Queen of Magic – Das Zeichen der Königin - Liane Mars - E-Book
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Queen of Magic – Das Zeichen der Königin E-Book

Liane Mars

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Beschreibung

Zwei Welten, eine Krone, tausend Anwärterinnen. Doch nur eine wird als Königin überleben 

»Ihr Tattoo veränderte sich erneut. Es begann mit einem Prickeln, aus dem schnell ein Brennen wurde. Heute Morgen noch hatte auf ihrem Handgelenk die Nummer 371 in verschnörkelter Schrift gestanden. Ohne hinzusehen wusste Shay, dass sich die Zahl gerade auf magische Weise umformte.« 

Seit Jahren rätselt die Waise Shay, was das unheimliche Tattoo auf ihrem Arm bedeutet – eine Zahl, die sich verändert und herunterzählt. Was wird passieren, wenn sie die Eins erreicht hat? Als zwei fremde junge Männer auftauchen, erfährt Shay endlich die Wahrheit. Die Zahl stellt dar, an welcher Stelle sie in der Thronfolge einer magischen Welt steht. Doch wer tötet ihre Konkurrentinnen im Rennen um die Krone? Und ab wann muss Shay ums Überleben kämpfen? Ein rasanter Fantasyroman um eine Heldin, die ganz schnell ein Magietraining braucht ... 

»Die Geschichte hat ein gutes Tempo, Spannung, Wendungen und interessante Charaktere, die die Geschichte nicht langweilig werden lassen.«  ((Leserstimme auf Netgalley)) 

»Dieses Buch ist für mich ein Jahreshighlight und ich es Euch einfach nur ans Herz legen kann.«  ((Leserstimme auf Netgalley)) 
»Für mich persönlich passt in diesem Fantasy Roman alles und ich habe die rasante Fahrt von Anfang bis Ende geliebt..«  ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Dieses Werk wurde vermittelt von Michael Meller Literary Agency GmbH

Redaktion: Friedel Wahren

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Shutterstock (Guschenkova, Ironika); Freepik (tirachard, vanfree)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Shay

Nat

Kapitel 2

Theon

Lionee

Für meine Testleser. Ich danke euch!

Kapitel 1

Shay

Ihr Tattoo veränderte sich erneut. Es begann mit einem Prickeln, aus dem schnell ein Brennen wurde. Heute Morgen hatte auf ihrem Handgelenk noch die Nummer 371 in verschnörkelter Schrift gestanden. Ohne hinzusehen, wusste Shay, dass sich die Zahl gerade auf magische Weise umformte. Warum, war ihr schleierhaft. Sie wusste nur, dass es niemand sehen durfte.

»Ich gehe ins Bett«, sagte sie hastig zu ihrer Pflegemutter und wartete die Antwort nicht ab. Mit großen Sprüngen rannte sie aus der Küche, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, riss sie ihren Ärmel hoch.

Ihr Tattoo war noch in der Umwandlung. Aus Erfahrung wusste Shay, dass es gut eine Minute dauern konnte, bis die neue Zahl erkennbar wurde. Zu lange, dachte sie nervös. Das dauert zu lange!

In diesem Moment fuhr ein so scharfer Schmerz durch ihren ganzen Körper, dass sie in die Knie ging. Sie konnte kaum atmen, nicht mehr sehen. Und instinktiv wusste sie: Ab sofort ging es um ihr Überleben.

Ein Prickeln überlief ihren Körper, gefolgt von einem eisigen Gefühl in jedem Muskel. Was war hier los? Hilflos hockte sie vor dem Bett, krallte die Finger in die Decke und krümmte sich.

Ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Eine Gehirnblutung? Gerade war sie siebzehn Jahre alt geworden, verdammt noch mal. Sie war zu jung zum Sterben.

Ihre Finger zerknüllten die Bettdecke, suchten nach Halt. Mit zusammengebissenen Zähnen schob sie sich nach vorn, aufs Bett hoch. Dann lag sie bäuchlings darauf und presste das Gesicht in den muffigen Stoff. Früher einmal war er rot gewesen, die albernen Prinzessinnen darauf hatten blondes Haar gehabt und blaue Kleider getragen. Nach zehn Jahren Dauerbenutzung waren die Damen nur noch ein Schatten ihrer selbst, unförmige Punkte, umgeben von fleckigem Rosa.

Die nächste Schmerzwelle überkam sie. Halb lag, halb hockte sie auf der Matratze und wünschte sich, ohnmächtig zu werden. Leider ließ das ihre Sturheit nicht zu. Diese verdammte, alles beherrschende Sturheit.

Atmen, Shay, dachte sie dumpf. Was immer es ist, entweder es bringt dich jetzt sofort um, und dann ist diese elende Quälerei vorbei, oder es hört gleich auf. Bestimmt hört es gleich auf. Es muss aufhören!

Doch es hörte nicht auf. Zehn endlose Minuten vergingen, und sie glaubte schon, allein zu verrecken, da entdeckte sie endlich einen Schatten im Zimmer. Sie kannte ihn von Kindesbeinen an, und er war ihr so vertraut wie sie sich selbst. Ein lebendiges Geschöpf, das sie auf ihrem Weg durch die vielen Waisenhäuser begleitet hatte. Shay war sich von Anfang an sicher gewesen, dass dieses Wesen sie beschützte. Dass es ihr Freund war, ihre Familie. Selbst wenn es sich in der Regel nur an der Wand entlang bewegte und niemals mit ihr sprach. Allein seine Anwesenheit beruhigte sie. Der Schatten hockte wie üblich auf dem Schreibtisch, dicht an der Wand, verborgen vom Licht. Shay wusste aus Erfahrung, dass es eine Zeit lang benötigte, um sich zurechtzufinden.

Doch Shay unterbrach diesen Moment mit einem Stöhnen. Sie brauchte Hilfe! Sofort!

Die Eiszapfen, die sich in ihren Unterleib bohrten, kehrten zurück. Diesmal schrie sie in die Decke hinein, dämpfte den Laut mit dem Kissenstoff und hoffte, dass er ungehört verklang. Eigentlich kümmerte es den Rest der Hausbewohner nicht, was in diesem Zimmer vor sich ging, doch Schreie … ja, Schreie führten vielleicht dazu, dass ihre unwissende, kettenrauchende Pflegemutter nach dem Rechten sah. Es hätte gerade noch gefehlt, dass die Fürsorge auf der Matte stand und das Betreuungsgeld zurückverlangte.

Das Haus blieb zum Glück weiter gespenstisch still. Einzig das Wesen in der Ecke reagierte. Es sprang vom Schreibtisch und huschte zu ihr herüber. Dieser Schatten hatte allerdings mit gewöhnlichen Schatten aus Licht und Dunkelheit nicht viel gemein. Er war dreidimensional, aber seltsam konturlos. Die Ränder zerfaserten, sodass seine Gestalt nur undeutlich zu erahnen war. Kein Gesicht, keine Haare, keine Körperformen. Er sah ein bisschen so aus, als hätte man ihn erst mit schwarzer Farbe übergossen, danach mit fieser Wischtechnik malträtiert und schließlich mit einem Radiergummi aus dieser Welt getilgt. Allerdings hatte er sich nicht wegradieren lassen.

Der Schatten beugte sich zu ihr vor und betrachtete sie mehrere Atemzüge lang. Sie grunzte leise, um ihm zu zeigen, dass sie noch wach und bei Bewusstsein war.

Verteufelt, tat das weh! Jetzt bloß nicht heulen! Wenn sie heulte, dann geriet Schatten in Panik. Das war schon einmal passiert, als sie sich versehentlich ein Küchenmesser in die Handinnenfläche gerammt hatte und ohnmächtig geworden war. In dieser Zeit hatte Schatten das halbe Zimmer zerlegt, um in diesem verfluchten Haus irgendjemanden auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Natürlich war niemand gekommen. Tobende Teenager waren an der Tagesordnung und wurden gemeinhin nicht beachtet … oder eingesperrt, damit sie nicht auch noch den Flur demolierten.

Shay war natürlich nicht gestorben, aber der Vorfall hatte ihr gezeigt, dass Schatten durchaus Gegenstände berühren konnte, doch offenbar hatte er seitdem keinen Anlass dazu mehr gesehen. Bisher …

So etwas wie eine Hand schwebte über ihrem Kopf. Sie spürte die aufgepeitschte Aura des fremdartigen Wesens, die Unruhe in jeder Bewegung seiner Muskeln. Nat. Das war eindeutig Nat. Es gab noch einen zweiten Schatten, der immer dann auftauchte, wenn Nat längere Zeit verschwunden war. Den hatte sie Theon genannt. Warum, wusste sie selbst nicht. Die Namen waren einfach in ihrem Kopf aufgetaucht, genau wie die Schatten in ihrem Zimmer. Im Gegensatz zu Nat war Theon vollkommen ausgeglichen, ruhte in sich selbst. Er wäre bestimmt nicht so ausgerastet wie Nat.

In der jetzigen Situation war sie jedoch froh, dass Nat bei ihr war. Dieser Schatten würde reagieren und nicht abwarten. Er würde ihr helfen, irgendwie.

»Nat«, flüsterte sie und runzelte die Stirn. Himmel, sie klang wie eine Sterbende! Tatsächlich war ihre Kehle staubtrocken, ihr Hinterkopf wurde eisig. Endlich erkannte sie auch die neue Zahl auf ihrem Handgelenk. 131. »Nicht durchdrehen!«, konnte sie gerade noch hervorstoßen, dann wurde alles um sie herum schwarz.

Nat

Kaum hatte Shay die Augen verdreht und sie schließlich ganz geschlossen, war Nat losgesprintet. Er hetzte zum Schreibtisch und warf sich regelrecht durch den Weltenriss, um von Shays in seine Welt zu wechseln. Wie immer war es ein Schock, innerhalb eines Atemzugs von einer seltsam zerknautschten, unförmigen Schattengestalt in den eigenen Körper gepresst zu werden. Sein Magen drehte sich, bittere Galle schoss ihm in den Rachen. Gewöhnlich blieb er einfach zwei Sekunden lang reglos sitzen und wartete, bis sich sein Gehirn sortiert hatte, doch dafür hatte er keine Zeit. Er sprang auf die Füße und verließ die Krypta, so schnell er konnte. In letzter Sekunde warf er sich hinter den nächsten Busch, um sich zu verstecken.

Mist! Wenn Theon das jetzt gesehen hätte, wäre er ausgerastet. Die Krypta zu schützen war von allerhöchster Wichtigkeit. Entdeckte ein anderer Wächter den Weltenriss, konnten sie nicht mehr nach Shay sehen. Allein bei dem Gedanken wurde ihm heiß und kalt.

Diesmal gönnte er sich zwei Atemzüge und sicherte die Umgebung. Wie immer war der Rosengarten wie leergefegt. Theons Werk. Irgendetwas hatte er den armen Blumen angetan, um sie qualvoll und möglichst dramatisch sterben zu lassen. Früher war dieser Bereich der ganze Stolz des Schlosses gewesen. Rosen in allen Farben des Regenbogens hatten um das Auge des Betrachters geliebäugelt. Doch das war gewesen, bevor die Sonne über Amenthes verblichen war. Bevor es kalt und dunkel geworden war. Theon hatte nicht mal viel machen müssen, um den Stolz des Anwesens zu zerstören.

Die Gärtner hatten sich noch jahrelang bemüht, diesem Fleckchen Erde Leben einzuhauchen. Ohne Erfolg. Seitdem war der Rosengarten wie ausgestorben und damit die Barriere, um etwaige Verfolger abzuschütteln. Allerdings kümmerte sich niemand darum, was Nat den Tag über trieb. Er war unwichtig. Bei Theon sah die Sache allerdings ganz anders aus.

Geduckt schlich Nat an den Rosenbüschen entlang. Sie waren mit einem seltsam gräulichen Schleim behangen, der einen hervorragenden Sichtschutz bot. Nat hatte keine Ahnung, was das für ein Zeug war und aus welchem Höllenloch Theon es geholt hatte. Eins aber musste er ihm lassen – sein Bruder hatte sich dabei selbst übertroffen. Wieder einmal.

Drei Schritte weiter hatte Nat den Garten auch schon wieder verlassen, huschte im Zickzack durch den albernen Irrgarten dahinter und ließ gleich darauf alle Vorsicht fahren. Hierher war er so oft mit seinen Liebschaften gekommen, dass sein Auftauchen nicht verwunderlich war. Ein perfektes Alibi, das er sich mit viel Mühe und Charme erarbeitet hatte.

Die verwinkelten Pfade wurden geradliniger, der Kies verschwand und endete in kunstvoll verzierten Pflasterwegen. Früher hatte der Stein im Sonnenlicht wie Gold gefunkelt. Heute war ihre Farbe verblichen und kränklich gelb. Nat holte alles aus seinen langen Beinen heraus, spürte den Wind um die Ohren pfeifen. Es stürmte wieder einmal. Sobald die Königin schlechte Laune hatte, veränderte sich entsprechend das Wetter auf Amenthes. Der Grund war einfach, denn die Welt war auf unheimliche Weise an ihren Gemütszustand gekoppelt. Und da die Königin in letzter Zeit selten glücklich war, schien die Sonne eigentlich nie. Das hatte zumindest den Vorteil, dass er nicht schwitzte.

In Rekordtempo preschte er an Kriegern der ersten Garnison vorbei, schnitt die nächste Kurve und sprang mit einem Satz drei Duatwächtern aus dem Weg. Die warfen ihm böse Blicke zu.

»Hast du wieder etwas ausgefressen?«, schrie einer der Männer empört, aber Nat antwortete nicht.

Sollten die doch denken, dass ein erboster Vater hinter ihm her war, weil er verbotenerweise seine zuckersüße Tochter umgarnt hatte … oder umgarnt zu haben schien. Nicht immer war es so eindeutig, wie Nat seiner Umwelt glauben machte. Letztlich lief alles auf eins hinaus: Was juckte es ihn, was die anderen dachten? Solange sie nicht erfuhren, warum er wirklich wie der Teufel rannte, war alles in Ordnung.

Mit der linken Hand fuhr er sich über die verschlungene Rune auf Pulshöhe seines rechten Arms. Die tätowierte Nummer brannte, pulsierte aufgrund der Magie, die er geweckt hatte. Sofort reagierte sein innerer Kompass, und er wusste, wo er Theon finden würde.

Hoffentlich war sein Bruder nicht gerade damit beschäftigt, den Angriff der Schattenbestien vom Tag zuvor aufzuklären oder der Königin den neuesten Bericht vorzulegen. Oder … Theon konnte überall stecken. Gleichgültig wo, es war niemals ideal, ihn mit Gewalt aus einer Situation herauszureißen.

Schließlich gelangte Nat zu den Wohnräumen. Die steinernen Gewölbe leuchteten von innen heraus, was ganz praktisch war. Immerhin mussten die Bewohner von Amenthes seit einigen Jahren ohne echten Sonnenschein auskommen. Tatsächlich strahlten die weißen Steine so viel Licht aus, dass Nat einen Moment lang geblendet wegsehen musste, bevor er sich einfach durch die nächstbeste Tür warf und den nach links zum Innenhof offenen Gang entlangpolterte.

Irgendjemand schrie seinen Namen. Dem Ton nach eine eindeutige Ermahnung. Er beachtete den Ruf nicht, gelangte über den Bogengang ins Innere der Schulbereiche und prallte mit Wucht gegen eine grazile Lehrerin, die gerade ihren Lehrlingen eine komplizierte Drehung vorführen wollte. Er riss sie unsanft zu Boden und stützte sich auf ihrem Körper ab, um sich wieder aufzurichten. Ungebremst stürmte er weiter, verfolgt von wüsten Beschimpfungen und dem Gekicher der Schülerinnen.

Links von ihm unterbrachen die Benu, die Königinnenanwärterinnen von Amenthes, ihre Übungen und sahen ihm verblüfft hinterher. Sie saßen oder standen auf einer Wiese, die früher aus grünem, akkurat getrimmtem Rasen bestanden hatte. Heute wuchs dort höchstens noch Schattenmoos. Die triste, braune Erde war staubig und voller Risse. Der Beweis dafür, wie ernst die Lage auf Amenthes war.

Einzig die rotgoldenen Roben der Anwärterinnen brachten ein wenig Farbe hinein, allerdings hatten auch sie längst ihren hellen Schein verloren. Es war, als sei die Dunkelheit ein Teil des Stoffes geworden.

Endlich erreichte Nat die Klassenräume. Nat wusste ganz genau, hinter welcher Tür Theon saß, und betete, dass er gerade harmlose Fünftklässler unterrichtete. Sekunden später war die Tür offen, und er stolperte in den Raum.

Die Blicke der obersten Führungselite richteten sich fragend auf ihn, während Theon erstarrte. Nats Bruder stand an der Tafel und malte kompliziert aussehende und garantiert geheime Gleichungen und Runen auf verschlungene Diagramme. Aber das kümmerte Nat nicht.

»Entschuldigung«, keuchte er und verbeugte sich hastig. Es gab Regeln, die man übergehen konnte, und Regeln, die einem das Genick brachen, wenn man sie überging. Das respektvolle Verbeugen gehörte zu Letzterem. Das hieß allerdings nicht, dass Nats Verbeugung elegant ausfiel.

»Ich muss euch Theon kurz entführen.« Er griff nach dem Handgelenk seines Bruders. Der riss entsetzt die Augen auf, ließ sich aber mitziehen. Tatsächlich hätte Nat in dieser Sekunde keine Ausrede parat gehabt, um seinen Auftritt zu erklären, zumindest keine, die halbwegs plausibel geklungen hätte. Er vertraute darauf, dass sich Theon etwas einfallen ließ.

Natürlich warf ihm sein Bruder einen seiner tödlichsten Blicke zu, die besagten: Wenn dasjetzt nicht ernsthaft wichtig ist, dann wird es richtig ungemütlich für dich. Leider verstand sich Theon auf richtig unangenehme Bestrafungen.

Nat wäre mit Theon im Schlepptau genauso zurückgehetzt, wie er gekommen war, doch das verhinderte sein Bruder. Er ging schnell und zügig, rannte aber nicht. Stattdessen machte er sich mit einem Ruck los und hob den Finger. Diese Geste nannte Nat im Stillen den Papakomplex. Ihr Vater hatte genau die gleiche Körperhaltung eingenommen, um von ihnen Gehorsam einzufordern.

Bevor Theon ihn rügen konnte, sagte Nat nur ein einziges Wort: »Shay.« Sofort verdunkelte sich Theons Gesicht vor Sorge. Seine Schritte wurden unwillkürlich länger. »Sie hat starke Schmerzen. Ich weiß nicht, was los ist.«

Theon wechselte augenblicklich in den Krisenmodus. »Dann sollten wir uns beeilen«, sagte er lediglich und wurde noch schneller. Während sie zur Krypta eilten, brachte Nat seinen Bruder auf den neuesten Stand, beschrieb die Symptome und den Moment, als es angefangen hatte.

»Welchen Rang hat Shay gerade?«, fragte Theon angespannt.

»Das weiß ich nicht. Sie schrie. Da habe ich nicht auf ihr Handgelenk geschaut.«

»Nat …«

»Spar dir bitte deine Ermahnung. Du hättest auch nicht daran gedacht. Sie hat so mit den Zähnen geknirscht, dass ich dachte, ihr bricht gleich der Unterkiefer auseinander.«

Theon hörte Nat eindeutig nicht zu, denn er war tief in Gedanken versunken. Dabei rieb er sich nervös über den wie immer kurz gehaltenen Vollbart. »Gestern sind fünfundachtzig Benus gestorben«, sagte er leise, mehr zu sich selbst.

Nat sah ihn entsetzt an. »Fünfundachtzig? Aber … das hat sie ja mit einem Mal knapp auf Platz einhundert katapultiert!«

»Es gab auch ein Beben in der Magie. Die Königin rief ihre Berater zu sich, um den Grund dafür zu diskutieren. Ich fürchte, ich weiß, was es war.« Mittlerweile waren sie im Rosengarten angekommen und huschten geduckt von Schatten zu Schatten. Sie waren jedoch so geübt darin, dicht beieinanderzubleiben, dass sie ihr Gespräch nicht unterbrechen mussten. Theon konzentrierte sich zunächst darauf, ungesehen in die Krypta zu huschen. Hier war es stockdunkel, immerhin war es das Familiengrab ihrer Eltern. Ohne nachzudenken, flüsterte er die übliche Begrüßung. »Ruhet sanft, ihr letzten der Shenai.« Damit aktivierte er das leuchtende Moos, das sie überall an den Ritzen gezüchtet hatten. Es schimmerte leicht grünlich, während in der Ecke ein Feuerchen loderte. Sein leuchtendes Dunkelrot war ein eindeutiges Zeichen, dass es einen magischen Ursprung hatte. Vom Eingang war es zum Glück nicht zu sehen, da Theon und Nat geschickt mehrere Felsnischen eingerichtet hatten, die es verdeckten.

»Was war der Grund für das Beben?«, fragte Nat ungeduldig, nachdem sein Bruder beharrlich schwieg.

»Ich glaube, dass Shay ihre Tage bekommen hat, fruchtbar geworden ist. Das erklärt das Beben in der Magie. Sie ist ab jetzt eine vollwertige Benu.«

»Aber sie ist doch siebzehn. Also hätte sie … hätte sie da nicht längst schon … also die Sache mit den Tagen …«

»Hör auf herumzustammeln, und sieh ein, dass unsere kleine Shay nicht mehr so klein ist! Wir hatten bislang Glück, dass sie nicht längst fruchtbar geworden ist. Bei Amenthes, Nat, jetzt sieh mich nicht an, als wäre das etwas Ekliges. Ist es nicht. Es ist etwas ganz Natürliches, was uns nun jedoch vor riesige Probleme stellt. Hast du dein Runenbuch dabei?«

»Ich habe mein Runenbuch immer dabei. Nicht auszudenken, wenn es in falsche Hände gerät.«

»Gut. Dann lass uns zu Shay wechseln.«

Nat atmete tief durch, sammelte sich und beschäftigte sich mit dem Duatfeuer in der Ecke. Darauf verstand er sich wenigstens. Mädchen, Tage, Fruchtbarkeit und die damit erwachende Magie der Benu waren keine Themen, mit denen er sich in Zusammenhang mit Shay beschäftigen wollte. Das klärten Frauen gewöhnlich unter sich. Dumm nur, dass sie unmöglich eine Benu um Rat fragen konnten. Das wäre zu auffällig gewesen. Also konnten sie nur hoffen, dass ihnen Nats gestohlenes Wissen weiterhalf.

Schweigend beobachtete Theon seinen Bruder, der das Feuer vorbereitete und die Runen für zwei Übergänge in den feinen Sand malte. Da Nat im Runenzeichnen deutlich geschickter war als Theon, überließ er ihm nur zu gerne diese Aufgabe. Gleichzeitig sah Nat, wie es in seinem klugen Köpfchen arbeitete. Wahrscheinlich ging er gerade sämtliche Notfallpläne durch, die sie sich ausgedacht hatten.

Shay war jetzt eine Benu. Das veränderte alles. Nat konnte nur hoffen, dass die Runen hielten und Shay unentdeckt blieb, dass Theon die Nerven behielt und sie Shay helfen konnten, die nächsten sehr, sehr schwierigen Tage zu überstehen.

Kapitel 2

Theon

Er versuchte optimistisch zu bleiben. Das versuchte Theon grundsätzlich, doch in den meisten Fällen wurde die Hoffnung von der grausamen Realität vernichtet. Was, wenn er die Schutzrunen nicht nachziehen konnte? Was, wenn die für Shay gestohlenen Schutzzauber unwirksam waren?

Er straffte sich. Darüber konnte er sich Sorgen machen, wenn ihr Rettungsversuch schiefgegangen war. Nat beendete soeben die letzten Zeichen und drückte einen Daumen als Aktivierung in den Sand. Das Feuer flammte kurz auf und wurde seltsam durchsichtig. Gleichzeitig verdunkelten sich die Schatten an den Wänden, nahmen Konturen an.

Nat zog eine Grimasse, als er seinen Schatten sah. »Habe ich zugenommen?«, fragte er und drehte sich im Schein des Feuers um die eigene Achse. Sein Schatten machte die Bewegung bereits nicht mehr mit und verharrte wie mit der Wand verhaftet, das Gesicht ihm zugewandt, reglos, leblos.

Theon wusste, dass Nat die Situation auflockern wollte. Er tat immer so, als ginge ihm dieses Getue gehörig auf die Nerven, war aber in Wirklichkeit ganz froh darüber. Solange Nat herumalberte, war nicht alles verloren.

Statt auf Nats Gefrotzel einzugehen, setzte er sich im Schneidersitz dicht vor das Feuer und atmete tief durch. Nat tat es ihm gleich, wobei der Platz in der kleinen Gruft äußerst begrenzt war. Ihre Knie berührten sich. Ein beruhigendes Gefühl. In Gegenwart seines Bruders entspannte Theon sich immer, obwohl der ihn in schöner Regelmäßigkeit zur Weißglut trieb.

Er fühlte die Kraft der Runen als Sog auf der Haut, ein Ziehen und Zupfen. Nach jahrelanger intensiver Übung reagierte sein Geist sofort darauf. Er löste sich von seinem irdischen Körper, glitt hinüber zum wartenden Schatten und beseelte ihn. Sekunden später sprang er mit Nat in Schattengestalt durch das Feuer und wechselte von Amenthesʼ in Shays Welt, nach Eatu.

Ein Zauber, den nur die Duatkrieger ausführen konnten.

Wie immer landeten sie auf Shays Schreibtisch. Theon steckte sich zunächst, um sich an seine Schattenhaut zu gewöhnen. Sie war seltsam gummiartig. Zäh wie Leder. Es war schwierig, sich damit aufrecht fortzubewegen. Nat schüttelte sich neben ihm wie ein Hund. Sein Bruder hasste die Übergänge noch mehr als er selbst, denn ihm wurde immer schlecht dabei. Theon wollte im ersten Moment warten, bis Nat sich erholt hatte, da fiel sein Blick auf Shay.

Die junge Frau lag zusammengekrümmt auf dem Bett und zitterte so heftig, dass das alte Gestell im Rhythmus gegen die Wand stieß. Sie war kalkweiß.

Theon vergaß augenblicklich Nats Unwohlsein und hastete zu Shay hinüber. Jeder Schritt kostete ihn viel Kraft, bei jeder Bewegung schmerzten die Muskeln in seinem Schattenkörper. Ein Sprint durch tiefsten Morast wäre einfacher gewesen.

Keuchend erreichte er das Bett und beugte sich über Shay. Ihre langen blonden Locken lagen wie ein Fächer auf dem Kopfkissen. Theon wusste, dass er die Haare nicht berühren durfte. Shay anzufassen konnte gefährlich werden, für alle.

Er sprach sie an, doch sie hörte ihn nicht. Geräusche von Amenthes nach Eatu drangen leider nicht über den Riss hinweg. Theon und Nat konnten untereinander reden und Shays Worte hören, aber sie konnten nicht mit ihr sprechen. In die Richtung funktionierte die Übertragung nicht. Vielleicht spürte Shay aber zumindest ihre Anwesenheit und wurde auf sie aufmerksam. Oder war sie gar in Ohnmacht gefallen? Ihre Augen waren geschlossen. Die vollen Lippen hatte sie aufeinandergepresst. Speichelblasen bildeten sich in den Winkeln. Kein gutes Zeichen.

Mittlerweile war auch Nat ans Bett getreten und lehnte sich vor, um mehr zu sehen. »Mist«, war alles, was er sagte, und das traf die Lage recht gut. Großer Mist.

Immerhin atmete Shay, wenn auch hastig und flach. Den Puls konnte Theon natürlich nicht messen, ohne sie zu berühren, also starrte er auf ihre Brust, beobachtete, wie sie sich hob und senkte. Zu schwach. Viel zu schwach. »Sie stirbt«, stellte Theon fest.

»Das sehe ich auch, aber was unternehmen wir dagegen?« Nat war mittlerweile noch blasser als Shay, was in Anbetracht seines bronzenen Hauttons umso mehr auffiel. Nervös fuhr er sich durch das wirre Haar, eine Angewohnheit, die Theon stets an ihren verstorbenen Vater erinnerte. Er hatte seinem Jüngsten ständig die Haare gezaust.

»Du musst sie wecken. Wirf irgendetwas neben ihren Kopf, was auch immer! Ich verstärke die Schutzrunen an der Tür und hoffe, dass das reicht.«

Nat suchte bereits nach Möglichkeiten, um Shay wach zu machen. Daher wandte sich Theon seiner eigenen schwierigen Aufgabe zu. Mit nicht vorhandenem Blut eine Rune auf die Tür einer anderen Welt zu malen war eine echte Herausforderung. Dieses Kunststück war ihm im Alter von vierzehn Jahren schon einmal geglückt, also würde er es sicher auch mit fünfundzwanzig schaffen. Tief durchatmend, zwang er seinen Schatten zur Tür und versuchte seinen seltsam zähen Schattenkörper mit den stumpfen Fingernägeln zu verletzen. Schließlich erinnerte er sich an den kleinen Schnitt vom Rasieren und zupfte sich im Gesicht herum.

In der Zwischenzeit bemühte sich Nat, Shay die Bettdecke ins Gesicht zu werfen. Das erwies sich als schwierig, denn für die Schattengestalten waren selbst kleinste Gegenstände auf Eatu tonnenschwer. Ein Kissen brachte gut hundert Kilogramm auf die Waage, eine Decke noch mehr.

»Kommst du klar?«, fragte Theon und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Nat durch pure Willenskraft zumindest einen Zipfel anhob.

»Einigermaßen«, ächzte sein Bruder mit belegter Stimme.

Endlich riss die Haut auf Theons Gesicht, sodass er zu keiner Antwort kam. Rasch tupfte er etwas von dem geisterhaft dunklen Blut ab und strich es über die alte Rune an der Tür. Die leuchtete auf. Sie war noch aktiv, aber recht schwach. Kein gutes Zeichen.

Als er etwa die Hälfte der Rune nachgezeichnet hatte, japste Nat erfreut auf. »Sie öffnet die Augen«, rief er aufgeregt. Theon hatte keine Zeit, nach seinem Bruder und Shay zu sehen, also nickte er lediglich.

So schnell und genau wie möglich führte er sein Werk fort, während es hinter ihm rumorte. Shay stöhnte und fluchte leise, ganz wie bei Teenagern üblich. Nat stieß beruhigende Laute aus, die sie garantiert nicht hörte, aber mit ein bisschen Glück fühlte.

»Nat? Theon?«, fragte sie. Als Theon ihre Stimme hörte, atmete er vor Erleichterung tief durch. Fast hätte er sich verschrieben und konzentrierte sich im letzten Moment auf die Rune.

»Wir müssen mit ihr in Kontakt treten«, murmelte Nat. Das hatte er bestimmt schon an die hundert Mal angesprochen, und bisher hatte Theon ihn jedes Mal davon abgebracht. In ihrer realen Gestalt nach Eatu zu kommen war gefährlich. Über die Schattengestalten mit ihr zu sprechen erwies sich jedoch als unmöglich. Da blieben nicht mehr viele Alternativen.

Nur noch der untere Teil der Rune, dann konnte er sich diesem Problem zuwenden. Hast konnte tödlich enden. Für Shay.

Der letzte Blutstropfen rann über die Zeichen. Als Vierzehnjähriger hatte Theon sie mit bemerkenswerter Genauigkeit gezogen. Das kam ihm jetzt natürlich zugute. Nat hätte sie noch exakter zeichnen können, allerdings konnte er keine fremden Runen übernehmen. Sie neu zu schaffen hätte zu lange gedauert.

Als Theon sich zu seinem Bruder umwandte, zerrte dieser gerade mit schweißnassem Gesicht ein Blatt Papier vom Schreibtisch. Er stieß es über die Tischkante, und es segelte in Richtung Bett. Kurz davor fiel es zu Boden.

Shay hatte die Bewegung ebenfalls wahrgenommen. Sie lag noch immer zusammengekrümmt auf der Matratze, hielt sich den Oberkörper, hob aber zumindest den Kopf und runzelte die Stirn.

»Wir schreiben ihr jetzt einen Brief«, erklärte Nat entschlossen. »Und du hältst die Klappe, weil du selbst keinen besseren Einfall hast.«

Das stimmte, und so gab sich Theon ohne Protest geschlagen und trat neben seinen Bruder, der sich einen Kugelschreiber vornahm, dessen Mine bereits aus der Hülle gesprungen war.

»Ein Bleistift ließe sich leichter tragen«, bemerkte Theon.

»Aber die stecken alle im Etui. Die bekommen wir niemals rausgehebelt, ohne uns etwas zu zerren. Wir nehmen den hier, und damit hat die Diskussion ein Ende. Pack du unten an, ich oben.«

Theon gehorchte. Wann immer Nat diesen Ton anschlug, war mit ihm nicht mehr zu spaßen, und er ordnete sich einfach besser unter. Wenn er ehrlich war, genoss er solche seltenen Momente. Einmal nicht Anführer sein. Einmal nicht Lösungen parat haben müssen. Einmal nicht die Verantwortung tragen.

Es war seltsam, einen so winzigen Gegenstand mit aller Kraft anheben zu müssen. Ihre vier Hände fanden kaum Platz auf dem winzigen Stift, und trotzdem mussten sie all ihre Kraft aufwenden, um ihn zum Blatt Papier zu wuchten.

Als sie dort ankamen, waren sie schweißnass und außer Atem. Während Theon den Kugelschreiber aufrecht hielt, schubste Nat die Mine in die richtige Richtung, damit sie schreiben konnten.

»Shay schreibt man mit h«, erwähnte Theon möglichst beiläufig. Nat warf ihm einen bösen Blick zu.

»Das ist mir klar, aber in der Kürze liegt die Würze. Wir sind hier nicht beim Buchstabierwettbewerb«, knurrte er. »Was sagen wir ihr überhaupt?«

»Es war dein Vorschlag. Keine Ahnung.«

»Du stirbst, kann ich schlecht schreiben«, überlegte Nat. Theon sah ihm eine Weile beim Denken zu und seufzte innerlich. Wie es schien, musste er doch das Ruder übernehmen. »Schreib: Bleib ruhig. Wir helfen Dir«, schlug er vor.

»Das ist gelogen. Wir haben keine Ahnung, wie wir ihr helfen können.«

»Aber es beruhigt sie und macht ihr Mut. Sie muss nicht alles wissen.«

»Ich lüge Shay nicht an.«

Typisch Nat. Er log ständig, nur bei Shay hatte er seine Prinzipien. »Gib mir das Runenbuch.« Theon ließ den Kugelschreiber los und schüttelte die tauben Finger. Seine Muskeln protestierten nach der ungewohnten Anstrengung.

Nat reichte ihm blitzschnell das Runenbuch, eindeutig froh, dass Theon das Kommando übernahm. Der blätterte darin herum, bis er fand, was er suchte. »Dies ist die Rune für die Stärkung einer Benu, die hier ist gegen Magieblutungen. Wenn Shay sie selbst zeichnet, müsste es ihr besser gehen.«

Nat sah ihm über die Schultern und betrachtete das eigene Gekrakel. Duatwächtern war es strengstens untersagt, Benu-Runen zu zeichnen oder etwas über die Magie der Prinzessinnen zu lernen. Nat hatte sich im Auftrag von Theon darüber hinweggesetzt und heimlich so viele Runen wie möglich abgezeichnet, sogar mitsamt der Anwendung und dem Hinweis, in welche Richtung sie gezeichnet werden mussten. Dafür hatte sich Nat an sehr vielen Tagen sehr lange bei sehr vielen Unterrichtsstunden der Anwärterinnen herumdrücken müssen. Die Damen hatten gedacht, Nat sei ein Tunichtgut, der nur Interesse an ihren Brüsten hatte. In Wirklichkeit hatte er sich die Runen eingeprägt. Sollte jemand dieses Buch entdecken, würden beide in gewaltige Schwierigkeiten geraten.

»Ich hoffe, ich habe die verdammten Runen richtig aufgezeichnet«, grummelte Nat. Theon spürte die Angst seines Bruders. Sie befanden sich jetzt auf vollkommen unbekanntem Gebiet.

»Das wird schon«, beruhigte ihn Theon. Gemeinsam richteten sie den Kugelschreiber auf und schrieben: Mal diese Rune mit Blut auf die Decke über deinem Bett. Darunter zeichneten sie recht krakelig die Rune und hofften, dass Nat bei seinen Aufzeichnungen keinen Strich vergessen hatte.

Shay hatte sie bei ihrer kräftezehrenden Schreibarbeit beobachtet, war sogar an den Rand des Bettes gekrochen, um besser sehen zu können. Einige ihrer blonden Haarsträhnen fielen bis auf den Boden, während sie das Kinn in die Matratze grub und die eisblauen Augen weit aufriss.

»Ihr könnt schreiben?«, fragte sie ungläubig. Es klang gepresst und schmerzvoll. »Ernsthaft jetzt? Und das macht ihr erst, nachdem ich mich siebzehn lange Jahre frage, wer oder was ihr seid? Die Antwort darauf könnt ihr gleich dahinterschreiben.« Um ihre Aufforderung zu unterstreichen, wedelte sie schwach mit einer Hand.

Theon und Nat konnten ihr den Wunsch nicht erfüllen. Sie waren ja schon vollkommen fertig, nachdem sie nur diese eine Rune gezeichnet hatten. Mit vereinten Kräften zogen sie das Blatt näher an Shay heran, damit sie besser sehen konnte.

»Ich soll diese unheimliche Rune zeichnen? An die Decke? Mit Blut? Seid ihr etwa Satanisten?« Theon nahm die Unsicherheit in ihren giftigen Worten wahr. Shay hatte seit Jahren große Angst, dass die Schatten Dämonen oder Teufelszeug sein könnten.

Theon verstand sie gut, allerdings hatten sie keine Zeit für großartige Diskussionen. Doch wie sollte er mit einem Mädchen diskutieren, das in einer anderen Welt feststeckte?

»Wenn sie sich weigert, stirbt sie.« Nat wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ Shay keine Sekunde lang aus den Augen. Dabei öffnete und schloss er die Finger vor Anspannung.

Auch Theon rollte den Kopf hin und her, damit der Nacken für die nächste Runde Schreiberei gelockert war. Sie hatten noch die zweite Rune auf Papier zu bringen, da half alles nichts. Doch zunächst musste Shay mitmachen.

Shay starrte auf das Papier, als hätte sie Angst, es könne sie verschlingen. Tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie war noch immer bleich vor Angst. Allerdings war sie sowieso eher der helle Typ. Sie hatte flachsblondes Haar, kaum sichtbare Brauen, eisblaue Augen und einen dunkelroten Mund, der bei ihrer Blässe noch mehr auffiel. Irgendwann war Shay, ohne dass Theon es gemerkt hatte, zu einer Frau geworden. Das rundliche Gesicht war jetzt erwachsener, hatte härtere Konturen als früher. Auch die Entschlossenheit in ihrem Blick war ihm vorher nicht aufgefallen.

»Komm schon«, flüsterte Nat neben ihm und meinte Shay damit. Er musterte sie so eindringlich, dass sie vermutlich ein merkwürdiges Prickeln auf der Haut verspürte. Nat konnte das … sein Gegenüber in Grund und Boden starren.

Gut eine Minute verging, während Shay nachdachte und die Möglichkeiten abwog. Theon hätte schwören können, dass sie sich weigern würde, doch die nächste Schmerzwelle überzeugte sie. Nachdem sie wieder atmen konnte, richtete sie sich langsam auf allen vieren auf, kroch über den Boden zum Schreibtisch und holte ihr Cuttermesser. Damit schnitt sie sich ziemlich rabiat in den Unterarm und warf den Schatten böse Blicke zu.

»Wehe, ihr verdammt mich zu unendlicher Seelenqual«, stieß sie hervor, hob das Blatt vom Boden auf und malte auf dem Bett stehend eine extrem krumme Rune an die Decke.

Die beiden Schatten beobachteten sie mit gerunzelter Stirn. »Wir müssen sie unterrichten«, seufzte Theon. »Das Zeichen ist ja kaum als Rune zu erkennen.«

Nat zuckte mit den Achseln und schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Und wie willst du sie unterrichten, wenn wir keine Ahnung von den Themen haben und sie für uns unerreichbar ist?«

»Wir müssen uns einfach etwas einfallen lassen. Finden wir keine Lösung, bedeutet das das Ende. Für uns alle.«

Lionee

Sie stand reglos am Fenster und beobachtete Nat, wie er in Richtung der Unterrichtsräume sprintete. Viel zu schnell, viel zu rücksichtslos. Lionee kannte den jungen Mann zwar nicht persönlich, hatte aber schon viel über ihn gehört. Ein Taugenichts, ein Tunichtgut, ein Frauenverführer und Frauenheld.

Sie musste zugeben, dass sie ihn durchaus attraktiv fand mit seinem störrischen kurzen Haar und den langen Beinen. Verwegen, spannend, anders als alle anderen.

Allerdings fand sie seinen Bruder noch viel interessanter.

Als Theon wenig später mit seinem Bruder in ihr Sichtfeld trat, musste sie ein Lächeln unterdrücken. Sie freute sich immer, den älteren der Shenai-Brüder zu sehen. Natürlich hätte sie das niemals zugegeben. Es war ihr Geheimnis, wie so vieles.

Die beiden bekamen Ärger von einer Lehrerin. Bis hierher konnte Lionee nicht verstehen, worum es ging, doch sie wusste es auch so. Theon musste oft den Kopf für seinen Bruder hinhalten. Nats Ausschweifungen hatten schon das ein oder andere Mal dafür gesorgt, dass Theon bei einer Beförderung übergangen worden war. Wenn er nicht einmal seinen Bruder zur Vernunft bringen konnte, wie sollte er da eine ganze Garnison führen?

Eine Sache war jedoch merkwürdig. Lionee war sich absolut sicher, dass Theon großen Einfluss auf seinen kleinen Bruder hatte. Deshalb wurde sie das Gefühl nicht los, dass Theon stets wusste, was Nat so trieb, und ihn sogar unterstützte. Das war eine Beobachtung, die Lionee sofort misstrauisch machte. Mit den Brüdern stimmte etwas nicht, und sie war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Sie beobachtete, wie Theon neben Nat herging. Er hatte eine gebieterische Art, sich zu bewegen, beinahe erhaben, während Nat eher leichtfüßig vor sich hintänzelte. Wie ein ungeduldiges Fohlen. Wie ein Rennpferd, das zurückgehalten wurde. Theons Gang hingegen zeigte, dass er wusste, wohin er wollte. Er hatte ein Ziel, im Gegensatz zu Nat … oder, was sie ungern zugab … im Gegensatz zu ihr.

Wohin wollte sie? Mit ihrem Leben, mit ihrem Lernen, mit ihrer Art, Menschen zu behandeln?

Als die beiden aus ihrem Sichtfeld verschwanden, fühlte sie sich seltsam verlassen. Leer. Einsam. Tatsächlich war sie das auch, doch solange sie einen der Shenai-Brüder beobachtete, hatte sie zumindest den Eindruck, ein wenig Teil von etwas zu sein. Und sei es nur als Beobachterin. Unerkannt. Ungesehen. Unsichtbar.

Sie unterdrückte einen leisen Seufzer. Im sterilen Zimmer hätte er sonst wie ein Donnerschlag geklungen und den Wächter auf sie aufmerksam gemacht. Der stand wie immer reglos an der Tür und starrte vor sich hin. Teilnahmslos. Gelangweilt.

Wie gerne hätte sie einen persönlichen Wächter, einen Duatkrieger gehabt, der ihr seit ihrer Geburt als Schutz zur Seite gestellt worden wäre. Doch das war ihr nicht vergönnt gewesen. Die Magie hatte ihr nie einen zugeteilt. Ebenso wenig besaß sie ein lebendiges Tattoo, das ihr einen Platz in der Thronfolge gesichert hätte. Nur Narben und Schmerz. Sie musste sich damit abfinden. Sie war keine Benu und hatte damit auch keinen Wächter. Die Männer, die auf sie aufpassten, wechselten sich ab. Sie kamen und gingen wie Lionees Launen.

Sie warf ihm einen bösen Blick zu und hatte große Lust, ihn hinauszuschicken, ganz einfach weil sie es konnte. Um irgendetwas zu tun und die Oberhand zu behalten. Letztlich ließ sie es bleiben. Ein Streit hätte sie nicht weitergebracht.

Langsam und ungelenk bewegte sie sich vom Fenster fort. Sie hatte dort fast eine Stunde gestanden, reglos, nur um einen kurzen Blick auf ein winziges Stück Shenai-Leben zu erhaschen. Jetzt rächten sich ihre Muskeln mit heftigen Schmerzen.

Bei jedem Schritt erzeugte ihr geschientes Bein ein unangenehmes Geräusch auf dem Boden. Klonk, klonk, klonk. Sie hasste diesen Laut und entkam ihm doch nicht. Genauso wenig wie dem lästigen Wächter, der sie aus den Augenwinkeln beobachtete.

Lionee versuchte möglichst würdevoll zum Lesesessel zu gelangen. Mit zitternden Gliedern und einem Metallfuß, der nicht richtig saß, war dies jedoch ein schwieriges Unterfangen. Vorsichtig drehte sie sich auf der Stelle, bis ihre Kniekehlen den Sessel berührten. Erst dann ließ sie sich hineinsinken, verharrte, wartete auf den Schmerz, der sofort kam. Ihre Hüfte kam mit dem Sitzen nur schlecht zurecht.

Mit zusammengebissenen Zähnen angelte sie nach dem Buch, das neben ihrem Sessel auf einem kleinen Beistelltisch lag, und klappte es auf. Es war eine alte Fibel, die sie fast auswendig kannte. Darin waren die Mythen ihrer Welt zusammengefasst. Aktuell war sie bei ihrer Lieblingsgeschichte angekommen: Beim Feuervogel, dem Wappentier ihrer Welt. Er wurde von einem löwenartigen Hund in den Tod begleitet, bis er wiedergeboren wurde und gemeinsam mit dem Vogel zu einem neuen Lied tanzte. Eine bittersüße Liebesgeschichte. Dramatisch und traurig wie ihr Leben.

Sie las die Zeilen zwar, bekam allerdings kaum etwas von der Handlung mit. Ihr Blick war in ihr Innerstes gerichtet, darauf konzentriert, nicht vor Schmerzen zu stöhnen.

Es war nicht gerecht. Diese Qualen waren nicht gerecht, das leere Zimmer nicht und der mitleidige Blick des Wächters schon gar nicht. Sie hasste es, doch so war ihr Leben. Finde dich damit ab, Lionee, dachte sie, und ließ sich gegen die Lehne sinken. Akzeptier endlich, dass dein Leben fernab von anderen Schicksalen stattfindet.

Kapitel 3

Shay

Shay lag auf dem Rücken im Bett und starrte das blutige Mal an, das sie auf die Decke gemalt hatte. Das Unglaubliche war tatsächlich eingetreten. Kaum hatte sie die Rune – oder was immer das Zeichen auch war – fertiggestellt, war es ihr schlagartig besser gegangen. Dank der zweiten Rune, die ihr die Schatten gezeigt hatten, war der Schmerz fast vollständig verschwunden. Sie konnte endlich wieder denken.

Allerdings bekam sie vom vielen Grübeln erneut Kopfschmerzen.

Die Schatten hatten also zum ersten Mal Kontakt aufgenommen. Sollte sie sich darüber freuen? Zum Teil ja, entschied sie. Die fremden Wesen gehörten zu ihrem Leben, waren ein Teil ihrer Familie. Mit dem Zeichnen der Runen hatten sie bewiesen, dass sie nicht nur in ihrer Einbildung lebten. Sie konnten denken und handeln. Also waren sie Menschen. Oder zumindest menschenähnlich.

Aber warum hatten sie sich jetzt, nach so vielen Jahren, dazu durchgerungen, etwas aufzuschreiben? Hätten sie das nicht schon längst tun können? Und warum waren sie wieder verschwunden? Ihr Zimmer fühlte sich ohne sie schrecklich leer an. Sonst war immer einer von beiden da. Dass niemand sie bewachte, war in den letzten Jahren höchstens zweimal oder dreimal vorgekommen. Etwas veränderte sich. Sie spürte es bis in ihr Innerstes.

Was geschah, wenn sie den schützenden Runenkreis und damit ihr Bett verließ? Würde sie wieder zusammenbrechen? Diese Frage beschäftigte sie seit Stunden, doch allmählich musste sie aufstehen. Abends arbeitete sie in der Tankstelle ein paar Straßen entfernt. Sie brauchte den Job dringend, denn sie bekam kein Taschengeld von ihrer Pflegemutter. Wollte sie sich Kleinigkeiten leisten, musste sie selbst dafür aufkommen.

Sie warf einen Blick auf ihren Fünfjahresplan, den sie in Postergröße über ihrem Schreibtisch aufgehängt hatte. Er zeigte ihr Leben mit ihren großen und kleinen Zielen. Ganz oben standen eine eigene Wohnung, eine Familie und ein guter Job. Um das zu erreichen, hatte sie jede Menge Zwischenziele eingefügt. Die Abschlussprüfung war die nächste. Dafür musste sie eine so gute Note schaffen, dass sie ein Studienstipendium ergattern konnte.

Auf der Rückseite hatte sie in einer kindlichen Geheimsprache ihre heimlichen Ziele aufgeschrieben: ihre seit Langem vermisste Freundin Jenny wiederfinden, Klassensprecherin werden, einer Clique angehören und ja … einen Freund finden. Auch den ersten Kuss und Sex hatte sie notiert. Was das anging, war sie der klassische Spätzünder.

Sie hatte noch immer ihre ehemalige Heimkollegin Jenny nicht gefunden, gehörte zu den unauffälligsten Mädchen in der Klasse und gehörte zu keiner Clique. Vom ersten Kuss ganz zu schweigen. Sie mied Jungs. Wie sollte sie da jemals geküsst werden?

»Streich das von der Liste«, sagte sie leise zu sich selbst. »Genau wie die komplette Rückseite.« Dafür lag sie bei der Vorderseite im Zeitplan.

Wie immer verlieh ihr die Übersicht Kraft und Trost. Der Fünfjahresplan spornte sie an und sorgte dafür, dass sie nicht in Selbstmitleid versank oder im Bett vergammelte. Also los!

Tief durchatmend schwang sie die Füße von der Matratze und setzte die Fußsohlen auf das zerfetzte alte Linoleum. Sie hatte einmal versucht, den Boden mit einem besonderen Reinigungsmittel zu bearbeiten. Seitdem war der eitergelbe Boden von seltsamen Schlieren verunziert. Immerhin hatte sie danach nicht mehr den Eindruck gehabt, von Keimen zerfressen zu werden, nur sah es jetzt beschissen aus. Da sie aber ohnehin nie Besuch empfing, war ihr das auch egal. Sie war eine Eigenbrötlerin. Eine Einzelgängerin. Was scherte es sie da, was andere von ihrem Zimmer hielten?

Sie stand auf und trat einen Schritt unter den Runen hervor. Kein Schwindel, kein Schmerz. Das war doch schon mal ein gutes Zeichen. Da ihre Muskeln von den Krämpfen noch verspannt waren, zog sie sich sehr langsam an. Den unauffälligen kackfarbenen Pulli mit den ausgefransten Nähten. Die graue Hose, deren Löcher keineswegs gewollt, die aber wenigstens halbwegs ansehnlich war. Die durchgelatschten Chucks, ihr einziges Diebesgut. Sie hatte die schwarz-weißen Schuhe gesehen, gewusst, dass sie unbezahlbar waren, und sie geklaut. Seitdem verspürte sie wegen ihres schlechten Gewissens jedes Mal einen Stich, sobald sie sie anzog.

Sie band die langen Haare zu einem unordentlichen Knoten im Nacken zusammen, dann konnte es losgehen. Da sie keine Jacke besaß, verließ sie nur im Pulli das Zimmer und polterte die ausgetretene Treppe hinunter. Schmutz und Staub sammelten sich in den Ecken, aber das beachtete niemand. Auch Shay fühlte sich nicht zuständig. Die Wohnung zerfiel langsam in ihre Bestandteile, und nichts konnte das verhindern. Das gewohnte Gefühl der Trostlosigkeit stieg in ihr auf, ein Gefühl, das sie verzweifelt verdrängte. Sie hasste es, sich so ziellos zu fühlen, so verloren.

Als sie die letzte Treppenstufe hinter sich gebracht hatte, senkte sie den Blick. Es war am besten, möglichst schnell, leise und unauffällig durch die Haustür zu verschwinden. Shay wusste genau, welchen Dielen sie ausweichen musste, damit sie nicht verräterisch knarrten.

Ihre Pflegemutter hatte sie dennoch gehört. »Shay?«, krähte sie ihr hinterher. Wie immer schwebten weiße Rauchwölkchen aus der geöffneten Küchentür. Zigarettenqualm aus fünf Schachteln am Tag.

Shay zögerte. Einfach weiterzugehen und den Ruf zu überhören konnte bei der Rückkehr unangenehm werden. Auf der anderen Seite war eigentlich jedes Gespräch mit der Pflegemutter unangenehm. Sie hatte eine kalte, seltsame Aura an sich.

»Shay?«

Sie gab auf und huschte hinüber zur Küche, blieb im Türrahmen stehen. Die Pflegemutter saß auf ihrem Stammplatz in der Eckbank, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, Zeitschriften vor sich ausgebreitet. Der überfüllte Aschenbecher qualmte genauso vor sich hin wie die Zigarette zwischen ihren Fingern. Hinter einer dicken Hornbrille blinzelte sie Shay an.

»Wo willst du hin, Shay? Und wo warst du heute den ganzen Tag?« Vom vielen Rauchen klang die Stimme der Pflegemutter wie eine schlecht gestimmte Geige, hoch, schrill und gleichzeitig kehlig und heiser. Ein sehr seltsamer Laut, der Shay wie stets in Unruhe versetzte.

Sie hatte sich schon oft geschworen, sich von der Pflegemutter nicht mehr aus dem Takt bringen zu lassen, doch wie so oft zerfielen ihre guten Vorsätze, sobald sie ihr gegenüberstand. Shay hasste diese Frau und hatte gleichzeitig Angst vor ihr, obwohl sie ihr körperlich noch nie etwas angetan hatte. Es war nur so, dass sie so viel Macht über Shay hatte und dass es ihr völlig egal war, was ihre Pflegetochter dabei empfand. Shay war ihr ausgeliefert. Ein schreckliches Gefühl.

»Ich will zur Arbeit«, nuschelte Shay und versuchte das schrumpelige Gesicht der Frau in den Rauchschwaden zu erkennen. Wie alt die Pflegemutter war, blieb für ihre Pflegekinder ein Rätsel. Sie mochte fünfzig, vielleicht auch sechzig sein. Das Nikotin hatte ihre Haut so fahl und faltig gemacht, dass es kaum einzuschätzen war.

»Und wieso warst du nicht in der Schule?«

»Ich war krank.«

»O Wunder, o Wunder! Zur Schule schaffst du es nicht, aber zur Arbeit? Das soll ich dir abnehmen?« Die Alte stand langsam auf. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Trippelnd quetschte sie sich zwischen Bank und Tisch hindurch. Sie war klapperdürr und nicht sonderlich gelenkig. Die fehlende Bewegung und der mangelnde Appetit hatten ihren Körper ausgezehrt. »Du hast geschrien«, stellte sie fest und kam langsam auf Shay zu. Die hatte Mühe, ihren Fluchtinstinkt zu unterdrücken.

Selbst nach drei Jahren in diesem Höllenloch war die Angst vor der Pflegemutter ihr ständiger Begleiter. Wenigstens gab es hier keine Pflegeväter, die ihr nachstellten, oder männliche Mitbewohner, die nachts in ihr Zimmer einzudringen versuchten. Trotzdem fühlte sich Shay alles andere als wohl.

Die Pflegemutter stand jetzt kaum fünf Schritte von ihr entfernt, spreizte die Zigarette seltsam ab und nahm gleichzeitig ihre riesige Brille von der Nase, blinzelte wie eine Eule. »Bist du krank? Schwanger? Wieder verrückt?«

Innerlich zuckte Shay zusammen, äußerlich versuchte sie möglichst gelassen und selbstbewusst zu wirken. Wieder verrückt. Allein diese Aussage konnte sie in Schwierigkeiten bringen. Sie schluckte.

»Nein. Ich hab meine Tage bekommen, zum ersten Mal«, erklärte sie leise. Es war immer klug, Halbwahrheiten zu erzählen. Lügen roch die Pflegemutter sofort, und dann wurde es ungemütlich. »Ich hatte ziemliche Schmerzen, aber jetzt geht es mir besser.«

Die Pflegemutter hob eine graue Braue und musterte Shay, dachte offenbar nach. Schließlich schien sie ihr zu glauben, denn sie schnaubte verächtlich. »Die Jugend heutzutage«, brummte sie und wandte sich der Spüle zu. Die war im Gegensatz zum Rest des Hauses blitzsauber. Eine Kaffeemaschine blubberte vor sich hin und spuckte teerartiges Gebräu in die Kanne darunter. »Alle viel zu weich für diese Welt«, sagte sie zu niemand Bestimmtem.

Shay blieb reglos stehen und hoffte, dass jetzt gleich das Wedeln mit einer Hand kam, das Zeichen, entlassen zu sein. Doch die Pflegemutter wedelte nicht. Sie goss sich die schwarze Flüssigkeit in ihren Lieblingsbecher mit der Aufschrift Mama ist die Beste und kaute auf den Lippen herum, als wolle sie Shay auffressen. Als sie sich ihr zuwandte, war der lauernde Ausdruck in ihren Augen zurück.

»Wir müssen bald mal wieder zum Psychodoktor«, gab sie zwischen zwei schlürfenden Schlucken bekannt. »Ich will nicht, dass du dir die Pulsadern aufschneidest, weil du ein typisch leidender Teenager ohne Eltern bist, der seine Seelenqualen nicht länger erträgt.« Erneut das verächtliche Schnauben.

Shay stand seit jeher unter besonderer Beobachtung, immerhin war bei ihr in Kindertagen Schizophrenie festgestellt worden. Als Kind hatte sie Medikamente nehmen müssen, mittlerweile galt sie als geheilt. Vielmehr hatte der Arzt eingesehen, dass sie gar nicht krank war.

Die Schatten, mit denen sie sich unterhielt, waren echt. Sie war nicht verrückt. Sie hatte nur zunächst herausfinden müssen, dass sie das niemandem erzählen durfte. Sich mit Schatten zu unterhalten, entsprach nicht der Norm und konnte üble Folgen haben. Seitdem Shay ihre Schatten nicht mehr erwähnte, galt sie auch nicht mehr als behandlungsbedürftig. Bisher.

Shay wusste, dass Diskutieren zwecklos war. Wollte sie nicht wieder mit Psychopharmaka zugedröhnt werden, musste sie sich fügen. Also fügte sie sich. »Natürlich«, sagte sie brav. »Ich komme mit.«

Die Pflegemutter musterte sie noch ein letztes Mal aus halb zugekniffenen Augen, nickte schließlich, und endlich, endlich kam das Handzeichen. Der lässige Wink.

Shay wandte sich um und ging steif zur Haustür. Nicht rennen, die Angst nicht zu deutlich zeigen. Zu viel Selbstbewusstsein war gefährlich, aber zu viel Schwäche noch schlimmer. Kaum war sie an der Tür angekommen, riss Shay sie auf und huschte hinaus, schloss sie möglichst lautlos hinter sich und atmete tief durch.

Das war überstanden.

Etwas gelöster stieg sie die drei Stufen hinunter zur Straße. Neunzehn Uhr, da leerten sich die Bürgersteige bereits. Die meisten Geschäfte hatten geschlossen oder bereiteten den Feierabend vor. Jugendliche und Kinder aus besseren Familien waren jetzt längst zu Hause, um zu Abend zu essen und den Fernsehabend einzuläuten, nur die Hundegassigeher trieben sich noch herum.

Gemeinsam mit vier anderen Kindern und der Pflegemutter lebte Shay in einem einfachen Reihenhaus, genau zwischen Brennpunkt und Stadtzentrum. Die Mieten waren erschwinglich, die Sicherheit auf den Straßen erwies sich als weit besser als der Ruf. Immerhin hatten Shay und die anderen Pflegekinder zumindest ein eigenes Zimmer. Luxus für ein Pflegekind. Der einzige Luxus, der ihnen vergönnt war.

Wie gewohnt senkte Shay den Blick auf das graue Pflaster, zog den Kopf zwischen die Schultern und stapfte möglichst selbstbewusst los. Solch eine Haltung verunsicherte die meisten Menschen, und man ließ sie in Ruhe.

Tatsächlich hatte sie sich mit Beginn ihrer Pubertät vor etwa drei Jahren entscheiden müssen. Wurde sie eine Rotzgöre, die sich durch ein lautes Maul Respekt verschaffte? Oder wurde sie zu einem schüchternen Wesen, von dem niemand Notiz nahm?

Shay war weder das eine noch das andere. Ein großes Problem, besonders bei dieser Pflegemutter. Rotzgören gingen bei dieser Frau unter, also konnte Shay nur die Brave und Fleißige spielen und hoffen, damit durchzukommen. Bislang hatte das einigermaßen geklappt, wobei sie oft das Gefühl hatte, innerlich zu bersten. Eines Tages würde sie ihrer Pflegemutter die Meinung sagen. Eines Tages. Wenn sie diese seltsame, instinktartige Angst vor ihr losgeworden war.

Sie passierte einen Mann und eine Frau, die sie hier in letzter Zeit öfter gesehen hatte. Vermutlich arbeiteten sie in der Nähe. Jedenfalls aßen sie fast jeden Tag ein ähnlich belegtes Brötchen und wirkten dabei grundsätzlich genervt. Wie immer saßen sie auf einer Bank direkt hinter einer Mauer voller Graffiti. Der Sprayer des Blocks hatte sich hier fast überall verewigt und seine seltsamen Logos auf jede freie Fläche gesprüht. Sein Markenzeichen war dabei ein B mit zwei Augen darin. Shay nickte dem Pärchen aus Gewohnheit zu und mied ansonsten jeden Kontakt mit ihnen.

Etwa fünfzehn Minuten später war Shay bei der Arbeit angekommen. Die alte Tankstelle wurde von einem Ehepaar geführt, das kaum noch ein Wort miteinander wechselte. Zu ihr waren sie aber sehr nett, wobei Shay genau wie die Alten eher die Schweigsame war. Sie hatte es irgendwann in ihrer Heimkarriere verlernt, normale Gespräche zu führen.

Shay betrat die Tankstelle und grüßte die Mitarbeiterin, die hinter der Theke stand. Wie sie hieß, hatte Shay vergessen, und sie jetzt noch zu fragen erschien ihr unhöflich. Die junge Frau mit den Rastalocken und den vielen Piercings im Gesicht nickte ihr auch nur schweigend zu und beachtete sie nicht weiter.

Shay huschte rasch ins Lager, um die leeren Getränkekisten umzustapeln und die vollen nach vorn zu holen. Hilfsarbeiten. Zum Glück wurde sie gut bezahlt.

Aus den Augenwinkeln suchte sie die Ecken nach Nat oder Theon ab, doch keiner von beiden ließ sich blicken. Dass sie ihr nicht auf der Straße folgten, war normal. Ganz offensichtlich war es schwierig, sich in der Schattengestalt fortzubewegen. In der Regel kamen sie ihr erst hinterher, wenn sie einen geschlossenen Raum betreten hatte. Bei der Arbeit leisteten sie ihr daher in den meisten Fällen Gesellschaft. Nur heute nicht. Anscheinend gab es gerade Wichtigeres, als ihr beim Kistenstapeln zuzusehen.

Zum Glück war Shay alles andere als ein filigranes Wesen, sonst hätte sie den Job garantiert nicht bekommen. Sie war kräftig und zäh, gut einssiebzig groß und keineswegs zierlich. Dem klassischen Schönheitsideal entsprach sie also eher weniger, allerdings wusste sie, dass Jungs sie durchaus ansprechend fanden. Auf der Habenseite verbuchte sie sehr geschwungene weibliche Hüften und eine ordentliche Oberweite. Aus den bewundernden Blicken der männlichen Bekannten hatte sie abgeleitet, dass der normale Mann auf so etwas stand, was ihr aber ziemlich gleichgültig war. Ihr war hauptsächlich daran gelegen, nicht belästigt zu werden.

Sie war schon mehr als genug damit beschäftigt, eine verrückte, angeblich schizophrene Waise mit schattenhaften Begleitern, einem sich verändernden Tattoo und einer unbekannten, rätselhaften Krankheit zu sein.

Als sie die fünfte Kiste in den Laden schleppte, bemerkte sie endlich auch einen geisterhaften Schatten. Er kam zu ihr herüber und hockte sich oben auf die gestapelten Getränkekästen, ließ die Füße baumeln. Unwillkürlich lächelte sie. Nat war zu seiner Wache angetreten. Sofort fühlte sie sich weniger allein.

»Wir müssen dringend reden«, knurrte sie ihm zu, doch der Schatten reagierte nicht. Er tat erneut so, als könne er nicht kommunizieren. Verärgert knirschte Shay mit den Zähnen, hielt dann aber unvermittelt inne. Ihr Tattoo veränderte sich schon wieder.

Und diesmal zog sie in die Top einhundert ein.

Nat

Das hatte Ärger gegeben, aber so richtig. Erst hatte er sich vom Oberst der Wachleute eine Standpauke anhören dürfen, danach von seinen Lehrern (deren Unterrichtsstunden er geschwänzt hatte), anschließend vom zweiten Duatoberst und zuletzt von seinen Kameraden (die er aufgrund seiner Abwesenheit in Schwierigkeiten gebracht hatte, da sie mit einem Mann weniger gegen die andere Klasse hatten antreten müssen).

Nat hatte es gehalten wie immer. Nicken und lächeln, die Schelte über sich ergehen und abperlen lassen wie Wasser. Natürlich hatten seine Vorgesetzten bemerkt, dass ihn die Moralpredigten kalt ließen, was zur Folge hatte, dass er vorerst jede Menge Strafarbeiten zu erledigen hatte.

Den Flur putzen. Doppelte Runden laufen. Die Schwerter polieren. Als Vorführobjekt bei der ersten Duatklasse dienen (was wirklich wehtat und äußerst peinlich war). Die Waschräume auf Vordermann bringen. Nachsitzen.

Kurzum, er hatte in den nächsten Tagen keine Zeit für andere Dinge. In den Stunden, in denen er eigentlich schlafen sollte, hielt er bei Shay Wache. Und so konnte er sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten.

Das Dumme war nur, dass auch Theon Ärger bekommen hatte und noch viel weniger in der Lage war, sich von den alltäglichen Zwängen eines Duatwächters zu befreien. Auch er versuchte sich zwischendurch davonzustehlen, doch in seiner Stellung fiel es mehr auf, wenn er wie vom Erdboden verschluckt war.

»Diesen Takt halten wir nicht mehr lange durch«, merkte Nat am vierten Tag an. Theon hatte sich zu ihm gestohlen und half ihm bei den Waschräumen, damit er schneller fertig wurde. Natürlich hätte Theon in dieser Zeit auch bei Shay sein können, doch sein älterer Bruder wagte es derzeit nicht, sich weit vom Haupthaus zu entfernen. Eigentlich suchte ihn ständig irgendjemand.

»Schraub deine Eskapaden für die nächste Zeit mal runter«, riet ihm Theon griesgrämig.

Nat mustert ihn empört. »Das mit Shay war ein Notfall. Meine übrigen Eskapaden sind notwendig, um meine Tarnung aufrechtzuerhalten. Wenn ich auch für den nächsten hoheitsvollen Posten ausgewählt werde, passt bald niemand mehr auf Shay auf.«

»Nicht so laut«, zischte ihn Theon an. »Wenn uns jemand hört, ist es aus und vorbei.«

»Wer sollte uns denn belauschen?« Genervt tunkte Nat den Lappen ins schmutzige Wischwasser und versuchte, einen schmierigen Fleck wegzubekommen, der dort schon seit fünf Jahren auf den Fliesen haftete. Gleich darauf gab er auf. Egal, wie sehr er schrubbte. Diese Fliesen bekam niemand mehr sauber. Es war, als sei der ganze Staub von Amenthes an ihnen haften geblieben – genau wie an den restlichen Waschbereichen. Nat hatte die kleinen in den Boden eingelassenen Seen geliebt. Sie waren stets mit warmem Wasser gefüllt gewesen. Ein unterirdischer Fluss speiste sie und sorgte dafür, dass jederzeit sauberes Badewasser zur Verfügung stand. Heutzutage war das Wasser leider kalt und stank ganz leicht nach modriger Erde. Ein Jammer, was aus diesem ehemals prunkvollen Bereich geworden war.

»Strafarbeiter sind nicht besonders interessant«, nahm Nat das Gespräch wieder auf. Über den Verfall des Schlosses nachzudenken stimmte ihn traurig.

Theon antwortete zunächst nicht, sondern polierte verbissen an einer längst blind gewordenen Fliese herum. Nat beobachtete ihn besorgt aus den Augenwinkeln. Wenn sich Theon so verhielt, war meist irgendetwas passiert. Er gab ihm noch fünf Minuten, um von selbst zu antworten. Als nichts kam, packte er Theons wild herumwerkelnde Hände und hielt sie fest.

»Also schön, Bruderherz. Was ist los?«

Theon sah schrecklich aus, das musste Nat zugeben. »Wir müssen mit Shay reden«, erklärte er schlecht gelaunt. »Sie steht kurz davor, unter die ersten hundert Anwärterinnen zu kommen. So geht es nicht weiter.«

Nat gab sich Mühe, nicht allzu triumphierend auszusehen. Das breite Grinsen konnte er jedoch nicht unterdrücken. »Genau das sage ich doch schon die ganze Zeit, alter Mann.« Er knuffte Theon in die Seite, aber der reagierte nicht auf den kumpelhaften Versuch. Stattdessen sah er noch erschöpfter aus. »Das heißt, wir besuchen unser Mädchen bald mal in realer Gestalt?«, hakte Nat nach.

Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag. Er hatte sich schon an die tausendmal vorgestellt, Shay persönlich gegenüberzustehen, sie berühren zu können, mit ihr zu sprechen, sie zu riechen. Es war ein Wunsch, der über die Jahre so quälend geworden war, dass er es kaum noch aushalten konnte. Endlich hatte Theon ein Einsehen. Allerdings war sein Bruder keineswegs glücklich darüber.

»Unser Mädchen geht drauf, wenn wir nichts unternehmen«, prophezeite Theon düster und betonte dabei das Wort unser besonders süffisant. War ja klar. Theon hasste es, wenn Nat allzu vertraut über Shay sprach. »Also ja, wir wechseln demnächst die Welt. Weißt du überhaupt, wie das geht?«

»Wo denkst du hin? Zum Glück weißt du es garantiert und wirst es mir zeigen können«, sagte Nat gelassen. »Und was sagen wir ihr?« Nat fielen tausend Worte ein, die er mit Shay bereden wollte, doch das waren alles Kleinigkeiten, die ihr nicht das Leben retten würden. Er wollte sich vor allem bei ihr entschuldigen. Für ihr bisheriges Leben, die schlechte Bleibe und vor allem dafür, dass Theon und er sie auf einer fremden Welt ausgesetzt hatten, ohne Erklärung und ohne Familie.

Theon wollte allerdings anderes besprechen als er. Das sah er ihm an der Nasenspitze an. »Wir geben ihr dein Skizzenbuch. Außerdem habe ich ein Schulungsbuch aus der Bibliothek gestohlen. Sie sollte mehr über unsere Welt erfahren und lernen, die Runen zu gebrauchen.«

Nat hob die Brauen und schnaubte. »Du hast etwas gestohlen? Das hätte ich doch tun können. Bist du verrückt geworden? Wofür haben wir schließlich unsere Rollen?«

»Du konntest nicht zur Bibliothek, denn du stehst unter ständiger Beobachtung. Die Lehrer überprüfen ganz genau, wo du steckst, was du machst und wie du dich benimmst. Die wollen dich strafversetzen oder sogar unehrenhaft entlassen. Offenbar hast du einmal zu oft über die Stränge geschlagen. Es tut mir leid. Das hätte ich voraussehen müssen.« Theon ließ die Schultern hängen.

Nat verdrehte daraufhin die Augen, ließ den Putzlappen mit einem Platschen ins Wasser fallen und legte seinem Bruder die nassen Hände auf die Schultern. »Entspann dich bitte. Hättest du alles vorausgesehen, müsste ich dich mit Gott ansprechen, und das wäre mir äußerst unangenehm. Du bist nicht allwissend, gib das endlich zu. Dann ist das Leben viel entspannter. Geh schlafen, und überlass die Probleme deinem jüngeren Bruder. Der verkraftet Schlafmangel besser als du und dreht nicht gleich durch.«

Theon musterte ihn böse, merkte dann aber, dass Nat nur herumalberte. Er boxte ihm spielerisch in die Magengegend und trat einen Schritt zurück, machte sich frei von der Nähe seines Bruders. So viel menschliche Wärme war ihm unangenehm, was Nat nur veranlasste, ihm ständig näher zu kommen, als ihm lieb war.

»Wir haben noch eine weitere Möglichkeit«, sagte Nat plötzlich ernst. »Wir könnten sie zurückholen, nach Amenthes, ins Schloss. Wir könnten ausnahmsweise die Wahrheit sagen, uns entschuldigen und als ganz normale Benu und Duatwächter leben. Das wäre für uns alle garantiert angenehmer. Du könntest deinen wichtigen Posten in Ruhe ausführen, ich könnte mich auf meine Ausbildung konzentrieren, Shay käme aus dem Loch heraus und müsste keine Schmerzen leiden.«

Sie sahen sich an, schweigend. Theon hatte das Für und Wider schon tausendmal abgewogen, genau wie Nat. Bislang hatten sie die Entscheidung stets verschoben, doch mit Shays Frauwerden war alles anders geworden.

»Vor fünf Tagen sind fünfundachtzig Benu gestorben«, sagte Theon langsam. »Achtzehn von ihnen haben in der Festung gelebt. Die Venatoren sind trotzdem an sie herangekommen. Wenn wir Shay hierherholen, wird sie noch mehr in Lebensgefahr sein als jetzt. Wir bilden sie in ihrer Welt aus. Das ist ihre einzige Chance.«

Nat seufzte und gab nach. Theon hatte recht, da gab es nichts zu diskutieren. Außerdem wollte er sie gar nicht unbedingt nach Amenthes holen. Natürlich wäre es einfacher, und er könnte ihr näher sein, doch die Venatoren und die vielen Zwänge als Benu und Duat würden es schwer machen, sie zu beschützen.

»Du musst dich auf deine Prüfungen konzentrieren«, setzte Theon hinzu. Der eindringliche Unterton in seiner Stimme ließ Nat aufhorchen. Sobald der auf diese Weise sprach, wurde es wichtig. »Wenn du durchfällst, wirst du zur Grundwache in die Mienen eingeteilt oder in ein weit entferntes Dörfchen versetzt. Dann wird es richtig kompliziert. Keine Alleingänge mehr, kein arrogantes Frotzeln. Du musst dich benehmen, sonst geraten wir in echte Schwierigkeiten.«

»Wir stecken doch schon unser ganzes Leben in echten Schwierigkeiten«, murmelte Nat und hob abwehrend die Hände, als sich die Miene seines Bruders augenblicklich verdunkelte. »Ist ja gut. Ich hab’s verstanden. Wann besuchen wir Shay?«

»Morgen nach deinem Unterricht. Das ist nicht ideal, aber wir können nicht einfach mitten in der Nacht in ihr Zimmer stürmen. Wir fangen sie nach der Schule ab und sprechen mit ihr.«