchsichtigen Späne, die vor dem stetigen Hobel flogen, und ließen die feine Maserung des Eichenpaneels, das an der Wand lehnte, aufleuchten. Auf dem Haufen der weichen Späne hatte sich ein struppiger grauer Hirtenhund ein behagliches Bett gemacht, und dort lag er mit der Nase zwischen den Vorderpfoten und runzelte gelegentlich die Brauen, um einen Blick auf den größten der fünf Arbeiter zu werfen, der einen Schild in die Mitte eines hölzernen Kaminaufsatzes schnitzte. Diesem Arbeiter gehörte auch der kräftige Bariton, den man über das Geräusch von Hobel und Hammer hinweg singen hörte:

»Wach auf, mein’ Seel, dem Sonnenlicht

Folge das Tagwerk deiner Pflicht;

Wirf ab schläfrigen Müßiggang …«

Hier musste eine Messung vorgenommen werden, die konzentriertere Aufmerksamkeit erforderte, und die sonore Stimme ging in ein leises Pfeifen über, doch schon erschallte sie mit erneuter Kraft:

»Lass all dein Reden aufrecht sein,

Dein Gewissen licht und klar und rein.«

Eine solche Stimme konnte nur aus einer breiten Brust kommen, und die breite Brust gehörte zu einem kräftig gebauten, muskulösen Mann, fast sechs Fuß groß, mit einem so flachen Rücken und so gerade sitzenden Kopf, dass er, wenn er sich aufrichtete, um sein Werk aus größerer Ferne zu begutachten, das Aussehen eines Soldaten in Rührt-euch-Stellung hatte. Der über dem Ellbogen aufgerollte Ärmel zeigte einen Arm, der wohl den Preis bei Kraftproben gewinnen konnte; doch die lange, geschmeidige Hand mit ihren breiten Fingerspitzen sah geeignet aus für Arbeiten, die Geschick erforderten. In seiner hochgewachsenen Robustheit war Adam Bede ein Sachse und machte seinem Namen Ehre; doch das jettschwarze Haar, das durch den Kontrast zu der hellen Papiermütze noch mehr auffiel, und der scharfe Blick der dunklen Augen, die unter kräftig gezeichneten, vorstehenden und beweglichen Brauen hervorleuchteten, zeigten eine Beimischung keltischen Blutes an. Das Gesicht war groß und grob geschnitten, und wenn es in Ruhe war, hatte es keine andere Schönheit als die, welche einem Ausdruck wohlgemuter, ehrlicher Intelligenz eigen ist.

Man sieht auf einen Blick, dass der nächste Arbeiter Adams Bruder ist. Er ist beinahe ebenso groß, hat Züge desselben Typs, dieselbe Haar- und Hautfarbe; doch die starke Familienähnlichkeit scheint den bemerkenswerten Unterschied im Ausdruck von Gestalt und Gesicht nur umso augenfälliger zu machen. Seths breite Schultern sind leicht gebeugt, seine Augen sind grau, seine Brauen treten weniger hervor und sind ruhiger als die seines Bruders, und sein Blick ist nicht scharf, sondern vertrauensvoll und gütig. Er hat seine Papiermütze abgeworfen, und man sieht, dass sein Haar nicht dicht und glatt wie Adams ist, sondern dünn und gewellt und den exakten Umriss eines Scheitelbogens erkennen lässt, der die Stirn ganz entschieden beherrscht.

Die müßigen Vagabunden waren sich immer sicher, dass sie von Seth ein Kupferstück bekommen konnten; Adam sprachen sie kaum jemals an.

Das Konzert von Werkzeugen und Adams Stimme wurde endlich von Seth unterbrochen, der die Tür, an der er eifrig gearbeitet hatte, hochhob, gegen die Wand stellte und sagte:

»So! Ich hab heute jedenfalls meine Tür fertiggekriegt.«

Die Arbeiter schauten alle auf; Jim Salt, ein stämmiger rothaariger Mann, als Sandy Jim bekannt, hörte auf zu hobeln, und Adam sagte mit einem scharfen Blick der Überraschung zu Seth:

»Was! Meinst etwa, du hättst die Tür fertig?«

»Ja, sicher«, sagte Seth, gleichermaßen überrascht, »was fehlt ihr denn noch?«

Brüllendes Gelächter der anderen drei Arbeiter veranlasste Seth, sich verwirrt umzuschauen. Adam stimmte nicht in das Gelächter ein, doch ein leichtes Lächeln war auf seinem Gesicht, als er in sanfterem Ton als zuvor sagte: »Nun, du hast die Füllungen vergessen.«

Das Gelächter brach von neuem los, als Seth sich mit den Händen vor den Kopf schlug und bis über Stirn und Scheitel errötete.

»Hurra!«, schrie ein kleiner, geschmeidiger Bursche, Wiry Ben genannt, lief vor und griff nach der Tür. »Wir hängen die Tür hinten in der Werkstatt auf und schreiben dran: ›Seth Bede, dem Methodisten, seine Arbeit.‹ Hier, Jim, halt mal den Rottopf.«

»Unfug!«, sagte Adam. »Lass das sein, Ben Cranage. Vielleicht machst du eines Tages auch mal so ’n Schnitzer, dann wird dir das Lachen schon vergehn.«

»Dabei erwisch mich erst mal, Adam. Das wird noch ’ne gute Weile dauern, bis mir der Kopf voll von’n Methodisten ist«, sagte Ben.

»Kann sein, aber er ist oft voll von Alkohol, und das ist noch schlimmer.«

Ben jedoch hatte jetzt den Rottopf in der Hand und schickte sich an, seine Inschrift zu schreiben, wozu er als Vorübung ein imaginäres S in die Luft malte.

»Lass es sein, hörst du?«, rief Adam aus, legte sein Werkzeug nieder, trat zu Ben und packte ihn an der rechten Schulter. »Lass es sein, oder ich schüttle dir die Seele aus dem Leib.«

Ben wankte unter Adams eisernem Griff, doch als schneidiger kleiner Mann, der er war, wollte er nicht nachgeben. Mit der linken Hand schnappte er den Pinsel aus seiner kraftlosen Rechten und machte eine Bewegung, als wolle er sein Schriftwerk mit der Linken vollführen. Im Nu drehte Adam ihn herum, packte seine andere Schulter und stieß ihn vorwärts, bis er ihn gegen die Wand gedrückt hatte. Doch nun sprach Seth.

»Lass gut sein, Addy, lass gut sein. Ben scherzt nun mal gern. Und er hat ja auch recht, über mich zu lachen – muss ja selber über mich lachen.«

»Ich lass ihn nicht los, bis er verspricht, dass er die Tür in Ruhe lässt«, sagte Adam.

»Komm, Ben, Junge«, redete Seth ihm zu, »lass uns doch nicht drüber streiten. Du weißt, dass Adam sich immer durchsetzt. Du kannst ebenso gut versuchen, einen Wagen auf einem schmalen Weg zu wenden. Sag, dass du die Tür in Ruh lässt, und hör auf damit.«

»Ich hab keine Angst vor Adam«, sagte Ben, »aber ich sag halt, dass ich die Tür in Ruh lass, weil du’s willst, Seth.«

»Na, das ist aber schlau von dir, Ben«, sagte Adam, lachte und lockerte seinen Griff.

Sie kehrten jetzt alle wieder an ihre Arbeit zurück; doch Wiry Ben, der im körperlichen Wettstreit den Kürzeren gezogen hatte, musste diese Demütigung unbedingt durch erfolgreichen Sarkasmus wettmachen.

»An was hast du denn grad gedacht, Seth«, fing er an, »ans hübsche Gesicht der Predigerin oder an ihre Predigt, als du die Füllungen vergessen hast?«

»Komm und hör sie dir an, Ben«, sagte Seth gut gelaunt, »sie predigt heut Abend auf dem Anger; ’s könnt sein, dass du dann selber was zum Nachdenken kriegst, statt dieser schlimmen Lieder, die du so gernhast. Du könntst Religion bekommen, und das wär der beste Tagesverdienst, den du je gemacht hast.«

»Alles zu seiner Zeit, Seth; ich werd drüber nachdenken, wenn ich mal mein’ Hausstand gründe; Junggesellen brauchen so ’n dicken Verdienst nicht, ’s kann aber sein, dass ich’s Freien und die Religion zusammen tu, wie du’s tust, Seth, aber du würdst es nicht haben wollen, dass ich mich bekehre und mich zwischen dich und die hübsche Predigerin dränge und sie davontrage?«

»Das ist nicht zu befürchten, Ben; sie ist, glaub ich, weder für dich noch für mich zu gewinnen. Doch komm nur und hör sie, und du wirst nicht mehr so leichtfertig von ihr reden.«

»Na, ich hätt schon halbwegs Lust, sie mir heut Abend mal anzugucken, wenn im Holly Bush nicht die rechte Gesellschaft ist. Was nimmt sie als Text? Vielleicht kannst mir das sagen, Seth, falls ich nicht rechtzeitig kommen sollte. Wird’s sein: ›Was seid ihr hinausgegangen? Eine Prophetin zu sehen? Ja, und ich sage euch, mehr noch als eine Prophetin‹ – ’ne ungewöhnlich hübsche junge Frau.«

»Hör mal, Ben«, sagte Adam recht streng, »lass die Worte der Bibel aus dem Spiel; du gehst jetzt zu weit.«

»Was denn! Machst du ’ne Kehrtwendung, Adam? Ich hab gedacht, du wärst neulich noch strikt dagegen gewesen, dass Frauen predigen?«

»Nein, ich mach überhaupt keine Wendung. Ich hab nichts über Frauen, die predigen, gesagt; ich hab gesagt, lass die Bibel aus dem Spiel; du hast doch ein Witzbuch, auf das du so stolz bist, oder? Behalt da deine schmutzigen Finger drin.«

»Ach, du wirst ja schon so ’n großer Heiliger wie Seth. Ich möcht meinen, du gehst heut zur Predigt. Du könntst gut das Singen anstimmen. Aber ich weiß nicht, was Pfarrer Irwine dazu sagen wird, wenn sein großer Favorit Adam Bede zum Methodisten wird.«

»Mach dir über mich nur keine Sorgen, Ben. Ich werd ebenso wenig Methodist wie du – obwohl’s wahrscheinlich genug ist, dass du Schlimmeres wirst. Meister Irwine hat Verstand genug, sich nicht einzumischen, wenn’s die Leute mit der Religion halten, wie sie wollen. Das ist zwischen ihnen und Gott, so hat er mir manches Mal gesagt.«

»Ja, ja, aber deshalb hat er die Dissenters doch nicht so gern.«

»Mag sein; ich hab Josh Tods Starkbier auch nicht so gern, aber trotzdem hinder ich dich nicht dran, dich damit zum Narren zu machen.«

Es gab Gelächter über diesen Hieb von Adam, doch Seth sagte sehr ernsthaft:

»Nein, nein, Addy, du darfst nicht sagen, dass irgendjemands Religion wie Starkbier ist. Du glaubst nur nicht, dass die Dissenters und die Methodisten den Kern der Sache ebenso gut erfasst haben wie die Kirchenleute.«

»Nein, Seth, Junge; ich bin nicht dafür, dass man über jemands Religion lacht. Sollen sie doch ihrem Gewissen folgen, und damit basta. Nur mein ich, ’s wär besser, wenn ihr Gewissen sie ruhig in der Kirche bleiben ließe – da gibt’s ’ne Menge zu lernen. Und es gibt auch so was wie Übervergeistigung; wir müssen noch was neben dem Evangelium auf dieser Welt haben. Guck dir die Kanäle an und die Aquädukte und die Bergwerksmaschinen und Arkwrights Spinnereien drüben in Cromford; ein Mann muss was außer dem Evangelium lernen, damit er solche Dinge machen kann, nehm ich an. Aber wenn man manche Prediger hört, dann könnt man meinen, dass ein Mann nichts andres in sei’m ganzen Leben tun muss als die Augen schließen und sehen, was in ihm drinnen vorgeht. Ich weiß, dass ein Mann die Liebe zu Gott in seiner Seele haben muss, und die Bibel ist Gottes Wort. Doch was sagt die Bibel? Nun, sie sagt, dass Gott seinen Geist dem Arbeiter gab, der das Heiligtum errichtete, um ihn all die Schnitzereien und die Dinge machen zu lassen, die eine geschickte Hand brauchten. Und so betracht ich es: Der Geist Gottes ist in allen Dingen und allen Zeiten – Werktag ebenso wie Sonntag – und in den großen Werken und Erfindungen und im Rechnen und in der Mechanik. Und Gott hilft uns bei unsrem Verstand und unsren Händen ebenso wie bei unsrer Seele; und wenn ein Mann ein paar Sachen außerhalb der Arbeitszeit macht – einen Ofen für seine Frau baut, damit sie nicht zum Backhaus gehen muss, oder in seinem Stückchen Garten scharrt und zwei Kartoffeln statt einer wachsen lässt, dann tut er mehr Gutes und ist Gott genauso nah, als wenn er hinter ’nem Prediger herläuft und immer nur betet und stöhnt.«

»Bravo, Adam!«, sagte Sandy Jim, der zu hobeln aufgehört hatte, um seine Bretter zu verrücken, während Adam sprach. »Das ist die beste Predigt, die ich seit langem gehört hab. Eben drum quält mich meine Frau schon seit ’nem Jahr, dass ich ihr ’n Ofen bauen soll.«

»Es steckt Vernunft in dem, was du sagst, Adam«, bemerkte Seth ernst. »Doch du weißt selbst, dass grad das Predigthören, an dem du so viel auszusetzen hast, schon manch einen müßigen Kerl in einen fleißigen verwandelt hat. Der Prediger ist’s, der das Wirtshaus leert; und wenn ein Mann sich zur Religion bekehrt, dann verrichtet er seine Arbeit dadurch keineswegs schlechter.«

»Nur lässt er manchmal bei den Türen die Füllungen weg, was, Seth?«, sagte Wiry Ben.

»Na, Ben, jetzt hast du was, womit du mich dein Lebtag lang aufziehen kannst. Doch es ist nicht die Religion, die dran schuld war; es war Seth Bede, der immer schon ein zerstreuter Bursche gewesen ist, und die Religion hat ihn nicht kuriert – desto bedauerlicher.«

»Gib nichts auf mich, Seth«, sagte Wiry Ben, »du bist schon ein rechter, gutherziger Bursche – Füllungen hin, Füllungen her –, und dir sträuben sich nicht gleich bei jedem kleinen Spaß die Haare, wie bei andren in deiner Verwandtschaft, wenn die auch klüger sein mögen.«

»Seth, Junge«, sagte Adam, ohne von dem gegen ihn selbst gerichteten Sarkasmus Notiz zu nehmen, »du darfst mich nicht für unfreundlich halten. Ich hab nicht auf dich gezielt mit dem, was ich grad sagte. Der eine betrachtet’s so, der andre so.«

»Nein, nein, Addy, du meinst es nicht unfreundlich mit mir«, sagte Seth. »Das weiß ich schon. Du bist wie dein Hund Gyp – du bellst mich manchmal an, aber hinterher leckst du mir immer die Hand.«

Alle Männer arbeiteten nun einige Minuten schweigend weiter, bis die Kirchturmuhr sechs zu schlagen begann. Bevor der erste Schlag noch verhallt war, hatte Sandy Jim schon seinen Hobel losgelassen und langte nach seiner Jacke, hatte Wiry Ben eine Schraube nur halb eingedreht und seinen Schraubenzieher in seinen Werkzeugkorb geworfen, hatte Mum Taft, der seinem Namen entsprechend während der vorherigen Unterhaltung geschwiegen hatte, seinen Hammer hingeschleudert, als er ihn gerade hochheben wollte, und auch Seth hatte seinen Rücken geradegereckt und streckte seine Hand nach der Papiermütze aus. Adam allein war in seiner Arbeit fortgefahren, als sei nichts geschehen. Doch als er den Stillstand der Werkzeuge bemerkte, sah er auf und sagte in einem Ton der Entrüstung:

»Nun seh sich das einer an! Ich kann es nicht ausstehen, wenn Männer ihr Werkzeug mit dem ersten Glockenschlag so wegwerfen, als ob ihnen ihre Arbeit keinen Spaß machte und sie Angst hätten, einen Schlag zu viel zu tun.«

Seth sah ein wenig schuldbewusst drein und verlangsamte seine Vorbereitungen zum Gehen, doch Mum Taft brach das Schweigen und sagte:

»Ja, ja, Adam, mein Freund, du redst wie ’n Junger. Wenn du erst sechsundvierzig bist wie ich statt sechsundzwanzig, dann wirst nimmer so großzügig damit sein, für umsonst zu arbeiten.«

»Unsinn«, sagte Adam, noch immer zornig, »was hat das Alter damit zu tun, möcht ich wissen? Du wirst doch wohl noch nicht steif, oder? Ich hasse es, wenn einem Mann die Arme runterfallen, als wär er erschossen, bevor die Uhr noch ganz geschlagen hat, grad als hätt er kein bisschen Stolz und Freude bei seiner Arbeit. Selbst der Schleifstein dreht sich noch ein bisschen weiter, nachdem man ihn losgelassen hat.«

»Verflixt noch mal, Adam!«, rief Wiry Ben aus. »Nun lass ein’ doch in Ruhe. Vor kurzem hattst du noch was an den Predigern auszusetzen – dabei predigst du ja selber nur zu gern. Du kannst Arbeit lieber mögen als Vergnügen, aber ich mag Vergnügen lieber als Arbeit; das wird dir zupasskommen – da bleibt dir umso mehr zu tun übrig.«

Mit dieser Abgangsrede, die er für wirkungsvoll hielt, schulterte Wiry Ben seinen Korb und verließ die Werkstatt, schnell gefolgt von Mum Taft und Sandy Jim. Seth blieb noch etwas und schaute Adam schweigend an, als erwarte er, dass dieser etwas sage.

»Gehst noch heim, eh du zur Predigt gehst?«, fragte Adam und schaute auf.

»Nein; ich hab meinen Hut und meine Sachen bei Will Maskery. Ich werd nicht vor zehn daheim sein. Vielleicht bring ich noch Dinah Morris nach Hause, wenn sie will. Es kommt nämlich keiner von den Poysers mit ihr, weißt du.«

»Dann sag ich Mutter, sie soll nicht auf dich warten«, sagte Adam.

»Du selbst gehst heut Abend nicht zu Poysers?«, fragte Seth schüchtern, als er sich umwandte, um die Werkstatt zu verlassen.

»Nein, ich geh zur Schule.«

Bis jetzt war Gyp auf seinem behaglichen Lager geblieben und hatte nur die Augen gehoben und Adam genauer beobachtet, als er die anderen Arbeiter gehen sah. Doch sobald Adam sein Lineal in die Tasche steckte und die Schürze um seine Taille zu wickeln begann, kam Gyp auch schon angelaufen und blickte in geduldiger Erwartung zu seinem Herrn auf. Hätte Gyp einen Schwanz gehabt, hätte er zweifellos damit gewedelt, doch da ihm dieser Vermittler seiner Gefühle fehlte, war es ihm wie vielen anderen werten Persönlichkeiten beschieden, phlegmatischer zu erscheinen, als die Natur ihn gemacht hatte.

»Na, bist bereit für den Korb, was, Gyp?«, sagte Adam in demselben sanften Ton, wie wenn er mit Seth sprach.

Gyp sprang hoch und bellte kurz, wie um zu sagen: »Natürlich.« Der arme Kerl, er hatte nicht viele Ausdrucksmöglichkeiten.

Es war der Korb, der an Werktagen Adams und Seths Essen enthielt, und kein Amtsträger bei einer Prozession konnte entschlossener an allen Bekannten vorbeischauen als Gyp, wenn er mit dem Korb seinem Herrn auf den Fersen folgte.

Adam verschloss die Tür, als er die Werkstatt verließ, zog den Schlüssel heraus und brachte ihn zu dem Haus auf der anderen Seite des Holzhofes. Es war ein niedriges Haus mit einem glatten grauen Strohdach und gelblichen Wänden, das freundlich und anheimelnd im Abendlicht lag. Die Bleifenster waren strahlend und fleckenlos, und die Türschwelle war so rein wie ein weißer Uferkiesel bei Ebbe. Auf der Türschwelle stand eine reinliche alte Frau in einem dunkelgestreiften Leinenkleid, einem roten Halstuch und einem Leinenhäubchen und redete mit ein paar gefleckten Federtieren, die sich in trügerischer Erwartung von kalten Kartoffeln oder Gerste offensichtlich zu ihr hingezogen fühlten. Die Augen der alten Frau schienen trübe, denn sie erkannte Adam nicht, bis er sagte:

»Hier ist der Schlüssel, Dolly; leg ihn bitte für mich ins Haus, ja?«

»Ja, gewiss, aber möchtst nicht reinkommen, Adam? Miss Mary ist im Haus, und Meister Burge wird gleich zurück sein; er würd sich sicher freuen, mit dir zu Abend zu essen.«

»Nein, Dolly, danke schön; ich bin auf dem Heimweg. Guten Abend.«

Adam eilte mit langen Schritten, Gyp ihm dicht auf den Fersen, aus dem Hof der Werkstatt und über die Landstraße, die vom Dorf ins Tal hinunterführte. Als er den Fuß des Abhanges erreichte, hielt ein älterer Reiter, den Mantelsack hinter sich geschnallt, sein Pferd an, als Adam an ihm vorübergegangen war, drehte sich um und warf noch einen langen Blick auf den kräftigen Arbeiter in Papiermütze, Lederhosen und dunkelblauen Wollstrümpfen.

Adam, der sich der Bewunderung, die er hervorrief, nicht bewusst war, wandte sich feldeinwärts und ließ nun die Melodie erschallen, die ihm schon den ganzen Tag im Kopf herumgegangen war:

»Lass all dein Reden aufrecht sein,

Dein Gewissen licht und klar und rein;

Denn Gottes Auge alles sieht,

Was du nur denkst und was geschieht.«

Kapitel 2

Die Predigt

Gegen Viertel vor sieben verbreitete sich eine ungewöhnliche Unruhe im Dorf Hayslope, und die ganze kleine Straße entlang, vom »Donnithorne Wappen« bis zum Kirchhofstor, lockte die Bewohnerinnen und Bewohner offensichtlich noch etwas anderes aus ihren Häusern hinaus ins Freie als nur das Vergnügen, sich im Abendsonnenschein zu ergehen. Das »Donnithorne Wappen« stand am Eingang des Dorfes, und ein kleiner Wirtschafts- und Schoberhof zu beiden Seiten zeigten an, dass ein hübsches Stück Pachtland zum Gasthaus gehörte, und versprachen dem Reisenden gute Kost für sich selbst und sein Pferd, was ihn wohl über die Unkenntnis hinwegtrösten mochte, in der ihn das verwitterte Schild hinsichtlich des Wappenbildes jenes alten Geschlechtes, der Donnithornes, beließ. Mr Casson, der Wirt, stand schon seit einiger Zeit an der Tür, die Hände in den Taschen, wippte auf Fersen und Zehen und blickte auf ein Stück nicht eingezäunten Landes mit einem Ahornbaum in der Mitte, von dem er wusste, dass es das Ziel gewisser ernst dreinschauender Männer und Frauen war, die er in Abständen hatte vorbeikommen sehen.

Mr Cassons Person war keinesfalls von der gewöhnlichen Art, über die man ohne Beschreibung hinweggehen kann. Von vorn gesehen schien sie hauptsächlich aus zwei Kugeln zu bestehen, die in etwa demselben Verhältnis zueinander standen wie die Erde zum Mond, das heißt, die untere Kugel mochte, grob geschätzt, etwa dreizehnmal so groß wie die obere sein, die natürlicherweise die Funktion eines bloßen Satelliten und Hilfskörpers erfüllte. Doch hier hörte die Ähnlichkeit auf, denn Mr Cassons Kopf war keineswegs ein melancholisch aussehender Satellit, noch war er ein »fleckiger Ball«, wie Milton den Mond respektlos nannte; im Gegenteil, kein Kopf und Gesicht konnten blanker und gesünder aussehen, und sein Ausdruck, der sich im Wesentlichen auf ein Paar runder, rötlicher Wangen beschränkte, da der kleine Knubbel und die Einschnitte, die Nase und Augen bildeten, kaum der Rede wert waren, zeugte von fröhlicher Zufriedenheit, welche nur durch ein Gefühl persönlicher Würde gemäßigt wurde, die sich gewöhnlich in seiner Haltung und seinem Gebaren bemerkbar machte. Dieses Gefühl der Würde konnte bei einem Mann, der fünfzehn Jahre lang Butler der »Familie« gewesen war und der in seiner gegenwärtigen hohen Position notwendigerweise viel mit Geringeren zu tun hatte, kaum als übertrieben betrachtet werden. Wie er seine Würde mit der Befriedigung seiner Neugier vereinbaren sollte, wenn er zum Anger ginge, war das Problem, das Mr Casson die letzten fünf Minuten im Kopf herumgegangen war, doch als er es teilweise gelöst hatte, indem er die Hände aus den Taschen nahm und sie in die Armlöcher seiner Weste steckte, seinen Kopf auf die Seite warf und sich ein Aussehen verächtlicher Gleichgültigkeit gegenüber allem zulegte, was in sein Blickfeld geraten mochte, wurden seine Gedanken durch das Herankommen des Reiters abgelenkt, den wir vor kurzem stehen bleiben und einen zweiten Blick auf unseren Freund Adam werfen sahen und der nun vor der Tür des »Donnithorne Wappens« haltmachte.

»Nimm ihm den Zaum ab und lass ihn trinken, Stallknecht«, sagte der Reisende zu dem Burschen im kurzen Kittel, der beim Geräusch der Pferdehufe aus dem Hof gekommen war.

»Was ist denn nur los in eurem hübschen Dorf, Wirt?«, fuhr er fort, während er absaß. »Da scheint einiges in Bewegung zu sein.«

»Es ist eine Methodistenpredigt, Sir; es heißt, dass eine junge Frau auf dem Anger predigen wird«, antwortete Mr Casson mit hoher, japsender Stimme und leicht näselndem, geziertem Akzent. »Beliebt es Ihnen hereinzukommen und eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen?«

»Nein, ich muss weiter nach Rosseter. Ich wollte nur mein Pferd trinken lassen. Und was sagt denn euer Pfarrer dazu, dass eine junge Frau hier genau vor seiner Nase predigt?«

»Pfarrer Irwine, Sir, wohnt nicht hier; er wohnt in Brox’on, hinter dem Hügel dort. Das Pfarrhaus hier ist baufällig, Sir, da können keine feinen Leute drin wohnen. Er kommt sonntagabends zum Predigen her, Sir, und stellt sein Pferd hier unter. Es ist ein kleiner Grauschimmel, Sir, und er hält große Stücke drauf. Er hat immer schon sein Pferd hier untergestellt, Sir, noch bevor ich das ›Donnithorne Wappen‹ hatte. Ich komme nicht aus dieser Gegend, wie Sie wohl an meiner Sprache hören können, Sir. Man redet merkwürdig hier in der Gegend, Sir. Die feinen Herrschaften haben’s schwer, dass sie die Leute verstehen. Ich bin bei feinen Herrschaften groß geworden, Sir, und hab ihren Zungenschlag mitgekriegt, als ich ein Junge war. Was meinen Sie wohl, was die Leute hier für den Marktort Treddleston sagen – die feinen Leute sagen nämlich ›Treddles-ton‹ – tja, die Leute hier in der Gegend sagen ›Treddles’on‹. Das nennt man nämlich die Allekt, die hier in der Gegend gesprochen wird, Sir. Das hab ich Squire Donnithorne schon viele Male sagen hören, das ist die Allekt, sagt er.«

»Ja, ja«, sagte der Fremde lächelnd. »Das kenne ich sehr gut. Aber ihr habt hier doch sicher nicht viele Methodisten – in diesem bäuerlichen Flecken. Ich hätte nicht gedacht, dass man hier so etwas wie einen Methodisten finden könnte. Ihr seid doch alle Bauern, oder? Bei denen können die Methodisten nur selten etwas ausrichten.«

»Nun, Sir, es gibt eine ganz hübsche Menge Arbeiter und Handwerker hier in der Gegend. Da ist Meister Burge, dem der Holzhof dort drüben gehört, der besorgt zum großen Teil die Bau- und Reparaturarbeiten. Und dann sind die Steinbrüche nicht weit, ’s gibt ’ne Menge Beschäftigung in diesem Landstrich, Sir. Und dann gibt’s da ein nettes Trüppchen Methodisten in Treddles’on – das ist ungefähr drei Meilen von hier, vielleicht sind Sie da durchgekommen, Sir. Es ist jetzt wohl ’n gutes Dutzend von denen, die von daher kommen, auf dem Anger. Da kriegen’s unsere Leute her, doch es gibt nur zwei Männer in ganz Hayslope, die dazugehören: das sind Will Maskery, der Stellmacher, und Seth Bede, ein junger Mann, der in der Zimmerei arbeitet.«

»Dann kommt die Predigerin aus Treddleston?«

»Nein, Sir, sie kommt aus Stonyshire, beinah dreißig Meilen weit. Aber sie ist hier zu Besuch – bei Meister Poyser auf der Hall Farm – die Scheunen und die großen Walnussbäume da links, Sir. Sie ist eine Nichte von Poysers Frau, und die werden sich schön ärgern, dass sie sich hier so zum Narren macht. Aber ich hab gehört, dass diese Methodisten durch nichts zu halten sind, wenn sie die Grille erst mal im Kopf haben – viele werden ganz und gar verrückt von ihrer Religion. Obwohl diese junge Frau, soweit ich ausmachen kann, eigentlich ganz ruhig aussieht; ich selbst hab sie noch nicht gesehen.«

»Tja, ich wünschte, ich hätte Zeit zu warten und sie zu sehen, doch ich muss weiter. Ich bin schon seit zwanzig Minuten vom Weg ab, um mir das Haus dort im Tal anzusehen. Es gehört Squire Donnithorne, nehme ich an?«

»Ja, Sir, das ist Donnithorne Chase. Schöne Eichen, was, Sir? Ich muss wohl wissen, was das für ’n Haus ist, Sir, denn ich bin dort fünfzehn Jahre Butler gewesen. Hauptmann Donnithorne ist der Erbe, Sir – Squire Donnithornes Enkel. Er wird dies Jahr zur Heuernte volljährig, Sir, da werden wir ordentlich zu feiern haben. Das ganze Land hier ringsum gehört ihm, dem Squire Donnithorne.«

»Nun, es ist ein schönes Fleckchen, wem immer es gehört«, sagte der Reisende und stieg auf sein Pferd, »und man trifft hier auch auf feine, stramme Burschen. Mir begegnete vor etwa einer halben Stunde, bevor ich den Hügel heraufkam, ein so feiner junger Bursche, wie ich ihn nur je in meinem Leben gesehen habe – ein Zimmermann, ein großer breitschultriger Bursche mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, der wie ein Soldat dahermarschierte. Wir brauchen solche Kerls wie ihn, um es den Franzosen zu zeigen.«

»Ja, Sir, das ist Adam Bede, da bin ich sicher – Thias Bedes Sohn –, jedermann hier in der Gegend kennt ihn. Er ist ein ungewöhnlich kluger, solider Bursche und wunderbar stark. Du mein Gott, Sir – Sie wollen das bitte nicht persönlich nehmen –, er kann vierzig Meilen am Tag gehen und an die acht Zentner heben. Er ist außerordentlich beliebt bei den feinen Herrschaften, Sir; Hauptmann Donnithorne und Pfarrer Irwine machen ordentlich Aufhebens um ihn. Aber er ist ein bisschen hochmütig und pfefferscharf.«

»Nun, ich wünsche guten Abend, Wirt; ich muss weiter.«

»Stets zu Diensten, Sir; guten Abend.«

Der Reisende ließ sein Pferd in schnellem Trab durchs Dorf gehen, doch als er sich dem Anger näherte, erwiesen sich die Schönheit des Ausblicks zu seiner Rechten und der einzigartige Kontrast, den die Gruppen der Dörfler und die Schar der Methodisten nahe dem Ahornbaum bildeten, und mehr noch vielleicht die Neugier, die junge Predigerin zu sehen, als zu viel für sein Bestreben, ans Ende seiner Reise zu gelangen, und er blieb stehen.

Der Anger lag am äußersten Ende des Dorfes, und von dort aus verzweigte sich die Straße in zwei Richtungen; die eine führte an der Kirche vorbei weiter den Hügel hinauf, und die andere wand sich sanft ins Tal hinunter. Auf der Seite des Angers, die zur Kirche hin lag, wurde die durchbrochene Reihe strohgedeckter Häuschen beinahe bis zum Kirchhofstor fortgesetzt; doch auf der gegenüberliegenden nordwestlichen Seite verstellte nichts den Blick auf sanft ansteigende Wiesen, bewaldetes Tal und dunkle, massige Hügel in der Ferne. Dieser üppige, wellige Bezirk von Loamshire, zu dem Hayslope gehörte, liegt dicht an einem unwirtlichen Ausläufer von Stonyshire und wird von dessen kahlen Hügeln überragt, wie man manchmal eine hübsche, blühende Schwester am Arm eines ruppigen, großen, dunklen Bruders sieht; und nach einem Ritt von zwei oder drei Stunden konnte ein Reisender eine öde, baumlose Gegend, durchschnitten von Linien kalten grauen Steins, gegen eine andere vertauschen; dort schlängelte sich seine Straße im Schutz von Wäldern dahin oder schwellende Hügel hinauf, eingebettet in Heckenzäune und hohes Wiesengras und dichtes Korn; dort traf er an jeder Biegung auf einen schönen alten Landsitz, der sich ins Tal schmiegte oder den Hang krönte, auf ein Gehöft mit langgezogener Scheune und einer Ansammlung goldener Schober oder auf einen grauen Kirchturm, der aus einem hübschen Gewirr von Bäumen und Strohdächern und dunkelroten Ziegeln hervorschaute. Genau dieses Bild hatte die Kirche von Hayslope dem Reisenden geboten, als er den sanften Hang, der zu dem freundlichen Hochland führte, hinaufzusteigen begann, und jetzt hatte er von seinem Standort nahe dem Anger mit einem Mal fast alle anderen typischen Züge dieses freundlichen Landes vor Augen. Hoch gegen den Horizont ragten die mächtigen kegelförmigen Massen der Hügel, wie Riesenschanzen, die diese Gegend voll Korn und Gras gegen die scharfen und hungrigen Winde des Nordens befestigen sollten; nicht fern genug, um in purpurnes Geheimnis gekleidet zu sein, sondern mit dunklen, grünlichen Seiten, sichtlich von Schafen gesprenkelt, deren Bewegung nur das Gedächtnis offenbarte, nicht aber der Blick entdeckte; Tag für Tag von den wechselnden Stunden umworben, ohne darauf jedoch selbst mit Wechsel zu antworten – auf immer blieben sie düster und grimmig nach der Röte des Morgens, den geflügelten Strahlen des Aprilmittags, der scheidenden dunkelroten Glorie der reifenden Sommersonne. Und unmittelbar darunter ruhte das Auge auf einer weiter hervortretenden Reihe am Hang liegender Wälder, die von leuchtenden Flecken Weideland oder Saatfurchen geteilt waren und sich noch nicht zu dem einheitlichen Blättervorhang des Hochsommers vertieft hatten, sondern erst die warmen Färbungen der jungen Eiche und das zarte Grün von Esche und Linde zeigten. Dann kam das Tal, wo die Wälder dichter wurden, als wären sie hinabgerollt und zusammengeeilt von den kahl gebliebenen Flecken auf dem Hang, damit sie desto besser Obacht geben könnten auf das hohe Herrenhaus, das seine Balustraden erhob und seinen schwachen blauen Sommerrauch zu ihnen aufsteigen ließ. Zweifellos lagen ein ausgedehnter Park und ein breiter gläserner Teich vor diesem Herrenhaus, doch der ansteigende Wiesenhang verhinderte, dass unser Reisender sie vom Dorfanger aus sehen konnte. Er sah stattdessen einen Vordergrund, der ebenso lieblich war – wie transparentes Gold lag das horizontale Sonnenlicht zwischen den sanft gebogenen Stielen des fedrigen Grases und des hohen roten Sauerampfers und den weißen Dolden des Schierlings, die die buschigen Heckenzäune säumten. Es war jener Augenblick im Sommer, wenn das Wetzgeräusch der Sense unsere Blicke auf den blumenbetupften Wiesenteppichen verweilen lässt.

Er hätte weitere Schönheiten der Landschaft sehen können, wenn er sich ein wenig im Sattel umgewandt und ostwärts über Jonathan Burges Weide und Holzhof hinweg auf die grünen Kornfelder und Walnussbäume der Hall Farm geschaut hätte, doch anscheinend interessierten ihn mehr die lebendigen Gruppen dicht vor ihm. Alle Generationen des Dorfes waren vertreten, vom alten Vater Taft mit seiner braunwollenen Nachtmütze, der beinahe bis zur Erde hinabgebeugt war, doch zäh genug zu sein schien, um sich lange Zeit auf den Beinen zu halten, wenn er sich auf seinen kurzen Stock stützte, bis hin zu den Säuglingen, mit ihren kleinen runden Köpfchen, die sich in den gefütterten Leinenmützen nach vorn neigten. Ab und zu kam jemand Neues, ein daherschlurfender Landarbeiter vielleicht, der, nachdem er sein Abendbrot gegessen hatte, herauskam, um sich mit trägem, stierem Blick die ungewöhnliche Szene anzusehen, bereit zu hören, was man als Erklärung dazu sagen mochte, doch keinesfalls angeregt genug, um eine Frage zu stellen. Doch alle gaben acht, sich nicht den Methodisten auf dem Anger beizugesellen und sich auf diese Weise mit der erwartungsvollen Zuhörerschaft zu identifizieren, denn es gab keinen unter ihnen, der nicht die Behauptung abgestritten hätte, er sei herausgekommen, um die »Predigerfrau« zu hören – sie waren nur herausgekommen, um zu sehen, »was denn da eigentlich vor sich gehe«. Die Männer hatten sich hauptsächlich in der Nähe der Schmiede versammelt. Doch man stelle sich nicht vor, sie stünden alle auf einem Haufen. Dörfler drängen sich nie zusammen – ein Geflüster ist bei ihnen unbekannt, und sie scheinen eines leisen Tons beinahe so unfähig wie eine Kuh oder ein Hirsch. Ein echter Bauer kehrt seinem Gesprächspartner den Rücken zu, wirft eine Frage über die Schulter, als wolle er vor der Antwort davonlaufen, und geht ein, zwei Schritte weiter, wenn der Dialog einen interessanten Höhepunkt erreicht. So war die Gruppe in der Nähe der Tür zur Schmiede keineswegs dichtgedrängt, und sie bildete keine Wand vor Chad Cranage, dem Schmied selbst, der, die schwarzen sehnigen Arme verschränkt, gegen den Türpfosten lehnte und gelegentlich ein brüllendes Lachen über seine eigenen Späße von sich gab, wodurch er ihnen deutlichen Vorzug vor den Sarkasmen Wiry Bens gab, der seinerseits den Vergnügungen des Holly Bush entsagt hatte, um das Leben in einer neuen Form kennenzulernen. Beide Arten von Witz jedoch wurden von Mr Joshua Rann gleichermaßen mit Verachtung behandelt. Mr Ranns lederne Schürze und gemäßigte Schmutzigkeit können niemanden im Zweifel darüber lassen, dass er der Dorfschuster ist; das Vorstrecken von Kinn und Bauch und das Daumendrehen sind feinere Hinweise, die unbedachte Fremde auf die Entdeckung vorbereiten sollen, dass sie sich in Gegenwart des Gemeindekantors befinden. »Old Joshway«, wie er respektlos von seinen Nachbarn genannt wird, befindet sich in einem Zustand brodelnder Empörung; doch bis jetzt hat er die Lippen noch nicht geöffnet, außer um in einem hallenden Basston, dem Stimmen eines Violoncello ähnlich, zu murmeln: »Sihon, der Amoriter König, denn seine Güte währet ewiglich; und Og, den König von Basan, denn seine Güte währet ewiglich« – ein Zitat, das wenig mit der gegenwärtigen Situation zu tun zu haben scheint; doch wie bei jeder anderen Anomalie wird entsprechende Kenntnis zeigen, dass es sich um eine natürliche Folge handelt. Mr Rann hielt angesichts dieses skandalösen Einbruchs des Methodismus die Würde der Kirche innerlich aufrecht, und da diese Würde untrennbar mit seinem eigenen sonoren Sprechen der Responsorien verbunden war, legte seine Argumentation natürlich ein Zitat aus dem Psalm nahe, den er am letzten Sonntagnachmittag vorgelesen hatte.

Die stärkere Neugier der Frauen hatte sie ganz nah an den Rand des Angers gezogen, wo sie die quäkerhafte Kleidung und das merkwürdige Gebaren der weiblichen Methodisten genauer in Augenschein nehmen konnten. Unter dem Ahornbaum stand ein kleiner Karren, der vom Stellmacher gebracht worden war, um als Kanzel zu dienen, und um ihn herum hatte man ein paar Bänke und Stühle gestellt. Einige der Methodisten saßen darauf mit geschlossenen Augen wie in Gebet oder Meditation versunken. Andere blieben lieber stehen und hatten ihre Gesichter mit einem Ausdruck melancholischen Mitleids den Dörflern zugewandt, sehr zur Belustigung von Bessy Cranage, des Schmieds drallem Töchterlein, die bei ihren Nachbarn als Chads Bess bekannt war und sich fragte, »warum die Leute denn nur solche Gesichter zogen«. Chads Bess war das Objekt besonderen Mitleids, weil ihr Haar unter einem Häubchen zurückgenommen war, das oben auf dem Kopf thronte, und so einen Schmuck sehen ließ, auf den sie viel stolzer war als auf ihre roten Wangen, nämlich ein Paar großer runder Ohrringe mit falschen Granaten darin, Schmuckstücke, die nicht nur die Methodisten verdammten, sondern auch ihre eigene Kusine und Namensvetterin Timothys Bess, die mit viel Kusinengefühl oft wünschte, dass es mit den Ohrringen ein Ende haben möchte.

Timothys Bess war, obwohl sie bei Angehörigen und Freunden diesen Namen aus ihrer Mädchenzeit beibehalten hatte, schon seit langem Sandy Jims Frau und besaß eine hübsche Reihe von Juwelen, wie sie einem Eheweib gebühren und von denen man nur den schweren Säugling zu erwähnen braucht, den sie in ihren Armen wiegte, und den wackeren Burschen von fünf Jahren in Kniehosen und roten Strümpfen, der eine rostige Milchkanne als Trommel um den Hals trug und von Chads kleinem Terrier sorgsam gemieden wurde. Dieser hoffnungsvolle Sprössling, berüchtigt unter dem Namen Timothys Bess’ Ben, war immer in Erkundungslaune, die nicht durch falsche Bescheidenheit gehemmt wurde, und so hatte er sich aus der Gruppe der Frauen und Kinder entfernt und ging um die Methodisten herum, sah ihnen mit weit offenem Mund ins Gesicht und schlug dabei als musikalische Begleitung mit einem Stock gegen die Milchkanne. Doch als sich eine der älteren Frauen zu ihm herabbeugte, um ihn mit einem Ausdruck ernster Ermahnung bei der Schulter zu fassen, da trat Timothys Bess’ Ben erst kräftig zu und nahm dann Reißaus, um hinter seines Vaters Beinen Zuflucht zu suchen.

»Du kleiner Galgenstrick«, sagte Sandy Jim mit einigem väterlichen Stolz, »wenn du den Stock nicht ruhig hältst, dann nehm ich ihn dir weg. Was soll ’n das heißen, Leute treten?«

»Hier, gib ihn mir her, Jim«, sagte Chad Cranage; »ich bind ’n fest und beschlag ’n wie die Gäule. Na, Meister Casson«, fuhr er fort, als diese Persönlichkeit auf die Gruppe der Männer zugeschlendert kam, »wie geht’s Ihnen heut Abend? Wolln Sie stöhnen helfn? ’s heißt, die Leute stöhnen immer, wenn sie ’n Methodisten zuhörn, als ob’s ihnen im Innern schlecht wär. Ich will so laut stöhnen wie Ihre Kuh neulich nachts, dann denkt die Predigerin, ich wär auf’m rechten Weg.«

»Ich möcht Ihnen raten, keinen Unsinn zu machen, Chad«, sagte Mr Casson mit einiger Würde. »Poyser würd’s nicht gern hören, dass die Nichte seiner Frau in irgendeiner Weise respektlos behandelt wird, wenn er’s vielleicht auch selbst nicht gernhat, dass sie sich anheischig macht zu predigen.«

»Ja, und dann sieht sie auch noch nett aus«, sagte Wiry Ben. »Ich bin dafür, dass hübsche Frauen predigen, ich weiß, dass sie mich ’n gutes Stück eher rumkriegen als hässliche Männer. Ich würd mich nicht wundern, wenn ich Methodist wär, bevor der Abend rum ist, und anfing, der Predigerin den Hof zu machen wie Seth Bede.«

»Tja, Seth will da wohl zu hoch hinaus, mein ich«, sagte Mr Casson. »Die Angehörigen dieser Frau würden’s nicht wollen, dass sie sich zu ’nem gewöhnlichen Zimmermann herabließ.«

»Phhh!«, machte Ben in langgezogenem Ton, »was haben die Angehörigen von Leuten damit zu tun? – Nicht ’s Geringste. Poysers Frau mag ja die Nase hoch tragen und Vergangnes vergessen, aber diese Dinah Morris ist, soweit ich gehört hab, so arm wie nur was – arbeitet in ’ner Spinnerei und muss sich placken, damit sie ’n Auskommen hat. ’n strammer junger Zimmermann, der schon ’n fertiger Methodist ist wie Seth, wär keine schlechte Partie für sie. Und Poysers machen ja auch um Adam Bede ein Getu’, als wenn’s ihr eigner Neffe wär.«

»Dummes Gerede, dummes Gerede!«, sagte Mr Joshua Rann. »Adam und Seth, das sind zwei Männer; man kann sie nicht beide über einen Leisten schlagen.«

»Mag sein«, sagte Wiry Ben verächtlich, »aber Seth ist der rechte Bursch für mich, und wenn er zweimal Methodist wär. Ich komm gut mit Seth aus, denn ich neck ihn schon, seit wir zusammen arbeit’n, und er ist mir so wenig bös wie ’n Lamm. Und er ist auch ’n beherzter Bursch, denn wie wir mal nachts, wo wir durch die Felder kamen, den alten Baum lichterloh brennen sahn, und dachten, ’s wär ’n Teufelsgeist, da hat Seth nicht viel Geschrei gemacht, sondern ist kühn wie ’n Konstabler drauflosgangen. Ach, da kommt er ja von Will Maskery, und da ist auch Will selbst und sieht so lammfromm aus, als ob er kein’ Nagel auf ’n Kopf kloppen könnt, aus Angst, er tät ihm weh. Und da ist die hübsche Predigerin! Meiner Treu, sie hat die Haube ab. Ich muss ’n bisschen näher rangehn.«

Mehrere der Männer folgten Bens Führung, und der Reisende trieb sein Pferd dem Anger zu, als Dinah ziemlich schnell und vor ihren Gefährten her auf den Karren unter dem Ahornbaum zuging. Neben Seths hochgewachsener Gestalt sah sie klein aus, doch als sie den Karren bestiegen hatte und allem Vergleich enthoben war, schien sie mehr als mittelgroß für eine Frau zu sein, was sie in Wirklichkeit nicht war – eine Wirkung, die auf der Schlankheit ihrer Gestalt und dem schlichten Schnitt ihres schwarzen Tuchkleides beruhte. Der Fremde war sehr überrascht, als er sie kommen und den Karren besteigen sah – überrascht nicht so sehr über die weibliche Zartheit ihrer Erscheinung, sondern vielmehr über die Natürlichkeit ihres Verhaltens. Er hatte sich darauf eingestellt, sie mit gemessenem Schritt und einer Miene sittsamer Feierlichkeit herankommen zu sehen; er war sicher gewesen, dass ihr Gesicht mit dem Lächeln bewusster Heiligkeit überzogen oder von anklagender Bitterkeit erfüllt sein würde. Er kannte nur zwei Arten von Methodisten – die ekstatischen und die galligen. Doch Dinah schritt so einfach, als ginge sie zum Markt, und schien sich ihrer äußeren Erscheinung so wenig bewusst wie ein kleiner Junge – kein Erröten, kein Beben, das besagte: »Ich weiß, dass ihr mich für eine hübsche Frau haltet, und zu jung zum Predigen«, kein Aufschlagen oder Senken der Augenlider, kein Zusammenpressen der Lippen, keine Haltung der Arme, die besagte: »Aber ihr müsst von mir als einer Heiligen denken.« Sie hielt kein Buch in ihren unbehandschuhten Händen, sondern ließ sie leicht gekreuzt vor sich herabhängen, während sie dastand und ihre grauen Augen auf die Leute richtete. In ihren Augen war keine Schärfe, sie schienen eher Liebe zu verströmen, als Beobachtungen zu machen; sie hatten den wasserhellen Blick, der zeigt, dass der Geist erfüllt ist von dem, was er zu geben hat, und nicht beeindruckt von äußeren Dingen. Sie stand mit der Linken zur untergehenden Sonne, und die belaubten Äste schirmten deren Strahlen ab; doch in diesem nüchternen Licht schien die zarte Färbung ihres Gesichtes eine ruhige Lebendigkeit zu gewinnen wie Blumen am Abend. Es war ein kleines ovales Gesicht von gleichmäßigem, durchsichtigem Weiß, mit eiförmigem Umriss von Wange und Kinn, einem vollen, doch festen Mund, zarten Nasenflügeln und einer kurzen, geraden Stirn, über der sich ein Scheitelbogen zwischen weichen Locken aus blassrötlichem Haar erhob. Das Haar war hinter den Ohren straff zurückgenommen und bis auf ein oder zwei Zoll über der Stirn von einem Quäkerhäubchen aus Netzstoff bedeckt. Die Augenbrauen, von derselben Farbe wie das Haar, waren völlig waagrecht und klar gezeichnet; die Wimpern waren, obschon nicht dunkler, so doch lang und dicht; nichts war verschwommen oder unfertig. Es war eines jener Gesichter, die einen an weiße Blumen mit leichten Farbschattierungen auf ihren reinen Blütenblättern denken lassen. Die Augen besaßen keine besondere Schönheit außer der des Ausdrucks; sie blickten so schlicht, so aufrichtig, so ernsthaft liebend, dass es kein missbilligendes Stirnrunzeln und kein leichtfertiges Hohnlächeln gab, das vor ihrem Blick nicht dahingeschmolzen wäre. Joshua Rann ließ ein langes Husten hören, als müsse er sich räuspern, um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen; Chad Cranage lüftete sein ledernes Käppchen und kratzte sich am Kopf, und Wiry Ben fragte sich, wie Seth den Schneid haben konnte, ihr den Hof machen zu wollen.

»Eine liebreizende Frau«, sagte der Fremde zu sich, »doch gewiss hat die Natur sie niemals zur Predigerin bestimmt.«

Vielleicht war er einer von denen, die meinen, dass die Natur über Theaterrequisiten verfügt und mit der rücksichtsvollen Absicht einer Unterstützung durch Kunst und Psychologie ihre Charaktere ausstaffiert, so dass man sich in ihnen nicht irren kann. Doch Dinah begann zu sprechen.

»Liebe Freunde«, sagte sie in einer klaren, doch nicht lauten Stimme, »lasst uns um den Segen beten.«

Sie schloss die Augen, senkte ihren Kopf ein wenig und fuhr im selben gemäßigten Ton fort, als spräche sie mit jemandem ganz in der Nähe:

»Heiland der Sünder! Als eine arme Frau, von Sünden beladen, zum Brunnen ging, um Wasser zu schöpfen, da fand sie Dich am Brunnen sitzend. Sie kannte Dich nicht, sie hatte Dich nicht gesucht, ihr Geist war dunkel, ihr Leben war unheilig. Doch Du sprachst zu ihr, Du lehrtest sie, Du zeigtest ihr, dass ihr Leben offen vor Dir lag, und doch warst Du bereit, ihr den Segen zu geben, nach dem sie nie getrachtet hatte. Jesus! Du bist in unserer Mitte, und Du kennst alle Menschen: Wenn solche hier sind wie jene arme Frau – wenn ihr Sinn dunkel ist, ihr Leben unheilig – wenn sie herausgekommen sind, ohne Dich zu suchen, ohne zu wünschen, belehrt zu werden, dann handle an ihnen gemäß dem freien Erbarmen, das Du jener zeigtest. Sprich zu ihnen, Herr, öffne ihr Ohr für meine Botschaft, richte ihren Sinn auf ihre Sünden und lasse sie dürsten nach jenem Heil, das Du zu geben bereit bist.

Herr! Du bist noch immer mit Deinem Volk. Sie sehen Dich in den Nachtwachen, und ihr Herz brennt in ihnen, wenn Du auf dem Wege mit ihnen redest. Und Du bist nahe denen, die Dich noch nicht kennen: Öffne ihre Augen, dass sie Dich sehen – sehen, wie Du über sie weinst und sagst: ›Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr das Leben habt‹ – sehen, wie Du am Kreuz hängst und sagst: ›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‹ – sehen, wie Du wiederkommen wirst in Deiner Herrlichkeit, um sie zu richten am Ende der Tage. Amen.«

Dinah öffnete die Augen wieder, machte eine Pause und schaute auf die Gruppe der Dörfler, die sich jetzt näher zu ihrer Rechten versammelt hatten.

»Liebe Freunde«, begann sie mit ein wenig erhobener Stimme, »ihr seid alle schon einmal in der Kirche gewesen, und ich denke, dass ihr den Geistlichen diese Worte habt lesen hören: ›Der Geist des Herrn ist bei mir, weil er mich gesalbt hat, den Armen das Evangelium zu verkünden.‹ Jesus Christus sprach diese Worte – er sagte, er sei gekommen, um den Armen das Evangelium zu verkünden. Ich weiß nicht, ob ihr je viel über diese Worte nachgedacht habt, doch ich will euch erzählen, wann ich mich erinnere, sie zuerst gehört zu haben. Es war an gerade so einem Abend wie dem heutigen, als ich ein kleines Mädchen war, und meine Tante, die mich aufzog, nahm mich mit, um einen guten Mann im Freien predigen zu hören, so wie wir hier sind. Ich erinnere mich gut an sein Gesicht: Er war ein sehr alter Mann und hatte sehr langes weißes Haar; seine Stimme war sehr sanft und schön, anders als alle Stimmen, die ich je gehört hatte. Ich war ein kleines Mädchen und wusste kaum etwas, und dieser alte Mann schien mir so verschieden von allen, die ich je zuvor gesehen hatte, dass ich dachte, er sei vielleicht vom Himmel herabgekommen, um zu uns zu predigen, und ich sagte: ›Tante, wird er heute Abend wieder in den Himmel zurückgehen wie auf dem Bild in der Bibel?‹

Dieser Mann Gottes war Mr Wesley, der sein Leben damit zubrachte, zu tun, was unser heiliger Herr tat – den Armen das Evangelium zu verkünden –, und er ist vor acht Jahren für immer zur Ruhe gegangen. Jahre später erfuhr ich mehr über ihn, doch damals war ich ein törichtes, gedankenloses Kind, und ich erinnerte mich nur an eines, das er uns in seiner Predigt sagte. Er sagte uns, dass ›Evangelium‹ ›frohe Botschaft‹ bedeutet. Das Evangelium ist, wie ihr wisst, was die Bibel uns von Gott erzählt.

Stellt euch das nun vor! Jesus Christus kam wirklich vom Himmel herab, wie ich, ein dummes Kind, es von Mr Wesley geglaubt hatte, und er kam, den Armen die frohe Botschaft von Gott zu bringen. Nun, ihr und ich, liebe Freunde, wir sind arm. Wir sind in ärmlichen Hütten aufgewachsen, mit Haferkuchen aufgezogen worden und haben ein raues Leben geführt, wir sind nicht viel in der Schule gewesen, haben keine Bücher gelesen, und wir wissen nicht viel außer dem, was unmittelbar um uns her geschieht. Wir sind genau die Art von Leuten, die frohe Botschaft hören wollen. Denn wenn es jemandem gutgeht, dann kümmert es ihn nicht viel, Nachricht aus der Fremde zu hören; doch wenn ein armer Mann oder eine Frau in Nöten sind und hart arbeiten müssen, damit es zum Leben reicht, dann bekommen sie gern einen Brief, der ihnen sagt, dass sie einen Freund haben, der ihnen helfen will. Gewiss können wir nicht umhin, etwas von Gott zu wissen, selbst wenn wir nie das Evangelium gehört haben, die frohe Botschaft, die uns unser Heiland gebracht hat. Denn wir wissen, dass alles von Gott kommt; sagt ihr nicht beinah jeden Tag: ›Dies oder jenes wird passieren, so Gott will‹, und: ›Wir werden bald anfangen, das Gras zu mähen; gebe Gott, dass die Sonne noch ein bisschen mehr scheint.‹ Wir wissen sehr gut, dass wir gänzlich in Gottes Hand sind: Wir brachten uns nicht selbst auf die Welt, wir können uns nicht am Leben halten, während wir schlafen; das Tageslicht und der Wind und das Korn und die Kühe, die uns Milch geben – alles, was wir haben, kommt von Gott. Und er gab uns unsere Seele und ließ Liebe sein zwischen Eltern und Kindern und Mann und Frau. Ist das aber nun alles, was wir von Gott wissen wollen? Wir sehen, dass er groß und mächtig ist und tun kann, was er will; wir sind verloren, als kämpften wir in tiefen Wassern, wenn wir versuchen, an ihn zu denken.

Doch vielleicht kommen euch solcherlei Zweifel in den Sinn: Kann Gott uns armen Leuten viel Beachtung schenken? Vielleicht machte er die Welt nur für die Großen und die Weisen und die Reichen. Es kostet ihn nicht viel, uns unsere kleine Handvoll Nahrung und ein bisschen Kleidung zu geben; doch wie wissen wir, dass er sich mehr um uns sorgt, als wir uns um die Würmer und dergleichen im Garten sorgen, sofern wir Karotten und Zwiebeln ziehen? Wird Gott sich um uns kümmern, wenn wir sterben? Und hat er Trost für uns, wenn wir lahm und krank und hilflos sind? Vielleicht zürnt er uns auch, denn woher kommen sonst der Mehltau und die schlechten Ernten und das Fieber und Schmerzen und Nöte aller Art? Denn unser Leben ist voller Nöte, und wenn Gott uns Gutes schickt, so scheint er uns auch Schlimmes zu schicken. Wie geht das zu? Wie geht das zu?

Ach, liebe Freunde, wir brauchen so dringend frohe Botschaft von Gott, und was bedeuten andere frohe Botschaften, wenn wir diese nicht haben? Denn alles andre kommt an ein Ende, und wenn wir sterben, lassen wir alles zurück. Doch Gott währt noch, wenn alles andre vergangen ist. Was sollen wir tun, wenn er nicht unser Freund ist?«

Dann erzählte Dinah, wie die frohe Botschaft gebracht worden war und wie sich Gottes Sinn für die Armen im Leben Jesu kundgetan hatte, indem sie bei dessen Niedrigkeit und dessen Werken der Barmherzigkeit verweilte.

»Ihr seht also, liebe Freunde«, fuhr sie fort, »dass Jesus seine Zeit fast ganz damit verbrachte, armen Leuten Gutes zu tun; er predigte im Freien zu ihnen, und er machte arme Arbeiter zu seinen Freunden und lehrte sie und mühte sich mit ihnen. Nicht, dass er nicht auch den Reichen Gutes getan hätte, denn er war voller Liebe zu allen Menschen, nur sah er, dass die Armen seiner Hilfe dringender bedurften. So heilte er die Lahmen und die Kranken und die Blinden, und er wirkte Wunder, um die Hungrigen zu speisen, weil, wie er sagte, sie ihn jammerten; und er war sehr gütig zu den kleinen Kindern und tröstete die, welche ihre Angehörigen verloren hatten, und er sprach sehr liebevoll mit armen Sündern, denen ihre Sünden leidtaten.

Ach! Würdet ihr einen solchen Mann nicht lieben, wenn ihr ihn sähet – wenn er hier in diesem Dorf wäre? Welch ein gütiges Herz müsste er haben! Welch ein Freund wäre er, zu dem man in Nöten gehen könnte! Wie schön müsste es sein, von ihm gelehrt zu werden!

Nun, liebe Freunde, wer war dieser Mann? War er nur ein guter Mann – ein sehr guter Mann und nicht mehr – wie unser lieber Mr Wesley, der von uns genommen ist? … Er war der Sohn Gottes – ›nach dem Ebenbild des Vaters‹, sagt die Bibel, das heißt, genauso wie Gott, der Anfang und Ende aller Dinge ist – der Gott, von dem wir wissen wollen. So ist denn alle Liebe, die Jesus den Armen erwies, dieselbe Liebe, die Gott für uns hat. Wir können verstehen, was Jesus fühlte, weil er in einem Leib kam wie dem unsrigen und Worte sprach, wie wir sie zueinander sprechen. Wir fürchteten uns zuvor, zu denken, wer Gott wäre – der Gott, der die Welt gemacht hat und den Himmel und den Donner und den Blitz. Wir konnten ihn niemals sehen; wir konnten nur die Dinge sehen, die er gemacht hatte; und manches dieser Dinge war ganz schrecklich, so dass wir wohl zittern mochten, wenn wir an ihn dachten. Doch unser heiliger Heiland hat uns auf eine Weise gezeigt, wer Gott ist, die wir armen unwissenden Leute verstehen können; er hat uns gezeigt, was Gottes Herz ist, was seine Gefühle für uns sind.

Doch lasst uns ein wenig mehr darüber nachdenken, weswegen Jesus auf die Erde kam. Er sagte einmal: ›Ich kam, um zu suchen und zu retten, was verloren ist‹, und ein andres Mal: ›Ich kam nicht, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder zur Umkehr.‹

Die Verlorenen! … Sünder! … Ach, liebe Freunde, heißt das euch und mich?«

Bis jetzt war der Reisende gegen seinen Willen an die Stelle gebannt gewesen durch den Zauber von Dinahs sanften, hohen Tönen, die einen Reichtum an Modulation besaßen wie ein feines Instrument, das mit dem unbewussten Geschick des musikalischen Instinkts berührt wird. Die schlichten Dinge, die sie sagte, schienen etwas ganz Neues zu sein, wie eine Melodie uns mit einem neuen Gefühl erfüllt, wenn wir sie von der reinen Stimme eines Chorknaben gesungen hören; die ruhige Tiefe der Überzeugung, mit der sie sprach, schien in sich ein Beweis für die Wahrheit ihrer Botschaft. Er sah, dass sie ihre Hörer gänzlich gefesselt hatte. Die Dörfler hatten sich näher an sie herangedrängt, und nichts anderes mehr als ernste Aufmerksamkeit lag auf allen Gesichtern. Sie sprach langsam, doch recht flüssig, wobei sie oft eine Pause nach einer Frage oder vor dem Übergang zu einem neuen Gedanken machte. Sie änderte ihre Haltung nicht und machte keine Gebärde; die Wirkung ihrer Rede wurde allein durch die Nuancen ihrer Stimme hervorgerufen; und als sie an die Frage kam: »Wird Gott sich um uns kümmern, wenn wir sterben?«, sprach sie in einem solchen Ton klagender Beschwörung, dass einigen der Hartgesottensten Tränen in die Augen stiegen. Der Fremde hatte aufgehört zu zweifeln, wie er es auf den ersten Blick getan hatte, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer raueren Hörer fesseln könnte, doch er fragte sich immer noch, ob sie jene Macht hätte, deren heftigere Gefühle zu erregen, die sicherlich ein notwendiges Siegel ihrer Berufung zur Methodistenpredigerin sein musste, bis sie an die Worte kam: »Verlorene! – Sünder!«, und eine große Veränderung in ihrer Stimme und ihrem Verhalten vor sich ging. Sie hatte eine lange Pause vor dem Ausruf gemacht, und die Pause schien erfüllt von aufwühlenden Gedanken, die sich in ihren Zügen zeigten. Ihr blasses Gesicht wurde noch blasser, die Ringe unter ihren Augen vertieften sich, wie sie es tun, wenn Tränen halb aufsteigen, ohne zu fallen; und die milden, liebevollen Augen nahmen einen Ausdruck entsetzten Mitleids an, als habe sie plötzlich einen verheerenden Engel über den Köpfen der Menschen wahrgenommen. Ihre Stimme wurde tief und gedämpft, doch noch immer machte sie keine Gebärde. Nichts konnte dem gewöhnlichen Typus eines Wanderpredigers unähnlicher sein als Dinah. Sie predigte nicht, wie sie andere predigen hörte, sondern sprach unmittelbar aus ihren eigenen Empfindungen heraus und unter der Eingebung ihres eigenen schlichten Glaubens.

Doch jetzt war sie in einen neuen Gefühlsstrom eingetaucht. Ihr Verhalten wurde unruhiger, ihr Sprechen schneller und erregter, als sie versuchte, den Menschen ihre Schuld deutlich zu machen, ihre willentliche Dunkelheit, ihren Zustand des Ungehorsams gegenüber Gott – als sie beim Hassenswerten der Sünde verweilte, bei der göttlichen Heiligkeit und den Leiden des Heilandes, durch die ein Weg zu ihrem Heil aufgetan worden war. Schließlich schien es, als könne sie in ihrem sehnenden Verlangen, die verlorenen Schafe zurückzuholen, sich nicht damit zufriedengeben, ihre Zuhörer als Gruppe anzusprechen. Sie wandte sich erst an den einen, dann an den anderen und beschwor sie unter Tränen, sich Gott zuzuwenden, solange noch Zeit sei; und sie malte ihnen die Trostlosigkeit ihrer Seelen aus, die, in Sünde verloren, sich von den Schoten dieser erbärmlichen Welt ernährten, weit entfernt von Gott dem Vater, und dann die Liebe des Heilandes, der ausschauend auf ihre Rückkehr wartete.

Ein vielfältiges Seufzen und Stöhnen kam als Erwiderung von den übrigen Methodisten, doch der Geist von Dörflern fängt nicht so leicht Feuer, und eine schwelende kleine unbestimmte Beklemmung, die leicht wieder erlöschen konnte, war das Äußerste, was Dinahs Predigt gegenwärtig in ihnen bewirkt hatte. Doch niemand hatte sich zurückgezogen außer den Kindern und dem alten Vater Taft, der, da er zu taub war, um viele Worte zu verstehen, vor einiger Zeit in seinen Winkel beim Herd zurückgekehrt war. Wiry Ben fühlte sich sehr unbehaglich und wünschte fast, er wäre nicht gekommen, um Dinah zu hören; er meinte, was sie sagte, würde ihn irgendwie verfolgen. Doch er konnte nicht umhin, sie gern anzuschauen und ihr zuzuhören, obwohl er fürchtete, dass sie jeden Augenblick ihre Augen auf ihn richten und ihn besonders ansprechen würde. Sie hatte bereits Sandy Jim angesprochen, der nun den Säugling hielt, um seine Frau zu entlasten, und der große, weichherzige Mann hatte sich mit der Faust ein paar Tränen weggerieben mit der verwirrten Absicht, ein besserer Kerl zu werden, weniger oft zum Holly Bush unten bei den Steinbrüchen zu gehen und sich sonntags regelmäßiger zu waschen.