Der letzte Garten der Hoffnung - Liane Mars - E-Book

Der letzte Garten der Hoffnung E-Book

Liane Mars

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Beschreibung

Ein magischer Garten kurz vor dem Untergang. Eine einsame Zauberin ohne Ausbildung. Ein Krieger mit letzter Hoffnung auf Rettung. "Ich hatte etwa zwanzig Sekunden Zeit, um die Entscheidung meines Lebens zu treffen. Verließ ich den Zaubergarten und rettete ein Kind? Oder bewachte ich meine Welt und blieb versteckt, wie man es von mir erwartete? Fünfzehn Sekunden. Ich atmete ein. Öffne niemals diese Tür, hatte mir meine Tante eingeschärft. Niemals! Noch drei Sekunden. Tu. Es. Nicht. Die Zeit war um – und ich reagierte ..."

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Liane Mars

Der letzte Gartender Hoffnung

Copyright © 2022 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Satz & Layout: Astrid Behrendt

Umschlagdesign: Jaqueline Kropmanns

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-514-4

eISBN 978-3-95991-515-1

Alle Rechte vorbehalten

Für Pac

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

Ich hatte etwa zwanzig Sekunden, um die Entscheidung meines Lebens zu treffen. Verließ ich den verzauberten Garten und rettete ein Kind? Oder bewachte ich meine magische Welt und blieb versteckt, wie man es von mir erwartete?

Fünfzehn Sekunden. Ich atmete ein.

Meine Hand legte ich auf den Riegel der Gartentür. Er war alt und verrostet, fühlte sich kühl und eher rau an. Seit Monaten war er nicht bewegt worden. Wahrscheinlich war er längst mit dem Tor zu einem unlösbaren Klumpen verschmolzen. Noch zehn Sekunden.

Ich sah das Mädchen, das schreiend um sein Leben lief. Sie war etwa elf Jahre alt. Ihre beiden blonden Zöpfe hüpften wie wild gewordene Seile auf ihrem Rücken herum. Peitschten durch die Luft. Ihr kurzer Rock blähte sich im Wind des rasanten Laufes.

Dahinter die drei Männer. Dunkel und unheimlich. Alles an ihnen wirkte bedrohlich. Von den schwarzen Lederhosen über die wie Kettenhemden aussehenden Oberteile bis zu den tödlich schimmernden Waffen an den Gürteln und in ihren Händen. Messer, Äxte, Schwerter. Das waren Männer, die töteten.

Und sie waren hinter dem Mädchen her.

Die Kleine war schnell. Das musste man ihr lassen. Dabei hielt sie geradewegs auf mich zu. Als könnte sie mich und die Pforte genau sehen, die gut versteckt zwischen zwei Meter hohen Hecken lag. Eigentlich war das unmöglich. Und dennoch geschah genau das gerade.

Ihre Miene war panisch und zugleich wild entschlossen. Die Augen hatte sie aufgerissen, während sie auf mich zustürmte. Ich sah die gleiche Angst, die ich fühlte.

Todesangst.

Denn sie brachte die Gefahr geradewegs zu mir.

Sie würde es nicht schaffen. Niemals. Das wusste sie, das wussten die Männer, das wusste ich.

Drei Sekunden.

Tu. Es. Nicht.

Die Zeit war um – und ich reagierte. Ich packte den alten Riegel und schob ihn mit einem Ruck zurück. Ein Knirschen, ein Dröhnen. Der gesamte Garten stöhnte hinter mir auf. Die Bäume knarzten aus Protest, während die Kaninchen sich mit einem Hops in ihren Höhlen in Sicherheit brachten. Das Einhorn drehte auf dem Huf um und galoppierte fort von mir. Weg von der Gefahr, in die ich uns manövrierte.

Öffne niemals diese Tür, hatte mir meine Tante eingeschärft. Niemals.

Sie selbst hatte sich nicht immer daran gehalten. Für mich hingegen waren ihre Worte Gesetz gewesen. Bis jetzt.

Mit aller Kraft riss ich am Tor, das aus kunstvoll geformten Eisenstäben bestand. Ich konnte dazwischen hindurchsehen und war zugleich von außen verborgen. Zumindest hatte das meine Tante behauptet.

Das Mädchen schien mich trotzdem sehen zu können.

Ein gleißendes Flimmern schoss an der Hecke entlang. Als stünden die Büsche und das Tor in Flammen. Als protestierten sie auf ihre Art gegen meinen Frevel. In der gleichen Zeit läutete die Alarmglocke im Haus. Ein lautes, schreckliches Dröhnen. Ein Gong mischte sich darunter. Die Uhr des Gartens spielte ebenfalls verrückt. Es war mir egal, denn ich hatte keine Wahl.

Einer der Männer hatte einen der Zöpfe des Mädchens erwischt. Es stürzte. Keine zehn Meter von meiner Haustür entfernt. In dieser Sekunde verflogen alle Zweifel. Ich warf mich mit meinem Gewicht nach hinten, um das verdammte Tor aufzubekommen. Es sah so filigran, so leicht aus – und trotzdem schien es Tonnen zu wiegen.

Es bewegte sich. Einen Zentimeter. Zwei. Komm schon, flehte ich gedanklich, während ich den Schrei des Mädchens hörte. Als hätte das Tor meine Verzweiflung gespürt, gab es nach. Es flog auf mich zu, sodass ich fast gestürzt wäre. Im letzten Moment fand ich mein Gleichgewicht wieder, schnappte mir die Gartenschaufel und stürmte voran, mit Kriegsgebrüll, um den Mann aufzuhalten. Der wollte in dieser Sekunde sein Messer in die Brust des Mädchens rammen.

Ich wusste, dass ich meinen Überraschungsmoment nutzen musste. Von Schwertkampf hatte ich keine Ahnung, und gegen drei Krieger auf einmal null Chance. Ich konnte nur auf meine Geschwindigkeit und die Verwirrung meiner Gegner setzen.

Ehe sich’s der Krieger versah, hatte er bereits meine Schaufel im Gesicht. Ich schlug mit aller Kraft zu. Mit allem Frust, den ich in den letzten zwei Jahren angesammelt hatte. Das war eine ganze Menge, und so war es nicht verwunderlich, dass der Typ wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Dummerweise begrub er dabei das Mädchen unter sich.

Ich brüllte noch einmal, um die anderen beiden Krieger einzuschüchtern. Im Fluchen war ich schon immer großartig gewesen, das musste ich nutzen. Gleichzeitig schwang ich die Schaufel herum und traf den einen Krieger an der Schulter. Er ging in die Knie, während der dritte im Bunde zurücksprang und sein Schwert zog.

Nicht gut. Gar nicht gut.

»Steh auf«, brüllte ich das Mädchen an. Es mühte sich ab, um unter dem ohnmächtigen Mann hervorzukommen. Ich konnte ihr leider nicht helfen, denn der dritte Krieger griff mich an. Ich wehrte den Schlag mit der Schaufel ab und quiekte dabei. Sofort erschien ein Grinsen auf dem Gesicht meines Angreifers. Er hatte erkannt, dass ich eine Nahkampfniete war. Mein Auftritt war lediglich überraschend genug gewesen, um durch Zufall zwei Gegner auszuschalten. Jetzt sah die Sache völlig anders aus.

»Eine Garraí«, knurrte er erfreut. Was meinte er denn damit? Im Moment war mir das allerdings recht egal, denn ich hatte andere Probleme.

Der zweite Mann kämpfte sich stöhnend wieder auf die Beine.

Ich schwang die Schaufel. Mein direkter Gegner hatte damit gerechnet, dass ich ihn angreifen würde, doch so dumm war ich nicht. Schwert gegen Holzstiel – da konnte ich nur verlieren. Außerdem war mir bewusst, dass ich einpacken konnte, sobald sich der andere erholt hatte. Netterweise befand er sich in der Reichweite meiner Waffe. Ich traf mit einem Plöng seinen Kopf. Diesmal stand der Typ nicht wieder auf.

Dem dritten Mann verging das dumme Grinsen. Er schrie wütend auf und machte einen Satz nach vorn, wodurch das Schwert gefährlich nah an meiner Seite entlangpfiff. Ich entkam durch pures Glück, musste aber meine Schaufel fallen lassen. Daraufhin tat ich das Einzige, was mir übrig blieb: Ich nahm die Beine in die Hand.

Im Sprint packte ich das Mädchen an der Hand und riss es hoch. Ein Ruck ging durch unsere Körper. Ihr Bein war weiterhin unter dem Ohnmächtigen vergraben, doch sie kam frei, verlor dabei allerdings einen Schuh. Egal. Nur weg.

In zwei Schritten hätte uns der Krieger eingeholt. Garantiert. Dazu kam es nur nicht. Ein anderer Mann war plötzlich an unserer Seite. Ich hatte nicht einmal Zeit, vor Schreck zu kreischen, da war er schon an uns vorbei und warf sich auf den Krieger, der uns verfolgte.

Ein Klirren. Schwert traf auf Schwert. Ich duckte mich und drehte mich, um einen Blick zurückzuwerfen. Der Fremde kämpfte mit unserem Angreifer. Schlag auf Schlag folgte in schneller Abfolge.

»Du«, schrie der Gegner voller Zorn. In den folgenden Hieb legte er all seine Verachtung und verschaffte sich dadurch einen Moment Zeit. Den nutzte er, um wie wahnsinnig geworden zu brüllen: »Samuel ist hier. Samuel ist hier.« Danach folgten seltsame Worte, die ich nicht verstand.

Mit Samuel schien unser Retter gemeint zu sein. Der versuchte das Gebrüll mit einem hastigen Schlag zu beenden, doch sein Gegner wich zurück.

Das Mädchen blieb in der gleichen Sekunde abrupt stehen. Da ich sie an der Hand hielt, stoppte mich das ebenfalls, brachte mich fast zu Fall.

»Samuel«, schrie sie mit einer Mischung aus Freude und Verzweiflung. »Pass auf.«

Auf einmal waren da weitere Männer. Grimmige Männer. Finstere Männer. Ich hatte keine Ahnung, woher sie gekommen waren. Zum Glück für mich und das Mädchen waren sie nicht zwischen uns und der Gartenpforte aufgetaucht, sondern fast direkt vor Samuel.

Der wirbelte zu uns herum. »Ainoa, lauf. In den Garten mit dir.« Erst jetzt schien er mich wahrzunehmen. »Was stehst du hier so rum, Garraí? Zurück in deinen Garten«, brüllte er mich so laut an, dass mir die Ohren klingelten.

Das war deutlich und ganz in meinem Sinn. Ich packte die Hand des Mädchens fester und zog. Sie stemmte sich für eine winzige Sekunde dagegen, nicht gewillt, Samuel allein zu lassen.

Da brach die Hölle los. Samuels Gegner taten uns nicht den Gefallen, erst einmal heroische Worte mit ihm zu wechseln. Sie griffen direkt an. Wie viele es waren, konnte ich nur schätzen. Zum Zählen blieb keine Zeit. Im Grunde war das auch egal, denn mein Ziel war eindeutig: Ich musste die verdammte Pforte erreichen.

Weil sich das Mädchen sträubte, schnappte ich es mir und hob das strampelnde Bündel in meine Arme. »Samuel«, kreischte sie als Antwort. Offenbar erkannte sie aus Sorge um den Mann nicht mehr, dass wir uns noch immer in Lebensgefahr befanden. Für Samuel konnten wir jedoch nichts tun. Rein gar nichts.

Ich schaffte es, das sich heftig wehrende Kind die paar Meter zu meiner Tür zu schleifen. Sie kratzte, biss und trat. Ich hielt sie dennoch verbissen fest. Sobald ich die Schwelle erreicht hatte, warf ich sie so weit ich konnte in den Garten und sprang gleich hinterher. Eine Herde goldener Stiere glotzte uns aus etwa zehn Meter Entfernung entgeistert an. Sie hörten sogar auf mit Wiederkäuen. Ein Umstand, der wirklich noch nie passiert war.

Die Pforte zu schließen war schwieriger, als sie zu öffnen. Es war, als müsste ich sie gegen einen Sog und zusätzlich durch Schlamm ziehen. Ich stemmte mich dagegen und musste dabei die kleine Furie in Schach halten, die unbedingt Samuel zu Hilfe eilen wollte.

Bevor sie durch den Spalt hinausschlüpfen konnte, erwischte ich ihren Kragen und zog sie unsanft zurück. Sie quiekte, als sie zu Boden stürzte. Dann fiel die Pforte mit einem Klick ins Schloss und der Sicherungshebel schob sich wie von Zauberhand davor. Sofort huschte das seltsame Flimmern über die Hecken und das Metall des Zauns. Der Zauber des Gartens arbeitete wieder.

In der gleichen Sekunde traf mich ein Schlag in den Rücken. »Lass mich raus«, brüllte das Mädchen mit sich überschlagender Stimme. »Ich muss meinem Bruder helfen.«

Ich taumelte nach vorn und fluchte. Die Kleine sah wüst und wie von Sinnen aus. Im ersten Moment wollte ich sie anbrüllen, besann mich dann aber. Wenn ich ruhig blieb, färbte das womöglich ab.

»Dein Bruder kommt besser ohne uns klar. Oder kannst du mit einem Schwert umgehen?«, sagte ich mit meiner besten Erzieherinnenstimme. Das Mädchen erstarrte. Tränen liefen ihm wie Sturzbäche über das Gesicht. Ihre Zöpfe waren in völliger Auflösung. Ich wartete, bis ich ihren Blick festnageln konnte. »Wenn du nicht kämpfen kannst, bist du nur im Weg. Und dein Bruder kann sich besser verteidigen, wenn er sich nicht gleichzeitig Sorgen um dich machen muss. Kapiert?«

Das Mädchen nickte stumm.

Ich nickte ebenfalls und klatschte mir gedanklich Beifall. Manchmal fand ich eben doch die passenden Worte in den richtigen Momenten. Wer hätte das gedacht?

Wir traten beide an das Tor, um hinauszusehen. Dabei schob ich mich vor den Riegel, damit das Mädchen nicht auf dumme Gedanken kam. Was ich sah, war schrecklich.

Samuel sah sich einer Übermacht gegenüber. Ich zählte fünf Krieger, die noch standen. Vier lagen am Boden, wobei zwei auf mein Konto gingen. Wenn ich eins konnte, dann schaufeln. Noch nie war ich so dankbar für die kräftezehrende Gartenarbeit gewesen. Sie hatte mich für diesen Moment gestählt.

Fünf gegen einen. Das sah nicht gut aus. Und was geschah, sobald Samuel erledigt war? Die Angreifer hatten garantiert gesehen, wo der Eingang meines Gartens lag. Der Eingang, der seit Jahrhunderten versteckt gewesen war. Den ich zu verteidigen geschworen hatte. Den ich verraten hatte.

Verdammt.

Die Kämpfer legten eine kurze Verschnaufpause ein, die Samuels Gegner dazu nutzten, um ihn einzukreisen. Sofort wurde ich nervös. Er würde verlieren.

Seltsamerweise entspannte sich das Mädchen neben mir, je länger es die Szene beobachtete. »Ab jetzt hat er alles im Griff«, stellte es fest, als es meinen fragenden Blick bemerkte.

»Kannst du nicht zählen? Das sind fünf Gegner, wovon zwei größer sind als er«, entgegnete ich entgeistert.

»Ja, schon, nur fehlt Gainen, und sie haben keinen Zauberer mitgebracht.«

Aha. Sollte mir das irgendwas sagen? Da ich meine Unwissenheit für mich behalten wollte, hakte ich nicht nach. Stattdessen beobachteten wir den Kampf, der wie auf Kommando erneut ausgebrochen war.

Samuel war gut. Sogar sehr gut. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der derart mit einem Schwert umgehen konnte. Nur waren seine Feinde auch nicht schlecht.

Er schaffte es, einen Krieger zu entwaffnen, und besaß dadurch zwei Schwerter. Ich sah seine Armmuskeln arbeiten, sah die Anspannung in seinem Körper. Er war durchtrainiert und wendig. Genau wie seine Gegner trug er eine schwarze Hose, die etwas weiter geschnitten war. Anstatt des Kettenpanzers hatte er ein luftiges weißes Hemd an, das sich bei jeder seiner Bewegungen bauschte. Es bot keinen Schutz, dafür Bewegungsfreiraum.

Wieder klirrten die Schwerter. Er blockte drei Schläge ab und rammte einem Gegner den Knauf seiner Waffe gegen die Stirn. Dem vierten Schlag konnte er nicht ausweichen. Treffer. Ein blutiger Striemen zog sich über seinen rechten Arm. Das Mädchen und ich zuckten mitfühlend zusammen.

»Wir müssen helfen«, stellte ich fest. Sie warf mir einen finsteren Blick zu.

»Du warst es, die mich hierher verschleppt hat. Ich wollte ja helfen.«

Ich ging nicht auf ihre Provokation ein, sondern überdachte meine Möglichkeiten. Dabei drehte ich mich um und musterte die Wiese vor mir. Das saftige Grün des Rasens stand im krassen Kontrast zu dem Drama, das sich vor meinen Toren abspielte. Hier war die Welt in Ordnung.

Die goldene Herde. Konnte ich die Stiere so in Panik versetzen, dass sie aus der Pforte hinausstürmten und Samuels Gegner platt machten? Ich musterte den Leitbullen, der mit halb geschlossenen Augen vor sich hin kaute. Das tat er eigentlich die ganze Zeit. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Keine Chance, den aus seiner Lethargie zu reißen.

Mein Blick wanderte zu dem Moosmann, der entspannt im Schneidersitz unter einer Eiche saß. Er war stets hilfsbereit, aber strohdumm. Sein Körper aus Holz, Zweigen und Ästen wäre eine hervorragende Waffe, doch war er herzensgut und konnte nicht kämpfen.

Das Einhorn versteckte sich noch immer hinter meinem Holzhaus, während die geisterhafte Gestalt der Windenmutter unruhig über dem Teich flimmerte. Alle anderen Wesen waren in Deckung gegangen, als ich die Pforte geöffnet hatte.

»Vergiss es«, riss mich das Mädchen aus meinen Überlegungen. »Die Geschöpfe des Gartens kannst du nicht zum Kampf auffordern. Sie haben selbst dann nicht gekämpft, als unser Garten in Feindeshand fiel.«

Ooookay. Das war mal eine Aussage, die ernsthaft beunruhigend war. Fallende Gärten? Nichtkämpfende Geschöpfe? Was, bei allen Zeigern der tickenden Uhr, war hier los?

Wenn die Geschöpfe zur Verteidigung ausfielen, blieb die Aufgabe an mir hängen. Meine Tante hatte im Haus ein komplettes Waffenarsenal. Bloß hatte sie mir nie gezeigt, wie man damit umging. ›Wir haben noch viel Zeit‹, hatte sie gesagt. Und dann war sie gestorben. Von einem Tag auf den anderen.

Was für eine Waffe konnte uns retten, ohne dass wir den Garten verlassen mussten? Was war in der Nähe und schnell geholt, bevor der Kampf zu Ende war? Denk nach. Ja. Pfeil und Bogen.

Ich rannte los, kehrte hastig zurück und zog das Mädchen hinter mir her. Nicht auszudenken, wenn sie die Pforte auf eigene Faust öffnete, um ihre Rettungsmission zu starten. »Was hast du vor? Mein Bruder braucht Hilfe. Wir müssen irgendwie Avi holen. Er ist der Einzige, der noch eingreifen kann«, protestierte sie.

Ich antwortete nicht, denn langsam ging mir die Puste aus. Seit Jahren hatte ich weder so viel Action noch so viel Bewegung gehabt. Ich arbeitete meist im Garten, das stimmte. Diese Arbeit war allerdings etwas völlig anderes als rasante Sprints und kräftezehrende Kämpfe. Die bittere Wahrheit war: Ich hatte keine Kondition. Wie viel Zeit würde ich benötigen, um den Bogen zu holen? Fünf Minuten? Dauerte ein derart heftiger Schwertkampf so lange? Ich wusste es nicht, doch musste ich es versuchen.

Die weitläufige Wiese ging in den sumpfigen Moosbereich über. Ich kannte den Weg wie im Schlaf und manövrierte das Mädchen mit fester Hand zwischen den Todesfallen her. Ich war vor einem Jahr mal darin stecken geblieben und hatte Tage gebraucht, um mich zu befreien. Direkt vor dem Haus wurde es zum Glück trockener. Der dunkle Stein glänzte wie poliert, war allerdings nicht ungefährlich. Dazwischen verbargen sich kleine Feuervulkane, die urplötzlich ausbrachen. Ich wusste, wo sie lagen, und wir gelangten wohlbehalten zum Holzhaus.

Es sah von außen riesengroß aus, war innen aber winzig. Ich polterte hinein, durchquerte das Wohnzimmer, hastete in Tante Annis altes Schlafzimmer und holte den verstaubten Bogen und die Pfeile von den Haken an der Wand. Das Mädchen war im Türrahmen stehen geblieben und sah sich staunend um. Tante Annis Raum war eigentlich eine Waffenkammer. Hier gab es alles, womit man einen Menschen töten, vierteilen und zerstückeln konnte.

Es war das düsterste Zimmer im Haus, weswegen ich es selten betrat.

Ich hatte, was ich wollte, und rannte zurück. Das Mädchen folgte mir auf dem Fuß. Auch sie wirkte verzweifelter. Ihre zwischenzeitlich positive Stimmung war längst verschwunden.

Mir schlotterten die Knie vor Anstrengung und Angst, als wir beim Gartentor ankamen. Lass ihn am Leben sein, flehte ich in Gedanken. Vor Erleichterung seufzte ich leise auf, als ich ihn kämpfen sah. Von Samuels Kontrahenten standen nur noch drei. Das waren natürlich gute Nachrichten. Weniger schön war, dass er aus zahlreichen Schnittwunden blutete und definitiv schwankte. Er hielt sich die Seite. Selbst von hier aus sah ich die schlimme Wunde, die ihm zu schaffen machte. Zum Glück taumelten auch seine Feinde. Einer schien sich kaum auf den Beinen halten zu können.

Die drei drangen entschlossener denn je auf ihren verletzten Gegner ein. Sie wollten es beenden. Und sie würden siegen.

Ich dachte nicht mehr länger nach, hob den Bogen und legte den Pfeil an. Wann hatte ich das letzte Mal geschossen? War es zehn Jahre her? Mindestens. Ich erinnerte mich kaum an die Lektionen meiner Tante, das Ergebnis hatte sich allerdings eingeprägt. Ich war eine miserable Schützin. Nein. Ich war die miserabelste Schützin überhaupt.

Leider würde Samuel sterben, wenn ich mein Ziel verfehlte. Und danach waren das Mädchen und mein Garten dran. Und natürlich ich.

In Gedanken betete ich für ein Wunder. Auf diesen ominösen Avi, den das Mädchen erwähnt hatte, konnte ich nicht bauen. Wir waren auf uns gestellt. Allerdings hatte ich noch nie auf ein sich bewegendes Ziel geschossen. Ich traf nur mit Glück die reglose Scheibe. Dankenswerterweise bewegte sich Samuel etwas von seinen Gegnern fort, sodass ich für Sekunden freies Schussfeld hatte. Konnte ich überhaupt durch den flimmernden Schutzschild schießen, der meinen Garten umgab?

Ich würde es herausfinden, und zwar genau jetzt.

Der Pfeil sauste los und hinterließ einen Schweif aus Sternenstaub. Urks. Ich hatte die verzauberten Pfeile erwischt. Was machten die doch gleich? Ich wusste es nicht mehr, und es war auch egal, denn zu meiner absoluten Überraschung fand der Pfeil sein Ziel. Einer von Samuels Gegnern schrie gellend auf und ging getroffen zu Boden. Er wand sich, während der Kampf kurz zum Stillstand kam und die entgeisterten Blicke der Männer in meine Richtung wanderten.

Das Mädchen quietschte neben mir vor Freude auf. Ich musste mich allerdings von dem Anblick abwenden. Mein Magen rumorte. Ich hatte einen Mann getötet. Ich. Meine Tante hatte immer kritisiert, ich sei zu weich im Herzen. Deswegen hatte sie auch nie darauf bestanden, dass ich das Kriegshandwerk lernte. Sie hatte mich darum gebeten, mich damit zu beschäftigen. Ich hatte es nur nie getan.

Mit Mühe verhinderte ich, dass ich mich übergab. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meine Aufgabe und legte den zweiten Pfeil auf die Sehne. Was ich einmal zu tun vermocht hatte, war vermutlich auch ein weiteres Mal möglich.

Leider taten mir meine Gegner nicht den Gefallen und blieben reglos stehen. Sie bewegten sich schneller als zuvor, denn nun wussten sie, dass da ein Heckenschütze auf sie anlegte. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen. Samuel wehrte sich verzweifelt, doch seine Schritte wirkten müde.

»Schieß. Sonst töten sie ihn«, drängte das Mädchen neben mir. »Wo zur Hölle ist Avi?«

Dieser Avi war mir so was von egal. Allein auf mich kam es an. Ich zielte so gut ich konnte, während mein Herzschlag fast schmerzhaft in meiner Schläfe pochte. Die Verantwortung lastete wie Blei auf mir und die Panik drückte mir die Kehle zusammen. Die Sekunden verrannen. Dann ließ ich den Pfeil fliegen.

Er fand ein Ziel. Bloß das falsche.

Mit einem ekelhaften Geräusch bohrte es sich in Samuels Schulter und riss ihn von den Füßen.

KAPITEL 2

Selbst die Gegner waren einen Moment fassungslos und vergaßen, Samuel den Todesstoß zu versetzen. Die Erste, die sich vom Schock erholte, war das Mädchen.

Die Kleine riss mir den Bogen aus den Händen, schnappte sich einen Pfeil und legte an. Eigentlich war sie viel zu klein für das riesige Teil, dafür war ihre Entschlossenheit umso größer.

Ein weiterer Pfeil flog. Tödlich und genau. Er traf den vordersten Krieger und schickte ihn zu Boden. Ein anderer warf sich in letzter Sekunde aus der Bahn. Er rollte sich spektakulär ab, hob sein Schwert und zielte auf Samuel. Uns war wohl allen absolut klar, dass es nichts gab, was wir jetzt noch tun konnten. Er würde treffen.

In der Sekunde flimmerte die Luft direkt neben ihm. Ein Schatten trat aus einem Riss in der Atmosphäre. Stahl blitzte auf. Ein Schwert. Es hielt den tödlichen Schlag auf. Dann erst erkannte ich den Mann, der es führte.

Wäre er mir auf der Straße begegnet, hätte ich wohl die Seite gewechselt. Er sah wild aus: Lange schwarze Haare, nur locker mit einem Lederband gebändigt. Dunkle Augen, Narben im Gesicht und so breite Schultern wie mein goldener Ochse. Ein muskelbepackter Hüne, der in ebendiesem Moment sein Schwert schwang und Samuels Gegner niederstreckte.

Der letzte verbliebene Angreifer versuchte noch, sich zu verteidigen. Ein Schrei, dann senkte sich atemlose Stille über die Straße.

Aus irgendeinem Grund wusste ich genau, dass mir da Avi gegenüberstand. Er war gut einen Kopf größer als Samuel und schien eher mit Kraft als mit Schnelligkeit zu kämpfen. Sobald er erkannt hatte, dass alle Gegner am Boden lagen, steckte er sein Schwert weg und eilte zu Samuel, der auf Knien hockte und sich die Seite hielt.

Erst jetzt registrierte ich meine menschlichen Nachbarn, die ihrem Tagwerk nachgingen, als sei alles völlig normal. Der Zauber des Gartens verbarg den tödlichen Kampf direkt vor ihrer Nase. Zurzeit lag mein Garten zwischen zwei schnuckeligen Einfamilienhäusern in einer absolut langweiligen Gegend. Samuel, der unheimliche Retter und die toten Gegner blieben unsichtbar für alle Erdenbewohner.

»Samuel«, schrie das Mädchen so laut, dass ich erschrak. Es machte Anstalten, an mir vorbeizugreifen, den Riegel zurückzuziehen. Ich packte ihre Hand und drängte sie weg. Sie funkelte mich aus den grünsten Augen an, die ich je gesehen hatte. So hellgrün wie das frischeste Gras.

Ich erwiderte ihren Blick möglichst unbeweglich, obwohl ich innerlich zitterte. Ich wusste nur eins: Diese Pforte blieb geschlossen, bis Samuel kam. Und selbst dann war ich mir nicht sicher, was ich tun sollte. Ich kannte ihn nicht. Und ich war nicht scharf drauf, Avi kennenzulernen. Das Einzige, was die beiden nicht sofort als Feinde identifizierte, war das kleine Mädchen. Das zurzeit wenig niedlich aussah.

Vielmehr fuchsteufelswild.

»Du hast meinen Bruder angeschossen«, stieß sie hervor. Sie hatte vor Schock wieder zu weinen begonnen. In dem Fall konnte ich ihr das wirklich nicht verdenken. Am liebsten hätte ich mitgemacht. Ich hatte Samuel angeschossen.

Ich kam zu keiner Antwort, denn der verletzte Krieger kam schwankend auf uns zu. Samuel hielt sich die Hüfte, hinkte dabei und schaffte es dank des Pfeiles in seiner Schulter nicht, sich vollends aufzurichten. Mit jedem Schritt tropfte Blut auf den Asphalt.

Avi war zurückgeblieben und stieß einen reglosen Gegner mit dem Fuß an. Testete offenbar, ob er wirklich tot war. Ich bekam allein von dem Gedanken eine Gänsehaut und sah rasch zu Samuel hinüber.

Je näher er kam, desto deutlicher sah ich den Schweiß auf seiner Stirn. Er hatte höllische Schmerzen, kämpfte sich jedoch weiter. Als er bemerkte, dass seine Schwester mit mir rangelte, hob er herrisch einen Arm. Sofort erstarrte das Mädchen.

»Bleib im Garten, Ainoa.« Er hatte eine schöne Stimme. Sanft, dunkel. Wie ein Kontrabass. Erst dann fiel mir auf, dass er uns sehen konnte. Eigentlich sollte man von der Erde aus nicht hineinblicken können. Der Schutzschild meines Gartens versagte. Was war nur damit los?

Samuel war endlich bei uns angekommen und sank mit einem Stöhnen auf die Knie. Er roch nach Angstschweiß und Schmerzen. Eine Weile sahen wir ihm schweigend dabei zu, wie er sich krümmte. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg.

Als er schließlich die Kraft zum Hochschauen gefunden hatte, bohrte sich sein Blick in meinen. Er hatte azurblaue Augen, die vor Schmerz verschleiert waren. Bis sie vor Wut zu funkeln begannen. »Du hast mich angeschossen«, brummte er.

Ich ließ schuldbewusst den Kopf hängen. »Tut mir leid«, murmelte ich.

Er hustete. Das klang gar nicht gut. Dabei bemerkte ich das leichte Zittern seiner Glieder und sein häufiges Blinzeln. Er musste sich zusammenreißen, um bei Bewusstsein zu bleiben.

Sein Blick verließ mich und wanderte zu seiner Schwester. »Du bleibst bei der Garraí. Egal was geschieht. Du bleibst im Garten.« Ich war mindestens genauso überrascht über diese Worte wie Ainoa. Die richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, was natürlich wenig beeindruckend war. Sie reichte mir gerade mal bis zum Kinn. Das machte sie allerdings durch Entschlossenheit wett.

»Diese Garraí ist total unfähig. Sie kann nicht mal richtig schießen. Und du brauchst dringend Hilfe.«

Zumindest die letzten beiden Sätze konnte keiner von uns anzweifeln. Der erste hingegen tat weh. Zumal sie leider recht hatte. Bislang waren meine Fähigkeiten im Leute umbringen allerdings auch nie gefragt gewesen.

Der müde Blick ihres Bruders wanderte zu mir zurück. »Wie lange war die Pforte geöffnet?«

»Keine Ahnung. Fünf Minuten?«

Das ließ ihn munter werden. »Fünf Minuten?«, rief er entsetzt. »Das ist viel zu lang. Du musst die Runen erneuern. Sofort. Und nachschauen, ob noch anderes reingekommen ist.«

»Ich habe drei Scáth gezählt, die reingehuscht sind«, rief uns Avi zu. Im Gegensatz zu Samuels Stimme klang seine dunkler und irgendwie heiser. Als würde er selten sprechen. »Da waren bestimmt noch mehr.«

»Scheiße«, fluchte Samuel und spuckte ein Gemisch aus Blut und Speichel auf die Straße. Krampfhaft hielt er sich die Hüfte.

Ich starrte die beiden abwechselnd entgeistert an. Runen? Scáth? Was brabbelten die da? In dieser Sekunde verfluchte ich Tante Anni. Warum hatte sie mir ihren Job nicht genauer erklärt? Sie war die Gärtnerin gewesen. Sie hatte sich um alles gekümmert. Und ich? Ich hätte mal besser aufpassen müssen.

So viel hatte ich schon herausgefunden: Mit Garraí war eindeutig ich gemeint. Die Gärtnerin. Nur was der Rest des mysteriösen Vokabulars bedeutete, erschloss sich mir nicht.

Natürlich hätte ich nachfragen können. Klar. Aber wer stellte sich gern derart bloß? Vor allem, wenn der potenzielle Antwortgeber um jeden Atemzug rang und wie ein Häuflein Elend auf Knien zusammengesunken auf der Straße hockte.

Avi kam zu uns rüber, woraufhin meine Nerven verrücktspielten. Der Mann war mir unheimlich. Er trug schwarze Stiefel, eine lederne Hose und ein ziemlich zerschlissenes graues Hemd, das von vielen Lederschnüren zusammengehalten wurde. Dabei bewegte er sich wie eine Raubkatze auf Beutezug.

Zum Glück hatte er nur Augen für Samuel, der noch immer auf dem Boden kauerte und sich vor Schmerzen krümmte.

»Wie schlimm ist es?«, fragte er ihn. Sein Schwert legte er neben sich auf die Straße, dann hockte er sich hin, um Samuels Schulter in Augenschein zu nehmen.

»Es tut weh, doch dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen die Laóch von hier fortlocken. Diejenigen, die den Eingang gesehen haben, sind tot. Der Garten ist dennoch spürbar, der Zauberbann funktioniert nicht richtig.« Jetzt sah er mich an, woraufhin ich mich ganz klein machte. »Du erneuerst die Runen und den Schild. Bis zum nächsten Vollmond sind es noch drei Tage, bis dahin müsst ihr durchhalten. Wenn heute Nacht die Scáth herauskommen, tötet sie so schnell wie möglich, bevor sie sich vermehren. Überlebt ihr diese Nacht, solltet ihr eigentlich in Sicherheit sein.«

Ein Wörterbuch. Man gebe mir ein Wörterbuch.

Ich kam zu keiner Frage, denn Samuels Gesichtsausdruck verdüsterte sich, sodass mir ganz kalt wurde. »Meine Schwester Ainoa ist die angehende Banrí der Bláthanna. Du musst sie mit allen Mitteln verteidigen. Avi und ich werden eine falsche Fährte legen und versuchen, morgen zurückzukommen. Wenn wir es nicht schaffen, liegt Ainoas Leben in deinen Händen.«

Er nickte mir zu, als besiegelte er damit einen Pakt. Dann verdrehte er sich, um seinen Rücken zu erreichen, riss sich mit einem Ruck den Pfeil aus der Schulter und stand auf. Er wäre wohl gestürzt, wenn Avi nicht hastig zugegriffen hätte.

»Du solltest hierbleiben. Ich erledige die Aufgaben«, sagte er scharf.

»Sie werden sich nur durch meine Aura ablenken lassen. Ich muss mit«, erwiderte Samuel. Als Avi protestieren wollte, warf Samuel ihm einen Blick zu, der ihn verstummen ließ. »Wir machen es so, wie ich es sage. Schluss mit Diskussionen.«

Avi gab auf. »Über diesen dämlichen Schuss reden wir noch mal«, zischte er mir noch zu. Ich zog den Kopf ein und hatte Glück: Er wandte sich gemeinsam mit Samuel ab, um zu den toten Kriegern hinüberzugehen. Erst dadurch begriff ich, dass sie gehen wollten.

»Hey«, schrie ich ihnen entsetzt hinterher. »Bleibt gefälligst hier.«

»Samuel«, brüllte Ainoa noch viel lauter als ich.

Ihr Bruder und Avi beachteten uns trotzdem nicht länger. Sie beugten sich zu unseren Gegnern hinunter und berührten sie nacheinander. Ein Licht flammte auf. So hell und gleißend, dass ich wegsehen musste. Danach waren Samuel, Avi und die Toten verschwunden. Einfach weg.

In mir breitete sich eine gähnende Leere aus, als würde ich vor Schock in ein tiefes Loch fallen. Gleich darauf krabbelte mir eisige Kälte den Nacken hinauf.

Unbekannte Wesen waren in meinen Garten eingefallen. Die Scáth. Und zwei mysteriöse Fremde wollten Feinde von uns fortlocken. Die Laóch. Ich senkte den Kopf, um Ainoa anzusehen. Die umklammerte die Stäbe der Pforte und sah dabei wie ein gefangenes, verzweifeltes Tier aus. Für sie war ich ab sofort verantwortlich? Für eine Banrí? Ich wusste nicht einmal, was das war. Wie sollten wir da die nächste Nacht überleben?

Ainoa spürte meinen Blick und sah mich aus ihren grünen Augen strafend an. »Du hast kein Wort verstanden, oder?«, stellte sie müde fest. »Und damit hast du null Ahnung von dem Befehl, den mein Bruder dir aufgetragen hat. Bist du überhaupt eine Garraí? Oder weißt du das auch nicht?«

Ich blieb ihr eine Erwiderung schuldig, denn die Antwort war niederschmetternd. Ich wusste es wirklich nicht.

Stattdessen wandte ich mich ab und erbrach mich in die Hecke. Ich hatte einen Mann getötet und einen weiteren verletzt. Und als wäre das nicht alles schlimm genug, bedrohten uns Mörder und Scáth.

Das ernüchterte mich so weit, dass ich meinen Magen wieder unter Kontrolle bekam und ich mich aufrichten konnte. Ainoa sah mich entgeistert an. Weil ich gerade Besseres zu tun hatte, als mich mit einem jungen Mädchen zu streiten, ließ ich sie stehen. Nun, wo ihr Bruder nicht mehr vor dem Tor stand, machte ich mir keine Sorgen, dass sie die Pforte öffnen würde. Wo sollte sie hin?

Wie gehofft, hörte ich leise Schritte hinter mir. Ainoa folgte mir. »Was hast du vor?« Sie rannte, um mich einzuholen, und ging dann neben mir her. Ich sah sie nicht an, sondern stur geradeaus.

»Wir müssen die Runen erneuern und die Scáth töten«, sagte ich mit fester Stimme. In Wirklichkeit schlotterten mir bei dem Gedanken sofort die Knie. Ich fühlte mich so hilflos, dass ich hätte schreien können.

»Weißt du denn, wie das geht?«, hakte Ainoa unerbittlich nach. Sie war echt gut darin, den Finger in die Wunde zu legen.

»Nein. Das lässt sich aber ändern.«

Wir kehrten ins Haus zurück, damit ich panisch in der Bibliothek wühlen konnte.

Das Mädchen sah mir eine Weile schweigend bei meinen hysterischen Nachforschungen zu, bis es mich mit einem Ruf stoppte. »Was genau suchst du überhaupt?«

Als Antwort hielt ich ein Buch hoch, das ich nicht lesen konnte. Es war mit vielen seltsamen Zeichen versehen. Meiner Meinung nach sah so ein Runenbuch aus. »Ich suche ein Buch über Runen. Eines, das mir möglichst Schritt für Schritt erklärt, wie ich den Schild erneuern kann.«

»Wenn es in einer Bibliothek rumliegt, kann es das schon mal nicht sein. Die Garraí der Bláthanna hat stets gesagt, dass ihr Runenbuch ihr Heiligtum sei. Eine Garraí muss es grundsätzlich bei sich tragen.« Sie sah mich herausfordernd an.

Ich schluckte schwer, denn mir schwante Übles. Meine Tante hatte tatsächlich ein bestimmtes Buch mit sich herumgeschleppt. Sie hatte mir verboten, darin zu blättern. Ich war nicht böse darum gewesen. Das blöde Teil hatte mich nie leiden können und mich ständig gehauen. Zauberbücher konnten grausam sein. Zum Glück hatte meine Tante mich ohnehin auf Abstand dazu gehalten. »Solange du nicht bereit bist zu kämpfen, geht dich das hier auch nichts an«, hatte sie zu mir gesagt. Sie hatte dabei nie vorwurfsvoll geklungen. Als wüsste sie, dass ich nicht für ihren Job geschaffen war.

War ich auch nicht. Und doch hatte ich ihn unfreiwillig geerbt.

»Du wirst aschfahl. Was ist los?«, fragte Ainoa beunruhigt. Sie stand noch immer in der Ecke, als könnte sie das beschützen. Ein kleiner Hinweis darauf, dass sie nicht halb so mutig war, wie ihre spitzen Bemerkungen erahnen ließen.

»Ich … verdammt.« Das Buch. Tante Annis heiß geliebtes Buch. Ich wusste noch genau, wie es ausgesehen hatte. Es war in dunkles Leder gehüllt, das für das Auge fast unsichtbar die Farbe änderte. Von Schwarz zu Braun zu Grau zu Perlmutt. Dazwischen waberten Funken. Ein Zauberbuch. Lebendig und unheimlich.

Ich hatte mich damals nicht getraut, es aus ihren Händen zu nehmen. Sie hatte sich im Tode daran festgekrallt, als hinge ihr Leben davon ab. Es hatte sie nicht gerettet, war stattdessen genauso leblos geworden wie sie. Weil ich es nicht anfassen wollte, hatte ich es bei ihr gelassen.

Ich rannte los.

»Wo willst du denn schon wieder hin?« Diesmal klang Ainoa noch panischer, nur konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen.

Mir war schlecht. So schlecht wie noch nie in meinem Leben. Ärgerlicherweise hatte ich selbst zum Kotzen keine Zeit. Ich stürmte aus dem Haus heraus zu dem Blumenbeet, in dem ich noch vor gut einer Stunde friedlich summend gearbeitet hatte. Zu dieser Zeit war die Welt noch in Ordnung gewesen. Und jetzt? Jetzt brach alles über mir zusammen.

Ich schnappte mir meine zweite Schaufel, die Spitzhacke und die verschiedenen Unkrautmesser und rannte hinter das Haus zum Waldbereich. Ainoa folgte mir.

Normalerweise war der Wildacker vor der ersten Baumreihe voller Leben. Königshirsche, Zentauren und die ziegenartigen Silvane hatten hier ihre Reviere. Fast immer, wenn ich hierherkam, bekämpften sich die einzelnen Arten oder stritten in irgendeiner Weise über dieses oder jenes Grasbüschel. Da ich die ewige Zankerei nicht leiden konnte, kam ich selten her.

Heute jedoch war der Wildacker wie ausgestorben. Keine Hirsche, die ihre gewaltigen, zu Kronen geformten Geweihe aneinanderstießen. Keine Zentauren, die sich in ihrer seltsamen Bellsprache anschrien. Nichts. Selbst der riesige Steinklotz in der Mitte lag verlassen da. Höchst ungewöhnlich. Eigentlich waren die Silvane den ganzen Tag damit beschäftigt, sich an die Spitze des Steins zu kämpfen, um sich als Könige der Welt zu fühlen.

Die Wiese so einsam zu sehen fand ich unheimlich. Wussten die Gartenwesen über meinen Plan Bescheid? Am liebsten wäre ich umgekehrt und hätte mir die Decke über den Kopf gezogen, nur war das keine Lösung. Ich spürte es bis in meine Knochen: Wenn ich das blöde Buch nicht fand, waren wir verloren.

Wir überquerten die Wiese so schnell es ging. Ainoa quiekte immer wieder erschrocken auf, wenn sie das Springkraut aus dem Gleichgewicht brachte oder die Pusteblumen unsere Sicht vernebelten. Die Wiese wehrte sich auf ihre Weise gegen Eindringlinge.

Als ich am Waldrand ankam, war ich so außer Atem und so voller Springkraut, dass ich erst einmal eine Minute lang nichts tun konnte. Meine Hände zitterten und meine Zähne klapperten. Doch zum Hinsetzen hatte ich keine Zeit. Sonst hätte ich niemals den Mut gefunden, weiterzumachen.

Entschlossen packte ich den Griff meiner Schüppe und stieß sie so tief ich konnte in die Erde.

»Was machst du da?«, quiekte Ainoa, die mit Verspätung bei mir ankam. Das Springkraut hatte sie heftiger befallen als mich, sodass sie über und über mit grünem Klee und braunen Lianen behangen war.

Ich antwortete nicht. Es laut auszusprechen wäre zu viel gewesen. Ich beging gerade den größten Frevel, den eine Nichte ihrer Tante antun konnte. Und doch blieb mir keine andere Wahl. Während ich entschlossen tiefer und tiefer grub, blickte sich Ainoa um. Ich sah sie erbleichen, als sie verstand.

»Das hier ist ein Friedhof«, flüsterte sie tonlos.

Ja. Das hier war ein Friedhof. Hier lagen meine Mutter, Tante Anni, meine Großmutter und meine Urgroßmutter unter der Erde. Wir hatten auf Grabsteine verzichtet und die Gräber stattdessen mit bunten Blumen markiert.

Auf dem Grab meiner Mutter hatten wir dunkelrote Rosen gepflanzt. Ihre Lieblingsblumen. »Sie sind genauso stachelig, eitel und willensstark wie deine Mutter«, hatte meine Tante zu mir gesagt. Ich weiß noch, dass ich das pietätlos gefunden hatte, aber damals war ich zu klein gewesen, um zu protestieren.

Für meine Tante Anni hatte ich Löwenmäulchen gepflanzt. Sie standen für Arroganz und zugleich für Tapferkeit und einen starken Willen. Ich mochte die Blumen, weil sie so schön bunt waren und jedes Jahr anders aussahen. Wie meine Tante. Bei ihr hatte ich auch nie gewusst, woran ich war.

Meine Tante, deren Grab ich gerade auseinandernahm.

Die Löwenmäulchen wehrten sich, kniffen und bissen um sich. Jetzt war ich froh, dass ich keine Rosen mit Stacheln gepflanzt hatte. Eines nach dem anderen ging unter meiner Schaufel zugrunde. Wer sich nicht wehrte, wurde vorsichtig mit Wurzeln ausgehoben und zur Seite gelegt.

Danach ging es etwas einfacher. Genauer darüber nachdenken durfte ich aber nicht.

Ainoa stand mit weit aufgerissenen Augen daneben und sah mir zu. Ich brachte es nicht über mich, sie zum Mitmachen aufzufordern. »Wie alt bist du überhaupt?«, fragte ich völlig zusammenhanglos.

»Elf. Wieso?«

So jung? Sie wirkte so seltsam abgeklärt. Beinahe weise. Jedenfalls nicht wie eine Elfjährige. Dennoch blieb es dabei. Eine Elfjährige sollte kein Grab schaufeln müssen. Okay. Eine Zweiundzwanzigjährige sollte das eigentlich auch nicht tun.

Zum Glück hatte ich Tante Anni damals nicht besonders tief vergraben. Ich war zu geschockt gewesen, um lange zu buddeln und hatte es lediglich hinter mich bringen wollen.

Es dauerte nicht lange, da spürte ich einen weichen Widerstand. »Nicht drüber nachdenken«, sagte ich leise zu mir. Mein Magen rotierte erneut. Noch heftiger als zuvor.

Ich sah nicht hin. Zwei Jahre war es her, dass Tante Anni gestorben war. Wie weit war ein Leichnam da verwest? Ich wollte es lieber gar nicht wissen, sondern schob blindlings Erde zur Seite und linste aus halb geschlossenen Augen in das Loch, das ich geschaffen hatte. Kleidung. Die rote Weste, die ich Tante Anni angezogen hatte. Sie hing in Fetzen. Darunter … nein. Bloß nicht zu viel erkennen.

Ich hatte keinen Sarg gehabt und sie einfach so in das Loch geschoben. In diesem Garten gab es einige fleischfressende Tiere, aber ich hatte darauf vertraut, dass sie ihre Gärtnerin erkannten und in Ruhe ließen. So weit schien das auch geklappt zu haben. Dass ich jemals ihre Totenruhe stören würde, hätte ich nie für möglich gehalten.

Der Gestank nahm bedenklich zu. Endlich entdeckte ich die Rettung zwischen der Erde. Das Buch. Ich musste all meine Kraft zusammennehmen, um mich herabzubeugen und es mit spitzen Fingern hervorzuziehen.

Lass es nicht schleimig sein, betete ich im Stillen. Es war schwerer als gedacht, sodass ich fester zupacken musste. Es fühlte sich rau an. Und trocken. Als Zauberbuch wies es wahrscheinlich jegliche Art von Schmutz ab.

Ich warf es neben mich ins Gras und schob danach grob die Erde wieder zurück auf Tante Annis Körper. Aus dem Augenwinkel sah ich Ainoa, die stocksteif das Buch musterte und dabei ganz leicht zurückgewichen war. Verständlich. Der Geruch war schlimmer geworden.

Ich setzte unordentlich drei Löwenmäulchen wieder auf die Stelle, die ich zerstört hatte, und erbrach mich danach am Rande des Friedhofes. Das zweite Mal an diesem Tag. Da ich nur noch Galle spuckte, war das eine ziemlich unangenehme Erfahrung. Es wäre schön gewesen, wenn es mir danach besser gegangen wäre, aber nein: Ich fühlte mich noch genauso elend und verlassen wie zuvor.

Ja, ich hatte endlich menschliche Gesellschaft. Ainoa. All die Jahre hatte ich mir jemanden zum Reden gewünscht, doch das Mädchen war anders als erhofft. Sie bedeutete noch mehr Verantwortung für mich anstatt eine Entlastung. Ich musste mich um sie kümmern. Dabei hätte ich so dringend jemanden gebraucht, der mir half.

Kein Selbstmitleid, hörte ich die strenge Stimme meiner Tante Anni in meinem Kopf. Sie hatte das beim Stock- oder Schwerttraining an die tausend Mal sagen müssen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben. Ich war nicht für den Kampf gemacht.

Diesmal musste ich mich allerdings nicht mit dem Schwert wehren, sondern mit Zauberei. Mit Runen. Ich wischte mir den Mund ab und warf dem Zauberbuch im Gras einen bösen Blick zu. Es war etwas größer als meine Handfläche, dafür so dick wie mein Oberschenkel. Ich wusste, dass es seine Größe und sein Gewicht anpassen konnte. Tante Anni hatte es meist an einer zierlichen Kette um den Hals getragen. Sobald sie es gebrauchte, nahm es wieder normale Buchgröße an.

Es hatte mir Angst gemacht. Wie so ziemlich alles, was mit Tante Annis Job zusammengehangen hatte.

Ich bückte mich, um das Buch hochzuheben, als es passierte: Es sprang mir regelrecht entgegen, warf sich auf mich. Ein harter Schlag traf mich ins Gesicht, sodass ich nach rechts taumelte. Dann ein weiterer Schlag, diesmal gegen die linke Wange. Dabei raschelte und rauschte es um mich herum.

Es attackierte mich. Wieder und wieder und wieder.

Mittlerweile kreischte nicht nur ich, sondern auch Ainoa. »Was ist das?«, schrie sie.

Ich krümmte mich und schützte mein Gesicht mit den Armen. Das störte das Buch allerdings wenig. Dann boxte es mir eben in den Magen oder in den Nacken.

»Hör auf«, rief ich schließlich verzweifelt. »Es tut mir leid. Hör auf.«

Zu meiner Überraschung beendete es tatsächlich abrupt seine Angriffe. Vorsichtig linste ich zwischen meinen Armen hindurch und sah, wie es etwa einen halben Meter von mir entfernt auf Gesichtshöhe auf und ab schwebte. Dabei raschelte es noch immer empört mit seinen Seiten.

Als es bemerkte, dass ich es ansah, schlug es eine bestimmte Seite auf.

»Verräter«, stand dort geschrieben. Darunter eine Definition dazu. Die nächste Seite. »Vollidiot/-in.«

Ich seufzte. »Okay. Du hast recht. Ich hätte dich nicht verbuddeln dürfen. Aber du musst zugeben: Zu Tante Annis Lebzeiten warst du echt gemein zu mir.« Es hatte mich schon als kleines Kind verfolgt, mich bevormundet und mir keine Ruhe gelassen. Tante Anni hatte es als Lehrbuch benutzt, um mir das Lesen beizubringen. Sobald ich etwas falsch ausgesprochen hatte, hatte das Buch mir auf den Kopf geschlagen. Doofes Ding.

Nach dem Tod von Tante Anni war es leblos geworden. Ich hatte angenommen, seine Zauberkraft sei mit ihr verschwunden. Ein Irrtum. Wahrscheinlich war es nur in Schockstarre gefallen oder so. Ich hatte die Zeit gut genutzt und es hastig verbuddelt.

Jetzt musste ich mich also wieder damit herumplagen.

»Das Buch lebt«, vernahm ich Ainoas Stimme. Ihrem Tonfall nach fand selbst sie lebende Bücher ungewöhnlich.

»Es lebt«, bestätigte ich mit Grabesstimme. Das Buch plusterte sich drohend auf, unterließ aber weitere Attacken. Vielleicht auch, weil ich es ernst ansah. So ernst wie noch nie in meinem Leben. »Der Garten ist in Gefahr. Du musst mir alles zeigen, was du über Runen weißt. Der Schutzschild funktioniert nicht mehr richtig. Ich soll die Runen ändern. Weißt du, wie das geht?«

Eine Weile rührte sich das Buch nicht. Dann blätterten wie durch Zauberhand Seiten um, vor, zurück, wieder vor, bis das Buch sich für eine entschieden hatte und langsam näher schwebte.

Ich pflückte es aus der Luft und starrte die Runen an. Kunstvolle, geheimnisvolle Zeichen. Derart verschnörkelt, dass ich bezweifelte, sie jemals so nachzeichnen zu können.

Zum Glück hatte ich vor Jahren Tante Anni dabei zugesehen, wie sie die Runen erneuert hatte. Es war spannend gewesen. Besser als jedes Buch. Theoretisch wusste ich also, was ich zu tun hatte. Theoretisch.

Ich eilte wieder zurück zum Gartenzaun und hielt auf das Tor zu. Tante Anni hatte damals an dieser Stelle begonnen, also würde ich das auch machen. Ainoa war mir gefolgt, vollkommen schweigend. Ihre Kampfkraft schien sie verlassen zu haben. Sie wirkte fast gespenstisch still.

Ich hielt das Buch hoch und verglich das Muster im Tor mit der Zeichnung auf der Seite. Es passte exakt. Eine perfekte Kopie. Darunter stand eine Erklärung, die ich nur mit Mühe entziffern konnte. Tante Anni hatte mir die Zaubersprache durchaus beigebracht, ich hatte sie allerdings seit zwei Jahren nicht mehr verwendet.

»Die Grundrune für Schutz, Unsichtbarkeit und Abwehr. Sollte sie beschädigt worden sein, verwenden Sie Rune zwei.«

Aha. Das klang doch schon mal so, als sei es machbar. Ich blätterte die Seite um – und schluckte. Ach du Scheiße. Das Ding war so verschnörkelt und gruselig filigran, dass mein Mut sofort bis zum Erdkern sank.

Ainoa hatte wohl meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkt, denn sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und musterte ebenfalls die Zeichnung.

»Sieht schwierig aus. Sag mir bitte, dass du das gelernt hast.«

Wenn zugucken als gelernt gilt, dann ja, dachte ich im Stillen. Meine Finger zitterten, als ich das Buch vor mir in die Luft legte, sodass es auf Augenhöhe schwebte. Dann holte ich tief Luft und rezitierte den alten Text, um den Gartenzaun für mich zu erweichen.

»Elestra Maya di rundra« und so weiter. Was ich genau erzählte, wusste ich nicht. Meine Aussprache war sicherlich miserabel, doch der Zaun reagierte auf meine Worte. Er schimmerte freundlich gelborange. Also wagte ich es, die Gitterstäbe zu berühren und mit dem Finger zu verzerren.

Ein scharfer Schmerz ging durch meinen ganzen Körper. Die Magie hatte mich gefunden. Wie immer war sie heiß und verzehrend. Sie saugte Kraft und Wärme aus mir heraus, schwächte mich. Ich hatte daher schon vor Jahren gelernt, die Magie zu fürchten und ihr auszuweichen. Ab sofort konnte ich das nicht mehr länger machen. Sonst waren wir verloren.

Ein Rumpeln ging durch die Erde. Mit dem Verzerren des Zauns veränderte ich auch die Magielinien im Garten. Tante Anni hatte damals gesagt, dass man schnell und sehr präzise arbeiten müsse. »Übe es vorher ein paarmal, bevor du es am Zaun probierst. Sobald du die Rune verändert hast, verliert der gesamte Zaun seinen Schutz. Erst wenn die neue Rune steht, funktioniert alles wieder normal.«

Na prima. Diese Ermahnung fiel mir jetzt erst ein? Jetzt, wo es zu spät war?

Meine Finger zitterten noch heftiger. Ich hatte außerdem Mühe, mich auf den Zaun zu konzentrieren. Schweiß rann mir in die Augen. Die Menschen auf der anderen Seite lenkten mich ab, obwohl sie wie immer das Gleiche taten. Hunde Gassi führen, Autos polieren, Rasen mähen.

Ich würde tausendmal lieber Rasen mähen als das hier machen.

Ainoa quiekte neben mir auf. Ich beachtete sie zunächst nicht, sondern verglich die fertige Rune mit meinem windschiefen Versuch, bemühte mich dabei meine schmerzenden Muskeln und das Reißen in meinem Magen zu ignorieren. Die Zacke stimmte noch nicht ganz. Eigentlich überhaupt nicht.

Etwas zupfte an meinem Ärmel. Ich war so vertieft in meine Arbeit, dass ich es erst beim zweiten Mal zuordnen konnte. Ainoa bemühte sich, meine Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Was?«, fragte ich harsch und sah sie dabei nicht an. Mein Herz schlug schneller. Sehr viel schneller. Ich spürte den Zeitdruck mit jedem Atemzug. Unser Garten war schutzlos. Warum stand denn ganz am Anfang des Kapitels kein Warnhinweis?

Ainoa sagte nur ein einziges Wort. »Gainen.« Mehr nicht. Sie hatte den Namen schon einmal erwähnt. Vorhin, als Samuel gegen seine Gegner gekämpft und vermeintlich die Oberhand errungen hatte. Sie war erleichtert gewesen, dass Gainen gefehlt hatte. Als wären wir sonst so oder so verloren gewesen.

Ein kurzer Blick in ihr bleiches Gesicht genügte. Ihre grünen Augen hatte sie weit aufgerissen, der Mund stand etwas offen. Ich folgte der Richtung, in die sie sah. Nicht gut.

Zwei Männer gingen die Straße entlang. Langsam und eher gemütlich. Dabei wandten sie ihre Köpfe nach rechts und nach links. Als suchten sie etwas. Da sich die Menschen nicht nach den Wesen in dunkler Kleidung und Schwertern an den Hüften umdrehten, waren sie offenbar unsichtbar für ihre Augen. Was wiederum bedeutete, dass sie nicht von der Erde stammten. Dass sie Wesen wie ich und Ainoa waren. Gartenwesen – oder was auch immer.

Die Art, wie sie sich dabei bewegten, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Ruhig, dominant, fast raubtierhaft. Sie hatten ein Ziel: meinen Garten zu finden.

Der Vorderste schien das Sagen zu haben. Sobald er auch nur ein wenig die Hand hob, richtete sich der andere nach ihm. Sah er nach rechts, tat es der andere ebenfalls. Ein Wink und er wechselte die Straßenseite.

Gainen.

Das also war der Krieger, vor dem Ainoa solche Angst hatte. Ich konnte es ihr nachempfinden. Von ihm ging etwas Grimmiges, Grausames aus. Er trug einen langen schwarzen Mantel und Lederstiefel. Dazu ein seltsames, bläulich schimmerndes Kettenhemd. Schwarze, recht lange Haare. Das Deckhaar hatte er zu einem kleinen Knoten auf den Hinterkopf gebunden, der Rest reichte ihm bis über die Schultern. Dazu ein dunkler Dreitagebart. Seine Augenfarbe konnte ich von hier aus nicht sehen. Ich bemerkte lediglich seine fest zusammengepressten Lippen und das dunkle Tattoo, das sich vom Hals bis zum Ohrläppchen zog. Was es darstellte, wusste ich nicht. Ich wollte es auch lieber nicht herausfinden.

»Gainen. Er sucht uns«, flüsterte Ainoa. »Er wird uns töten.«

KAPITEL 3

Ab jetzt malte ich die Rune mit höchster Konzentration. Noch nie in meinem Leben hatte ich so dermaßen geschwitzt, noch nie solche Angst gehabt. Noch nie solche Schmerzen durchlitten.

Wenigstens bekam ich meine zitternden Finger wieder unter Kontrolle, sodass ich die Zacken in die richtige Richtung schubsen konnte.

Die Fremden kamen dabei näher und näher. Sie suchten uns und würden uns finden, wenn ich es nicht bald auf die Reihe bekam. Die Laóch. So hatte Samuel sie genannt.

Ainoa bewegte sich neben mir keinen Millimeter. Sie war wie schockgefroren. Ich hätte das auch gern getan, doch hatte ich eine Aufgabe. Eine Aufgabe, an der ich zu scheitern drohte.

Ich biss die Zähne zusammen.

Mit Schaudern hörte ich die Schritte der Männer. Langsam und stetig. Sie gingen taktisch vor. Ordentlich. Haus für Haus, Vorgarten für Vorgarten wurde unter die Lupe genommen. Wie mein Garten von außen aussah, wusste ich nicht. Ich hatte bei Ainoas Rettungsmission nicht darauf geachtet.

Der Zaun. Die Rune.

Mit aller Kraft wandte ich mich meiner Aufgabe zu und zupfte am Zaun. Dabei stöhnte ich ganz leise auf. Der Schmerz wurde heftiger, versetzte meinen Magen in Schwingung. Nicht schon wieder. Ich durfte nicht erneut kotzen.

Ich zog an einem Ende. Es war weit entfernt von perfekt, aber endlich reagierte der Zaun. Das violette Schimmern erschien. Schwächer als zuvor, aber es war vorhanden. Dann ein Gleißen, das von der Rune ausging und einer Welle gleich über die Hecken und den Zaun glitt.

Ich prallte zurück, als mich ein elektrischer Schlag erwischte. Mit dem Rücken voran stolperte ich und quiekte dabei, krachte zu Boden. Wahrscheinlich hätte ich auch geschrien. Zum Glück sprang Ainoa herbei und legte mir erstaunlich kraftvoll eine Hand auf den Mund.

»Pssssst«, machte sie.

Wir hielten wohl beide den Atem an, während wir lauschten. Die Schritte waren verstummt. Ich war mir sicher. Die Männer lauschten, genau wie wir. Sie hatten etwas gehört.

»Hier ist was«, sagte einer von ihnen zu allem Überfluss.

Ainoas Augen wurden riesig, das Zittern ihrer Hand auf meinem Mund deutlicher. Ich lag nur da und wartete. Harrte der Dinge, die da kommen mochten.

Dabei schlug mein Herz wie eine Trommel. Bumm, bumm, bumm. Und wie es schien, nahm der Garten meinen Rhythmus auf. Bumm, bumm, bumm.

»Nein, doch nicht.« Derjenige, der Alarm geschlagen hatte, klang enttäuscht. Genervt.

Mir stellten sich die Haare auf, als ich bemerkte, wie nahe sie waren. Sie standen unmittelbar vor der Pforte – quasi vor unseren Füßen. Was, wenn sie uns durch die Lücken im Zaun sehen konnten? Der Gedanke brachte mich auf die Beine. Ich packte Ainoa und schlich mit ihr geduckt zum dichtesten Teil der Hecke, hockte mich dahinter. Das Mädchen tat es mir nach. Dabei presste es sich zitternd an mich.

Etwas rüttelte am Gartenzaun, woraufhin wir uns noch tiefer duckten. Geht weiter, flehte ich in Gedanken.

»Und?«

»Nichts. Sieht menschlich aus. Markier den Bereich dennoch. Hier irgendwo muss es sein.« Von der Art, wie er sprach, nahm ich an, dass diese Stimme zu Gainen gehörte. Tief und befehlsgewohnt. Herrisch. Entschlossen.

Die beiden blieben noch einen Moment stehen und gingen dann weiter. Unfassbar. Ich an ihrer Stelle hätte zumindest versucht, in den vermeintlich menschlichen Garten zu gelangen. Der sicherste Weg, um alles zu überprüfen. Dass sie es nicht getan hatten, zeigte eins: Die Schutzrune arbeitete wieder. Sie sorgte nicht nur dafür, dass Fremde den Garten nicht finden konnten. Sie sorgte auch dafür, dass man unbewusst gar nicht hineinwollte. Das Ziel einfach vergaß.

So zumindest meinte ich mich an die Worte von Tante Anni zu erinnern. Dass mir diese Rune, der ich bislang so wenig Beachtung geschenkt hatte, jemals das Leben retten würde, hätte ich nicht gedacht.

Wir harrten noch gut fünf Minuten aus, bevor wir uns wieder hervorwagten. Meine Kleidung hing voller Blätter, meine Haare voller Äste. Die Büsche hatten mich auf ihre Weise begrüßt. Ainoa hingegen war, mal abgesehen vom Springkraut in ihren Haaren, ungeschmückt geblieben. Sie war kein Teil des Gartens. Vermutlich lag es daran.

Das Buch war uns gefolgt und schwebte neben meinem Kopf, noch immer aufgeschlagen. Als ich mich entspannen wollte, schlug es mir mit dem Einband gegen die Stirn.

»Aua«, protestierte ich. Es raschelte mit den Seiten, um meine Aufmerksamkeit zu erringen. Dann zeigte es mit der Spitze der vordersten Seite auf die Runenzeichnung.

Waren wir etwa noch nicht fertig?

Ich war müde und erschöpft. Verängstigt bis auf die Knochen. Außerdem tat mir alles weh. Konnte das nicht warten? Ich sah ein, dass dem nicht so war, konnte mich aber kaum auf die Rune konzentrieren. Sie war schief. Ja. Das stimmte. Sie wirkte dennoch. Warum also noch mal eine Veränderung der Rune riskieren? Nachher war das Ergebnis schlimmer und der Garten endgültig ungeschützt.

»Wir lassen das so«, sagte ich nach einer längeren Pause, in der ich von der Zeichnung zum Zaun und zurück geblickt hatte. Dabei hatte sich alles in mir verkrampft. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht schon wieder mit Magie arbeiten. Die tat weh. Die Arbeit lag mir nicht.

Das Buch versuchte mich aufzuhalten, doch ich ignorierte seine Anfeindungen. Mit der Hand wehrte ich es ab, ging zu Ainoa und sah sie fest an.

»Komm«, sagte ich zu ihr. »Wir müssen uns unterhalten.«