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Die drei sind ziemlich oft zusammen: Bonifaz Pfaff, Rentner und »schon seit ewig« Eintracht-Fan, seine Enkeltochter Lilli Pfaff, neun Jahre, Viertklässlerin und eisenharte linke Verteidigerin in der Jungenmannschaft beim SV Blau-Gelb Frankfurt, sowie »Adler«, der eigentlich ein Papagei ist. »Adlerträger – Lilli Pfaff und die Geschichte von Eintracht Frankfurt« ist genau genommen ein »Eintracht-Jahrhundert-Buch mit Illustrationen und Kurzcomics«! Vor allem auch die jüngere Vergangenheit kommt ausführlich zu Wort. Nicht so richtig ernst erzählt von Henni Nachtsheim und auch nicht so ganz ernst gezeichnet von Michael Apitz! Ein Eintracht-Buch für die ganze Familie!
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Seitenzahl: 180
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Henni NachtsheimMichael Apitz
Lilli Pfaff und die Geschichte vonEintracht Frankfurt
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
4. Auflage© 2022 Mentoren-Media-Verlag,Königsberger Str. 16, 55218 Ingelheim am Rhein in Kooperation mit Batz Books
Illustrator: Michael ApitzIllustrationsassistenz: Katharina ApitzUmschlaggestaltung: Nadine Nagel, MainzUmschlagabbildungen: Michael ApitzSatz und Layout: Sarah Küper, MainzDruck und Bindung: MCP, Marki, Polen
ISBN: 978-3-98641-073-5
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
www.herodot-verlag.de
Vorwort
Unsere Hauptdarsteller
Europacup
Frau Horst und das liebe Geld
Warum heißt man wie man heißt …?
Fußball-Engel
Ballett
Von Glückseichen und pechbringenden Wurstverkäufern
Die »Annern«
Seelenverwandtschaft und lange Haare
Renovierungen
Was man im Sitzen alles machen kann …
Die Drachenbezwingerin!
Heldengalerie
Germany’s oldest Eintracht-Model
Im Eintracht-Museum
Boxen live
Wie schlimm ist schon Sitzenbleiben …
Volltreffer!
Dalai Pfaff
King Duck und der rotschwarze Regenbogen
Die Kutte
Drei Träume
Spitzen T-Shirt
Eine Frage des Blickwinkels
Geheimniskrämerei
Das Ding!
Jede Menge Volksfeste!
Der neue Feiertag
Das letzte Wort!
Dank
Das Dreamteam des Bonifaz Pfaff
Erstmal herzlich willkommen zu unserer 4. Auflage von »Adlerträger«! Oder wie wir auch gerne sagen … Gude!
Sollte jemand schon ein Exemplar aus einer der vorherigen Auflagen besitzen, wird ihm oder ihr auffallen, dass dieses hier dicker und ein bisschen schwerer ist als die früheren.
Das liegt ganz einfach daran, dass wir die jüngere Geschichte bzw. die zeitnahen Ereignisse nicht ignorieren können!
Was wäre ein aktuelles Buch über die Historie von Eintracht Frankfurt ohne die herausragende Geschichte der gewonnenen Europa-League?
Und so haben wir es wie schon 2019, nach dem Sieg im DFB-Pokalfinale und der anschließenden Reise durch Europa, gemacht: wir haben ein neues, weiteres Kapitel geschrieben und gezeichnet!
Unser Buch ist also wieder auf dem neuesten Stand. Und sollte die Eintracht in den nächsten Jahren Deutscher Meister werden und/oder die Champions-League gewinnen, müssen wir halt wieder ran. Klar, irgendwann kann es sein, dass das Buch hier dann dicker als die Bibel ist, aber unter diesen Umständen wäre das in Ordnung!
Viel Spaß mit »Adlerträger«!
Henni und Michael
Wenn man sie fragt, wie sie so als Schülerin ist, sagt sie immer: »Hm, eher so mittelgut!«. Fragt man dann ihren Klassenlehrer, ob das stimmt, antwortet der immer: »Na, sagen wir eher ›fast mittelgut‹!«
Besser, nämlich sehr gut, läuft es dagegen für sie beim Fußball. Was unter anderem daran liegen dürfte, dass ihr Dribbeln und Grätschen einfach deutlich leichter fallen als z. B. Vokabeln lernen oder Aufsätze schreiben. Und auch beim Umgang mit Zahlen merkt man, wo ihre Vorlieben liegen. So weiß sie zwar, dass ein Strafraum 40 Meter 32 breit und 16 Meter 50 tief ist, behauptet allerdings auch, dass »Nachbarzahlen« die Hausnummern der Leute wären, die nebenan wohnen.
Aufgrund ihrer eisenharten und kompromisslosen Spielweise ist sie als linke Verteidigerin im Gegensatz zu allen anderen bei der E-Jugend-Mannschaft vom SV Blau-Gelb Frankfurt gesetzt. Und zwar bei den Jungs!
Lillis Lieblingsverein heißt, neben ihrem eigenen, übrigens Eintracht Frankfurt. Was stark mit dem Einfluss eines »älteren Freundes« zu tun hat, zu dem wir gleich noch kommen …
Da ihre Mutter Sabine vor einiger Zeit vollkommen überraschend ein altes Hotel in Nord-Holland geerbt hat und deswegen mit Lillis Vater dorthin gefahren ist, um es zu renovieren, Lilli aber jede Menge guter Gründe hat in Frankfurt zu bleiben, lebt sie zurzeit bei dem erwähnten Freund.
Und das ist…
Väterlicherseits Opa von Lilli und seit dem Tod seiner Frau Margarethe allein lebend. Oder besser gesagt: fast allein lebend.
Sein Vorname ist eigentlich eher selten, es sei denn, man ist Papst. Bonifaz steht für »Wohltäter, der Gutes tut« … was jetzt nicht jeder, der mit ihm zu tun hat, unbedingt so unterschreiben würde. Aber auch wenn er gelegentlich mal etwas wortkarg oder gar mürrisch wirkt, liegt das nicht daran, dass er von Haus aus ein unfreundlicher Kerl ist! Nein, das liegt einfach daran, dass er seine Freundlichkeit, seine Begeisterungsfähigkeit und seine gute Laune vor allem für drei reserviert hat, die ihm besonders am Herzen liegen:
seine Enkeltochter Lilli, Eintracht Frankfurt, und seinen Mitbewohner namens …
Der übrigens als Einziger davon ausgeht, dass er nicht nur aus Jux so heißt, sondern tatsächlich einer ist. Wann immer jemand vor seinem Käfig steht und anerkennend feststellt, was für ein schöner Papagei er doch sei, bestraft er diesen mit dem verblüffend authentischen Nachäffen einer Auto-Alarmanlage, woraufhin jeder der Bewunderer panisch zum Fenster rennt. Selbst, wenn er eigentlich zu Fuß gekommen ist.
Adler hatte das, was man eine »schwierige Kindheit« nennt. Denn statt wie andere seiner Artgenossen in irgendeinem kuscheligen Dschungel in Afrika oder Australien zur Welt zu kommen, erblickte er im Gipfel einer deutschen Rotbuche am Frankfurter Riederwald das Licht der Welt. Dort nämlich hatte ihn seine Mutter nach ihrer geglückten Flucht aus den Klauen skrupelloser Vogelhändler ausgebrütet, sich allerdings kurz darauf in einen hessischen Specht verknallt und ihn dann einfach vergessen.
Als er beim Versuch, eine vorbeifliegende Mücke zu erwischen, aus dem Nest fiel, hatte er gleich zweimal Glück. Erstens, dass er sich nur den rechten Flügel verstauchte, und zweitens, dass ihn zufällig ein junger Mann fand, der sich gerade Karten für das nächste Eintracht-Heimspiel gekauft hatte. Der Bonifaz Pfaff hieß und ihn mit zu sich nach Hause nahm, um ihn dort fürsorglich aufzupäppeln. Wo er denn bis heute blieb.
Aufgrund des Lieblingsthemas seines Herrchens darf man getrost davon ausgehen, dass es weltweit derzeit keinen Papageien gibt, der über ein größeres Fachwissen zum Thema »Eintracht« verfügt als er. Das »E« auf seiner Brust steht übrigens für »Eagle«!
»Wer ist denn dieser Mann, der den Schiedsrichter am Spielfeldrand so anschreit?«
Fasziniert starrte Lilli auf den Fernseher. Bonifaz Pfaff schaltete das Bügeleisen auf Standby. Wie immer interessierten ihn Fußballspiele ohne Beteiligung seines Vereins nicht wirklich.
»Das ist dieser José Mourinho! Der Trainer von der Mannschaft in den blauen Trikots! Der braucht das anscheinend manchmal …«
»Wenn mich einer so anbrüllen würde, müsste ich bestimmt anfangen zu weinen!«
»Ja, aber Schiedsrichter weinen nie.«
»Warum?«
»Weil man denen die Tränendrüsen entfernt hat …«
»Was?!«
Bonifaz musste lachen. Lilli irgendwie reinzulegen, war in der Regel nicht einfach, umso mehr freute ihn jetzt ihr empörtes Gesicht.
»War ein Scherz, Lilli, nur ein Scherz.«
»Super lustig!«
Kopfschüttelnd widmete sie sich jetzt wieder dem Fußballspiel im Fernsehen.
»Für einen Moment hab ich gedacht, er beißt ihm das Ohr ab!«
»Wäre nicht das erste Mal!«
Lilli grinste ihn nickend an.
»Klar!«
Einmal veräppeln, ja. Zweimal auf keinen Fall.
»Und wie ist er so als Trainer?«
»Du meinst, wenn er nicht gerade rumbrüllt und Ohren abbeißt?«
Lillis Blick signalisierte ihm, dass der Witz mehr als abgegessen war.
»Schon gut. Also, ansonsten ist er ein superguter Trainer. Hat ’ne Menge Titel gewonnen, und sogar schon zweimal die Champions League …«
»Wow! Das ist doch dieser riesige Pokal mit den großen Henkeln dran, die aussehen wie die Flügel von einem Engel!«
»Was du dir alles merken kannst!«
»Hat die Eintracht die Champions League auch schon mal gewonnen, Opa?«
»Nicht ganz. 1960 war das, da waren wir nah dran. ›Europacup der Landesmeister‹ hieß das damals noch.«
Wie immer, wenn er von damals erzählte, bekam er diesen komischen, leicht abgedrehten Blick. Das sei ein bisschen so, hatte er ihr mal erklärt, wie wenn seine Gedanken in ein kleines Flugzeug steigen würden, um in die Vergangenheit zu fliegen.
Seinen Augen nach war das Flugzeug in seinem Kopf gerade wieder unterwegs.
»Nach der Deutschen Meisterschaft waren wir das erste Mal dafür qualifiziert. Damals gab es aber keine Gruppen so wie heute, sondern gleich Hin-und Rückspiele. Und danach war man entweder eine Runde weiter oder nicht. Ich erinnere mich noch ganz genau. Als erstes musste die Eintracht in der Vorrunde gegen diese Finnen ran. Diese … diese …«
»Kuopio PS hießen die!«, ergänzte Adler, der auf die Fernbedienung geflogen war und gerade dabei war, mit dem Schnabel den Ton etwas leiser zu stellen.
»Sag ich doch, die Finnen!«
Bonifaz konnte es absolut nicht leiden, wenn sich jemand in seine Vorträge einmischte. Wogegen Adler nichts lieber tat als das.
»Jedenfalls haben wir die weggeputzt, dass die nicht mehr wussten, wo vorne und hinten ist! Soweit ich mich erinnere, haben die nicht ein einziges Tor gegen uns geschossen!«
»Was jetzt net soo überraschend war!«
Adler war mittlerweile auf die Fensterbank umgezogen.
»Die sind nämlich gar net gekommen, die Finnen! Weil die nämlich pleite und denen deswegen die Flugkosten zu hoch waren! Deswegen ist die Eintracht weitergekommen, ohne auch nur einen einzigen von denen überhaupt zu sehen! Das zum Thema ›Finnen wegputzen‹!«
Trotzig schüttelte Bonifaz den Kopf.
»Haarspalterei. Weiter ist weiter! Auf jeden Fall hatten wir dann in der ersten Hauptrunde diese Schweizer …«
»Young Boys Bern!«
Genervt warf der Alte einen strengen Blick in Richtung seines Besserwisser-Vogels.
»Nur mal zur Erinnerung Herr PAPAGEI, bis zum Tierheim sind es keine fünf Minuten!«
Beleidigt drehte ihm Adler den Rücken zu. Denn auch wenn er ziemlich sicher wusste, dass das mit dem Tierheim nur eine leere Drohung war … das Ignorieren seiner wahren Identität kränkte ihn zutiefst.
»Und wie hat die Eintracht gegen die gespielt?«
Lilli war jetzt neugierig geworden.
Bonifaz kratzte sich am Kopf. »Äh … das Hinspiel ging für uns aus … und zwar ähm …«
Unsicher schaute er erneut zu Adler, der ihn keines Blickes würdigte, sondern stattdessen übertrieben hektisch seine Flügel putzte.
»Egal, jedenfalls haben wir da gewonnen und daheim Unentschieden gespielt. Was gereicht hat. Als nächstes ging’s dann gegen die Österreicher, Wiener Sport-Club hießen die. Haben wir auch locker ausgeschaltet. Und dann …«
Seine Augen leuchteten jetzt, als hätte jemand in seinem Kopf das Licht eingeschaltet.
»… und dann kamen die Schotten! Glasgow Rangers! Das war eine ganz große Nummer damals! Die Highlander des Fußballs … die …«
Genau in diesem Moment ertönte Musik. Beim Versuch, auf der Stereoanlage zu landen, hatte Adler versehentlich den Startknopf vom CD-Player erwischt. Und während jetzt die Ouvertüre von Tschaikowskis »Nussknacker« einsetzte, schwoll auch Bonifaz Stimme an.
»Zwölf Tore in zwei Spielen haben die Jungs geschossen! Sechs im Hinspiel, sechs im Rückspiel! Eines schöner als das andere. Hätte es damals das ›Tor des Monats‹ schon gegeben … alle zwölf hätten gewonnen! Die haben gespielt wie von einem anderen Stern. Lindner, Stinka, Kreß, Meier … und natürlich Alfred Pfaff mit allein vier Treffern!«
Das 3. Tor für die Eintracht durch Erwin Stein beim Europapokal-Endspiel gegen Real Madrid im Hampden Park, Glasgow, 18. Mai 1960
Lilli grinste. Die Tatsache, dass jemand mit dem gleichen Nachnamen in so wichtigen Spielen so viele Tore geschossen hatte, gefiel ihr!
»Am Ende haben 60.000 im Ibrox-Park der Glasgow Rangers stehende Ovationen gegeben und …«
»Achtundsechszigtausendfünfhundertachtundsiebzig!«
Bezüglich Zahlen war Adler ein solcher Pedant, dass er dafür sogar das Beleidigtsein vergaß.
»Von mir aus, du fliegender Erbsenzähler! Alle haben jedenfalls stehend applaudiert, und die Spieler von Glasgow haben ein Spalier für die Frankfurter gebildet und ebenfalls geklatscht, als sie dadurch gelaufen sind!«
»Was ist ein Spalier?«
»So eine Art Gasse. Auf jeden Fall war das der absolute Hammer!«
»Und dann?«
»Dann kam das Endspiel! Gegen Real Madrid! Was übrigens auch wieder in Glasgow stattfand, diesmal allerdings im Hampden Park. Vor 130.000 Leuten!«
Ein kurzer Blick zu Adler machte dem klar, dass genauere Zahlen gerade unerwünscht waren.
Lilli rutschte jetzt aufgeregt im großen Sessel hin und her.
»Und?«
»Richard Kreß hat uns in Führung geschossen und Erwin Stein hat gleich zweimal getroffen. Drei Tore gegen die ›Galaktischen‹, so nannte man die damals! Das musst du dir mal vorstellen. Drei Treffer! Die galten ja als unschlagbar!«
»Das ist ja super! Und die anderen haben kein Tor geschossen?«
»Doch …«
Bonifaz schluckte.
»Sieben Stück! Das war … das war …!«
»… menschenverachtend!«
Adler, der mittlerweile auf Bonifaz’ Schulter saß, hatte es auf den Punkt gebracht.
Sekunden später löste das leichte Zischen des Bügeleisens Tschaikowskis kraftvolle Ouvertüre ab und Bonifaz wandte sich wieder seiner braunen Lieblings-Breitcordhose zu. Adler flog samt Fernbedienung zurück in seinen Käfig, und Lilli staunte nicht schlecht, wie gut gelaunt und freundlich lachend dieser Jose Mourinho jetzt mitten auf dem Platz stand, um seinen Spielern zum Sieg zu gratulieren!
Lilli schaute in die Augen von Frau Horst, und Frau Horst schaute zurück. Beide wussten, was jetzt passieren würde. Denn es war Sonntagnachmittag und das bedeutete »Kassensturz«-Zeit. Wobei hier nicht einfach nur kurz und schnöde mal Geld gezählt wurde. Nein, das hier war ein Ritual! Wie immer schob Lilli einen Stuhl vor das große Regal, kletterte rauf, und hob dann Frau Horst vorsichtig von ihrem Stammplatz zwischen dem leicht vergilbten Hochzeitsfoto ihrer Großeltern und einem alten abgewetzten Stollenschuh. Den ihr Großvater hier übrigens aufbewahrte wie ein religiöses Heiligtum, weil er damit irgendwann zwischen Kreide- und Steinzeit angeblich ein »überlebenswichtiges« Tor gegen Zeilsheim gemacht hatte.
Und in dem sie klugerweise diesen kleinen silbernen Schlüssel aufbewahrte. Denn selbst im Falle eines Einbruchs konnte man davon ausgehen, dass kein Einbrecher der Welt dem morschen Schuhwrack auch nur einen Blick schenken, geschweige denn ihn freiwillig anrühren würde.
Kurz darauf setzte sie sich aufrecht vor ihr Sparschwein, um diesem mit den stets gleichen Worten zu erklären, was nun als Nächstes passieren würde: »So, Frau Horst, ich mache dir jetzt den Bauch auf!«
Dass das Schwein »Frau Horst« hieß, war zwar etwas ungewöhnlich, aber einfach zu erklären. Als ihre mittlerweile verstorbene Großmutter ihr das Sparschwein vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, war das mit der freundlichen Aufforderung verbunden, dem rosa glänzenden Porzellantier doch einen besonders hübschen Namen zu geben. Und da der dicke Metzger im Laden an der Ecke sowohl von der Kopfform, dem Gesichtsausdruck als auch von der glänzenden Hautfarbe (die Grunzgeräusche beim Nasehochziehen mal nicht mitgerechnet) dem Schweinchen doch sehr geähnelt und mit Vornamen »Horst« geheißen hatte, war es für Lilli eine leichte und vollkommen logische Entscheidung gewesen, ihr neues ›Haustier‹ so zu nennen. Aber aufgrund des Einwands ihrer Oma, dass Horst ein Männername, das Sparschwein hier jedoch weiblichen Geschlechts sei (eine These, die bei einem Tier aus Porzellan eigentlich nicht wirklich zu belegen war), hatte Lilli beschlossen einen Kompromiss zu finden, was ihr mit »Frau Horst« dann auch perfekt gelungen war.
Jetzt also öffnete Lilli dank Schlüssel den Bauch der Sau, schüttete den Inhalt geschickt auf den Tisch, sortierte, natürlich unter Mithilfe von Adler, sämtliche Münzen und Scheine in verschiedene Stapel und begann dann, alles zusammenzuzählen. Das Tolle, ja eigentlich Unfassbare war, dass – obwohl sie selbst manchmal wochenlang nichts aus der eigenen Tasche in das Schwein warf – jedes Mal trotzdem mehr drin war als den Sonntag zuvor. Was sie natürlich doll freute und Bonifaz mit einem kaum sichtbaren Grinsen kommentierte.
Und während Lilli da so saß und zählte und stapelte, schoss ihr plötzlich eine Frage in den Kopf.
»Wie ist denn das eigentlich bei der Eintracht? Ist die auch so reich wie ich?«
Bonifaz kratzte sich nachdenklich am Kopf.
»Hm, eine gute Frage. Ob sie jetzt so viel Geld hat, wie du gespart hast, wage ich natürlich zu bezweifeln, aber ich glaube, es ging ihr finanziell auch schon schlechter.«
»Wann denn?«
Mal wieder schweifte sein Blick ins unendliche Erinnerungsuniversum.
»1907! So lange ist das schon her, da hatte die Eintracht ein Gesamtvermögen von …«
Gespannt starrte Lilli ihn an.
»… 42 Pfennig!«
»So wenig? Wieso denn das?«
»Nun, weil der damalige Kassenwart seinen Job leider nicht ganz so gewissenhaft und ehrlich ausgeübt hatte, wie es eigentlich hätte sein sollen!«
»Oje!«
»Ja, aber andererseits …«
Bonifaz’ nachdenkliche Miene wurde jetzt von einem breiten Grinsen abgelöst. »… bist du mit 42 Pfennig zumindest nicht verschuldet. Und glaub mir, es kamen später noch Zeiten, wo man sich liebend gern an diese Zeit erinnert hat!«
»Verstehe ich nicht!«
»Macht nichts. Ich sag es nur einfach so: Was Geld angeht, haben wir bei der Eintracht schon alles erlebt. Mal war sie wohlhabend, dann kam irgendein größenwahnsinniger Depp und hat alles wieder sinnlos verballert! Geld da, Geld weg, Geld da, Geld weg … Irgendwann hat einer z. B. den Spielern Häuser verkauft und die damit fast in den Ruin getrieben. ›Bauherren-Modell‹ hieß das damals. ›Betrüger-Modell‹ hätte besser gepasst! Egal, ist lange her. Um es kurz zu machen: Wir haben bei der Eintracht in Sachen Kohle ’ne Menge komischer Geschichten erlebt.«
»Und hast du Angst, dass das irgendwann wieder mal passiert?«
»Nee, eigentlich nicht. Zumal man es irgendwie geschafft hat, den ›Drecksack-Virus‹ wegzubekommen.«
»Den was?«
Das Wort hatte sie tatsächlich noch nie im Leben gehört.
»Ich wollte nur sagen, dass so Typen wie diese gestörten Gebrauchtwagen-Händler und Schiffschaukel-Bremser von damals zum Glück schon lange der Vergangenheit angehören.«
Lilli nickte verständnisvoll. Wenn damals tatsächlich irgendwelche Männer, die normalerweise alte Autos verkauften oder auf der Kirmes Schiffschaukeln zum Stehen brachten, bei der Eintracht die Kasse verwaltet hatten, war ja klar, dass das nicht gutgegangen sein konnte. Womit sie das Thema denn auch als beendet betrachtete.
Freudig stellte sie kurz darauf fest, dass Frau Horst an diesem Sonntag ganze fünf Euro mehr im Bauch hatte als noch letzte Woche. Warum auch immer …
Adler stand mitten auf dem Tisch und zerlegte mit dem Geschick eines erfahrenen Chirurgen gerade seinen dritten Schokoladenkeks. Lilli saß wippend auf einem Stuhl und beobachtete ihn, wie er genüsslich jeden einzelnen Krümel in seinem Schnabel verschwinden ließ. Erst als auch das letzte Keksmolekül verputzt war und auch die leere Packung nichts mehr hergab, wandte er sich Lilli zu, die ihn nachdenklich betrachtete.
»Stimmt was net?«
»Doch, doch … ich denk nur gerade über etwas nach …«
»Über was denn?«
Dabei tippelte er jetzt über den Tisch, um direkt vor ihr stehen zu bleiben.
»Ich frag mich gerade, warum man so heißt wie man heißt!«
»Aha! Naja, in meinem Fall isses ja einfach. Ich heiße Adler, weil ich einer bin. Ist net besonders einfallsreich, aber des macht nix!«
Lilli musste grinsen. Tatsächlich war Adler der Einzige, der immer noch glaubte, dass er einer dieser berühmten Greifvögel war und kein Papagei. Was auch deshalb erstaunlich war, weil er ja bestimmt im Fernsehen oder in Büchern schon echte Adler gesehen hatte, von Attila, der vor jedem Eintracht-Heimspiel ins Stadion gebracht wurde, ganz zu schweigen. Aber so ist das mit dem Betrachten: Der eine empfindet etwas so, der andere wiederum so. Und wenn unser Papagei in den Spiegel schaute, war er sich halt sicher, dass er das sah, was er sehen wollte. Gut, das Exemplar dort war zugegebenermaßen etwas kleiner und die Farbe etwas ungewöhnlich, aber trotzdem … dieser wahnsinnig gutaussehende und vor allem imposante Vogel ihm gegenüber war eindeutig ein Adler!
Dass ihm Bonifaz damals, nachdem er aus dem Nest gefallen war, eigentlich erst mal nur aus Jux diesen Namen verpasst und es dann dabei belassen hatte, war ihm bis heute verschwiegen worden, also wusste er es auch nicht besser.
»Na ja«, meinte Lilli, »aber du hättest ja auch anders heißen können. Zum Beispiel …« Sie überlegte. »Zebra!«
»Wieso denn Zebra? Das passt doch gar net! Die haben vier Beine und Hufe und Streifen und Zähne usw. Wenn ich ’en Zebra wär, dann wär ich damals auch net aus’m Nest gefallen, weil die nämlich auch gar keine Nester bauen. Wie soll’n ’en Zebra allein einen Baum hochkomme?!«
»Ja, ist ja gut! Du musst dich deswegen ja nicht gleich aufregen, war auch nur so’n Gedanke!«
»Dann haben wir das ja geklärt!«, antwortete Adler kopfschüttelnd und guckte zur Uhr. Bonifaz müsste in der nächsten Viertelstunde vom Besorgungenmachen nach Hause kommen und ihm hoffentlich all das mitbringen, was er ihm auf den Einkaufszettel gekritzelt hatte: Schoko-Kekse, Vanille-Kekse, Zitronen-Kekse und vor allem Haselnuss-Kekse! Wenn er dann auch noch irgendeine neue Fußball-Zeitschrift mitbrächte, wären die nächsten Tage mehr als gerettet!
Lilli war derweil immer noch bei der Sache mit den Namen.
»Ich finde zwar nicht, dass Lilli der beste Name auf der Welt ist, aber es hätte ja auch schlimmer kommen können! Stell dir vor, ich würde zum Beispiel ›Regenrinne‹ heißen! Oder ›Pfütze‹! ›Pfütze Pfaff‹! Oder ›Nagelschere‹! Oder ›Weintraube‹…«
Adler schüttelte den Kopf.
»Was du manchmal babbelst! Kein Mensch nennt sein Kind ›Weintraube‹… es sei denn, er ist Winzer. Außerdem finde ich Lilli sehr schön und passen tut’s auch!«
»Na schön, insgesamt bin ich ja auch zufrieden! Aber wo wir gerade dabei sind … wie ist es denn mit der Eintracht? Wieso heißt die denn überhaupt so? Und seit wann?«
Adler kratzte sich kurz, während er überlegte.
»Warte mal. Ja, jetzt weiß ich es wieder! Genau genommen, erst seit dem 1. Mai 1920. Wobei sie erstmal ›Sportgemeinde Eintracht‹ hieß und dann später nur noch ›Eintracht‹!«
»Was bedeutet ›Eintracht‹ eigentlich genau?«
»Das bedeutet so was wie wenn alle miteinander zurechtkommen, im Prinzip so was wie ›friedliches Miteinander‹ oder so …«
»Das ist aber schön!«
Lilli lächelte entzückt.
»Ja, wobei man net sagen kann, dass sich da in der Vereinsgeschichte immer alle dran gehalten hätten. Egal, ist ein andres Thema …«
»Okay. Und wie hieß die Eintracht, bevor sie Eintracht hieß?« Adler kam jetzt ganz nah an die Tischkante. Sein Blick war, soweit das bei einem Papagei möglich war, ernst und besorgt, so als hätte Lilli etwas ganz Schlimmes angesprochen! Vorsichtig drehte er den Kopf nach allen Seiten, als müsse er sich vergewissern, dass ihn niemand hört. Er flüsterte jetzt.
»Darüber möchte ich lieber nicht reden!«
»Okay, Null Null Adler …«, flüsterte Lilli jetzt zurück, »… und warum nicht?«
»Weil ich mich kaum traue, das zu erzählen!«