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Epischer Fantasy-Liebesroman trifft auf Drachen und Magie Wer ist der Feind? Der Mann, den sie liebt? Oder der Drache, dem sie vertraut? Entgegen aller Konventionen darf die mittellose Elaja eine Ausbildung zur Drachenreiterin beginnen. Doch ohne eigenen Drachen zur praktischen Prüfung anzutreten, ist schwierig. Zum Glück besitzt der nach einem schweren Flugunfall traumatisierte Ian gleich zwei Drachen. Die beiden gehen einen Deal ein, aber schon bald erkennt Elaja, dass Ians Drachen Geheimnisse hüten, die besser unentdeckt geblieben wären. Softcover-Ausgabe mit Farbschnitt
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Seitenzahl: 552
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Copyright © dieser Ausgabe 2023 by
Lektorat & Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
www.kopainski.com
Bildmaterial: Shutterstock
Karte (Print only): Liane Mars
ISBN 978-3-95991-359-1
Alle Rechte vorbehalten
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Danksagung
Drachenpost
Für Carmela!
Diesmal kommen dein Baby und mein Buch
nicht wie beim letzten Mal am gleichen Tag auf die Welt.
Stattdessen gibt es aber zumindest eine Widmung.
Das Heulen des Alarmsignals riss mich aus meinen Träumereien und sorgte dafür, dass ich mich abrupt aufsetzte. Gras klebte feucht an meinem Rücken, genau wie vermutlich ein paar Hinterlassenschaften der Schafe, die um mich herum friedlich weideten. Das alles war mir egal, denn jetzt passierte endlich das, worauf ich seit gut einer Stunde gewartet hatte.
Das Horn ertönte. Es bedeutete für gewöhnlich, dass die Rettungsdrachen gerufen wurden.
Von meinem Hügel aus hatte ich einen grandiosen Rundumblick. Etwa hundert Schritte unter mir lagen die Drachenstallungen mit den Vorhöfen, dahinter die Trainingsplätze und die Schlaf- und Übungsräume der Drachenreiter. Dort sprang soeben die Tür auf. Zwei Männer und eine Frau rannten aus dem Gebäude zu den Reitplätzen. Offenbar waren sie heute für die täglich anfallenden Rettungseinsätze zuständig. Das Horn verstummte, kaum dass sie bei ihren Drachen ankamen. Die majestätischen Tiere warteten auf dem Vorplatz zur Landebahn, jederzeit bereit, sich in die Lüfte zu schwingen.
Ich seufzte bei ihrem Anblick leise auf. Sie wirkten so beeindruckend. So wunderschön. Der Drache des Anführers war beinahe so groß wie der Vorratsschuppen direkt neben den Heilerunterkünften. Seine dunkelgrünen Schuppen glänzten in der aufgehenden Morgensonne. Ein Bulle, wie die eindrucksvollen vier Hörner an seiner Stirn bewiesen. Die Weibchen trugen statt der Hörner eine gewaltige Hornplatte am Kopf, die sich von den Schläfen, über die Stirn bis zur anderen Seite zog. Von dort wand sich ein langer Zackenkamm vom Kopf bis zu den Schulterblättern. Je nach Ausprägung war er manchmal kaum zu sehen. Bei anderen sah er aus wie eine aneinandergereihte Schnur glänzender Schwerter, wie das bei dem Bullen der Fall war. Alle standen fest mit ihren vier gewaltigen Beinen auf der Erde. Die Pfoten gingen in fünf Krallen über, die bei jedem Schritt die Erde aufrissen. Dieser Bulle hatte sogar Stacheln, die seinen gesamten Schwanz bis zur Spitze überzogen.
Bei den Weibchen dieser Formation waren die Stacheln eher abgerundet und kaum zu sehen. Eine von ihnen schlug mit den beeindruckenden Flügeln. Sie ähnelten denen einer Fledermaus, nur schimmerten sie dunkelgrün. Manche Drachen hatten Krallen an der Spitze, andere lediglich runde Platten. Der Kopf sah bei den meisten aus wie bei einem Krokodil, nur viel größer. Der Bulle hatte auch hier mehr Zacken als die Weibchen und einen Hornkamm auf der Nase sowie mehrere unter dem Kinn. Das war je nach Drache unterschiedlich. Trotzdem gehörten sie alle zu der gleichen Gattung.
Der Gattung der Hortdrachen. Einige sahen martialisch aus, andere wirkten filigran und anmutig. Gemein hatten sie, dass sie gern bei den Menschen lebten und sich von ihnen reiten ließen.
Drachen waren friedlich. Zumindest, solang man sie nicht reizte.
Genau, dachte ich bitter. Weil du schon so häufig mit Drachen auf Tuchfühlung gegangen bist.
Um ehrlich zu sein, war ich bislang noch nie näher als vier Meter an die gigantischen Wesen herangekommen. Obwohl ich mein ganzes Leben hier am Hort verbracht hatte, gab es diese unsichtbare Trennlinie. Eine Sperre, die uns normale Menschen von den Drachenreitern abschottete. Wir hatten auf den Übungsbereichen nichts zu suchen, und die Stallungen waren absolut tabu. Selbst in die Unterkünfte der Reiter durften wir nur auf Befehl gehen. Wir waren das Fußvolk. Sie die Helden, um die sich alles drehte.
Vielleicht kam daher auch meine Schwärmerei für die Magiewesen. Alles Verbotene faszinierte mich. Bei den Drachen war es nahezu eine Sucht geworden.
Die Reiter schwangen sich soeben auf ihre Drachen. Elegant. Selbstsicher. Absolut routiniert. Zügel wie beim Pferd fehlten, dafür gab es jede Menge Halteriemen, damit der Reiter nicht herunterstürzte. Ein einziger Mann befand sich noch am Boden und reichte den bereits Aufgesessenen die Satteltaschen hinauf. Da ich sie selbst gepackt hatte, wusste ich genau über den Inhalt Bescheid: Verbandsmull, Salben, Kräuter, Scheren und was man sonst für die Versorgung eines Schwerkranken benötigte.
Das brachte mich gedanklich wieder zum Alarm zurück. Suchend blickte ich in die Ferne, musterte den Horizont. Lark lag wie alle Horte auf einer Anhöhe, thronte quasi über der Erde auf einem Felsmassiv, sodass wir rundum gute Sicht in alle Richtungen hatten. Gewaltige Mauern schotteten den Hort von der Außenwelt ab. Eine Festung am äußersten Rand der Altuntasberge. Von hier konnten wir ins Tal von Arlynn blicken, bis zum Vulkankrater und je nach Wetterlage sogar bis zu den Eisbergen.
Irgendwo musste ein Alarmfeuer zu sehen sein. Wenn die Drachenreiter gerufen wurden, war es ernst. Die meisten Ortschaften hatten ihre eigenen Heilkundigen. Eine Drachenformation wurde nur geholt, wenn es um Leben und Tod ging.
Beinahe hätte ich meine Suche aufgegeben, da entdeckte ich doch noch das Signalfeuer am Horizont. Es war dunkelrot eingefärbt. Das Zeichen, dass der Rettungstrupp benötigt wurde. Wäre es purpurfarben, hätte meine Mentorin Maai mitfliegen müssen. In dem Fall gab es Probleme bei einer Geburt. Als beste Hebamme im ganzen Land durfte sie als Nichtdrachenreiterin auf diesen wunderschönen Geschöpfen sitzen.
Und genau das war mein Ziel: Ich wollte so gut werden wie Maai, um bei derartigen Einsätzen gerufen zu werden. Meine einzige Möglichkeit, um jemals in die Nähe der Drachen zu gelangen.
Mein wahres Lebensziel wagte ich nicht einmal zu denken – und dennoch war es da. Ich wollte Drachenreiterin werden. Natürlich war das lächerlich, gerade für eine Waise wie mich, aber träumen konnte mir zumindest niemand verbieten.
In dem Moment erschien Maai auf dem Vorplatz. Groß, schlank, mit grauweißen Haaren und dem Gang von jemandem, der sich seiner Position bewusst war. Als Anführerin der Heilergilde hatte sie genau wie die Drachenreiter auf den Rettungsruf reagiert. Sie sprach kurz mit dem Kommandanten der Schar und nickte, als der sie mit einem Handwink fortschickte. Keine Geburt. Sie wurde nicht benötigt.
Ich beobachtete, wie die Drachenreiter warteten, damit sich Maai wieder hinter der Absperrung in Sicherheit bringen konnte. Dann trotteten die Magiewesen los, stellten sich hintereinander auf und bereiteten sich auf den Start vor. Kurz bevor der erste losfliegen konnte, ertönte erneut ein Alarmsignal. Diesmal eine Trompete.
Die Jägerschar wurde gerufen.
In unserem Hort Lark gab es jede Einsatzgilde der Drachenwelt, da hier alle Reiter ausgebildet wurden: Jägerschar, Rettungstrupp, Verteidiger, Versorgungseinheit, Verbindungstruppe und die Botendrachen. Das waren die sechs Einheiten, unter denen ein Reiter wählen konnte. Manchmal gab es auch der Körperbau des eigenen Drachen vor: Botendrachen waren zum Beispiel häufig schlanker und graziler, mit überdimensional ausgeprägten Schwingen, sodass sie schneller fliegen konnten. Andere Drachen kamen als Giganten zur Welt, prädestiniert, um schwere Lasten zu tragen. Wer einen Drachen mit besonders vielen Stacheln bekam, wurde fast immer zur Jägerschar oder zum Rettungstrupp beordert. Ausnahmen bestätigten die Regel, aber meine Beobachtungen waren da recht eindeutig.
An einigen Standorten fehlte manchmal eine Gilde, weil es auf der Welt nicht genug Drachen gab. Auf Pax zum Beispiel gab es keine Heiler und auf Embra keine Verbindungstruppen. Die sorgten normalerweise dafür, dass sich die Drachenreiter gut mit den magielosen Menschen verstanden, flogen in die Dörfer und hielten den Kontakt zur Bevölkerung. Embra lag allerdings so tief in den Eisbergen, dass sich dorthin eh kaum ein Mensch verirrte. Eine Verbindungstruppe war daher unnötig.
Lark hingegen galt als Vorzeigehort, sodass hier alle Gruppen vertreten waren. Zum Glück für mich. Denn ich liebte die Jägerschar.
Die kam schneller als die Reiter der Rettungsdrachen aus den Unterkünften heraus. Sieben waren es, alle bis an die Zähne bewaffnet. Sie galten als die Elite der Drachenreiter. Als Eingreiftruppe wurden sie bei eskalierenden Streitigkeiten angefragt, organisierten Suchtrupps, verhafteten Diebe, Mörder und Gesetzesbrecher und waren insgesamt für die Durchsetzung des Rechts zuständig. Ich fand sie total toll. Wenn ich eine Drachenreiterin werden könnte, dann würde ich versuchen, in diese Gruppe zu kommen, selbst wenn ich natürlich als beinahe ausgebildete Heilerin besser zu dem Rettungstrupp passte.
Als ob. Ich schüttelte über den Gedanken selbst den Kopf. Das würde ohnehin niemals eintreten.
Mittlerweile war der Rettungstrupp gestartet. Das Schlagen der Drachenschwingen wehte bis zu mir herüber. Musik in meinen Ohren. Ich lauschte andächtig und musterte dabei das Signalfeuer, das nun dunkelgrün geworden war. Die Jäger und die Retter waren zeitgleich gerufen worden. Womöglich eine Schlägerei? Auf jeden Fall eine Auseinandersetzung mit Schwerverletzten.
Ich legte den Kopf in den Nacken, um den Flug der Drachen möglichst lang beobachten zu können. Kaum waren sie nacheinander gestartet, formierten sie sich in einem perfekten Dreieck. Anders als sonst flogen sie nicht direkt los, sondern warteten noch auf die Jäger. Offenbar wollten sie gemeinsam zum Einsatz.
Kein Wunder. In letzter Zeit gab es Gerüchte über wilde Drachen, die in den Bergen leben sollten. Die Anwesenheit einer wilden Herde war lange Zeit als bloßes Gerede abgetan worden. Jetzt bekam das Gerücht neue Nahrung. Gleich mehrere Patrouillen hatten unbekannte Drachen über der riesigen Bergkette Koloss erspäht. Sie waren allerdings so schnell wieder verschwunden gewesen, dass niemand es mit Gewissheit hatte sagen können.
Trotzdem waren die Drachenreiter nun vorsichtiger geworden. In der Vergangenheit hatte es wohl häufiger unangenehme Begegnungen mit den wilden Geschöpfen gegeben. In Freiheit lebende Drachen galten als angriffslustig und territorial. Sie verteidigten ihre Gebiete. Im letzten Jahrhundert hatte sie nur kaum jemand gesichtet, sie hatten als ausgestorben gegolten.
Bis jetzt.
Ich fand allein den Gedanken total spannend. Da gab es womöglich wilde Drachen, und sie waren so schnell, dass sie wie geheimnisvolle Geister verschwanden. Niemand war sich wirklich sicher, sie gesehen zu haben. Eine Schuppe. Ein Schwanz. Ein Grollen.
Weg waren sie.
Wie aufregend.
Was man von meinem Alltag nicht gerade sagen konnte. Ich hatte nicht aufgepasst und mich zu lang aufrecht hingesetzt, um den davonfliegenden Drachen hinterhersehen zu können. Dadurch hatte mich Maai entdeckt und kam auf mich zu. Sie winkte. Ich erwiderte den Gruß eher halbherzig.
Ich liebte meine Mentorin wie eine Mutter. Wirklich. Leider neigte sie dazu, sich an manchen Tagen wie eine Sklaventreiberin aufzuführen. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass ich ständig beschäftigt werden musste, um mich von Unsinn abzuhalten. Dabei war ich zumindest im letzten Jahr so brav gewesen wie ein Lämmchen. Na ja. Fast.
Maai war neben mir angekommen und hockte sich hin. »Hier steckst du«, sagte sie lächelnd und streckte einem kleinen Schaf ein Kleeblatt hin, das es friedlich mümmelte. »Bist du denn fertig mit deinen Aufgaben?«
In Gedanken stöhnte ich leise auf. Mit Maais endloser Aufgabenliste würde ich nie fertig werden. »Ich arbeite seit zwölf Stunden wie eine Besessene. Die Rettungstaschen sind alle gepackt, die Kranken in Lager eins und zwei versorgt, die Kräuter gegossen, das Unkraut gezupft, die Phiolen ausgewaschen, die Verbände gerollt, die –«
»Schon gut, schon gut«, ging Maai lachend dazwischen und ließ wieder ihre wunderschönen Lachfältchen im Gesicht aufblitzen. Sie war in Würde gealtert und noch immer eine attraktive Frau. Die mittlerweile weiß-grauen Haare trug sie zu einem strammen Zopf gebunden, wodurch sie strenger aussah, als sie in Wirklichkeit war. »Ich gönne dir deine Pause, aber zur Mittagsstunde musst du zu Jama und ihm mit den Abrechnungen helfen.«
Jetzt stöhnte ich nicht nur gedanklich auf, sondern auch laut. Jama war der einzige Drachenreiter, der mit mir redete – und der ranghöchste noch dazu. Als Hortanführer war er beschäftigter als Maai und Chefkoch Geon zusammen. Unter normalen Umständen hätte ich es sehr genossen, mich mit Jama zu unterhalten, leider rief er mich immer nur zu sich, wenn es um die Abrechnungen der Heilergilde ging. Die war Teil des Rettungstrupps der Drachenreiter, allerdings bestand sie aus ganz normalen Menschen ohne Magie. Sie ordnete sich dem Drachenvolk unter, genau wie die Reinigungsgilde oder die Versorgungsgilde. Ich war als Schülerin der Heilergilde zunächst Maai unterstellt, die wiederum auf unseren Hortanführer zu hören hatte. Leider ließ er mich regelmäßig wegen der Buchhaltung antanzen. Eine mühsame und langweilige Aufgabe. Listen durchzugehen war nun wirklich nicht mein Ding.
»Muss das sein? Kann das nicht Kora übernehmen?«, murrte ich. »Ich hab das die letzten fünf Mal auch schon gemacht.«
»Ich weiß, und so wird es auch bleiben. Es ist wichtig, dass dich Jama im Blick hat. Auf diese Weise vergisst er dich nicht. Irgendwann wirst du seine Fürsprache wieder brauchen.«
Wieder. Maai war die Königin darin, mit dem Zaunpfahl zu winken. Um ehrlich zu sein, hatte mich Jama schon einige Male vor der Verbannung gerettet.
Als Schülerin der Heilergilde galt ich eigentlich als magieloser Mensch, der sich den magiebegabten Drachenreitern unterzuordnen hatte. Jeder Mensch mit einer magischen Begabung konnte theoretisch Drachenreiter werden – zumindest, wenn man dahingehend geprüft worden war. Das war allerdings teuer, daher war der Test bei mir nicht gemacht worden, und voraussichtlich würde das auch nie geschehen. Trotzdem waren die magielosen Menschen der festen Überzeugung, dass ich magisch beeinflusst wurde, denn meine Träume waren … ungewöhnlich. Mal vorsichtig ausgedrückt. Ich besaß eine Ausstrahlung, die andere zur Vorsicht ermahnte und zum Geschichtenspinnen anregte. Man schrieb mir ständig Dinge zu, die ich nicht getan hatte. Die Kuh hatte ihr Kalb verloren und ich hatte sie kurz vorher gestreichelt? Das musste dann wohl meine Schuld sein. Ein Kranker hatte sich zusätzlich zum Schienbeinbruch noch einen Schnupfen eingefangen? Auch meine Schuld. Der mich ständig ärgernde Drachenreiter hatte dauerhaftes Nasenbluten? Ganz klar meine Handschrift. Die Liste ließ sich unendlich lang fortsetzen, wobei ich zugegebenermaßen nicht immer völlig unschuldig gewesen war. Das mit dem Kalb und dem Schnupfen ging natürlich nicht auf mich zurück. Das mit dem Nasenbluten leider schon. Ich hatte dem Drachenreiter was in sein Wasser getan. Ein fieser Streich ganz ohne Magie. Denn magisch – das wäre ich gern, doch fürchtete ich, dass meine seltsamen Träume und wilden Ausbrüche in der Nacht eher meiner Fantasie entsprangen.
Wobei es natürlich spannender klang, wenn ich von Visionen sprach.
Als ich mich an das Drama meines letzten Tagtraums erinnerte, gab ich nach. »Ich bin pünktlich«, versprach ich.
Maai musterte mich noch einmal eindringlich, anschließend nickte sie und steckte mir eine Butterblume hinter die Ohren. »Braves Mädchen«, sagte sie, weil sie genau wusste, dass mich das ärgerte. Dann lief sie pfeifend zurück zum Hauptgebäude.
Ich sah ihr sehnsüchtig hinterher und kämpfte mit meinem Neid. Maai war überall so dermaßen angesehen, dass es schon wehtat. Sie war zugleich der herzlichste Mensch, den ich kannte. Zum Glück für mich. Keine andere hätte ihre schützende Hand über das verwaiste Baby mit den unheimlichen Augen gehalten.
Sie waren hellblau. Beinahe weiß. Je nach Lichteinfall gruselte es mich manchmal selbst vor meinem Anblick, vor allem, weil mein früher blondes Haar ebenfalls immer blasser wurde. Noch konnte man es mit gutem Willen als weißblond bezeichnen, aber auch das würde nicht mehr lang der Fall sein.
Wenigstens war meine Haut braun gebrannt. Nicht auszudenken, wenn ich zusätzlich zu den Augen und der Haarfarbe wie ein Gespenst hätte herumlaufen müssen. Dann hätte sich vermutlich kein einziger Patient mehr von mir behandeln lassen.
Ich ließ mich rücklings ins Gras fallen und starrte in den Himmel hinauf. Ein wenig Erholung, bevor man mir erneut auf den Nerv ging, konnte nie schaden. Lang hielt ich es allerdings nicht aus, denn eine Reiterei flog in mein Blickfeld.
Jungdrachenreiter.
Das versprach, amüsant zu werden. Wenn Schüler den Anflug auf einen fremden Hort trainierten, gab es immer was zu lachen. Die ebenso jungen Drachen hatten oft mit den noch viel zu langen Schwingen zu kämpfen und mussten sich erst auf ihre Reiter einstellen. Je nach Ausbildungsgrad klappte das mal mehr, mal weniger gut.
Hier auf Lark gab es den Hauptteil der Drachenreiterschule. Bei uns wurden die Jungreiter zwei Jahre lang ausgebildet und bekamen ihren Feinschliff verpasst. Lark bestand daher zum großen Teil aus Jugendlichen, die allerhand Unfug im Kopf hatten. Der Hort Janara war dann die nächste Station, dort spezialisierten sie sich. Bei den Botendrachen dauerte die Ausbildung ein Jahr, und wer ein Hortanführer werden wollte, musste vier Jahre investieren. Zwischen Janara und Lark gab es meist einen regen Betrieb, da die beiden Standorte nicht nur am nächsten zueinander lagen, sondern sich auch auf die Ausbildung konzentrierten. Dennoch. Das Herz der Ausbildung war hier in Lark, hoch oben in den Altuntasbergen, einem seitlichen Ausläufer des Felsmassivs Koloss. Eine kleine Stadt mit gewaltigen Gebäudekomplexen, in den Berg gehauenen Höhlengängen und verschiedensten Landebahnen.
Das Einzige, was Lark fehlte, waren die Bruthöhlen. Vermutlich hatte jemand überlegt, dass sich wilde Jungreiter nicht mit Babydrachen vertrugen, und die gesamte Eikolonie auf die anderen vier besetzten Horte verteilt. Schade eigentlich. Babydrachen zu beobachten wäre mir ein echtes Vergnügen gewesen.
So musste ich mich eben mit den Jungdrachen begnügen. Doch auch die waren immer für eine Sensation gut.
Der vorderste grüne machte seine Sache zusammen mit seinem Reiter gut. Sie landeten gekonnt und räumten dann den Platz für die nachkommenden. Der Drache danach musste zweimal anfliegen, ehe er halbwegs im markierten Landebereich aufkam.
Und der dritte?
Sofort war ich hellwach. Dieser Drache sah anders aus. Die Schwingen waren etwas größer als gewöhnlich, mit einem stachelbesetzten Schwanz. An der Stirn hatte er gleich acht Dornen. Doch vor allem waren seine Schuppen, anders als bei den übrigen Drachen, schwarz. Das war vollkommen ungewöhnlich. Alle Hortdrachen waren vom Grundton her grün. Einige wichen Richtung Braungrün ab, andere hatten gelbliche Nuancen dazwischen. Aber doch nicht schwarz.
Er stach hervor, sodass ich ihn schon länger beobachtete.
Seine Bewegungen wirkten so grazil, so außergewöhnlich – und um ehrlich zu sein: Sein Reiter war auch etwas Besonderes. Nicht nur der Drache bewegte sich wie ein Tänzer, sondern auch der Mann, der auf ihm saß. Von Weitem hatte ich ihn schon häufig ganz heimlich angeschmachtet. Nur für mich, sodass es niemand bemerkt hatte.
Auch diesmal legten die beiden eine Punktlandung hin. Echte Streber. Ich klatschte instinktiv Beifall, woraufhin die Schafe aufhörten zu kauen und mich fragend anblickten. »Die beiden haben das wirklich gut gemacht«, erklärte ich ihnen und lachte über ihre blöden Gesichter. Ich mochte Schafe. Die waren wenigstens unkompliziert und knuddelten gern.
Der dunkle Drache trottete soeben von der Landebahn und gähnte gelangweilt, während sich sein Reiter bereits von den Halteriemen löste. Eigentlich durfte man das nicht während des Laufens machen, doch das schien den jungen Mann nicht sonderlich zu interessieren. Ein Rebell. Sofort flog ihm mein Herz zu. Rebellen gab es unter Drachenreitern eher weniger. Da herrschten Drill und Ordnung.
Ich würde eine grässliche Drachenreiterin abgeben. Schon allein die Tatsache, dass ich so genau über die vielen Gesetze der Drachenwelt Bescheid wusste, entlarvte mich als Regelbrecherin. Ich hatte mir vor Jahren mehrere Standardwerke für Drachenreiterschüler stibitzt. Sollte mich jemals ein Reiter damit erwischen, hatte ich ein ernstes Problem. Es war verboten, sich derartiges Wissen anzueignen. Dank meiner Recherchen konnte ich allerdings so manchen Jungreiter mit meiner Theorie an die Wand spielen.
Ich fand die Geheimniskrämerei rund um die Drachen lächerlich. Wissen war immer nützlich. Warum es vor anderen verstecken?
Mist. Jetzt hatte ich nicht aufgepasst und der dunkle Drache war aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich reckte den Hals, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Auf dem Vorplatz stand er jedenfalls nicht. War er schon in den Stall gestapft? Dann war er schnell gewesen.
Ich drehte den Kopf, um einen Blick in die passende Richtung zu erhaschen, und schrie erschrocken auf. Völlig unerwartet stand da plötzlich ein Kerl vor mir, keine vier Meter von mir entfernt. Er hatte sich so leise und unauffällig genähert, dass ich es gar nicht mitbekommen hatte.
Er war groß, schlank und durchtrainiert, wie es sich für Drachenreiter gehörte. Die dunkle Lederkleidung lag eng an, um möglichst wenig Widerstand und genügend Schutz vor der Kälte in der Höhe zu bieten. Ein Schwertgurt hing an seiner Hüfte, darüber vier Abzeichen. Schüler in Ausbildung. Jägerschar. Hortanführerausbildung. Letztes Jahr.
Einer von den ganz großen Möchtegernhelden.
Seine braunen Haare trug er rebellisch anders, als es eigentlich die Vorschriften vorgaben: Normalerweise mussten sich die Männer die Haare abrasieren. Den Frauen war es erlaubt, einen fest geflochtenen Zopf oder einen Dutt zu tragen. Der Reiter vor mir hatte das Deckhaar am Oberkopf lang wachsen lassen und es mit einem Band nach hinten gebunden. Alles darunter hatte er abrasiert. Es stand ihm beinahe unverschämt gut. Immerhin war er glatt rasiert, sonst hätte sein Ausbilder garantiert protestiert. Auch so wunderte ich mich, dass man ihm die Frisur hatte durchgehen lassen.
Markantes Kinn, absolut symmetrische Gesichtszüge und ein schön geschwungener Mund. Seine Augenbrauen waren vielleicht einen Hauch zu ausgeprägt, und ich entdeckte eine Narbe, die von der unteren Lippe quer über sein Kinn bis zum Halsansatz führte. Das machte ihn gleich viel düsterer. Gefährlicher. Eine weitere Narbe fand ich quer über seiner rechten Wange. Fast sah sie wie von einem Dolchschnitt aus.
Der Gedanke verpuffte, als ich in seine Augen blickte. Sie waren beinahe gruselig dunkel. Stahlgrau mit ein wenig Blau darin. So genau konnte ich das nicht sagen, denn letztlich war die Farbe egal. Der Ausdruck darin war entscheidend.
Der Kerl starrte mich soeben in Grund und Boden. Reglos. Dass seine Hand in die Richtung seines Schwertgriffs wanderte, brachte mich schließlich auf die Füße.
»Was tust du hier?«, knurrte er mich an.
»Bleib mal locker«, antwortete ich vermutlich eine Spur zu wenig unterwürfig. »Ich mach nur Pause.«
»Wovon?«
»Wer will das wissen?«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Als er einen winzigen Schritt auf mich zu machte, war das eindeutig drohend. Sein gesamter Körper war angespannt. Viel mehr, als es dieser Situation angemessen war. Vielleicht ein Reiter auf Drogen? Das kam vor. Das Ausbildungsprogramm war hart, und nicht alle hielten das durch, ohne sich mit Medikamenten aufzuputschen. Allerdings wirkte der Kerl dafür zu aufmerksam. »Ich frag gern noch einmal: Was tust du hier?«
Er spannte seine muskulösen Oberarme an, seine Hemdsärmel hatte er hochgeschoben, sodass ich auf nackte Haut sehen und die darunter arbeitenden Muskeln gut erkennen konnte. Am linken Unterarm hatte er eine gewaltige Narbe, die vom Handgelenk bis zur Ellenbeuge führte. Unheimlich. Der Mann roch nach Ärger. So viele Narben waren doch nicht mehr normal.
Definitiv Zeit, einen auf liebreizend zu machen. Das fiel mir meistens etwas schwer, aber in diesem Moment übernahm mein Überlebensinstinkt das Sagen. Der Mann meinte es ernst.
»Ich bin eine Schülerin der Heilergilde«, sagte ich hastig und wedelte in die Richtung der uns zugewiesenen Unterkünfte.
Er musterte meine Kleidung. »Deine Abzeichen fehlen.«
»Die wurden mir aberkannt.«
Sofort kehrte das Misstrauen in sein Gesicht zurück. »Also bist du doch keine Schülerin der Heilergilde.«
»Meine Mentorin bildet mich aus – mit dem Segen des hiesigen Hortanführers. Jama. Er kennt mich gut. Frag ihn.«
Er behielt sein Starren bei. Eine Sekunde. Drei. Zehn. So unverhohlen war ich wohl noch nie gemustert worden. Dabei ließ er sich absolut nicht anmerken, ob ihm mein Anblick gefiel oder nicht.
Ich war eher zart gebaut, hatte aber an gewissen Stellen genau die richtigen Rundungen, damit sich so mancher Mann und auch einige Frauen nach mir umdrehten. Meine langen weißblonden Haare trug ich meist in einem dicken Zopf über der Schulter. Seltsamerweise waren meine Augenbrauen dunkel und recht lang gezogen für mein ansonsten schmales Gesicht. Um die Rebellin in mir heraushängen zu lassen, hatte ich mir einen kleinen Ring durch die Nase stechen lassen. Er fiel eigentlich kaum auf, doch ich liebte ihn sehr. Meine Art zu sagen, dass ich mich nicht sämtlichen Konventionen beugen würde. Nasenringe waren bei Drachenreitern leider verboten. In der Heilergilde wurden sie zumindest zähneknirschend toleriert.
Mein Gegenüber schien ihn in diesem Moment entdeckt zu haben, denn er runzelte leicht die Stirn. Der musste gerade so tun mit seiner eigenwilligen Frisur. Da war mein kleiner Ring harmlos gegen. Ich rang weiter mit meiner Nervosität und hielt still, wagte nicht einmal zu atmen. Drachenreiter waren ein kompliziertes Volk. Ständig gereizt. Ständig in Alarmbereitschaft. Das lag vermutlich an ihrer Magie. Sie erwarteten dauerhaft Angriffe, wo es keine gab. Unsere Welt war schon lange ein sehr friedlicher Ort – mal von der einen oder anderen Schlägerei abgesehen.
»Jetzt komm mal runter«, sprach ich schließlich den Satz aus, den ich seit geraumer Weile in meinem Kopf herumspuken hatte. »Sich davonzustehlen und heimlich eine Pause einzulegen ist kein Grund, mich derart anzugehen.«
Kaum hatte ich das gesagt, hielt ich die Luft an. Solche Sätze hatten mir schon oft Schwierigkeiten eingebracht. Reize niemals den Kerl mit dem Schwert an der Hüfte. Vor allem nicht, wenn du nur ein Küchenmesser dabeihast.
Als sich der junge Mann prüfend nach rechts und links drehte, um sich nach potenziell möglichen Zeugen umzusehen, spannte ich mich an. Das war kein gutes Zeichen. Vor allem, weil er zwei Schritte auf mich zu machte. Hastig zog ich mein Küchenmesser und hielt es in die Höhe. »Ich werde nicht kampflos aufgeben«, erklärte ich. »Und so muss das nicht laufen. Wenn du mich in Ruhe lässt, dann mach ich das auch.«
Einen Moment wirkte der Mann verdutzt, starrte mein kleines Messer an, anschließend mir in die Augen. Die Spannung zwischen uns war weiter vorhanden, doch schließlich nickte er. Langsam und bedächtig. »In Ordnung. Komm mir nur bloß nie wieder in die Quere.«
Alles klar. Der Kerl hatte sie nicht mehr alle. Trotzdem zwang ich meinen Kopf zu einem braven Nicken und wartete, bis er sich ein paar Meter von mir entfernt hatte. Erst dann ließ ich das Küchenmesser sinken und brüllte: »Mach endlich mal Pause und entspann dich, du Vollidiot!«
Bevor er herumwirbeln konnte, hatte ich bereits die Beine in die Hand genommen. Denn im schnellen Davonlaufen war ich mehr als trainiert.
Als ich mit hochrotem Gesicht in Jamas Amtszimmer erschien, sah der mich sofort alarmiert an. »Was hast du angestellt?«, fragte er.
»Nichts. Wieso?«
»Weil ich das letzte Mal, als du hier angelaufen kamst, eine ganze Meute erboster Leute beruhigen musste. Darum.«
Ach, das. Das war schon Lichtjahre her. Damals hatte ich eine meiner richtig üblen Visionen gehabt.
Die Welt brannte, stand in Flammen. Überall sah ich brüllende Drachen, grün blitzende Leiber, die zu entkommen versuchten. Ich befand mich unter ihnen und rief immer und immer wieder »Flieht! Flieht!«. Doch es gab keinen Ort, an den sie hätten fliehen können.
Sie verbrannten.
Ich hatte während dieser Vision das Gefühl gehabt, die Hitze des Feuers auf meiner Haut zu spüren, und war im realen Leben brüllend durch die Gänge des Hortes gerannt, um die Leute dazu zu bewegen, mit mir wegzulaufen. Als das keiner getan hatte, war ich zugegebenermaßen etwas rabiater vorgegangen. Unter anderem hatte ich ein Baby aus seiner Wiege genommen und war damit abgehauen. Nicht gerade meine Sternstunde.
Es hatte Wochen gedauert, bis sich die Gemüter beruhigt hatten. Maai hatte mich in der Zeit mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt und sie erst abgesetzt, als ich nur noch weinend in der Ecke gesessen hatte.
Ich winkte lässig ab, setzte mich und wollte zur Tagesordnung übergehen. Leider ließ Jama das nicht zu. Vehement zog er mir die erste von sechs Listen vor der Nase weg. »Was ist los?«, fragte er diesmal mit mehr Nachdruck.
Ich glaubte bis heute, dass er und Maai heimlich ein Paar waren. Sonst war es nicht zu erklären, dass Jama bei mir immer wieder ein Auge zudrückte. Beweise für meine Theorie hatte ich außer gelegentlich anschmachtender Blicke leider nicht.
Jama war eine beeindruckende Gestalt. Groß und eher bullig, mit meist finster zusammengezogenen Augenbrauen und einem strengen Zug um die Mundwinkel. Wenn er jedoch gelegentlich freundlicher guckte, sah man die vielen Lachfältchen rund um seine Augen. In den meisten Fällen behielt er jedoch seine strenge Haltung bei, die durch die vielen kleinen Narben im Gesicht noch unterstrichen wurde. Woher er die hatte, wusste niemand. Angeblich war ihm beim Training eine Magiekugel explodiert. Selbstverständlich trug er die Haare tadellos kurz, allerdings hatte er sich einen Bart wachsen lassen – eine recht ansehnliche Mischung aus Schnurr- und Kinnbart. Die Kombination erinnerte mich immer an einen Anker, aber Jama stand es sehr gut, es machte seine eckigen Gesichtszüge etwas weicher. Dass er überhaupt Bart tragen durfte, lag an seinem Status. Nur Hortanführern stand das zu. Daher gab es leider die kuriosesten Bartfrisuren in der Führungselite.
»Da war so ein Drachenreiter …«, rückte ich schließlich zögerlich mit der Sprache raus.
Jama seufzte tief. »Hast du wieder rumgepöbelt?«
»Nein! Das war er! Ich lag nur im Gras und hab meine Pause genossen, und was macht er? Motzt mich an und baut sich drohend vor mir auf.«
»Hast du ihm vorher erklärt, dass er bald eines grausamen Todes sterben wird?«, fragte Jama ungerührt.
»Nein, das hab ich mir mittlerweile abgewöhnt.«
»Fein. Darauf reagieren Drachenreiter nämlich allergisch.«
Ja, das hatte ich auf die harte Tour kapieren müssen. Leider war es so, dass ich mich nicht immer vollständig unter Kontrolle hatte, wenn mich eine Vision überfiel. Dann war ich wahrhaftig der Meinung, dass bald alle Drachenreiter eines grausamen Todes sterben mussten. Sie zu warnen war da eigentlich recht höflich – bloß sahen die das gemeinhin anders. Sie hielten das für eine Drohung, und in dem Fall neigten sie leider zum Gegenangriff.
»Er hat mich wirklich ohne Grund angegangen«, sagte ich etwas sanfter. »In letzter Zeit hatte ich auch keine Visionen. Alles paletti in meinem Oberstübchen.« Ich tippte mir gegen die Stirn.
»Wie sah er aus?«
»So wie Ihr. Groß, trainiert, dunkle Haare, Ringe unter den Augen, grimmiger Ausdruck im Gesicht, leichte Genervtheit im Blick und immer diese Gereiztheit. Könnte Euer Sohn gewesen sein. Ihr Drachenreiter seht doch alle gleich aus.«
»Elaja! Ich mein es ernst.«
Da gab ich auf und beschrieb meinen mysteriösen Unheimlichen etwas spezifischer. Als ich die Frisur erwähnte, verdrehte Jama die Augen. »Klingt nach Ian. Ich spreche mit ihm.«
»Bloß nicht! Ich regele meine Angelegenheiten selbst.«
»Ja, genau. So lang, bis sie zu meinen Angelegenheiten werden, weil deine Art der Regelung durchaus bedenkenswert ist. Ich spreche mit ihm. Du hältst dich schön brav zurück, vor allem bei Ian. Er ist etwas … spezieller.«
Wir wussten beide, dass brav nicht so ganz zu mir passte. Ich nickte trotzdem als Zeichen des guten Willens. Danach wandten wir uns endlich unseren endlosen Listen zu, während uns das Ticken von Jamas überdimensionaler Standuhr begleitete. Ich wusste aus Erfahrung, dass sie zu jeder vollen Stunde rappelte – und damit unser Treffen beendete. Jamas Terminkalender war so vollgepackt, dass er nie länger als eine Stunde für mich erübrigen konnte. Zum Glück.
»Lark hat fünf Kisten Kräuter an die Stadt Pietro geschickt, wovon eine nach Embra weitergeleitet werden sollte. Macht dreißig Kronen«, las ich laut vor.
»Dreißig? Seid ihr unter die Wucherer gegangen?«
»In letzter Zeit wachsen die Kräuter nicht mehr ganz so üppig. Der Winter steht an. Nachfrage und Angebot bestimmen den Preis«, erwiderte ich altklug. »Pietro will noch mal nachverhandeln.«
»Das kann ich verstehen.« Kopfschüttelnd trug Jama die Zahlen ein, und ich setzte schwungvoll einen Haken auf meiner Liste. Auf diese Weise gingen wir nacheinander die einzelnen Punkte durch.
Die Horte tauschten normalerweise kostenlos Waren untereinander. Der nordwestlichste gelegene Standort Embra lag zum Beispiel so hoch in den Eisbergen, dass sich Kräuter dort kaum anbauen ließen. Im Gegenzug versorgten uns die Bergbewohner mit Eissalat und Eiskraut, das für die Medizin zwar unnütz, geschmacklich aber hervorragend zum Würzen von Pasteten war. Die normalen Städte, in denen die magielosen Menschen lebten, mussten hingegen blechen, wenn sie die wertvollen Waren der Drachenwelt haben wollten.
Unsere Medizinkräuter waren beispielsweise um ein Vielfaches wirksamer als Pflanzen, die fernab der magischen Zauberkraft von Drachen heranwuchsen. Die Magie verfing sich in den Blättern. Ein einziges Kraut von Lark hatte oft die Kraft von zwanzig normalen Kräutern. Maai verdiente für uns ein Vermögen. Ein Segen, denn jeder Standort musste sich langfristig selbst finanzieren. Die dort lebenden Drachen mit ihren Reitern stellten den normalen Menschen ihre Dienste wie die Rettungseinsätze in Rechnung, im Gegenzug sorgten sie für Recht und Ordnung.
In den Städten tummelten sich meist die magielosen Menschen, während sich in der Nähe der Drachen all jene versammelten, die über ein wenig oder sehr viel Magie verfügten. Wer genug hatte, durfte Drachenreiter werden. Die übrigen träumten von dieser Karriere oder suchten sich innerhalb des Hortgefüges eine andere Verwendung. Natürlich lebten hier auch noch ganz normale Menschen – so wie ich. Wir verrichteten niedere Dienste oder schafften es in eine Gilde und stiegen dadurch auf. Ich wollte Heilerin werden, hatte meinen Platz aber noch nicht recht gefunden. Listen mit Jama abzugleichen war jedenfalls nicht mein Traumberuf.
»Aus Janara bekommen wir noch eine Lieferung Verbandsmull«, sagte Jama zu mir.
»Schon wieder?«
»Die haben nichts anderes zum Tauschen.«
Ich verdrehte die Augen. »Na, gut. Ich versuche es Maai beizubringen.« Ganz klein vermerkte ich den Hinweis, dass wir aus dem Hort bald die so gruselig kratzigen Mullbinden erhalten würden. Mit etwas Glück überlas meine Mentorin die Notiz, und ich konnte behaupten, es ihr mitgeteilt zu haben. Sobald Maai davon Wind bekam, hatte sie tagelang schlechte Laune. Wir mussten die Dinger nämlich extra noch mal zum Sterilisieren baden und anschließend stundenlang aufwickeln. Meine Hand pikte noch immer von der vergangenen Lieferung.
Gerade wollte ich einen Haken an den letzten Punkt setzen, als meine Sicht verschwamm. Ach herrje. Nicht ausgerechnet vor Jama. Ich blinzelte hektisch und betete, dass ich es aufhalten konnte.
Zu spät.
Eben saß ich noch auf dem ungemütlichen Holzstuhl vor Jamas eindrucksvollem Schreibtisch, und eine Sekunde danach kauerte ich auf einem unebenen, weiß aussehenden Untergrund und sah auf brennende Städte und Dörfer hinab. Der Wind wehte mir die schneeweißen Haare aus dem Gesicht. In meinen Visionen waren sie immer weiß. Immer. Was jetzt kam, kannte ich bereits. Vor mir tauchten mehrere Drachen auf, dunkle, unheimliche Schemen, die mit rasiermesserscharfen Krallen nach mir griffen. Ich hingegen blieb erstaunlich locker und machte diesen speziellen Handwink, den ich schon tausendmal gesehen hatte. Ein reißender Schmerz in meinem Inneren folgte, und schwupp! Schon saß ich wieder vor dem Mahagonitisch und bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen.
Früher war das der Moment, in dem ich aufgesprungen und panisch herumgelaufen war. Zumindest was das anging, war ich mittlerweile schlauer. Ich blieb sitzen und versuchte, nicht auf Jamas Unterlagen zu kotzen. Das war lediglich die Vision mit den angreifenden Drachen gewesen. Es gab schlimmere. Weitaus schlimmere.
»Elaja? Bist du noch anwesend?«, fragte mich Jama vermutlich nicht zum ersten Mal. Er saß mittlerweile nicht mehr, sondern war aufgestanden, starrte mich alarmiert an.
Ich nickte mühsam. »Alles fein«, log ich offensichtlich.
»Hier.« Jama schob mir ein Glas Wasser rüber, das ich in vielen kleinen Schlückchen austrank. »Wieder eine Vision?«, fragte er mitfühlend.
»Nein«, log ich erneut.
»Du solltest noch mal mit Maai darüber sprechen. Vielleicht gibt es ja doch ein Kraut, das deine Tagträume kontrollieren hilft.«
»Hmhmhm«, brummelte ich, setzte hastig das Glas ab und machte einen für Jama gut sichtbaren Riesenhaken an all meine Punkte auf der Liste. »Fertig. Bis zum nächsten Mal.« Ich war schon aus der Tür, bevor Jama mich zurückpfeifen konnte.
Schwer atmend verkrümelte ich mich in den nächsten Gang und sank dort auf den kühlen Boden, bemühte mich um mein inneres Gleichgewicht. Mann! Mental kam ich mit dieser Vision klar, nur körperlich nicht. Mir war selbst Stunden danach noch übel. Sofort ärgerte ich mich über meinen schwachen Moment. Und das ausgerechnet vor Jama! Er mochte mich aus irgendeinem Grund und ich ihn. Da war es meine Pflicht, ihm so wenig wie möglich auf die Nerven zu gehen.
Wenigstens war es diesmal nur die Szene mit der komischen Handbewegung gewesen. Damit wusste ich umzugehen. Die mit der brennenden Erde und den schreienden Menschen war viel heftiger. Oder die, wo ich einem mir unbekannten Kerl gegenüberstand und genau wusste, dass ich geliefert war. Meine Todesangst verspürte ich danach noch mehrere Wochen lang.
Ich brauchte eine ganze Weile, um genügend Energie zu sammeln, um wieder aufzustehen. Als ich dann zu Maai huschen wollte, wäre ich beinahe einer Horde Jungreiter in die Arme gelaufen. In letzter Sekunde brachte ich mich mit einem beherzten Sprung in einer Nische in Sicherheit. Nicht dass Jungreiter ständig rumpöbelten, nur … na ja. Sie hatten die doofe Angewohnheit, nie aus dem Weg zu gehen – und da mir das ebenfalls schwerfiel, kam es bei solchen Begegnungen regelmäßig zu recht unangenehmen Kollisionen. Meist zog ich den Kürzeren, aber das war es mir wert. Wenn die so taten, als wäre ich unsichtbar, dann konnte ich das auch!
In diesem Fall war ich jedoch froh, rechtzeitig aus dem Weg gesprungen zu sein. Der Fiesling vom Hügel war unter ihnen. Der Rest der Truppe lief herumalbernd und sich gegenseitig kumpelhaft boxend an mir vorüber und tat so, als wäre ich inexistent. Der Fiesling hingegen warf mir den Blick des Todes zu und ließ es sich nicht nehmen, auch noch drohend die Augen zuzukneifen. Ich deutete einen spöttischen Knicks an und huschte dann weiter, bevor ich mir eine Tracht Prügel einfing.
Als ich schließlich unfallfrei in meiner Unterkunft angekommen war, ließ ich mich mit einem erleichterten Seufzer auf meine Pritsche hinten an der Wand fallen. Ich schlief mit den anderen Heileranwärterinnen in einem großen Schlafraum, und obwohl ich all meine Rangabzeichen wegen meiner Babyentführungsszene verloren hatte, hatte mir niemand die hinterste Pritsche streitig gemacht. Es hatte auch durchaus Vorteile, als unheimlich und gefährlich zu gelten.
Hier hatte ich mich so gemütlich eingerichtet, wie es als denunzierte und verurteilte Verrückte nun einmal ging: Das Kissen hatte ich mit gelben Sonnen und roten Herzchen bestickt, die Bettdecke mit kleinen Regenbögen verziert und über mir einen gewaltigen Drachen mit grüner Tinte an die Decke gemalt. Er war mir echt gut gelungen, selbst wenn ich mich manchmal selbst davor gruselte. Er hatte sein Maul weit aufgerissen und starrte mich aus zornfunkelnden, geschlitzten Augen an. Ich nickte ihm huldvoll zur Begrüßung zu und zog dann müde mein ergaunertes Buch über Drachenpflege unterm Bett hervor. Darin las ich, bis es im Schlafraum zu voll wurde. Die meisten meiner Mitschülerinnen rotteten sich im Laufe des Abends zusammen, um entweder gemeinsam zu lernen oder über Liebschaften zu diskutieren. Ich blieb lieber in meiner Ecke und tat so, als würde ich den Gesprächen nicht zuhören. In Wirklichkeit war ich bestens informiert, doch behielt ich all die kleinen und großen Geheimnisse natürlich für mich. Wem hätte ich auch davon erzählen sollen? Es sprach ja nie jemand mit mir.
Kurz bevor ich die Augen schloss, verabschiedete mich noch eine letzte Vision. Ich sah mich, wie ich mich prüfend nach rechts und links umsah und dann ein Stück Papier in einem Buch versteckte.
Na prima. Ein weiteres Rätsel, dessen Entschlüsselung mir nur Ärger einbringen würde. Bücher gab es reichlich, und ich hatte mir längst abgewöhnt, in einer Vision genauer hinsehen zu wollen. Was verborgen war, blieb verborgen. Erst mit den Jahren würde ich vermutlich den Buchrücken erkennen können, vielleicht sogar ein wenig mehr von meiner Umgebung.
Und ganz vielleicht sogar das Gesicht von dem Kerl, der mir das Schwert bis zum Heft in die Eingeweide rammte.
Wäre ganz nett zu wissen, wer das war, oder?
Etwas riss mich gewaltsam aus meinem Schlaf. Schmerz, Angst, dann ein grässlicher, lang gezogener Schrei. Er hörte sich so gequält an, dass ich wie unter einem heftigen Blitzeinschlag zusammenzuckte.
Ach, verdammt! Eine weitere fiese Vision, wobei sich diese ganz anders anfühlte als die sonst üblichen.
Ich bemühte mich aufzuwachen, hatte jedoch keinen Erfolg. Hilflos blieb ich zwischen den Welten hängen, war nicht mehr am Schlafen und auch nicht wach. Dunkelheit herrschte um mich herum, ich sah nichts, spürte aber genug. Etwas war in der Nähe. Etwas Großes, vielleicht Gefährliches.
Nein, nein, nein!
Ich wollte das echt nicht mehr. Lass mich gefälligst in Ruhe, schrie ich in Gedanken und wurde natürlich ignoriert.
Wieder rief jemand. Noch lauter. Noch eindringlicher. In meinem Kopf. In meinem ganzen Körper. Lauter und lauter. Mein Verstand rebellierte, während sich mein Gehirn anfühlte, als würde sich dort jemand festkrallen.
Diesmal war ich es, die brüllte. Ich war es auch, die sich in ihrem Bett krümmte, die Fingernägel in der alten Decke verhakte und seltsame Dinge von mir gab. Meine Augen waren weit offen, das bemerkte ich. Dennoch sah ich nichts. Nur Dunkelheit. Vernahm einen allgegenwärtigen Schreck, die Panik eines anderen.
Das war neu. Normalerweise war ich es, die Todesangst ausstand. Jetzt hingegen spürte ich die Schmerzen eines anderen – und das mehr als deutlich. Ganz instinktiv wandte ich mich demjenigen zu, griff testweise im Geiste nach ihm und ignorierte dabei, dass sich jede Bewegung wie ein fieser Peitschenhieb anfühlte. Dennoch ließ ich nicht locker. Da!
Ich spürte seine Haut für einen winzigen Moment, wollte zupacken. Zu spät. Etwas zerrte ihn von mir fort. Eine Macht, der ich nichts entgegenzusetzen hatte. Der nun folgende Schrei ließ meine Ohren klingeln, woraufhin ich mich verzweifelt nach vorn warf. Beinahe hätte ich ihn erwischt, doch da wurde mein wirklicher Körper abrupt gerüttelt. Meine Wange brannte. Hatte mich jemand geschlagen?
Beim Drachenfeuer! Der Moment der Ablenkung war jedenfalls fatal gewesen. Ich spürte ihn nicht mehr. Er war weg. Im Nichts verschwunden, und ich war allein in dieser merkwürdigen Zwischenwelt. Vermutlich hatte ich ihn unbewusst aus meinen Gedanken geworfen, um mich selbst zu schützen.
Oder …
Auweia. Er kam zurück. Schneller und heftiger als zuvor. Als würde er noch einmal all seine Kraft zusammennehmen. Vor sich her trieb er eine Welle aus Gefühlen und Empfindungen.
Angst, Verzweiflung, Panik, Einsamkeit, Unverständnis, ein letzter Versuch, sich zu wehren, sich zu retten, dann …
… ein Schrei.
So schnell, wie die Welle gekommen war, verschwand sie wieder, und ich wurde mit solcher Gewalt in meinen wirklichen Körper zurückgestoßen, dass ich vor Schmerzen aufstöhnte und mich abrupt aufsetzte.
Ich war nass und fror, meine Wange brannte und meine Oberarme schmerzten. Jemand hatte über mir einen Eimer Wasser ausgeschüttet. Vermutlich, um mich zu wecken. Und die Wange? Ich meinte mich an eine Ohrfeige erinnern zu können.
Eine Frau sprach mich an. Oder schrie sie sogar? Ich hörte hauptsächlich ein dumpfes Dröhnen. Ein Schatten wandelte von links nach rechts vor meinem Gesicht vorbei und zurück; etwas schnipste neben meinem Ohr und legte sich danach auf meine Stirn. Eine Hand, die sich furchtbar eisig anfühlte. Oder glühte ich?
Noch einmal blinzelte ich, und endlich, endlich sah ich klarer. Die Schatten wurden zu meinen Mitschülerinnen, die wandelnde Silhouette zu einer Hand, die vor meinem Gesicht umherfuhr, die Stimmen zu aufgeregtem Gemurmel und Geschnatter, die Fremdsprachen zu erkennbaren Worten und die seltsamen Laute zu meinem eigenen Versuch, gleichmäßig zu atmen, um nicht zu ersticken.
Fünf Augenpaare starrten mich entsetzt an. »Elaja? Bist du wieder wach?«, fragte mich Maai.
Ich wollte fluchen, doch kein Laut kam über meine Lippen. Stattdessen erinnerte ich mich. Drachenmist! Ich stieß die helfenden Hände wüst zur Seite und versuchte aufzustehen. »Er stirbt, er stirbt«, sagte ich immer wieder.
»Niemand stirbt, Mädchen. Und jetzt beruhige dich. Es war nur eine deiner üblichen Visionen. Nichts Wildes!«
Nein! Wenn ich eins wusste, dann das: Meine Visionen fühlten sich anders an. Das hier war real gewesen. Ich erwiderte den Blick meiner Mentorin voller Feuer. »Das war keine normale Vision. Ich muss gehen. Sofort!«
Mit einem Ruck warf ich die ohnehin schon halb auf dem Boden liegende Decke von mir fort, wich Maais Händen aus und rollte mich seitlich von ihr weg und von meinem Strohbett hinunter.
Die umstehenden Schülerinnen schnatterten aufgeregt und sprangen mir hastig aus dem Weg, sobald ich in ihre Nähe kam.
»Elaja, bleib stehen«, brüllte mir Maai hinterher. »Jetzt dreh nicht wieder durch!«
»Ich drehe nie durch«, brüllte ich zurück. »Er stirbt, und ich muss ihm helfen. Ich weiß, was ich tue.« Zumindest meistens, setzte ich hinzu. Gleichzeitig wurde ich schneller und schneller, erreichte die Tür und riss sie hastig auf. Ein eisiger Windhauch fuhr mir entgegen. Ich ignorierte die Kälte und rannte weiter, natürlich verfolgt von einer ganzen Schar aufgeregter Heilerinnen.
»Ich wusste es gleich, dass sie irre ist. Diese Augen sind nicht von dieser Welt«, hörte ich eine schimpfen.
»Elaja«, mischte sich Maai ein. »Das ist viel zu kalt draußen. Du …« Sie unterbrach sich, als sie meine Entdeckung ebenfalls erkannte.
Drachen. Überall wimmelte es von Drachen. Vom Transportdrachen bis zum Kriegsdrachen. Sie alle hatten sich draußen versammelt und starrten in den Himmel. Neben ihnen liefen ihre aufgeregten Reiter herum und machten das Chaos komplett.
Was war hier bloß los?
Abrupt blieb ich stehen, den Kopf genau wie alle anderen in den Nacken gelegt. Selbst in der Luft war unglaublich viel los. Ich zählte mindestens zwei Patrouillen, die über uns ihre Kreise zogen. So etwas war noch nie geschehen. Schon gar nicht am späten Abend.
Mittlerweile war auch Maai neben mir angekommen. Keuchend blickte sie sich um. »Langsam wirst du mir tatsächlich etwas unheimlich«, stellte sie trocken fest. »Deine Visionen werden immer realer.«
Im Gegensatz zu den anderen Frauen in unserem Quartier hatte sie mich noch nie für verrückt oder irrsinnig gehalten. Vielmehr hatte sie stets behauptet, ich sei etwas Besonderes. Ob das jetzt besser oder schlechter war, hatte sie nie näher ausgeführt. Wenigstens nahm sie mich auch jetzt ernst.
»Ich habe doch gesagt, dass er stirbt«, sagte ich trocken.
»Aber wer?«
»Weiß ich nicht.«
»Und warum weißt du dann, dass er stirbt, wenn du nicht mal weißt, wer er ist?«
»Weil er mich um Hilfe angefleht hat. Verdammt. Maai! Ich muss den Drachenreitern Bescheid sagen.«
Entschlossen stapfte ich los und hielt auf den nächstbesten Reiter zu. Maai zerrte mich in der gleichen Bewegung wieder zurück.
»Was willst du ihnen denn sagen?«, fuhr sie mich an. »Da ist jemand, der Hilfe braucht, nur ich weiß nicht wer? Elaja! Reiß dich zusammen! Noch eine weitere verrückte Aktion und ich kann dich nicht länger schützen. Die schmeißen dich endgültig aus dem Heilerinnenprogramm.«
Ich warf ihr einen glühenden Blick zu und bemerkte dabei die Sorge in ihren grauen Augen. Sofort verpuffte meine Wut. Sie hatte ja recht. »Aber …«, setzte ich an.
»Kein aber! Das ist nicht dein Problem. Sieh dich um. Sollen sich die Drachenreiter einen Kopf darüber machen. Wir warten hier und verhalten uns unauffällig.«
Der nun folgende Blick war eindeutig. »Unauffällig« kam bei mir eher selten vor. Obwohl ich recht klein und zierlich war, neigte ich dazu, unangenehm die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sei es durch Fluchen, seltsame Krampfanfälle oder der Neigung, mich mitten in der Nacht auf der Landebahn wiederzufinden und laut »Manila« zu brüllen. Kein Mensch kannte eine Manila oder wusste, was das sein sollte. Ich auch nicht, nur machte es das natürlich nicht viel besser.
»Ich glaube, dass es ein Drachenreiter war, der sich mit mir in Verbindung gesetzt hat«, sagte ich aufgeregt.
»Das bezweifle ich stark. Die reden ja nicht mal im wachen Zustand mit uns. Warum sollte sich dann einer im Traum an dich wenden?«
»Weil –«
»Schau nur!«
Ich folgte der Richtung ihres ausgestreckten Fingers und erkannte einen Punkt hoch oben am Himmel. Waren das Drachen? Ja! Definitiv. Es war eine ganze Traube von ihnen, die dicht gedrängt in einem Pulk flogen. Von einer geordneten Formation konnte keine Rede sein. Das war äußerst ungewöhnlich für das sonst so überkorrekte Drachenvolk. Abstandsregeln, Sicherheitsvorkehrungen, Vorschriften und Benimmregeln bestimmten ihr Leben. Kein Wunder, dass ich mich mit dieser Spezies so schwertat.
Die Drachen kamen rasch näher. Erst jetzt erkannte ich, dass der Pulk merkwürdig schwankte. Einige flogen so laut schreiend um den Kern des Pulks, dass ich ihre Rufe noch am Boden hören konnte.
»Die tragen etwas«, sagte ich eher zu mir als zu Maai. »Nur was? Oder …« Ich packte die Heilerin so fest am Oberarm, dass sie vor Schreck quietschte. »Das ist er! Das ist mein Drachenreiter, der mich um Hilfe gebeten hat!«
»Lass das bloß niemanden hören. Ein Drachenreiter, der … he! Wo willst du hin?«
»Näher ran!«
Maai fluchte und setzte mir nach. Ich wich ihren zupackenden Händen aus und sah dabei permanent in den Himmel. Beinahe wäre ich gegen einen kaum zu übersehenden Drachen gelaufen, der mich entsprechend böse anbrummelte. Ich ignorierte ihn und lief einfach weiter.
»Sie wollen hier landen.« Fasziniert beobachtete ich die übrigen Drachen, die von der Landebahn hasteten. Im letzten Moment hüpfte ich zur Seite, sonst hätte mich ein zierlicher Botendrache über den Haufen gerannt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Drachen um ihn herum hatte er nicht eine einzige Zacke am Körper. Ein pfeilschneller Sportler, wie ich nur mit einem einzigen Blick auf seine ungewöhnlich großen Schwingen feststellte. Aus geschlitzten Pupillen in den dunkelgrünen Iriden warf er mir einen finsteren Blick zu, der alles sagte. Ich hatte hier nichts zu suchen.
»Elaja, bleib stehen und komm zurück!« Maai klebte mir noch immer an den Fersen. Warum sie sich derart um mich kümmerte, war mir bis heute ein Rätsel. Ich war ihr wirklich dankbar dafür, verstehen konnte ich es jedoch nicht. Ich war nicht gerade das, was man als einfaches Pflegekind bezeichnen würde. Eher der pure Horror. Dabei meinte ich es nicht mal böse. Ich lebte in meiner eigenen Welt. Mal mehr, mal weniger ausgeprägt – je nach Gemütslage.
»Maai!«
Der Ruf sorgte dafür, dass sogar ich mich umdrehte. Die Stimme kannte ich nur allzu gut. Sie gehörte zu Jama, der wirklich wild aussah, als er neben uns ankam. Vermutlich war er geradewegs aus dem Bett gesprungen. Seine kurzen Haare standen ab, sein Hemd war falsch geknöpft und sein Hosenschlitz noch offen. Ich verzichtete gnädig, ihn darauf hinzuweisen. Ein wenig gesunder Menschenverstand floss auch durch mein Gehirn.
»Es gibt gleich Arbeit für dich«, sagte er zu Maai. »Zumindest unter der Bedingung, dass sie heil ankommen.«
»Wer ist denn …«, hob ich an, woraufhin Maai mir so heftig auf die Zehen trat, dass ich die Drachenbabys piepsen hörte.
»Natürlich. Wir kümmern uns«, sagte Maai laut und zog mich herrisch zu sich rum. »Elaja, hol meine Verbandstasche, bring auch die gelbe mit! Nein, Mädchen! Wir diskutieren nicht darüber. Wenn du deinem Reiter helfen willst, dann gehorch mir.«
Sie hatte recht, und daher folgte ich ihrem Befehl, wirbelte herum und bahnte mir rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Die bestand mittlerweile beinahe vollständig aus Dienstboten, Heilerschülerinnen und Gehilfen. Da mich die meisten unheimlich fanden, machten sie mir nur zu gern Platz. Die Drachenreiter dazwischen waren hingegen ein anderes Kaliber, doch ich fluchte genug, um mir Respekt zu verschaffen. Endlich war ich raus aus dem Pulk der Gaffer. Der Weg war frei.
Mit rasantem Tempo stürmte ich in das Krankenlager, machte einen Hocksprung über eines der Betten und erreichte in Rekordzeit die zwei Taschen, die ordentlich wie immer auf einem Tisch am Ende des Raumes standen. Ich riss sie an mich und wollte genauso schnell zur Tür zurück, als ich das Gewicht meines Gepäcks spürte. Augenblicklich ging ich in die Knie. Danach bedachte ich die viel zu schweren Dinger mit einigen meiner übelsten Schimpfwörter und zog sie schließlich mit fest zusammengebissenen Zähnen hinter mir her, quer über den Vorplatz, rüber zur Heilerin.
Maai war in ein Gespräch mit einem Krieger verwickelt, der gar nicht richtig zuzuhören schien. Immer wieder warf er nervös einen Blick in den Himmel, wo sich der Drachenpulk unaufhaltsam näherte. Er schwankte jetzt heftig und war noch größer geworden. Drachen aus unserem Hort hatten sich in die Lüfte geschwungen, sich dazugesellt.
»Ist der Drache verletzt? Oder der Reiter? Oder beide?«, fragte ich ohne Begrüßung und erntete prompt einen warnenden Blick von Maai. Wie immer ignorierte ich ihn.
»Wissen wir nicht genau«, antwortete der Krieger vermutlich eher instinktiv. Normalerweise ignorierten mich die Leute vom Drachenvolk ungefähr genauso, wie ich gerade Maais Warnung in den Wind geschossen hatte. Der Krieger deutete auf den Pulk. »So wie sich die Drachen benehmen, sind vermutlich beide betroffen.«
Ich ließ meine Last zu Boden sinken und musterte nun den Pulk mit neuen Augen. Ein verletzter Drache in der Luft. Das war nicht gut. Das wusste selbst ich.
In der Sekunde verließ ein einzelner Drache die Gruppe. Er sackte ein ganzes Stück mit dicht an den Körper gelegten Flügeln in die Tiefe und breitete sie erst im letzten Moment wieder aus, um sich abzufangen und mit deutlich erhöhtem Tempo die Landebahn in Angriff zu nehmen.
Ein Raunen ging durch die Menge.
Es war ein junger Drache. Seine Bewegungen waren eckig und eher ungelenk. Schlaksig.
Ich hatte auf meinem Hügel viel Zeit damit verbracht, die Drachen zu beobachten, daher wusste ich ganz genau, dass dieser Jungdrache verzweifelt war. Jede Bewegung seiner Flügel war ein Beweis dafür. Er flog panisch und zugleich wild entschlossen. Um das zu bekräftigen, stieß er ein lang gezogenes Brüllen aus, das aus Dutzenden von Kehlen erwidert wurde. Dabei hielt er auf die Landebahn zu, sank immer tiefer und tiefer.
In dieser Sekunde wusste ich es.
Dieser Drache gehörte zu dem Reiter, der mich gerufen hatte. Ich spürte es tief in mir drin. Ein Kribbeln. Ein Ziehen in meinem Innersten. Doch damit nicht genug. Das war auch zugleich der Reiter, der mich auf dem Hügel so aggressiv angemacht hatte. Der Kerl mit dem Zopf. Ian, wie Jama ihn genannt hatte. Aber … warum sollte mich ausgerechnet der Kerl um Hilfe anflehen?
Jetzt erkannte ich auch die schwarzen Schuppen des Drachen, dessen Farbe sich kaum gegen die Nacht um ihn herum abhob. Acht Hörner an der Stirn, so lang wie Schwerter. Dazu ein stachelbesetzter Schwanz und übergroße Schwingen.
»Der verletzte Reiter«, sagte ich zu Maai. »Er kommt.«
»Wo?«
»Da!« Ich zeigte auf den Drachen und stutzte. Von wegen verletzter Reiter. Da fehlte was. Normalerweise saß er zwischen den Flügeln am Halsansatz, aber die Stelle war leer. Nur dass ein Drache niemals ohne Reiter flog. Nie! Zwar waren sie durchaus in der Lage, ganz normale Flugrunden ohne Hilfe zu drehen, doch sie taten es einfach nicht. Es war gegen die Regeln. Gegen die Magiegesetze.
Als mein Blick auf seine Beine fiel, begriff ich endlich. Das Tier trug etwas in den Krallen seiner linken Hinterpfote. Hatte er etwa seinen Reiter dort drin? Hoffentlich nicht!
In dem Moment schwebte der Drache an mir vorbei, knapp über dem Erdboden. Für gewöhnlich setzten Drachen bei der Landung zunächst die Hinterpfoten auf, danach die Vorderpfoten. In dem Fall nicht. Die linke Hinterpfote konnte er schlecht aufsetzen, denn damit hielt er etwas fest.
»Das sieht nicht gut aus«, murmelte der Reiter neben mir. Wir hielten wohl alle die Luft an, als uns die Panik des Jungtieres bewusst wurde.
Der Drache war viel zu schnell. Viel zu wackelig für eine schöne Landung. Trotzdem setzte er die freie Hinterpfote auf, versuchte die fehlende zweite Pfote mit den Flügeln auszugleichen. Ein Fehler. Er geriet ins Straucheln. Um dennoch zu landen, tat er das einzig Machbare: Er knickte den rechten Flügel ein und legte sich auf die Seite, fing den Sturz mit seinem eigenen Körper ab. Es krachte, als der riesige Drache aufkam. Das Tier schrie jämmerlich. Schuppen flogen durch die Luft. Blut und Dreck.
Ich schrie gleich mit und konnte dennoch nicht wegschauen. Durch seinen Schwung schlitterte er ein ganzes Stück weiter. Dabei hielt er die linke Hinterpfote verzweifelt so hoch, wie er nur konnte.
Als er endlich lag, herrschte für einen Moment Stille. Niemand sagte etwas, alle starrten den Fleck an, an dem der junge Drache so dramatisch niedergegangen war. Der lag nun reglos da und gab keinen Ton von sich.
Ganz langsam ließ er seine linke Hinterpfote langsam nieder, bis sie neben der rechten auf dem Boden lag. In genau diesem Moment rannte ich los, ohne noch länger darüber nachzudenken.
»Elaja«, rief Maai erschrocken hinter mir her, dann hörte ich Schritte, die mir folgten, allerdings etwas langsamer. Die Heilerin konnte nicht so schnell folgen, weil sie jetzt den schweren Verbandskoffer tragen musste, den ich hatte stehen lassen.
»Mädchen, bleib hier! Der Drachen könnte gefährlich sein!«, brüllte mich ein Mann an.
Auch seine Warnung ignorierte ich, denn ich hatte nur Augen für mein Ziel. Für den Drachen. Für seinen Reiter. Mittlerweile war ich mir absolut sicher. Die Magie knisterte tief in mir und schob mich voran. Der Drang war so übermächtig, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte.
Ich erreichte den Drachen in dem Moment, als er damit anfing, leise Jammertöne von sich zu geben. Sie klangen so gequält, dass es mir das Herz zerriss. Schlitternd kam ich kurz vor dem Kopf des Tieres zum Stehen.
Zum Glück hatte mir Maai genug über verletzte Lebewesen beigebracht. Instinktiv rief ich mein Wissen nun ab. »Ruhig, Junge«, sprach ich ihn an und bekam als Antwort ein klägliches Brummen, voller Schmerz und Angst.
»Alles wird gut.« Langsam trat ich von seinem Kopf fort und wollte mich möglichst unauffällig seinen Hinterpfoten nähern, als er mit einem wilden Laut sein riesiges Haupt hob und leicht nach mir schnappte. Eine deutliche Warnung. Seine Hinterpfote war tabu für mich. Sofort blieb ich stehen und starrte ihn an.
Das Tier war wie von Sinnen vor Angst. Blut floss von seiner Kopfhaut. Die Haut hing nur noch in Fetzen am Knochen. Anscheinend war er mit dem Kopf auf dem Boden aufgekommen, hatte sich die Schuppen abgeschält.
Wieder dieses drohende Fauchen, dazwischen ein Gurgeln, das mir Sorgen bereitete. Ein winziger Blutstrahl floss dem Tier aus dem Maul. Nicht gut. Gar nicht gut. Blut aus dem Mund, egal bei welchem Wesen, war stets ein Grund zur Besorgnis. Vielleicht hatte er sich nur auf die Zunge gebissen, vielleicht hatte es gefährlichere Gründe.
Sein undurchdringlicher, fast wilder Blick verließ mich und wanderte zu den Menschen, die auf ihn zugelaufen kamen. Mit einem Mal bekam er noch mehr Angst. Ich spürte dieses Gefühl so deutlich, als wäre es mein eigenes.
Der Drache zappelte, versuchte sich aufzurichten, ohne dabei seine linke Pfote auf den Erdboden zu setzen. Er wollte aufstehen und schaffte es nicht. Dadurch geriet er nur noch mehr in Panik.
Erde flog mir um die Ohren. Mit seinen rudernden Vorderpfoten hätte er mich um ein Haar erwischt. Ich machte im letzten Moment einen Satz nach hinten, duckte mich. Erst jetzt bemerkte ich die anderen Drachenreiter, die sich unaufhaltsam seinem gestrandeten Körper näherten.
Drehte er wegen ihnen so durch?
War ich gar nicht der Grund für seine Panik?
Ich musste was unternehmen. Sofort. Das Tier würde in seinem Zustand niemals zulassen, dass man ihm seinen Schatz fortnahm. Er war viel zu durcheinander, um Freund von Feind zu unterscheiden. Die Einzige, die er näher an sich herangelassen hatte, war ich. Wahrscheinlich war ich noch zu jung beziehungsweise zu klein, um eine Gefahr darzustellen.
»He, Drache«, rief ich zu ihm rauf. Augenblicklich ruckte sein hoch aufgerichteter Kopf herum. Er sah mich von oben herab an, überragte mich wie ein bedrohlicher Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
»Hab keine Angst.«
Ich gab so viel Freundlichkeit, wie ich aufbringen konnte, in meine Stimme. Mit riesigen schwarzen Augen musterte er mich so eindringlich, so voller Misstrauen, dass es mir durch Mark und Bein ging. Ich hatte Angst, zwang mich jedoch zu bleiben.
Noch nie war ich einem Drachen so nahe gekommen. Jetzt stand ich ganz dicht vor seinem schwarzen Halsansatz, knapp vor seinen Vorderpfoten, die lang ausgestreckt neben mir lagen. Ich spürte die Hitze seines Körpers, roch seine Aufregung. Sofort verspannte ich mich ebenfalls.
Ruhig, ermahnte ich mich. Wenn du jetzt auch panisch wirst, machst du alles nur noch schlimmer. Wobei es schlimmer kaum noch ging. Der Drache hatte nämlich in seiner Aufregung nach dem ersten heraneilenden Reiter geschnappt.
Ohne weiter nachzudenken, berührte ich seinen Hals und war überrascht. Ich hatte immer gedacht, Drachenhaut fühlte sich glatt wie Eis an. Stattdessen war sie rau, von Tausenden winziger Rillen durchzogen, die von einer einzigen großen Kerbe in der Mitte der Schuppe abzweigten. Ähnlich wie bei einem Blatt, nur viel wärmer und lebendiger.
In der Sekunde knurrte es bedrohlich von oben, und ich hob den Kopf, sah ein Drachenmaul direkt über mir. Es war leicht geöffnet, wodurch ich die vielen Zähne sehen konnte. Jeder einzelne war in etwa so lang wie mein Unterarm. Blut troff mir auf die Haare.
Ich befand mich in Lebensgefahr.
»Ich will dir nur helfen«, sagte ich mit vor Angst leicht zitternder Stimme. »Beruhig dich.«
Das galt dann wohl auch für mich. Erneut berührte ich ihn, diesmal fester, ging mit der Hand langsam seinen Hals hinauf, so weit ich konnte, und tätschelte ihn wie ein Pferd.
»Leg dich hin, Junge, komm, leg dich hin«, lockte ich, verstärkte den Druck meiner Hände und machte unmissverständlich meinen Wunsch deutlich. »Wir tun dir nichts!«