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Drei Jahre ist Werner Beck mit seiner Frau kreuz & quer mit einem Land Cruiser in Afrika unterwegs gewesen, möglichst nah an den Menschen, hat Gemeinsamkeiten und Unterschiede gesehen, sich oft unter schwierigsten Bedingungen mit diesem Kontinent und seinen Menschen auseinandergesetzt und dabei 150 000 Kilometer in 1000 Tagen zurückgelegt. "Geschichten, die das Reisen schrieb" sind die Ergebnisse dieser Tour. In dem brodelnden Spannungsfeld der unterschiedlichen Kulturen Afrikas erliegt er der magischen Faszination der Gegensätze zwischen Lachen und Gewalt, arm und Reich, schön und hässlich und kommt mit einem Bild von Afrika von seiner Land Cruiser Tour zurück, das er so nicht erwartet hätte. Eine tiefgründige Story über einen Land Cruiser, ein Ehepaar und dessen Reise durch Afrika, gibt dem Leser, gespickt mit viel Humor, ungeschminkte Einblicke in einen rätselhaften Kontinent. Ein Abenteuer für alle, die Afrika lieben. Und für alle Reisenden. Besonders für die, die vier Räder schätzen.
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Seitenzahl: 402
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WERNER BECK
Ein Land Cruiser,zwei Grenzgängerund einKontinent
DELIUS KLASING VERLAG
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1. Auflage© by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:ISBN 978-3-7688-3694-4 (Print)ISBN 978-3-7688-8200-2 (E-Book)ISBN 978-3-7688-8388-7 (E-Pub)
Lektorat: Birgit Radebold, Anja RossFotos: Werner und Heti BeckKarten und Zeichnungen: inch3, BielefeldUmschlaggestaltung: Buchholz.Graphiker, HamburgSatz: Axel Gerber
Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft fürVerlagsservice, München
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnisdes Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.
www.delius-klasing.de
Für meine kleinen Enkel Toni und Max
Damit ihr später versteht,warum ihr beim Skypeneinen Laptop umarmt und geküsst habt
Meine Reise-Gebote
Eine scheinbar einfache Frage
Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben
Marokko
Hans und Jussuf in fremden Welten
Schneller Sex und Blitzhochzeit
Libyen
Wo die teuersten Salatköpfe wachsen
Algerien
1523 Dünen bis zur nächsten Bäckerei
Von Wein, Islam und Höllenfeuer
Niger
Angst vor Rebellen
Ägypten
Seitensprung auf Ägyptisch
Weshalb war Tutanchamun ein armer Pharao?
Sudan
Die Nuba zwischen Glaube, Tod und Petrodollar
Äthiopien
Danakil, die Heimat der Genitaljäger
Dschibuti
Im Vorhof der Hölle
Somaliland
Die einzige Demokratie in Afrika
Schwitzen von der Geburt bis zum Tod
Kenia
Das Geschäft mit der Entwicklungshilfe
Uganda
Der Fluch der Rohstoffe
Wo Adrenalin im Blut schäumt
Ruanda
Vom Takt des Todes
Burundi
Plastikkanister und krumme Kinderwirbelsäulen
Tansania
Zum Eichhörnchenessen in die Steinzeit
Mosambik
Verschenke nie einen weißen Elefanten
Die Tomatenmafia
Malawi
Frauen an die Macht
10 000 Dollar für eine Albinohaut
Swasiland
Möchten Sie Ihre Schwägerin erben?
Simbabwe
Was hat Mugabe Christus voraus?
Ein Telefongespräch mit den Ahnen
Sambia
Welche Konsequenz hat Ihre Kleiderspende?
Meine Campingplatzallergie
Angola
Eine Flasche Champagner für 1000 Dollar
Der große chinesische Plan
Unter Kopfschmuck-Fetischisten
DR Kongo
Ist Armut gottgegeben?
Die Schlacht um Coltan
Eine Fledermaus als Reiseproviant
Botswana
Low-low-Budget-Tour ins Okavangodelta
Namibia
Die Freiheit des einfachen Mannes
Weshalb Farmer keine Sissys sind
Südafrika
Johannesburg, im Dschungel der Gewalt
Der faule Neger
Lesotho
Die Kapuzenmänner
Das Paradoxe unseres Zeitalters
Ein Dankeschön
Respektiere dein Gegenüber wie dich selbst, egal welche Hautfarbe, Kultur oder Glaube.
Sei ohne Vorurteil, und denke nie schlecht über einen Menschen, bevor er dir einen Grund dafür gibt.
Schätze deine Frau, die mit dir durch dick und dünn geht, sonst lässt sie dich im Busch sitzen.
Verstehst du fremde Kulturen und ihre Menschen nicht, dann informiere dich besser.
Bleib neugierig und geh immer weiter, dann wirst du noch mehr sehen und noch mehr verstehen.
Sei mutig und zeige Stärke. Das ist dein bester Schutz, denn Ängstliche und Schwache sind die ersten Opfer.
Haben, Brauchen und Müssen nehmen dir den Blick für das Wesentliche in deinem Leben.
Mach nicht ständig das Gleiche, am Ende hast du nichts dazugelernt.
Nimm dich nicht so wichtig, denn ein Blick auf den Friedhof zeigt: Im Tod sind wir ohnehin alle gleich.
Bleib optimistisch, lächle, und das Leben lacht zurück.
Tief im Urwald des Kongos sitzen wir neben Salims Bambushütte. Wir sind zum Abendessen eingeladen. »Allein essen ist wie allein sterben«, zitiert Salim eine afrikanische Weisheit und reicht Pangolin, Affe und Nagetier im Schuppenpanzer oder Fell geräuchert.
Wir wissen, dass Ebola und andere Seuchen, die den Körper qualvoll von innen zersetzen, immer wieder im Kongo ausbrechen und von ebendiesen Urwaldtieren übertragen werden.
Satt essen müssen wir uns ja nicht, aber die Gastfreundschaft werden wir auf keinen Fall beleidigen. Aus dem Ofen duftet es nach frischem Brot. Salim jongliert mit einem schmalen Bambusrohr die Fladenbrote aus dem Ofenloch. Und jedes Mal fällt die Hälfte davon in den Staub. Den schmalen, verkohlten Brotschieber hat schon sein Vater benutzt. Und keiner der beiden kam je auf die Idee oder machte sich die Mühe, den Brotschieber zu verbreitern. Dieser Brotschieber bringt eine der Grundfragen Afrikas auf den Tisch: »Weshalb lassen zwei Generationen Brot in den Staub fallen?«
Eine einfache Frage, denken Sie? Von wegen!
Um dieser und noch einigen anderen Fragen nachzugehen, waren meine Frau und ich in den letzten 15 Jahren 150 000 Kilometer mit unserem Land Cruiser in Afrika unterwegs. Wir suchten nach den Gründen, weshalb dieser Kontinent so anders ist.
Werner Beck
Es gab drei Ereignisse, die meine Welt veränderten: Das erste ereignete sich vor 34 Jahren, als ich meine Frau Heti heiratete. Ohne sie wäre so ein turbulentes Leben und auch dieses Buch nicht möglich gewesen. Beinahe zehn Jahre unseres Lebens waren wir als moderne Nomaden unterwegs, anfangs noch mit unseren beiden Kindern.
Das zweite Ereignis warf meine Welt aus den Angeln und war nicht so schön wie der Hochzeitstag. Vor 30 Jahren diagnostizierten die Ärzte bei mir Diabetes und machten mir unmissverständlich klar, dass mein Leben ab sofort nach eisernen Regeln verlaufen muss. Sport oder gar Reisen waren damals für die Doktoren ein rotes Tuch.
Das Dritte erforderte unseren ganzen Mut. Während andere um ihren Arbeitsplatz froh waren, haben wir vor zehn Jahren unsere guten Jobs als Chefsekretärin und Fertigungsplaner gekündigt. Vor allem mit einer Familie ist der konsequente Schritt von der bequemen Sicherheit zum Aufbruch ins Abenteuer eine existenzielle Entscheidung mit offenem Ende.
Wir haben uns für den Aufbruch entschieden.
Aufbruch löst bei mir Herzklopfen, Unsicherheit und Angst vor dem Unbekannten aus. Aber er entfesselt auch meine Neugier und Sehnsucht nach der weiten Weilt. Die Fantasie eilt voraus. Wunderbare, aber auch schreckliche Träume verfolgen mich dabei.
Dieses Spannungsfeld der Gefühle ist für mich wie eine Droge. Eine Droge, die bei jedem anders wirkt. Mit unterschiedlicher Ethik und anderen Werten fällen wir beim Reisen unsere Urteile. Jeder erlebt aus einer anderen Perspektive sein eigenes Abenteuer, egal wie groß es ist, und jeder hat mit seinem persönlichen Urteil Recht.
Hätte meine Frau dieses Buch geschrieben, würden Sie etwas ganz anderes lesen, obwohl wir dasselbe erlebt haben. Somit gibt es »das Buch« über Afrika nicht. In diesem Werk habe ich versucht, nicht nur aus meinem Blickwinkel die afrikanischen Erlebnisse festzuhalten, sondern auch die überraschende Sichtweise vieler Afrikaner. Interessant ist ebenso die Perspektive aus der Sicht vor 15 Jahren, als der »nordafrikanische Frühling« noch eine Jahreszeit war und nicht ein Symbol der Revolution.
Das Buch spiegelt außerdem das Konfliktmanagement zwischen Heti und mir wider, beispielsweise kurz vor dem Verdursten in der Danakil-Senke oder im ganz gewöhnlichen Alltag mit Küche, Bad, Wohnzimmer und Flur auf den sechs Quadratmetern unseres fahrbaren Untersatzes.
Unser Plan ist keine Weltumrundung auf der kürzesten Route. Wir wollen den ganzen Kuchen, nicht nur ein paar Stückchen. Und davon wird nicht allein die Sahnehaube, sondern auch der trockene Boden gegessen.
Bisher machten wir uns mit Hundeschlitten, Tempelelefant, Esel, Seekajak und Kanadier auf den Weg zu Abenteuern. Dann entschieden wir uns für eine Reise zu uns selbst. Wir lebten ein Jahr vollkommen abgeschieden in einer Jurte am Baikalsee mit Bären und Wölfen als Nachbarn. Diese Erfahrungen habe ich im Buch Auszeit am Baikalsee – Ein Jahr am Limit aufgearbeitet.
Für unser Projekt »Welt«, um das es nun geht, brauchen wir einen fahrbaren Untersatz, der uns vor der arktischen Kälte Sibiriens ebenso wie vor der glühenden Hitze der Sahara schützt und dabei noch geländegängig ist.
Wir entscheiden uns gegen den Komfort elektrischer Scheibenheber und für die zuverlässige »Holzklasse«. Meine Wahl fällt auf das legendäre Buschtaxi, den HZJ Toyota Land Cruiser. Er soll uns auch dann noch vorwärtsbringen, wenn die Wege aufhören.
Doch erst muss ich den Pick-up umbauen. Die Pritsche ersetze ich durch unseren zukünftigen »Aufenthaltsraum«, in dem alles Notwendige Platz finden muss. Unter »notwendig« versteht Heti etwas ganz anderes als ich. Aus taktischen Gründen füge ich mich und baue eine Toilette, ein Bett, das nicht umgebaut werden muss, und dazu noch einige »Nice-to-have-Dinge« ein. Wer verheiratet ist, weiß, dass ohne Kompromisse in einer Ehe überhaupt nichts läuft. Und wer hat schon eine Frau, die bereit ist, mit ihrem Mann über lange Zeit auf sechs Quadratmetern zu leben?
Für mich ist das Wichtigste der Kühlschrank, nicht wegen des kühlen Bieres, sondern wegen meines wärmeempfindlichen Insulins. So wird aus dem geplanten Schneckenhäuschen ein Schneckenhaus, und es dauert, bis der HZJ reisefertig ist.
HZJ ist für uns nicht nur der Modellcode unseres fahrbaren Untersatzes, sondern auch ein Zuhause auf der Reise und zugleich der Code der Freiheit.
Mittlerweile waren wir mit unserem »Riesenbaby«, wie wir unser Fahrzeug liebevoll nennen, 16 Jahre und 400 000 Kilometer unterwegs. Etwa 100 Länder haben wir bereist. Zurzeit gibt es auf dem Planeten 193 Staaten, also noch viel zu tun. So betrachtet, stecken wir mitten in »der großen Reise«.
Die größte Etappe auf unserem bisherigen Weg war Afrika. Ein Kontinent, der geistig am weitesten von Europa entfernt ist. Wie es uns dort erging, erfahren Sie nur, wenn Sie weiterlesen.
Kaum ein Kontinent ist mit so vielen Vorurteilen belastet wie Afrika. Mir ging es darum, auch den eigenen Klischees auf die Spur zu kommen. So habe ich mich gefragt, warum in den Medien immer vom »armen Afrika« die Rede ist. Dem ging ich auf den Grund und gab bei Google »armes Afrika« ein. Ich bekam 633 000 Einträge angezeigt, bei »reiches Afrika« 3 730 000 Einträge. Das ist sechsmal so viel.
Noch weiter die Augen aufgerissen habe ich beim Stichwort »fauler Afrikaner«. Es erschienen 295 000 Einträge und bei »fleißiger Afrikaner« 5 240 000 Einträge, also 17-mal so viele.
Hätten Sie das erwartet? Ich nicht. Ich war irritiert. Und ertappte mich bei meinen eigenen Ressentiments: Hatte ich bisher doch nicht nur ein Bild vom armen, sondern auch vom zwangsläufig faulen Afrikaner im Kopf gehabt. Wie es scheint, sind Medien, Internet und Vorurteile schlechte Berater für den, der sich dem Kontinent fair nähern möchte. Deshalb machen wir uns auf die Suche nach »unserem« Afrika. Dabei hat dieser Kontinent mich mehr verändert als alle bisher erlebten Länder zusammen.
Sollten Sie länger in Afrika unterwegs sein, fürchten Sie sich nicht vor den Menschen, fürchten Sie um Ihre Seele.
Afrika war ein Labyrinth für meinen Geist. Er hat sich tief hineinbegeben, ohne zu ahnen, wie es ihn verändern wird.
Mein europäisches Denken stieß in diesem Labyrinth der Widersprüche immer wieder an eine Wand. Manchmal öffneten sich Türen, hinter denen sich einfache Lebensweisheiten verbargen. Dann wieder stieß ich auf Mauern, wo mein Geist nicht weiterkam und nichts verstand, wo Resignation die einzige Reaktion war.
»Weshalb erbt ein Mann nach dem Tod seines Bruders dessen Frauen mit allen Rechten und Pflichten?«
Eine Frage, auf die ich aus eigener Kraft keine Antwort finde. Wenn Heti und ich an so einem Punkt ankommen, und das geschieht häufig, bleibt uns nur ein leises Seufzen und die drei Buchstaben »TIA« – THIS IS AFRICA! »TIA« ist das Synonym für unser Unverständnis.
Begleiten Sie uns durch den Irrgarten Afrika, einen Kontinent mit 1000 offenen Fragen, der alle Sinne aufs Äußerste fordert.
»Klappe auf! Marrakesch die 43.!«Fasziniert beobachte ich die zwei marokkanischen Tänzerinnen. Die Frauen sind außergewöhnlich schlank, außergewöhnlich groß und außergewöhnlich gut gewachsen. Ihr Kaftan ist so perfekt geschnitten, dass er trotz der Verhüllung zeigt, was darin steckt. Ein Hauch von Schleier über dem Gesicht stachelt meine Fantasie an, bis mich ein lautes »Klappe zu!« aus meinen Träumen reißt.
Der Regisseur springt auf, alles im Kasten.
Schade!
In Hetis Tagebuch lese ich am nächsten Tag: »Becky ist hypnotisiert von diesen Schönheiten. Nur unter Androhung von Gewalt geht er weiter.«
»Marrakesch die 43.« ist eine Szene aus dem 1998 gedrehten Kinofilm Marrakesch mit der Hauptdarstellerin Kate Winslet. Das Filmset breitet sich mitten auf dem »Platz der Gehenkten« aus, eine grandiose Kulisse für einen orientalischen Film. Hier pulsiert das Leben. Es herrscht ein Tohuwabohu aus Marktschreiern, Schlangenbeschwörern, Feuerschluckern, Gauklern und Wahrsagerinnen. Wasserträger in roten Umhängen und bestickten Spitzhüten machen mit Glöckchen auf sich aufmerksam. Auf einem Teppich wird den Leuten beim Hütchenspiel das Geld aus der Tasche gezogen, Betrug garantiert.
Mich faszinieren die zwei Welten, die hier aufeinandertreffen. In der einen sitzt der moderne Märchenerzähler auf dem Regiestuhl. Er braucht Stars und viel Technik. In der anderen sitzt der echte Märchenerzähler auf dem Randstein. Er braucht nur Stimme und Gestik, um das Gleiche zu erreichen, nämlich die Menschen in die Welt der Märchen zu entführen.
Ja, hier gibt es sie wirklich noch, die Märchenerzähler, wie wir sie sonst nur aus Geschichten kennen. Da die Berber keine eigene Schrift kennen, werden Überlieferungen durch Erzähler weitergegeben. Diese sind das leibhaftige Geschichtsbuch, die Zeitung, das Radio und der Fernseher in einer Person. Und wie ich sehe, genießt das der Herr im Anzug und mit Laptoptasche über der Schulter vor mir genauso wie der Analphabet neben mir.
Wollen wir die Märchenerzähler nicht mit dem Touristenpulk teilen, sollten wir uns antizyklisch verhalten und frühmorgens auf den Djemma-el-Fna-Platz kommen. Die Menschen eilen zur Arbeit oder warten auf den Bus. Um diese Zeit sind wir mit den Einheimischen allein. Wir sitzen nahe beim Geschichtenerzähler und sehen, wie die Leute an seinen Lippen hängen. Fasziniert beobachten wir, wie sie erschrecken, wenn er für eine plötzliche Theatereinlage aufspringt, belehrend den Zeigefinger hebt und die Augen rollt.
Ein Stückchen weiter hat Sayfuddin aus Algerien seinen Platz gefunden. Ihn belagern außerordentlich viele Menschen.
»Was verkaufst du?«, frage ich ihn.
»Etwas, was den Frauen gefällt«, zwinkert er und streckt mir einen erigierten Plastikpenis entgegen. Den verkauft er zwar nicht, aber asiatische Potenzpülverchen, genau dosiert und in Zeitungspapier verpackt.
»Mein Freund, die Dosierung ist entscheidend. Das ist Medizin und keine Quacksalberei«, betont er wichtigtuerisch. »Du wirst den Erfolg sofort spüren«, und schon reißt ihm ein Zuhörer das Wundermittel aus der Hand, bezahlt und verschwindet. Sayfuddin bedient offensichtlich eine Marktlücke.
Heti zerrt mich aus der Menge. »Schnell weg hier! Gerade wollte jemand deinen Rucksack öffnen. Ich beobachte die zwei schon eine Zeit lang. Jedes Mal, wenn du stehen geblieben bist, stoppten sie auch. Ihr Pech, dass sie nicht wussten, dass wir zusammengehören. Aber du kennst doch meinen Adlerblick, der hat sie das Fürchten gelehrt.«
Mein Sherif braucht nicht mal Pistolen …
Wir schlendern weiter und beobachten einen Touristen, der wirkt wie ein Relikt aus der Hippiezeit. In seiner zu engen, sehr kurzen Hose aus den 1970er-Jahren in Lila und einem orangefarbenen Achselshirt sticht er ins Auge. Wir nennen diesen Paradiesvogel Hans. Sein sonnenverbranntes Haupt beweist, dass er noch nicht lange im Land ist. Ihm gefallen die roten, mit viel Glitzer verzierten, typisch orientalischen Pantoffeln, die Babouchen. Er dreht und wendet sie, nirgends ein Hinweis auf den Preis.
»Wie viel kosten die?«
»Mein Herr, Sie haben einen außergewöhnlich guten Geschmack. Das ist mein bestes Paar. Für Sie mach ich einen Spezialpreis. 400 Dirham, das ist so gut wie geschenkt«, antwortet der Händler.
»Was? 400 Dirham, dafür bekomme ich in Deutschland zwei Paar.«
»Mein guter Herr, ich hab mir gleich gedacht, dass Sie aus Deutschland kommen. Die Deutschen sind ja so klug und so tüchtig. Ich liebe sie. Deshalb auch dieser Spezialpreis. Bedenken Sie, ein Schweizer bezahlt 1000 Dirham und ein Amerikaner sogar 2000.«
Hans stutzt, überlegt kurz: »Mensch, das ist dann ja ein Schnäppchen«, bezahlt und schlendert zufrieden weiter.
Immer wieder beeindrucken mich diese schlitzohrigen Händler, wie sie mit viel Fantasie und originellen Ideen den Touristen das Geld aus dem Portemonnaie zaubern.
Beim Feilschen um den besten Preis steht in arabischen Ländern immer der Mensch im Mittelpunkt. Die Verkäufer versuchen zum Kunden eine persönliche Beziehung aufzubauen und mit Tee eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Dabei verweisen sie auf ihre Seriosität und ihren Fachverstand. Sie verwickeln den Kunden in ein interessantes Gespräch, damit er nicht weitergeht. Feilschen ist ein Sport, gepaart mit Theaterspiel und Witz. Aber Feilschen ist auch angenehme Unterhaltung und alltäglicher Zeitvertreib. Ein orientalischer Händler verkauft zuerst sich und dann erst die Ware.
»Wie viel ist zwei plus zwei?«, wird Ali gefragt.
»Kommt darauf an, kaufst du oder verkaufst du?«
Arabischer Witz
Mein marokkanischer Freund Jussuf hat mir einmal von seinem ersten Einkauf auf deutschem Boden erzählt: Er schlendert in seinem hemdartigen Umhang mit Schesch um den Kopf gewickelt durch das C&A-Kaufhaus in Kassel und ist tief beeindruckt von diesem blitzsauberen, gedeckten Basar. Er hat Schlappen gefunden und sucht nun den Boss, mit dem er den Preis verhandeln möchte. Höflich wird er zur Kasse geleitet. Dort legt er die Schlappen auf den Tresen.
»Schönes Fräulein«, strahlt er die Kassiererin wie eine aufgehende Sonne an, »was sollen diese einfachen Babouchen denn kosten?«
»Zwölf Euro 50, mein Herr.«
Jussuf weiß, handeln ist wie flirten. Auf keinen Fall darf er zu schnell zur Sache kommen, also nicht den Preis als Erster nennen. Das wäre strategisch unklug und kann viel Verhandlungsspielraum kosten.
»Wo bleibt denn nur der Tee? Wird hier wohl nicht Sitte sein«, denkt er und verzeiht großzügig diesen Fauxpas. Erneut nimmt er Anlauf.
»Liebes, gnädiges Fräulein, Sie ruinieren mich. Ich bin arbeitslos. Und schauen Sie sich einmal die Qualität an. Das ist kein gutes Plastik.«
»Zwölf Euro 50, bitte. Wollen Sie nun die Pantoffeln oder nicht?«, erwidert die Frau an der Kasse ungeduldig.
»Schon, aber meine Frau ist todkrank. Das kostet viel Geld, und meine acht Kinder haben nichts zu essen. Ich bin mir ganz sicher, ehrwürdiges Fräulein, Sie haben ein großes Herz.«
Die Schlange hinter Jussuf wird immer länger, und die Verkäuferin fordert mit Nachdruck: »Zwölf Euro 50, bezahlen Sie bar oder mit Karte?«
Das bringt Jussuf aus dem Konzept. Solche Methoden kennt er nicht. Er gibt nicht auf, denn er weiß, Zeit ist der beste Freund beim Handeln. Doch nicht in Deutschland. In Deutschland ist Zeit Geld. Das weiß auch das Fräulein hinter der Kasse und lässt Jussuf mit »Der Nächste bitte« stehen.
Irritiert geht der Berber in die Cafeteria und kauft sich seinen Tee selbst. »Eine komische Teezeremonie haben die Deutschen«, denkt er irritiert. »Jeder sitzt allein am Tisch und trinkt nur eine einzige Tasse, in der ein Beutel an einer Schnur hängt.«
Jussuf erzählte mir auch, dass ihm später beim Besuch in seinem marokkanischen Bergdorf niemand diese Geschichte aus Deutschland glaubte.
Doch kehren wir nun zu Hans in Marrakesch zurück. Als wir mit ihm ins Gespräch kommen, meint er: Vor drei Tagen hätte er noch nicht gewusst, ob er seinen Kurzurlaub auf Mallorca, den Kanaren oder auf Ibiza verbringen würde. Dann hätte er im Internet folgendes Angebot gelesen: »Marokkorundreise, 7 Tage, Last Minute, vom Fünf-Sterne-Hotel direkt ins Beduinenzelt, all inclusive, mit Trinkgeldern, für 600 Mark.
Marokko für 600 Mark ist der Hammer. Da musste er zugreifen und buchte sofort die Reise. Danach ist er mit seiner Kultur und seinen Wertmaßstäben im Rucksack innerhalb von ein paar Stunden vom Himmel in eine fremde, arabische Welt gefallen.
Das Fremde beginnt für ihn hier im Nomadenzelt bei der All-inclusive-Teezeremonie, wo er ewig warten muss, bis das Getränk serviert wird. Und dann soll er auch noch drei Gläser von diesem bitteren Tee trinken. Er fühlt sich bei den bettelarmen Leuten, die weder Auto, Fernseher noch Kühlschrank besitzen, nicht wohl. Da muss man doch helfen, auch trotz »all inclusive«. Großzügig wirft er einen 20-Mark-Schein auf das Messingteetablett. Unter die frechen Kinder streut er Hände voll Süßigkeiten. Der armen Beduinenfrau schenkt er ein zu kleines T-Shirt. Und schon fühlt er sich wohler. Seine Stimmung steigt, aber nicht für lange. Denn in Marrakesch auf dem Platz der Gehenkten soll er für jedes Foto mehr bezahlen, als eine Postkarte kosten würde. Die Menschen sind so unverschämt, dass sie nur fürs Vorbeigehen Geld von ihm verlangen, und das bei »all inclusive«.
Die Bettler kosten ihn den letzten Nerv. Sie hängen sich an seine Hose, sodass er sie festhalten muss. Und dann passiert es! Ein Dieb schneidet unbemerkt den Tragegurt seiner neuen Nikon-Kamera durch und verschwindet mit ihr im Menschenwirrwarr. Das ist zu viel für Hans. Jetzt hat er die Bestätigung: Alle Araber sind Gauner, Terroristen oder kleine Bin Laden.
Durch den Düsenjet-Tourismus wird die Welt für Hans zum Dorf. Vorbei sind die Zeiten, wo es mühsam war, exotische Reiseziele zu erreichen, und wo Interessierte Zeit investierten, sich auf die Kultur vorzubereiten. Heute krachen Kulturen wie zwei Transrapid in einem eingleisigen Tunnel auf einander und hinterlassen ein Trümmerfeld von schockierten Touristen und irritierten Einheimischen.
Ja, Sie haben Recht. Ohne Tourismus wäre dieses Land noch ärmer, und viele würden hungern. Trotzdem würde mich interessieren, wie es diese Menschen vor 50 Jahren überhaupt geschafft haben, ohne die Segnungen des Tourismus zu überleben, wo noch kein »Donnez-moi un stylo« durch die Gassen hallte.
Unkontrollierter Massentourismus erzeugt auf der einen Seite wirtschaftliche und auf der anderen Seite kulturelle Probleme. Ein Teil des wirtschaftlichen Problems wird uns deutlich bei Imran, der sich als Fremdenführer anbietet. Bevor wir seine Dienste ablehnen, kommen wir mit ihm ins Gespräch. Weshalb, sagt er, sollte er einen schlecht bezahlten Job als Tagelöhner mit Schwerstarbeit annehmen, wenn er als Fremdenführer oder Schlepper an einem Tag so viel verdient wie als Tagelöhner in einem Monat? Sogar durch Betteln wird mehr verdient als durch anständige Arbeit. Das führt so weit, dass Familien Bettelfirmen gründen. Sie verstümmeln ihre Kinder und stellen sie als Almosenempfänger an die Straße, damit sich das Mitleid der Touristen noch schneller in barer Münze auszahlt. Das Geschäft ist bestens organisiert, mit Gebietsschutz belegt, macht die Familie aber abhängig von den Fremden. Wehe, wenn das Bettelgeschäft nicht läuft oder die Konkurrenz zu groß wird, dann bleiben zum Überleben nur noch Raub und Diebstahl.
Die Regierung weiß, dass diese Auswüchse Marokko, das vom Tourismus lebt, letztlich schaden: Die Kuh, die gemolken werden soll, wird aus dem Land gejagt.
Ein Teil des kulturellen Problems zeigt sich bei Subida. Das junge, offenherzige Mädchen im Minirock stolziert mit High Heels neben einer keusch gekleideten Bäuerin über den Platz, präsentiert sich den Touristen und nickt uns freundlich zu. Für einen Moslem vom Land ist ihr Aufzug eine unverzeihliche Todsünde. In den Städten dagegen ist eine solche freizügige, westlich orientierte Kleidung zugleich ein Aufschrei der Frauen nach Selbstbestimmung. Größer könnten die Gegensätze in einem islamischen Land nicht sein, wo ledige Töchter von der ganzen Familie im Schichtbetrieb überwacht werden, damit die Jungfräulichkeit für die Hochzeitsnacht bewahrt wird.
Ist der Platz der Gehenkten tagsüber ein Tollhaus für die Augen, so wird er am Abend ein kulinarischer Angriff auf den Gaumen. Die meisten der orientalischen Speisen sind uns fremd. Wir probieren da und dort. Der Mut, Undefinierbares zu essen, wird belohnt. Es ist eine kulinarische Achterbahn. Ob das alles ein gutes Ende nimmt, wird sich morgen zeigen.
Heti ist ungewohnt tollkühn. Sie fragt nicht mehr, was auf den Teller kommt, sondern zeigt auf einen großen Tontopf in der hintersten Ecke.
»Ja, Becky, so ist das. Wer nichts riskiert, der nichts gewinnt!«, ist ihr Kommentar.
Dann genießt sie das zarte, etwas schleimige Fleisch in pikanter Soße. Neugierig, was ihr so gut geschmeckt hat, frage ich nach. Ich kann mir das Lachen kaum verkneifen. Meine Frau hat soeben »Nacktschnecke Marrakesch in 40 Gewürzen« verzehrt.
Ups, die restlichen drei Schnecken bleiben auf dem Teller …
Ich weiß, dass sich meine Frau vor diesen großen, braunen, schleimigen Schnecken zu Hause im Garten ekelt.
Wortlos ist die kulinarische Achterbahn an ihrem Tiefpunkt, aber wir halten uns an das arabische Sprichwort:
»Hast du einen Tag in Marokko, verbringe ihn in Marrakesch. Hast du nur eine Stunde, verbringe sie auf dem Djemaa el-Fna.«
Auf Sand gebaut!Im Sande verlaufen!
Jemandem Sand in die Augen streuen!
Mir scheint, Sand ist nur mit negativen Attributen besetzt. Und eines davon trifft auf mich zu, nämlich »etwas in den Sand setzen«. Das Etwas ist unser HZJ.
Zum Glück wissen wir noch nichts davon, als wir zu unserer allerersten Dünenfahrt in die Wüste abbiegen. Vergnügt steuere ich auf eine Bodenwanne zu. Urplötzlich werden wir mit einem Ruck wie von unsichtbarer Hand festgehalten. Der HZJ sackt ein, unser Kopf stoppt kurz vor der Windschutzscheibe, und eine grauweiße Staubfahne schießt in den Himmel.
Unser Fahrzeug steckt bis unter den Rahmen in pulverfeinem Treibsand. Auf einer dünnen Salzschicht hat sich ganz gewöhnlicher Sand abgelagert und das mehlfeine, gefährliche Sediment versteckt.
Es sieht aus, als würden wir in einem »tiefen« Problem stecken. Darum bin ich froh, dass ich auf meinen Freund Walter gehört habe. Der erfahrene Wüstenfuchs hat mir eingetrichtert: »Ein Wüstenauto ohne Sandbleche ist wie ein Schlauchboot ohne Pumpe.«
Während Heti und ich die Alubleche von der Halterung schrauben, geht mir schon wieder, aber leider zu spät, Walter mit seinen Wüstentipps durch den Kopf. »Lass unbedingt Luft ab, bevor du Sand in Angriff nimmst, aber ja nicht zu viel, sonst zieht es dir die Reifen von den Felgen.«
Es ist mir ein Rätsel, woher Walter weiß, wann er im Sand versinken wird und wann die Reifen von den Felgen springen.
Kann er hellsehen? Auf alle Fälle weiß er mehr als ich.
Ich weiß nur, Heti und ich müssen jetzt kräftig graben. Meine Frau setzt eine Mütze auf. Wenn das geschieht, haben wir entweder arktische Kälte oder Sonnenstich-Temperaturen. Nur bei diesen Bedingungen ist ihr die Frisur egal. Zu meiner Freude muss Heti in ihrem letzten Leben eine Wüstenwühlmaus gewesen sein. Sie legt mit bloßen Händen los und verschwindet in einer Staubwolke. Hustend und keuchend taucht sie schnell wieder auf. Die eifrige Wüstenwühlmaus gibt auf, bevor sie sich eine Staublunge holt. Mit Schaufel und einem Taschentuch um den Mund legen wir langsam die Achsen frei und schieben die Sandbleche unter die Räder. Trotz aller Umsicht hängt der Staub in unseren Ohren, Nasen und Augenwimpern.
Es ist eine Plagerei, bis die vier Tonnen wieder Luft unter der Achse haben. Diese Schinderei wiederholt sich nicht einmal und nicht zweimal, nein, sie wiederholt sich fünfmal. Niemand weiß, wann ein Treibsandfeld wieder trägt. Als wir dann endlich festen Sand unter den Rädern spüren, sind wir glücklich. Wir hinterlassen mehrere Krater der Verzweiflung.
Wenn man davon absieht, dass wir aussehen, als ob wir in einen Mehlsack gefallen sind, hatten wir Glück. Denn oft konnten sich Fahrzeuge nur mit fremder Hilfe aus Treibsandfeldern befreien.
Der Anstrengung folgt ein ganz besonderer Genuss. Um dieses Gefühl zu beschreiben, fehlen mir schlichtweg die Worte. Es ist einfach nur schön! Heti ist hin und weg. Meine Wüstenwühlmaus fühlt sich hier wohl.
Mit passendem Reifendruck geht die Fahrt flott weiter, bis eine haushohe Düne den Weg versperrt. Voller Respekt schauen wir hoch, und wieder meldet sich Walter. Zum Glück rechtzeitig, denn von einer Düne kann man samt Auto hinunterkugeln. »Fahr eine Düne immer frontal hoch, und nimm oben das Gas weg!«
»Danke, Walter, ich werde mein Bestes geben.«
Unsere erste Düne ist steil, weich und hoch. Wir sind schwer, unerfahren und allein. Ehrfürchtig laufen wir erst zu Fuß den Sandberg hoch. Wie sieht wohl die Welt dahinter aus? Genauso wie davor, nur sind die Dünen noch höher. Heti bleibt oben stehen. Als mein Leuchtturm soll sie mir den Weg weisen. Ich rutsche flugs die Düne hinab, starte den Motor, Allrad rein, kleine Untersetzung, zweiter Gang und Vollgas. Mein Riesenbaby zieht den Hang hoch wie eine Rakete und genauso ist der Blick aus dem Fenster: »Oh, Walter, was erzählst du mir? Ich sehe nichts als Himmel. Wann bin ich oben?«
Jetzt aber Gas weg und Bremsfallschirm raus – zu spät. Beim freien Flug über die Dünenkante blicke ich in Hetis erschrockene Augen. Nur den Bruchteil einer Sekunde später schlägt der HZJ wie ein Meteorit ein. Der Motor heult auf, ein Schlag, dann Totenstille.
Ich Trottel, jetzt ist alles aus. Das war eine gleichzeitige Vergewaltigung von Motor, Getriebe und Fahrgestell. Da hätte ich genauso gut frontal gegen eine Mauer fahren können.
Ich mag nicht aussteigen, ich weiß, was mich erwartet. Heti klopft mit fragendem Blick ans Fenster. Ich öffne die Tür und wühle mich unters Auto.
»Siehst du was?«, will sie ungeduldig wissen.
»Heti, ich glaub es nicht. Alle wichtigen Teile sind dort, wo sie hingehören.«
Mit Freischaufeln und Sandblechaktion haben wir ja bereits Erfahrung. Ein Stoßgebet auf den Lippen, starte ich den Motor. Er läuft, oh, wie ich dieses Brummeln liebe. Ich lege den ersten Gang ein, lasse die Kupplung gaaaanz langsam kommen, und mein treuer Gefährte bewegt sich.
Dieses Wahnsinnsfahrzeug ist hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und hat Kraft wie eine Rakete.
Die folgenden Dünen meistern wir mit Bravour. Inzwischen haben wir so viel Spaß mit der Dünenschaukelei, dass wir uns ums Lenkrad streiten.
Unerwartet öffnet sich eine rote Wüstenebene. In der Abendsonne blicken wir auf etwas derart Außergewöhnliches, dass es nur eine Sinnestäuschung sein kann. Der Anblick ist verrückt, aber wahr. Natursteine markieren einen Kreis. Im Zentrum erhebt sich eine Rampe, die aus genau gefertigten Lehmziegeln erstellt wurde. Eine Treppe führt hinauf, die sich himmelwärts verjüngt. Aber, bitte Vorsicht! Wer auf dem Weg in den Himmel nicht aufpasst, landet in der Hölle. In etwa 15 Metern Höhe bricht die Treppenrampe jäh ab. Ein Schritt mehr, und du stürzt in den Abgrund.
Kurz bevor die Sonne untergeht, in der Zeit des unwirklichen Lichts und der längsten Schatten, steigen wir die Himmelstreppe hoch. Eine seltsame Stimmung macht sich in meiner Seele breit.
Kennen Sie das Gefühl, wie sich langsam eine Gänsehaut aufbaut, wenn Sie in einer Vollmondnacht durch einen fremden Wald gehen?
Auch Heti wird es sonderbar zumute. Und als der Vollmond aufgeht, schwebt in absoluter Stille etwas Magisches über dieser Treppe. Wir lassen die Füße über dem Abgrund baumeln und wüssten gern, wer diese Himmelstreppe errichtet hat und wofür? Unser mysteriöser Sitzplatz stachelt unsere Fantasie an. Heti glaubt, die Treppe ist eine arabische Guillotine ohne Fallbeil, von der die Verurteilten in den Tod gestoßen wurden. Ich stelle mir vor, ich sitze auf der Gangway eines UFO-Landeplatzes. Am Ende kommen wir zu dem Schluss, dass der einzige Sinn Schönheit und Inspiration sein muss.
Im Nachhinein erfahren wir, dass der deutsche Künstler Hannsjörg Voth die Himmeltreppe gebaut hat. Er wollte damit »die Ahnung vom nichtfassbaren Jenseits« symbolisieren.
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Entweder sind wir der leibhaftige Prophet oder die Königin von Saba. Denn alle selbst ernannten Guides, Schlepper und Bettler sind in Aufruhr, als wir in Südmarokko in Rissani anhalten. Ihr Anmarsch ist beängstigend und wird von lautem »tourist, money, cadeau …« verstärkt.
100, nein, das ist zu wenig, eine unüberschaubare Masse schart sich um den HZJ und fordert aggressiv alles Mögliche.
»Donnez-moi un stylo«, »Schenk mir einen Stift«, ist das Harmloseste.
»Heti, was meinst du? Sollen wir es wagen?«
»Klar!«
Das Aussteigen gestaltet sich schwierig. Ihre Leiber drücken gegen die Tür, sodass wir sie aufstemmen müssen. Draußen überfällt uns ein Händestakkato. Wer uns als Erster die Hand drückt, rechnet sich die größte Chance aus, ins Geschäft zu kommen.
»Nimm mich, ich bin der beste Führer.«
»Nein, nimm mich, ich will kein Geld, ihr seid meine Gäste.«
»Nein, nein, nimm mich. Bei mir gibt Dünfahrt, niedrig Preis und Kamelreiten. Teezeremonie kost nix, in Geschäft nur mal gucken.«
Von alldem wollen wir nichts, wir wollen nur in die Stadt. Aber wie werde ich diesen Pulk los? Entweder ich ignoriere sie freundlich und zeige Nerven wie Drahtseile, oder ich hole den Coolman hervor mit selbstbewusstem Auftreten, der weit über dem Ganzen steht. Ich entschließe mich für Letzteres mit mäßigem Erfolg. Als sich der Staub gelegt hat, brechen wir ohne Guide auf. Bei der Stadtbesichtigung haben wir mehr Gefolgsleute als der Papst auf einer Pilgerreise.
Rissani ist sehenswert und hat orientalisches Flair mit seinen Gassen, in denen Männer vor sich hin dösen. Doch nur, bis sie uns erspähen. Schlagartig springen Alt und Jung hoch, halten uns Teppiche und sonstigen Kitsch unter die Nase. Meiner Frau wird das zu viel, zumal ihr der eine oder andere im Gedränge zu nahe auf Tuchfühlung geht.
»Mir reicht’s, kehren wir um. Komm, Becky, wir verschwinden.«
Auf dem Rückweg geht Heti in einem Hotel auf die Toilette. Dort trifft sie Kate und Emily, zwei junge Touristinnen aus England. Die beiden verstecken sich auf der Toilette vor zwei Marokkanern, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Die Männer wurden aufdringlich. Einer hat sich in Emily verliebt. Deswegen betrachtet er sie als seinen Besitz und will nun jeden ihrer Schritte überwachen. Aus Angst trauen sich die beiden Mädchen nicht mehr auf die Straße und flehen uns an, sie zu retten.
Während ich draußen warte, beobachte ich die Hütchenspieler bei ihren Tricks. Heti kommt aufgeregt zurück und erzählt mir sofort von den verzweifelten Mädchen. Natürlichen nehmen wir sie mit.
Vollkommen vermummt schleichen sich die Mädchen durch die Hintertür aus dem Hotel und steigen hinten in die Kabine. Wir müssen sofort alle Türen verriegeln und die Rollos runterlassen. Oh Gott, was die beiden wohl mitgemacht haben, sie zittern ja am ganzen Körper. Sie fallen Heti um den Hals, als sie erfahren, dass wir sie ins 25 Kilometer entfernte Erfoud bringen, von wo sie mit einem Überlandbus weiterkommen.
Unterwegs erzählen sie ihre Tragödie. Sie lernten Abu und Omar bei der Suche nach einer organisierten Dünenfahrt kennen.
»Die beiden waren sehr höflich und zuvorkommend. Sie luden uns auf einen Kaffee ein«, erzählt Kate. »Dann meinte Abu, wir sollen doch nicht so dumm sein und Geld für eine Dünenfahrt ausgeben. Wenn wir möchten, zeigen sie uns die Dünen umsonst und bringen uns zu einem Nomadenzelt, wo wir eine Original-Teezeremonie erleben können.«
Emily fährt fort: »Die beiden waren wirklich nett und sahen so seriös aus, also sind wir eingestiegen, und das war ein Riesenfehler. Die Dünenfahrt war noch wunderschön. Wir hatten viel Spaß miteinander. Richtig lustig ging es zu. Doch am Nomadenzelt waren wir vier überraschenderweise allein. Omar kochte Tee und bot uns Süßigkeiten an. Abu setzte sich ganz nah neben mich und hat mich angestrahlt. Mir wurde ein bisschen unheimlich. Plötzlich riss er mich in die Arme und wollte mich küssen. Mit aller Kraft stieß ich ihn zurück, und Kate stellte sich vor mich. Danach war uns klar, weshalb sie uns in die Wüste gebracht hatten.
Ich solle mich nicht so zieren, ich habe ihm doch schöne Augen gemacht und sei freiwillig mitgegangen. Er wisse genau, warum weiße Frauen mit in die Wüste gingen, schimpfte Abu.
»Fahrt uns sofort zurück«, schrie Kate sie an.
»Weder bitten noch drohen half, sie brachten uns nicht zurück. Wir mussten erst noch Tee trinken. Abu versuchte es noch einmal, aber Kate half mir, ihn abzuwehren. Omar lachte nur genüsslich«, erinnert sich Emily. »Wir hatten große Angst vor der Rückfahrt. Immer wieder schwor Abu mir, dass er mich liebe und dass ich bei ihm ein gutes Leben hätte. Es war die Hölle! Wir waren so froh, als wir endlich wieder in Rissani ankamen. Beim Abschied mussten wir versprechen, dass wir heute Abend seine Eltern besuchen. Er wollte mich ihnen vorstellen. Und dann seid zum Glück ihr gekommen.«
In Erfoud bringen wir die beiden direkt zum Busbahnhof und warten, bis der Bus abgefahren ist. Sie haben nur noch einen Wunsch: so schnell wie möglich nach Hause.
Ich glaube, Kate und Emily waren schlecht auf ihre Reise vorbereitet. Sie haben ihre Kulturmaßstäbe, die sie von Mama und Papa gelernt haben – sei nett und freundlich zu jedermann –, auch bei Abu und Omar gezeigt. Ein islamisch erzogenes Mädchen würde niemals mit einem fremden Jungen scherzen oder ihm womöglich schöne Augen machen. Es wäre für beide gefährlich. Sofort stünde die gesamte Verwandtschaft samt Brüdern auf dem Teppich. Sie würden den Jungen in der nächsten Seitengasse verprügeln, und das Mädchen dürfte nur noch mit Leibgarde aus dem Haus. Nichts ist für die Großfamilie wichtiger, als die Keuschheit und Ehre ihrer unverheirateten Töchter. Deshalb gibt es in der Hochzeitsnacht den Brauch mit dem weißen Laken. Das Betttuch mit dem Blut der Frau wird noch in der Hochzeitsnacht von den Gästen begutachtet. Erst dann ist die Ehre der Familie perfekt. Frauen, die bei der Entjungferung nicht bluten, helfen mit einem kleinen Schnitt in den Finger nach, um nicht verstoßen zu werden.
Für junge Männer ist vorehelicher Sex kein Problem. Es ist üblich, dass sie sich sexuelle Erfahrungen bei Prostituierten oder Touristinnen holen. Besonders begehrt sind Blondinen.
Das Problem einer offenen, freundlichen Touristin ohne Männerbegleitung ist, dass sie offen, freundlich und ohne Männerbegleitung ist. In der Moral der Männer stellt sie sich durch dieses Verhalten auf das Niveau einer Slut (Schlampe) oder gar Nutte. Anmache auf offener Straße mit Massageoder Sexangeboten sind für sexhungrige, junge, islamische Männer legitim. Bei einer Ausländerin können sie sich guten Gewissens ohne Geld und ohne Angst vor Rache der Großfamilie sexuell befriedigen.
Wer unvorbereitet in ein islamisches Land reist, darf nicht überrascht sein, wenn er sich wie Hans in Marrakesch mit kurzen Hosen als frei laufendes Unterhosenmodel lächerlich macht. Und Frauen, die sich am Strand in knappen Bikinis räkeln, brauchen sich nicht wundern, wenn sie als ungläubige Touristinnen wahrgenommen werden, die für schnellen Sex und eine Blitzhochzeit gut sind. Eine Heirat ist immer noch die beste Methode, um schnell an ein Visum zu kommen.
März 1999, Grenze Tunesien–Libyen. Etwas nervös stehen wir mit unserem HZJ in einer düsteren Blechhalle. Diese Grenze hat bisher erfolgreich den Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, den Vater aller Schurken und weltweit meistgesuchten Terroristen, geschützt. Er übersät die Welt mit Gewalt und Schrecken und ist für etliche Bombenanschläge und Flugzeugabstürze verantwortlich. Es scheint ihm Spaß zu machen, wenn Menschen sterben. Bisher agierten die ausländischen Geheimdienste dilettantisch – er entkam allen Attentaten.
Gaddafi hat Angst und traut niemandem. In seinem Namen sind viele Doppelgänger unterwegs, und so ist nie klar, ob einem gerade der echte Gaddafi gegenübersteht. Er selbst wechselt ständig seine Unterkunft.
Keiner weiß, wo er steckt. Gaddafi kennt die Schlupflöcher der ausländischen Todeskommandos. Deshalb ist die Grenze vor uns mit modernsten westlichen Waffen gesichert.
Die Grenzbeamten sind gut gedrillt und bis an die Zähne mit Papierkram bewaffnet. Ausländische Besucher sind selten und werden entsprechend unter die Lupe genommen. Zeit spielt keine Rolle, wir sind in Afrika. Stunden vergehen, bis die vielen arabischen Stempel auf den vielen Formularen sind. Zwar können wir diese Hieroglyphen nicht lesen, aber wer nicht unterschreibt, kehrt um. Wir könnten soeben unser Todesurteil unterschrieben haben.
Die Zöllner sind emsig und suchen verschärft nach westlichen Versuchungen. Nein, wir haben nichts Hochprozentiges in den Wasserflaschen und auch keine Zeitschriften mit nackten Frauen unter der Matratze. Entnervt geben die Zöllner nach einer Stunde auf. Jetzt haben sie sich so lange bemüht und nichts gefunden, was sie beschlagnahmen könnten. Meine Freunde vom Zoll sind traurig.
»Vielleicht etwas Rauschgift zur Aufmunterung«, hätte ich beinahe gescherzt.
Erst nachdem wir unsere Nummernschilder durch libysche mit arabischen Schriftzeichen ersetzt haben, dürfen wir die Grenze verlassen. So können die Posten an den Checkpoints unser Kennzeichen lesen, und der Sicherheitsdienst weiß, wo wir uns bewegen.
Nach der Grenze kennt unser Kompass nur noch eine Richtung, und die heißt Süden, dort, wo Ghadames liegt.
Die Altstadt ist ein Bollwerk gegen Überfälle und Hitze. In den eng verwinkelten Gassen kommen kaum zwei Menschen aneinander vorbei, sodass sie guten Schutz vor unerwünschten Eindringlingen bieten. Das Gassenlabyrinth ist häufig überbaut oder von einem Mattengeflecht bedeckt. In dieser unteririschen Stadt herrscht Dunkelheit, als wäre sie für die Toten gebaut. In den Gassen dieser ältesten Wüstenstadt der Sahara erschrecken wir, als plötzlich eine Gestalt in weißem Gewand lautlos aus einer dunklen Ecke auftaucht, um gleich wieder hinter der nächsten zu verschwinden. Unsere Schritte hören sich seltsam dumpf an. Die Geräusche werden von den Lehmwänden verschluckt.
Über den Torbögen prangen mythische Zeichen. Wir wissen, das Quadrat ist das Symbol der Fruchtbarkeit, und ein Halbmond zeigt den Eingang zum geheimen Treffpunkt der Sufi-Bruderschaft.
Wir lassen uns treiben und verlieren bald die Orientierung. Nach dem Rückweg zu fragen ist sinnlos. Wir sind allein. Die abgewetzten Türen aus Palmstämmen sind alle verschlossen. Bereits in den 1980er-Jahren wurden die Bewohner in die moderne Neustadt umgesiedelt.
Die hohen Lichtschächte über den Gassen wirken wie Kamine. Ständig zieht ein Lufthauch durch das Labyrinth und trägt entfernte Trommelrhythmen zu uns. Gespannt folgen wir den Klängen und werden von einem weiß gekalkten Platz geblendet. Wir haben den Himmel und die Menschen wiedergefunden. Männer in Djellabas, den langen, traditionellen Berbergewändern, wiegen sich mit vor der Brust gekreuzten Armen im Rhythmus der Trommeln. Dann schlagen sie mit den Händen auf ihren Brustkorb und rufen monoton »Horla, Horla …« Einige Tänzer lösen sich aus dem Kreis und wirbeln in die Mitte. Dabei drehen sie sich immer schneller um die eigene Achse und recken die rechte Hand zum Himmel, bereit, Gott zu empfangen. Die Augen fixieren die linke Hand, die Richtung Mutter Erde zeigt.
Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass das Ziel der Sufi-Tänzer Ekstase, Trance oder Bewusstlosigkeit ist. Ihr Ziel ist es, Gott so nahe wie möglich zu kommen. Dabei lassen sie ihren Körper, ihre Schwächen und ihre Wünsche hinter sich. Durch ständiges Sich-Drehen wird die sinnliche Wahrnehmung ausgelöscht. Der Geist verlässt den Körper und schüttelt das Ego ab. So fühlen die Sufis die wahre Liebe zwischen sich und Gott.
Sie preisen Allah, indem sie sich und ihren Körper für den »Augenblick der reinsten Seele« im Tanz aufgeben. Der Tanz ist ihre Moschee. Der Sufismus ist eine nicht materiell orientierte Strömung im Islam und deshalb die Religion des einfachen Volkes. Er verweigert sich dem Islam der Gelehrten und Intellektuellen. Deswegen hatte und hat er so viel Zulauf unter Analphabeten, Armen und Sklaven. Sufismus bedeutet »nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden«.
Der Tanz ist vorbei. Die Tänzer sind erschöpft, aber glücklich. Einer setzt sich zu uns auf die Steinbank. Es ist Ali. Er unterrichtet in der Schule und steht kurz vor der Rente.
»Woher kommt ihr?«
»Aus Deutschland.«
»Ihr Fremden seid verrückt. Euch ist kein Weg zu weit. Ich werde nie verstehen, wieso ihr nicht einfach zu Hause bleibt und süßen, starken Tee trinkt. Mein Vater war auch immer unterwegs. Für ein gutes Geschäft war ihm kein Weg mit der Karawane zu weit. Seitdem der Sklavenhandel vorbei ist, sind die Karawanengeschäfte nicht mehr so gut. Aber wir besitzen immer noch die süßesten Datteln, die jeder haben möchte.«
Ali erzählt von seiner Kindheit, in der Datteln das Geld der Sahara waren. Sie waren kompakt, haltbar und gut zu transportieren. Um sich beim Dattelhandel nicht in die Bücher schauen zu lassen, hatten sich seine Vorfahren geheime Zahlen ausgedacht. So wusste die Konkurrenz nie über ihre Geschäfte und Gewinne Bescheid.
»Das Wichtigste in einer Oase ist Wasser. So wichtig, dass wir früher ein hochentwickeltes Wasserrecht hatten. Entsprechend seinem Wasserrecht durfte jeder für eine genau bestimmte Zeit Wasser aus dem Hauptkanal ableiten. Dafür hatten wir unsere eigene Zeiteinheit, den Ghadames.«
Ali führt uns zum Häuschen des Zeitzählers und nimmt über dem Wasserbassin ein Tongefäß vom Haken.
»Was glaubst du, was das ist?«
»Ein Krug zum Trinken?«
»Nein, das ist eine Uhr, die nie Batterien braucht und funktioniert, seit Ghadames besteht.«
Er nimmt den »Ghadus« mit dem kleinen Loch im Boden und füllt ihn bis zum Eichstrich mit Wasser. »Wenn dieser Krug leer gelaufen ist, ist ein Ghadames vorbei beziehungsweise abgelaufen«, erklärt er. Er weiß auch, dass nach 480 Ghadames ein Tag vorbei war, und erzählt vom kleinsten Wasserrecht, dem Karit. Ein Karit ist das Recht auf etwas mehr als einen Liter Wasser. Wasser war wertvoller als Geld.
Wir begleiten Ali zurück in die Neustadt und laden ihn auf einen süßen, starken Tee ein. Er zieht einen 20–Dinar-Schein aus der Tasche.
»Nein, lass stecken, du bist unser Gast.«
»Danke, aber das ist nicht der Grund. Ich will euch auf dem Geldschein nur zeigen, weshalb das Feilschen um ein Karit Wasserrecht für immer vorbei ist. Wir sitzen nämlich auf einem riesigen unterirdischen Wassermeer, das Gaddafi angezapft hat, um aus Libyen einen Agrarexporteur zu machen. Schaut her«, dabei streicht er den Geldschein ehrfürchtig glatt und fährt fort, »hier seht ihr das größte Wasserprojekt der Erde. Unser Revolutionsführer Gaddafi taufte es Great Made-Man River, der größte von Menschen gemachte Fluss.«
Ali holt Luft und erklärt, dass sie bei der Ölsuche in der Sahara immer wieder auf Wasser gestoßen sind, das seit der Eiszeit dort unten liegt.
»Diesen Schatz müssen wir nur hochpumpen.«
Er zeigt auf die blauen Punkte auf dem Geldschein und erklärt weiter: »Hier im Zentrum der Sahara sind die Tiefbrunnen. In ihnen wird das Wasser hochgepumpt, und das«, er zeigt auf blaue dicke Striche, die Richtung Norden ans Mittelmeer führen, »ist der große, etwa 1000 Kilometer lange unterirdische Fluss. In seinen Röhren könnte ein Lastwagen spazieren fahren. Durch die riesigen Rohre fließt ein Teil des fossilen Wassers in die Städte. Mit dem anderen Teil verwandeln wir die ganze Wüste in eine einzige Oase.«
Ali strahlt und ist stolz, als wäre er Gaddafi persönlich. Die Informationspolitik des Diktators hat funktioniert. Zufrieden schlürft Ali seinen Tee und verabschiedet sich, aber nicht, ohne uns süße Ghadames-Datteln zu schenken.
Zweifellos, der liebe Ali ist begeistert. Er ist einseitig informiert. Er weiß nicht, weshalb immer mehr Brunnen austrocknen und Oasen verdorren. Er weiß auch nicht, dass das Wüstenwasser vielleicht nur für eine oder zwei Generationen reicht. Sollten Gaddafi und seine Nachfolger die eiszeitlichen Wasserspeicher leer gepumpt haben, dann wird »Bar Bela Mar« (das Meer ohne Wasser) seinem Namen gerecht werden. Wenn alle Oasen trocken liegen, alle Brunnen zugeweht sind und keine Palme mehr zu sehen ist, dann ist die Wüste für alle Ewigkeit eine hundertprozentige Todeszone.
Auf dem Weg in die Neustadt wechseln wir innerhalb weniger Schritte von einer arabischen Märchenszene aus Tausendundeiner Nacht in die Ernüchterung der quadratisch-praktischen Betonwelt. Doch die hat einen Haken. Bei der Hitze entwickeln sich in den Betonklötzen Saunatemperaturen, die den Menschen den Schweiß nicht nur tagsüber auf die Stirn treiben. Da Tuareg und Berber traditionell keine begeisterten Saunagänger sind, pilgern viele zum Schlafen in ihre kühlen Lehmhäuser in der Altstadt. Die etwas Bequemeren bauen luftige Beduinenzelte gleich auf dem Parkplatz vor ihren Wohnungen auf, nur um ein wenig Schlaf zu finden.
Die Stadt lebt in einem Zwiespalt zwischen den aufgeheizten Wohnungen der modernen Neustadt und den kühlen Lehmhäusern der rückständigen Altstadt.
Gaddafi baut das moderne Libyen nur, um die Menschen in die Städte zu treiben, wo er seine Untertanen optimal überwachen kann. Das lässt er sich etwas kosten. Er verschenkt Häuser. Strom und Wasser sind umsonst. Und er bezahlt jedem eine lebenslange Ölrente.
Als wir Richtung Ghadames fuhren, sahen wir viele verlassene Häuser und Dörfer. Sogar die Nomaden mussten samt Herde in die Städte ziehen.
Durch diese aufgezwungene Lebensweise löscht Gaddafi geschickt die Kultur der Stämme und Nomaden aus. Damit nimmt er ihnen unter dem Mantel des Fortschritts ihre Identität und bricht so ihren Widerstand. Er demoralisiert sein Volk. Für die Welt aber zieht er die große Nomadenshow ab und präsentiert sich in goldfunkelnder Nomadenkleidung vor seinem überdimensionalen Nomadenzelt. Er spielt den volksverbundenen Oberhirten.
Sogar bei Staatsbesuchen zog er das Nomadenzelt einer Präsidentensuite vor.
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Der Asphalt leidet schwer unter der Hitze. Ein guter Grund zu warten, bis die Sonne tiefer steht und die Temperaturen nachlassen. Erst dann brechen wir auf, sonst klebt mehr Teer an unseren Reifen als auf der Straße.
Bei Darj verlassen wir die Asphaltstraße und schwenken auf Kurs 130 Grad Süd-Ost in die Wüste ab. Die Hammadah al-Hamra, die Idhan Awbari und die Idhan Murzuq liegen vor uns. Das sind keine Wochenendausflugsziele, sondern etwa 1500 Kilometer Stein-, Sand- und Staubwüste. Wenn wir die Wüsten durchquert haben, hoffen wir, auf die Kraterseen des Wau an Namus zu blicken, die als achtes Weltwunder gelten, inschallah.
»Hammadah al-Hamra« bedeutet rote Erde. Sie hat mit einer Reiseprospektwüste nichts gemeinsam. Wer sich in der dunkelroten Ebene um 360 Grad dreht, wird nichts finden, woran sich sein Auge festhalten kann. Und wer beim Gehen vor sich hin träumt, wird bald stolpern und sich wehtun. Denn dieses Gebiet ist mit spitzen Basaltsteinen übersät. Während der Fahrt könnte ich das Lenkrad festbinden. Den Steinen kann ich eh nicht ausweichen, so eng liegen sie beieinander.
Mein Blick schweift umher, ohne auf ein Tier oder nur eine Tierspur zu treffen. Die Arche Noah ging hier sicher nicht an Land.
Hier ist einer der wenigen Plätze, wo ich tagelang das Lenkrad nicht bewegen muss und den Weltrekord im Geradeausfahren für das Guinness-Buch aufstellen könnte.
Aus der Einöde erhebt sich steil ein goldgelbes Sandgebirge, das die Geradeausfahrt abrupt abbremst. Endlich erblicken wir eine Wüste in vollendeter Form, erschaffen durch Sand, Erosion und Aeolos, den Gott des Windes. Aber wo liegt eigentlich der Ursprung einer Wüste? Alles fängt mit einem winzigen Sandkorn an, das durch Trockenheit und Erosion entstanden