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Die Verbindung zwischen Tessa und Hardin ist so stark wie nie zuvor. Tessa ist längst nicht mehr das süße Good Girl, das sie einmal war. Und Hardin nicht mehr der unberechenbare Bad Guy, in den sie sich leidenschaftlich verliebt hat. Tessa versteht seine gequälte Seele und weiß, dass nur sie ihn beruhigen kann, wenn er ausrastet. Er braucht sie. Doch als die Vergangenheit sie wieder einholt, wird Tessa klar, dass sie ihn nicht retten kann. Zumindest nicht, ohne sich selbst zu opfern …
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Seitenzahl: 740
DAS BUCH
Das Band zwischen Tessa und Hardin ist mit jedem Problem und jedem Streit stärker geworden. Tessa ist längst nicht mehr das süße Good Girl, das sie einmal war. Und Hardin nicht mehr der unberechenbare Bad Guy, in den sie sich leidenschaftlich verliebt hat. Tessa versteht seine gequälte Seele und weiß, dass nur sie ihn beruhigen kann, wenn er ausrastet. Er braucht sie. Doch als die Vergangenheit sie wieder einholt, wird Tessa klar, dass sie ihn nicht retten kann. Zumindest nicht, ohne sich selbst zu opfern …
DIE AUTORIN
Anna Todd lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann im texanischen Austin. Sie haben nur einen Monat nach Abschluss der Highschool geheiratet. Anna war schon immer eine begeisterte Leserin und ein großer Fan von Boygroups und Liebesgeschichten. In ihrem Debütroman AFTER PASSION konnte sie ihre Leidenschaften miteinander verbinden und sich dadurch einen Lebenstraum erfüllen. Anna Todd ist online zu finden unter AnnaToddBooks.com, twitter.com/Imaginator1dx, instagram.com/imaginator1d und auf Wattpad als Imaginator1D.
LIEFERBARE TITEL
After passion
After truth
After love
ANNA TODD
AFTER
forever
Roman
Band 4
Aus dem Amerikanischen von
Corinna Vierkant und Nicole Hölsken
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe
AFTER EVER HAPPY (The After Series, Band 4)
erschien bei Gallery Books,
a division of Simon & Schuster, Inc., New York
Deutsche Erstausgabe 09/2015
Copyright © 2014 by Anna Todd, vertreten durch Wattpad
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: © FinePic, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-16269-6
www.heyne.de
Für alle da draußen,
die jemals für etwas oder jemanden gekämpft haben.
Prolog
Hardin
Wie oft bin ich mir unerwünscht vorgekommen, fehl am Platz, wie ein Fremdkörper. Meine Mom hat sich damals echt Mühe gegeben, große Mühe, aber es hat einfach nicht gereicht. Sie hat zu viel gearbeitet, und tagsüber hat sie geschlafen, weil sie immer die ganze Nacht auf den Beinen war. Trish hat ihr Bestes gegeben, aber ein Junge, besonders ein so orientierungsloser wie ich, braucht seinen Vater.
Ken Scott war irgendwie getrieben, unzufrieden und grob. Er ließ den kleinen Hardin abblitzen, der immer wieder versuchte, ihm zu imponieren. Den Hardin von damals hätte es wahrscheinlich gefreut, dass dieser abweisende Kerl, der durch das viel zu enge Haus polterte, vielleicht gar nicht sein Vater war. Er hätte seufzend sein Buch vom Tisch genommen und seine Mom gefragt, wann denn Christian wieder zu Besuch käme, der nette Mann, der immer aus alten Büchern zitierte und ihn zum Lachen brachte.
Aber der erwachsene Hardin Scott, der mit Sucht und Wut kämpft, dem Erbe dieser Witzfigur, die man ihm als Vater vorgesetzt hat, ist einfach nur wütend. Ich fühle mich verarscht, hintergangen und verloren. Es kann einfach nicht wahr sein. Diese billige Story mit den vertauschten Vätern, die in jeder blöden Sitcom vorkommt, kann unmöglich mein Leben sein. Verschwommene Erinnerungen tauchen auf.
Mom am Telefon, an dem Morgen, als mein Aufsatz für die Lokalzeitung ausgewählt wurde: »Ich dachte, es würde dich interessieren: Hardin ist brillant. Genau wie sein Vater«, schwärmte sie leise.
Ich sah mich um. Der schlafende Mann im Sessel mit der Schnapsflasche vor den Füßen war nicht brillant. Das ist ein Wrack, dachte ich, als er sich rührte, und meine Mom legte schnell wieder auf.
Es gab viele Momente dieser Art, doch ich war zu dumm und zu jung und verstand nicht, warum Ken Scott so distanziert war. Warum er mich nie in den Arm nahm wie andere Väter ihre Söhne. Er spielte nie Baseball mit mir und brachte mir nie etwas bei – außer wie man sich betrank.
Hätte ich mir das alles sparen können? Ist Christian Vance mein richtiger Vater?
Die Bar dreht sich um mich, und ich starre ihn an, den Mann, der mich gezeugt haben soll. Seine grünen Augen sehen vertraut aus, genauso wie die Form seines Kinns. Fieberhaft fährt er sich durchs Haar, und ich erstarre, als mir klar wird, dass ich genau das Gleiche tue.
1
Tessa
»Das ist unmöglich.«
Ich stehe auf, setze mich aber schnell wieder auf die Bank, als der Rasen unter mir schwankt. Der Park füllt sich mit Leuten. Familien mit kleinen Kindern tragen Luftballons und Geschenke mit sich herum.
»Aber es ist die Wahrheit – Hardin ist Christians Sohn«, sagt Kimberly, und ihre blauen Augen leuchten.
»Aber Ken … Hardin sieht ihm so ähnlich.« Ich weiß noch, wie ich Ken Scott das erste Mal gesehen habe, in einem Frozen-Yoghurt-Laden. Ich wusste sofort, dass er Hardins Vater war. Das dunkle Haar, die Körpergröße, es war einfach offensichtlich.
»Findest du? Ich sehe diese Ähnlichkeit gar nicht, außer bei der Haarfarbe. Hardin hat die grünen Augen von Christian und die gleiche Gesichtsform.«
Stimmt das? Ich versuche, mir die drei Gesichter nebeneinander vorzustellen. Christian hat Grübchen wie Hardin und die gleichen Augen … aber es kann einfach nicht sein: Ken Scott ist Hardins Vater – alles andere ist Unsinn. Christian wirkt so jung im Vergleich zu Ken. Ich weiß, dass sie gleich alt sind, aber der Alkohol hat Ken gezeichnet. Er sieht immer noch gut aus, aber die Exzesse haben ihn ziemlich früh altern lassen.
»Das ist …« Ich ringe um Worte.
Kimberly sieht mich entschuldigend an. »Ich weiß. Ich hätte es dir so gern gesagt. Es ist mir schwergefallen, es vor dir geheim zu halten, aber ich durfte es einfach nicht sagen.« Sie nimmt meine Hand und drückt sie sanft. »Christian hat mir versichert, dass er es Hardin sagt, sobald Trish ihre Erlaubnis gibt.«
»Ich …« Ich hole tief Luft. »Moment – und das passiert jetzt gerade? Christian erzählt es Hardin?« Ich stehe auf, und Kimberlys Hand rutscht ab. »Ich muss zu ihm. Er wird …« Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Hardin darauf reagiert, besonders, nachdem er Trish gestern Nacht mit Christian erwischt hat. Das ist ganz bestimmt zu viel für ihn.
»Ja.« Kim seufzt. »Trish hat noch nicht ganz zugestimmt, aber Christian meinte, sie wäre fast so weit gewesen, und die Sache würde aus dem Ruder laufen.«
Ich suche nach meinem Handy. Wie konnte Trish Hardin das verschweigen? Ich hätte mehr von ihr erwartet, von ihr als Mutter. Jetzt habe ich das Gefühl, diese Frau überhaupt nicht zu kennen.
Während ich mir das Handy ans Ohr presse und es klingeln höre, sagt Kimberly: »Ich habe Christian gesagt, er soll es Hardin nicht eröffnen, wenn du nicht dabei bist, aber Trish hielt es für besser, wenn er es ihm allein sagt …« Kimberlys Mund ist eine harte Linie, ihr Blick schweift über den Park, dann zum Himmel.
Ich höre die monotone Ansage von Hardins Mailbox und rufe erneut an, während Kimberly schweigend neben mir sitzt, doch ich lande wieder auf der Mailbox. Ich stecke das Handy zurück und knete mir die Hände. »Kannst du mich zu ihm bringen, Kimberly? Bitte?«
»Aber natürlich.« Sie springt auf und ruft nach Smith.
Als der kleine Junge auf uns zukommt wie ein Butler aus einem Cartoon, fällt mir ein, dass er der Sohn von Christian ist … und damit Hardins Bruder. Hardin hat einen kleinen Bruder. Und dann denke ich an Landon … was bedeutet es für Landon und Hardin? Wird Hardin noch mit ihm zu tun haben wollen, wenn er gar nicht sein Stiefbruder ist? Und Karen? Was ist mit der lieben Karen und ihren Backkünsten? Ken – was ist mit dem Mann, der sich so sehr bemüht, einen Jungen für eine schreckliche Kindheit zu entschädigen, der gar nicht sein Sohn ist? Weiß Ken davon? Mir wird ganz schwindelig. Ich muss zu Hardin. Ich muss ihm zeigen, dass ich für ihn da bin und wir diese Sache gemeinsam durchstehen. Wie geht es ihm jetzt? Es muss ihn vollkommen umhauen.
»Weiß Smith davon?«
Nach kurzem Schweigen sagt Kimberly: »Wir vermuten es, weil er immer so auf Hardin zugeht, aber eigentlich ist es unmöglich.«
Die arme Kimberly. Erst betrügt sie ihr Verlobter, und jetzt das. Smith bleibt vor uns stehen und sieht uns geheimnisvoll an, so als wüsste er, worüber wir reden. Das kann nicht sein, aber es gibt zu denken, wie er ohne ein Wort den Weg zum Auto einschlägt.
Während wir durch Hampstead fahren, durchläuft mich eine Panikwelle nach der anderen, steigt in mir auf und fällt wieder ab, steigt auf und fällt ab.
2
Hardin
Das Holz bricht krachend.
»Hör auf, Hardin!«, höre ich Vance wie von fern.
Wieder kracht es, dann splittert Glas. Das Geräusch gefällt mir und verstärkt meinen Hunger auf Gewalt. Ich muss Sachen zerlegen, irgendwas kaputt machen, auch wenn es nur ein Gegenstand ist.
Und das tue ich.
Schreie reißen mich aus meiner Trance. Ich sehe nach unten und entdecke ein zerbrochenes Stuhlbein in meinen Händen. Ich blicke auf und sehe in die leeren Gesichter aufgeschreckter Barbesucher. Mich interessiert nur ein Gesicht: Tessas. Aber sie ist nicht da, und in meiner Wut weiß ich nicht, ob das gut oder schlecht ist. Sie wäre verängstigt. Sie würde sich Sorgen um mich machen und panisch meinen Namen rufen, um den Krach zu übertönen.
Ich lasse das Stuhlbein fallen, als hätte ich mich daran verbrannt. Irgendjemand umfasst meine Schultern.
»Bring ihn weg, bevor sie die Polizei rufen!«, sagt Mike so laut, wie ich ihn noch nie gehört habe.
»Lass mich los!« Ich entwinde mich Vance starre ihn an, obwohl ich vor Wut fast blind bin.
»Willst du ins Gefängnis?«, schreit er mir ins Gesicht.
Ich will ihn zu Boden stoßen, ihm die Hände um den Hals legen…
Doch wieder kreischen Frauen und bewahren mich davor, noch einmal in diesem Strudel zu versinken. Ich sehe mich in der schicken Bar um, sehe Whiskey-Gläser in Scherben, den zersplitterten Stuhl, die entsetzten Gesichter von Gästen, die mit Krawall nichts zu tun haben wollen. Es wird nicht lange dauern, bis ihr Schreck in Wut umschlägt, weil ich sie bei ihrem überteuerten Genuss gestört habe.
Christian begleitet mich, als ich an der Kellnerin vorbei nach draußen stürme. »Setz dich in mein Auto, ich erkläre dir alles«, schnaubt er.
Da die Bullen vermutlich wirklich jeden Moment auftauchen, folge ich seinem Rat, aber ich bin völlig vor den Kopf geschlagen. Ich kann einfach nicht glauben, was er mir gesagt hat. Es ist lächerlich.
Ich setze mich auf den Beifahrersitz, Christian geht zur Fahrerseite. »Du kannst nicht mein Vater sein, wie soll das gehen? Das ist doch Bullshit – alles.« Ich betrachte den teuren Mietwagen und frage mich, ob das heißt, dass Tessa in diesem verdammten Park festsitzt, wo ich sie rausgelassen habe. »Hat Kimberly ein eigenes Auto?«
Vance sieht mich ungläubig an. »Natürlich.« Das Schnurren des Motors wird lauter, als er sich in den Verkehr einordnet. »Es tut mir leid, dass du es so erfahren hast. Es lief gerade so gut, aber dann geriet alles durcheinander.«
Ich schweige, denn wenn ich den Mund aufmache, flippe ich aus – das weiß ich. Meine Finger graben sich in meine Schenkel, und der leichte Schmerz beruhigt mich.
»Ich will es dir erklären, aber bitte mach nicht von vornherein zu, okay?« Er sieht mich mitleidig an.
Ich will kein Mitleid. »Behandle mich nicht wie ein Kind«, herrsche ich ihn an.
Vance mustert mich, dann richtet er den Blick auf die Straße. »Du weißt, dass ich und dein Dad – also Ken – zusammen aufgewachsen sind. Wir waren Freunde, solange ich denken kann.«
»Nein, tatsächlich wusste ich das nicht«, herrsche ich ihn an, dann wende ich mich der Landschaft zu, die draußen vorbeizieht. »Offensichtlich weiß ich gar nichts.«
»Gut, also, so war es. Wir waren fast wie Brüder.«
»Und dann hast du seine Frau gevögelt?«, unterbreche ich seine Gutenachtgeschichte.
»Sieh mal …« Christian umklammert das Lenkrad, und seine Knöchel treten weiß hervor. »Ich versuche doch gerade, es dir zu erklären, also lass mich bitte ausreden.« Er holt tief Luft, um sich zu beruhigen. »Um deine Frage zu beantworten: Nein, so war es nicht. Deine Mom und Ken wurden schon in der Schule ein Paar, als deine Mom nach Hampstead kam. Sie war das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte.«
Ich muss daran denken, wie Vance sie geküsst hat. Mir wird schlecht.
»Aber Ken hat sie im Sturm erobert. Sie waren immer zusammen, jeden Tag, jede Minute, genau wie Max und Denise. Bald waren wir eine Fünferclique.« Er verliert sich in der lächerlichen Erinnerung und seufzt. Seine Stimme klingt abwesend. »Sie war geistreich, schön und hoffnungslos verliebt in deinen Dad – Scheiße. Ich werde wohl nie aufhören, ihn so zu nennen …« Er stöhnt. Dann trommelt er auf das Lenkrad, wie um sich anzutreiben.
»Ken war intelligent – fast schon genial –, und als er ein Stipendium und eine vorzeitige Zulassung an der Uni bekam, hatte er viel zu tun. Zu viel für sie. Er war ständig an der Uni. Bald waren wir nur noch zu viert, ohne ihn, und zwischen deiner Mom und mir … na ja, ich habe mich immer heftiger verliebt, und auch sie interessierte sich mehr und mehr für mich.«
Vance hält kurz inne, um die Spur zu wechseln und die Lüftung aufzudrehen. Es ist immer noch stickig im Auto, und in meinem Kopf tobt ein verdammter Orkan, als er fortfährt.
»Ich habe sie immer geliebt – das wusste sie. Aber sie liebte ihn, und er war mein bester Freund.« Vance schluckt. »Im Laufe der Zeit wurde unser Verhältnis immer … intimer. Wir hatten da noch keinen Sex, aber wir gaben unseren Gefühlen nach.«
»Erspar mir die Details.« Ich balle meine Hände zu Fäusten und muss mich sehr zurückhalten, um ihn nicht zu unterbrechen.
»Okay, okay.« Er richtet den Blick starr auf die Straße. »Eins führte zum anderen, und irgendwann hatten wir eine echte Affäre. Ken ahnte nichts davon. Max und Denise hatten ihre Vermutungen, aber sie haben nie etwas gesagt. Ich habe deine Mom gebeten, ihn zu verlassen, weil er sie vernachlässigt hat. Ich weiß, das war mies, aber ich habe sie nun mal geliebt.«
Seine Brauen sind eng zusammengezogen. »Sie war der einzige Ausweg aus meinem damaligen selbstzerstörerischen Trip. Ken war mein Freund, aber meine Liebe zu ihr war größer. Das war sie immer.« Er atmet zischend aus.
»Und …«, dränge ich nach einem kurzen Schweigen.
»Als sie sagte, sie sei schwanger, dachte ich, jetzt würden wir zusammen durchbrennen und heiraten. Ich versprach ihr, keine Scheiße mehr zu bauen, wenn sie sich für mich entschied, und für sie da zu sein … und für dich.«
Ich spüre, dass sein Blick auf mir ruht, aber ich will ihn nicht ansehen.
»Aber deine Mom hielt mich für zu flatterhaft, und ich musste mir auf die Zunge beißen, als sie und dein … Ken erklärten, dass sie ein Kind erwarteten und noch in derselben Woche heiraten würden.«
Wie bitte? Ich sehe ihn an, doch er hat sich völlig in der Vergangenheit verloren.
»Ich wollte das Beste für sie. Ich konnte nicht ihren Ruf zerstören und Ken oder irgendwem die Wahrheit erzählen. Ich dachte immer, tief im Innern muss er wissen, dass ihr Kind nicht von ihm ist. Deine Mom hat damals geschworen, dass er sie seit Monaten nicht angerührt hatte.« Ich bemerke, wie Vance erschaudert. »Bei ihrer kleinen Hochzeit stand ich also da in meinem Anzug, als Trauzeuge von Ken. Ich wusste, dass er ihr gab, was ich ihr nicht bieten konnte. Ich hatte noch nicht mal vor, an die Uni zu gehen. Ich habe meine Zeit damit vertan, mich nach einer vergebenen Frau zu verzehren und in Passagen aus Romanklassikern zu schwelgen, die nie etwas mit meinem Leben zu tun haben würden. Ich hatte keinen Plan und kein Geld, und sie brauchte beides.« Er seufzt und versucht, die Erinnerung zu vertreiben.
Ich sehe ihn an und erschrecke über meine Gedanken. Ich presse eine Faust zusammen und löse sie, um mir die Bemerkung zu verkneifen.
Dann presse ich sie wieder zusammen und erkenne meine Stimme kaum, als ich frage: »Dann hat dich Mom zu ihrem Vergnügen benutzt und weggeworfen, weil du kein Geld hattest?«
Vance stößt die Luft aus. »Nein. Sie hat mich nicht benutzt.« Sein Blick streift mich. »Es sieht vielleicht so aus, aber sie musste an dich und an deine Zukunft denken. Ich war ein totaler Loser – zu nichts zu gebrauchen. Mit mir war einfach nichts los.«
»Und jetzt bist du Millionär«, bemerke ich bitter. Wie kann er sie immer noch verteidigen? Was ist los mit ihm? Doch dann muss ich an meine Mutter denken, die zwei Männer verloren hat, die später reich wurden, während sie für einen Hungerlohn schuftet und in einem schäbigen Haus wohnt.
Vance nickt. »Ja, aber das konnte damals niemand vorhersehen. Ken hatte sein Leben im Griff, ich nicht. Punkt.«
»Bis er anfing, sich jede Nacht die Kante zu geben.« Meine Wut flammt wieder auf. Ich glaube, ich werde sie nie los. Ich fühle mich so betrogen. Ich habe meine Kindheit mit einem verdammten Säufer verbracht, während Vance Highlife hatte.
»Auch das habe ich verbockt«, sagt dieser Mann, von dem ich so lange dachte, ich würde ihn kennen – wirklich kennen. »Ich habe viel durchgemacht, nachdem du auf der Welt warst, aber ich habe mich an der Uni eingeschrieben und deine Mom aus der Ferne geliebt …«
»Bis?«
»Bis zu deinem fünften Lebensjahr. Es war dein Geburtstag, und wir waren alle da. Du bist in die Küche gekommen und hast nach deinem Daddy gerufen …« Christians Stimme bricht, und ich presse die Faust noch fester zusammen. »Du hattest ein Buch im Arm, und eine Sekunde lang vergaß ich, dass du gar nicht mich meintest.«
Ich knalle die Faust aufs Armaturenbrett. »Lass mich raus«, rufe ich. Ich kann mir das nicht länger anhören. Das ist alles so verdammt abgefuckt, und ich packe das nicht.
Vance ignoriert meinen Ausbruch und fährt weiter durch die Wohnstraße. »An dem Tag bin ich ausgeflippt. Ich habe von deiner Mutter verlangt, Ken die Wahrheit zu sagen. Ich wollte einfach nicht mehr von Weitem zusehen, wie du groß wirst, und zu diesem Zeitpunkt stand auch schon fest, dass ich nach Amerika gehen würde. Ich habe sie gebeten, mitzukommen, mit dir, meinem Sohn.«
Meinem Sohn.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich sollte aus dem Auto springen. Ich blicke auf die malerischen Häuschen, die vorbeiziehen. Körperliche Schmerzen wären mir tausendmal lieber als diese Qual.
»Aber sie weigerte sich und erzählte von einem Test, den sie hatte machen lassen und … dass du letztlich doch nicht von mir wärst.«
»Was?« Ich reibe mir die Schläfen. Ich würde das Armaturenbrett mit meinem Schädel einschlagen, wenn es helfen würde.
Als ich zu ihm rübersehe, fällt mir auf, dass er hektisch nach rechts und links blickt und mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit durch die Wohngegend brettert. Er überfährt alle Ampeln und Stoppschilder, damit ich nicht aus dem Auto springen kann. »Ich nehme an, sie war in Panik. Ich weiß es nicht.« Er mustert mich. »Ich wusste, dass sie lügt – Jahre später hat sie zugegeben, dass es nie einen Test gegeben hat. Aber damals blieb sie hartnäckig. Sie sagte, ich solle die Sache auf sich beruhen lassen, und entschuldigte sich dafür, dass sie mir eingeredet hatte, du wärst mein Sohn.«
Ich blicke auf meine Faust. Schließen, öffnen, schließen, öffnen …
»Wieder verging ein Jahr, und irgendwann redeten wir wieder …«, fährt er fort, doch sein Ton ist merkwürdig.
»Du meinst, vögelten wir wieder miteinander.«
Wieder stößt er laut die Luft aus. »Ja … jedes Mal, wenn wir Kontakt hatten, machten wir den gleichen Fehler. Ken arbeitete viel, er lernte damals auf den Master, und sie war mit dir zu Hause. Du warst mir immer so ähnlich. Jedes Mal, wenn ich ins Haus kam, hast du mit der Nase in einem Buch gesteckt. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber ich habe dir immer Bücher mitgebracht. Ich habe dir meinen Großen Gats…«
»Hör auf.« Ich ertrage seinen Ton nicht, er weckt verschwommene Erinnerungen.
»So ging das über Jahre, und wir dachten, niemand wüsste davon. Es war meine Schuld. Ich konnte nie aufhören, sie zu lieben. Was ich auch tat, ich kam nicht von ihr los. Ich bin in eure Nachbarschaft gezogen, in das Haus gegenüber. Dein Vater wusste es. Ich weiß nicht, wie er es herausgefunden hat, aber es wurde immer offensichtlicher.« Nach einer Pause und einer Abbiegung fügt Vance hinzu: »Damals hat er angefangen zu trinken.«
Ich fahre hoch und schlage mit den flachen Händen auf das Armaturenbrett. Vance zuckt nicht mal. »Dann hast du mich mit einem Alkoholiker zurückgelassen, der nur wegen dir und Mom getrunken hat?« Meine Wut schnürt mir den Hals zu.
»Ich habe auf sie eingeredet, Hardin. Ich will nicht, dass du ihr die Schuld gibst, aber ich habe versucht, sie zu überreden, mit mir zu leben – sie wollte nicht.« Er fährt sich durchs Haar. »Dein Vater trank immer häufiger und immer mehr, aber sie gab immer noch nicht zu, dass du von mir warst – nicht mal mir gegenüber. Also bin ich gegangen. Ich musste einfach gehen.«
Er verstummt, und als ich ihn ansehe, blinzelt er heftig. Ich greife nach der Tür, doch er steigt aufs Gas und drückt mehrfach die Zentralverriegelung. Das Klicken hallt durch das Wageninnere.
Mit hohler Stimme setzt er wieder an: »Ich bin nach Amerika gezogen und habe jahrelang nichts von deiner Mom gehört, bis Ken sie schließlich verlassen hat. Sie hatte kein Geld und hat sich halb totgeschuftet. Ich verdiente mittlerweile ganz gut. Noch lange nicht so viel wie heute, aber es reichte. Ich bin nach England zurückgekehrt und habe ein Haus für uns gefunden, für uns drei. Ich habe mich um sie gekümmert, als er weg war, doch sie hat sich immer mehr von mir distanziert. Ken reichte von irgendwoher die Scheidung ein, doch sie wollte immer noch nichts Festes mit mir.« Vance schneidet eine Grimasse. »Nach allem, was ich getan habe, war ich ihr immer noch nicht gut genug.«
Ich erinnere mich daran, wie er uns aufgenommen hat, nachdem mein Vater verschwunden war, aber ich hatte mir nie etwas dabei gedacht. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er ein Verhältnis mit meiner Mutter hatte oder ich sein Sohn sein könnte. Mein Bild von meiner Mutter ist nun endgültig zerstört. Ich habe jeden Respekt für sie verloren.
»Als sie zurück in das alte Haus gezogen ist, habe ich euch weiterhin finanziell unterstützt, bin aber zurück nach Amerika gegangen. Irgendwann hat deine Mom die monatlichen Schecks zurückgeschickt und ging auch nicht mehr ans Telefon, also nahm ich an, sie hätte jemand Neues kennengelernt.«
»Hatte sie nicht. Sie hat nur immer gearbeitet.« Als Teenager war ich oft alleine, und deswegen bin ich auch an die falschen Leute geraten.
»Ich glaube, sie hat darauf gehofft, dass er zurückkommt«, sagt Vance schnell, dann verstummt er. »Aber er kam nie zurück. Er trank jahrelang, und eines Tages hörte er plötzlich damit auf. Ich habe lange nicht mit ihm geredet, doch er hat mich kontaktiert, als er in die Staaten zog. Er war trocken, und ich hatte gerade Rose verloren.
Rose war die erste Frau, die ich anschauen konnte, ohne Trish zu sehen. Sie war wundervoll und hat mich glücklich gemacht. Ich wusste, dass ich niemanden so lieben würde wie deine Mutter, aber mit Rose war ich zufrieden. Wir waren glücklich. Wir haben uns ein gemeinsames Leben aufgebaut, aber ich war verdammt … und sie wurde krank. Sie hat Smith zur Welt gebracht, und ich habe sie verloren …«
Ich schlucke. »Smith.« An ihn habe ich noch gar nicht gedacht. Was heißt das? Fuck.
»Durch dieses kleine Genie habe ich eine zweite Chance bekommen, Vater zu sein. Er hat mich wieder aufgebaut, als seine Mutter tot war. Und er hat mich immer an dich erinnert. Er sieht genauso aus wie du als kleiner Junge, nur dass sein Haar und seine Augen heller sind.«
Tessa hat das Gleiche gesagt, als wir Smith das erste Mal gesehen haben, aber ich kann diese Ähnlichkeit nicht erkennen. »Das ist … total krank.« Mehr fällt mir nicht ein. Mein Handy summt in meiner Tasche, doch ich bringe es nicht über mich, dranzugehen. Stattdessen starre ich mein Bein an, als hätte ich Phantomschmerzen.
»Ich weiß, und es tut mir leid. Als du nach Amerika gekommen bist, dachte ich, wir könnten eine Verbindung aufbauen, ohne dass ich eine Vaterrolle einnehme. Ich bin mit deiner Mom in Kontakt geblieben, habe dich angestellt und versucht, dir so nahe zu sein, wie du mich lässt. Ich habe meine Beziehung zu Ken wieder aufgebaut, obwohl es immer Spannungen zwischen uns geben wird. Ich glaube, er hatte Mitleid mit mir, weil ich meine Frau verloren habe, und zu diesem Zeitpunkt hatte er sich so stark verändert. Ich wollte dich nur in meiner Nähe haben – ich wollte nehmen, was ich bekommen konnte. Ich weiß, dass du mich jetzt hasst, aber es ist mir zumindest für eine kurze Zeit gelungen.«
»Du hast mich mein Leben lang angelogen.«
»Ich weiß.«
»Genauso wie meine Mom und mein … Ken.«
»Deine Mom kann es sich noch immer nicht eingestehen«, sagt Vance – und entschuldigt sie schon wieder. »Sie leugnet es bis heute. Und was Ken betrifft: Er hatte immer eine Vermutung, aber deine Mom hat sie nie bestätigt. Ich glaube, er klammert sich noch immer an die Möglichkeit, dass du sein Sohn bist.«
Ich verdrehe die Augen. Das ist absurd. »Du willst mir erzählen, Ken Scott ist so blöd und glaubt, dass ich sein Sohn bin, nachdem ihr jahrelang hinter seinem Rücken rumgevögelt habt?«
»Nein.« Christian fährt rechts ran, nimmt den Gang raus und sieht mich sehr ernst an. »Ken ist nicht dumm. Er hofft. Er hat dich geliebt – er liebt dich noch. Nur wegen dir hat er mit dem Trinken aufgehört und seinen Abschluss gemacht. Obwohl er wusste, dass diese Möglichkeit besteht, hat er das alles für dich getan. Er bedauert deine schwierige Kindheit und was deiner Mom zugestoßen ist.«
Ich zucke zusammen, als die Bilder aus meinen Albträumen zum Leben erwachen und ich wieder sehe, wie die betrunkenen Soldaten über sie herfallen.
»Und es gab nie einen Test? Woher willst du dann wissen, dass du wirklich mein Vater bist?« Ich fasse es selbst nicht, dass ich diese Frage stelle.
»Ich weiß es, und du weißt es auch. Alle sagen immer, dass du wie Ken aussiehst, aber ich weiß genau, dass mein Blut in deinen Adern fließt. Es geht zeitlich nicht auf, er ist nicht dein Vater. Sie konnte unmöglich von ihm schwanger sein.«
Ich blicke auf die Bäume draußen. Mein Handy summt schon wieder. »Warum jetzt? Warum erzählst du mir das jetzt?«, frage ich und werde immer lauter. Meine Geduld ist am Ende.
»Weil deine Mom in Panik geraten ist. Ken hat vor zwei Wochen etwas von einem Bluttest gesagt, den du machen sollst, um Karen zu helfen, und ich habe deiner Mom davon erzählt …«
»Was für einen Test? Und was hat Karen damit zu tun?«
Vance blickt auf mein Bein, dann auf sein Handy, das auf der Mittelkonsole liegt. »Du solltest drangehen. Kimberly ruft auch an.«
Aber ich schüttele den Kopf. Ich rufe Tessa an, wenn ich aus diesem Auto raus bin.
»Das Ganze tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, als ich gestern Abend bei ihr war. Sie rief an, und ich … ich weiß auch nicht. Kimberly ist meine zukünftige Frau. Ich habe noch nie jemanden so geliebt – nicht mal deine Mom. Es ist ganz anders, wenn Gefühle erwidert werden. Kim bedeutet mir alles. Es war sehr dumm, deine Mom wiederzusehen, und ich werde mein Leben lang damit beschäftigt sein, es wiedergutzumachen. Ich wäre nicht überrascht, wenn Kim mich verlässt.«
Mann, erspar mir das Gejammer. »Ach nein? Vermutlich hättest du nicht versuchen sollen, meine Mom auf dem Küchentresen zu vögeln.«
Sein Blick durchbohrt mich. »Sie war panisch. Sie hat gesagt, sie wolle vor ihrer Hochzeit sichergehen, dass ihre Vergangenheit abgeschlossen ist, und ich bin berühmt für meinen Leichtsinn.« Er trommelt verlegen aufs Lenkrad.
»Ich auch«, murmele ich und greife nach der Tür.
Er packt mich beim Arm. »Hardin.«
»Lass das.« Ich reiße mich los und steige aus. Ich brauche Zeit, um das alles zu verarbeiten. Ich muss an die Luft. Ich muss mich beruhigen. Ich muss weg von ihm und zu Tessa, meiner einzigen Rettung.
»Lass mich in Ruhe. Wir wissen beide, dass ich Abstand brauche«, erkläre ich ihm.
Er sieht mich an, dann nickt er und fährt weiter.
Ich sehe mich um und erkenne eine Ladenfront an der nächsten Ecke. Ich bin nur ein paar Straßen von meinem alten Zuhause entfernt. In meinen Ohren rauscht das Blut, als ich nach dem Handy greife, um Tess anzurufen. Ich muss ihre Stimme hören, sie muss mich zurück in die Realität holen.
Während ich den Pub gegenüber betrachte und darauf warte, dass sie rangeht, erwachen alte Dämonen in mir und locken mich in die sichere Dunkelheit. Der Sog wird mit jeder Sekunde mächtiger, die sie nicht drangeht, und schon tragen mich meine Beine über die Straße.
Ich stecke das Handy weg, öffne die Tür und betrete den Schauplatz meiner Vergangenheit.
3
Tessa
Die Glasscherben knirschen unter meinen Sohlen, als ich von einem Bein aufs andere trete. Ich warte so geduldig wie möglich.
Als die Polizei endlich mit Mike fertig ist, gehe ich zu ihm. »Wo ist er?«, frage ich barsch.
»Er ist mit Christian Vance gegangen.« Mikes Blick ist vollkommen leer und bringt mich wieder zur Besinnung. Er kann nichts dafür. Es ist seine Hochzeit, und sie ist ruiniert.
Ich betrachte das gesplitterte Holz und ignoriere das Geflüster der neugierigen Zuschauer. Mein Magen verkrampft sich. Ich versuche, die Fassung zu bewahren. »Wohin wollten sie?«
»Ich weiß es nicht.« Mike vergräbt das Gesicht in den Händen.
Kimberly tippt mir auf die Schulter. »Die Polizei ist gleich mit diesen Leuten fertig. Wenn wir noch länger bleiben, wirst du vielleicht auch noch befragt.«
Ich sehe Mike an, dann die Tür. Schließlich nicke ich und folge Kimberly nach draußen, bevor die Polizei auf mich aufmerksam wird.
»Kannst du es noch mal bei Christian versuchen? Es tut mir leid, ich muss einfach mit Hardin reden.« Ich zittere an der kalten Luft.
»Ich versuche es noch mal«, verspricht sie auf dem Weg zu ihrem Mietwagen.
Mit flauem Gefühl im Bauch sehe ich zu, wie ein weiterer Polizist in die Bar geht. Ich mache mir schreckliche Sorgen um Hardin, nicht wegen der Polizei, sondern weil ich nicht weiß, wie er mit der Sache umgeht, wenn er mit Christian allein ist.
Smith sitzt stumm hinten im Auto, und ich stütze die Ellbogen auf den Kofferraum und schließe die Augen.
»Was soll das heißen, du weiß es nicht?«, ruft Kimberly und reißt mich aus den Gedanken. »Dann finden wir ihn eben!«, sagt sie zornig und legt auf.
»Was ist los?« Mein Herz klopft so laut, dass ich Angst habe, die Antwort nicht zu hören.
»Hardin ist ausgestiegen, und Christian hat ihn aus den Augen verloren.« Sie bindet ihr Haar energisch zu einem Pferdeschwanz. »Diese verdammte Hochzeit fängt gleich an«, sagt sie und sieht sich nach der Bar um. Mike steht in der Tür. Allein.
»Das ist eine Katastrophe«, stöhne ich und schicke ein stilles Gebet zum Himmel, dass Hardin wieder auf dem Weg hierher ist.
Ich greife noch mal zum Handy. Als ich sehe, dass er angerufen hat, legt sich meine Panik etwas. Mit zitternden Händen rufe ich zurück und warte. Und warte. Doch er geht nicht dran. Ich wähle wieder und wieder, lande aber immer auf der Mailbox.
4
Hardin
»Whiskey Cola«, knurrte ich.
Der glatzköpfige Barmann sieht mich finster an, während er ein Glas aus dem Regal zieht und mit Eis füllt. Wirklich schade, dass ich Vance nicht eingeladen habe. Wir hätten als Vater und Sohn einen trinken können.
Scheiße, ist das abgefuckt. »Einen Doppelten«, präzisiere ich meine Bestellung.
»Geht klar«, sagt der Dicke sarkastisch.
Mein Blick fällt auf den Fernseher an der Wand. Es läuft Werbung, eine Versicherung wirbt mit einem glucksenden Baby. Ich kapier einfach nicht, warum mir plötzlich alle mit Babys kommen.
Der Barmann schiebt mir wortlos das Glas zu, während der Säugling fröhlich brabbelt. Ich hebe das Glas an den Mund und lasse die Gedanken schweifen.
»Warum kaufst du Sachen für Babys?«, fragte ich sie.
Sie setzte sich auf den Badewannenrand und band sich das Haar zum Pferdeschwanz, und ich fragte mich allmählich, ob sie einen Kindertick hatte – es sah nämlich ganz danach aus.
»Das ist nicht für Babys«, sagte Tessa lachend. »Die haben nur einen Vater mit Baby auf ihrer Packung.«
»Ich verstehe nicht, was das soll.« Ich nahm den Karton mit dem Rasierset, das Tessa mir gekauft hatte, und betrachtete das Baby mit den rosigen Wangen. Was hatte ein Baby mit einem Rasierset zu tun?
Sie zuckte die Schultern. »Ich verstehe es auch nicht, aber es steigert sicher die Verkaufszahlen.«
»Vielleicht bei Frauen, die den Scheiß für ihre Männer kaufen«, korrigierte ich sie. Kein vernünftiger Mann würde dieses Ding aus dem Regal nehmen.
»Ach, Väter kaufen so was sicher auch.«
»Ganz bestimmt.« Ich riss den Karton auf und breitete den Inhalt aus, dann sah ich ihr über den Spiegel in die Augen. »Eine Schale?«
»Ja, für die Creme. Mit Pinsel wird die Rasur besser.«
»Und woher weißt du das?« Ich sah sie mit gewölbter Braue an. Hoffentlich nicht aus ihrer Zeit mit Noah.
Sie strahlte. »Ich hab im Internet recherchiert!«
»Was sonst.« Meine Eifersucht verflog, und sie trat spielerisch mit dem Fuß nach mir. »Da du offensichtlich Expertin in der Kunst des Rasierens bist, kannst du mir ja helfen.«
Ich rasierte mich immer mit Einwegrasierer und Sprühschaum, aber da sie sich solche Mühe gemacht hatte, wollte ich ihr den Spaß nicht verderben. Außerdem machte mich die Vorstellung, von ihr rasiert zu werden, ziemlich an. Tessa lächelte, stand auf und kam zu mir ans Waschbecken. Sie nahm die Schale, drückte Rasiercreme aus der Tube hinein und rührte mit dem Pinsel, bis es schäumte.
»Hier.« Lächelnd reichte sie mir den Pinsel.
»Nein, mach du.« Ich gab ihr den Pinsel zurück und umfasste ihre Taille. »Komm hoch«, sagte ich und setzte sie aufs Waschbecken. Dann schob ich ihre Schenkel auseinander und stellte mich zwischen ihre Beine.
Vorsichtig und konzentriert tunkte sie den Pinsel in den Schaum und seifte mein Kinn ein.
»Eigentlich will ich heute Abend nicht mehr raus«, sagte ich. »Ich habe noch so viel zu tun. Du hast mich abgelenkt.« Ich umfasste eine ihrer Brüste und drückte sanft zu.
Sie zuckte und kleckste mir Rasierschaum auf den Hals.
»Zum Glück hattest du nicht den Rasierer in der Hand«, sagte ich grinsend.
»Ja, zum Glück«, zog sie mich auf und nahm den nagelneuen Rasierer. Dann kaute sie auf ihrer Lippe herum und fragte: »Willst du auch bestimmt, dass ich das mache? Ich habe Angst, dich zu schneiden.«
»Keine Sorge«, grinste ich. »Du hast doch sicher recherchiert, wie es geht.«
Sie streckte mir die Zunge raus, und ich küsste sie, bevor sie anfing. Sie widersprach mir nicht, weil ich recht hatte.
»Aber wenn du mich schneidest, wird’s eng.« Ich lachte.
Sie verzog das Gesicht. »Halt doch mal still.« Erst war ihre Hand noch zittrig, doch bald wurde sie sicher, während sie die Klinge immer wieder über mein Kinn zog.
»Du solltest ohne mich gehen«, sagte ich und schloss die Augen. Es war angenehm und beruhigend, von Tessa rasiert zu werden. Ich hatte keine Lust, mit meinem Vater zu essen, aber Tessa hatte einen Hüttenkoller. Deshalb hatte sie sich über Karens Einladung gefreut.
»Wenn wir heute zu Hause bleiben, möchte ich es aufs Wochenende verschieben. Hast du deine Arbeit bis dahin fertig?«
»Vermutlich …«, sagte ich zögerlich.
»Dann ruf sie an und gib ihnen Bescheid. Ich koche uns was, wenn ich hier fertig bin, und du kannst arbeiten.« Sie tippte mir auf die Oberlippe, und ich sog sie ein, sodass sie mich vorsichtig um den Mund herum rasieren konnte.
Als sie fertig war, sagte ich: »Du solltest den restlichen Wein aus dem Kühlschrank trinken, er ist schon seit ein paar Tagen offen. Der wird sonst zu Essig.«
»Ich … ich weiß nicht.« Sie zögerte, und ich wusste, warum. Ich öffnete die Augen, und sie griff hinter sich, um das Wasser aufzudrehen und ein Handtuch zu befeuchten.
»Tess« – ich drückte die Finger unter ihr Kinn – »du kannst in meiner Gegenwart trinken. Ich bin kein Alkoholiker und leide nicht unter Entzug.«
»Ich weiß, aber es kommt mir komisch vor. Ich brauche keinen Wein. Wenn du nicht trinkst, muss ich auch nicht.«
»Ich habe kein Problem mit dem Trinken. Probleme gibt es nur, wenn ich meine Wut ertränken möchte.«
»Ich weiß.« Sie schluckte.
Sie wusste es wirklich.
Sie wischte den letzten Rasierschaum mit dem warmen Handtuch weg.
»Ich mutiere nur zum Arsch, wenn ich trinke, um Probleme zu lösen, aber in letzter Zeit gab es nichts zu lösen, also ist alles gut.« Ich wusste selbst, dass es keine hundertprozentige Garantie war. »Ich will nicht zu den Pennern gehören, die sich besinnungslos betrinken, so wie mein Vater, und die Menschen um mich herum gefährden. Und da du zufällig die Einzige bist, die mir etwas bedeutet, will ich in deiner Nähe nicht mehr trinken.«
»Ich liebe dich«, sagte sie schlicht.
»Und ich liebe dich.«
Um von dem ernsten Thema wegzukommen, betrachtete ich ihren Körper. Sie trug ein weißes T-Shirt von mir und nur noch einen schwarzen Slip darunter.
»Da du mich jetzt so gut rasieren kannst, muss ich dich vielleicht behalten. Du kochst, du putzt …«
Sie schlug nach mir und verdrehte die Augen. »Und was bekomme ich dafür? Du machst Unordnung, du hilfst nur einmal in der Woche beim Kochen, wenn überhaupt. Du bist ein Morgenmuffel …«
Ich unterbrach sie, indem ich ihr zwischen die Beine fasste und ihren Slip zur Seite schob.
»Ich schätze, du hast auch einen Vorzug«, grinste sie, als ich einen Finger in sie hineingleiten ließ.
»Nur einen?« Damit schob ich einen zweiten Finger in sie hinein, und sie stöhnte und ließ den Kopf in den Nacken fallen.
Der Barmann haut vor mir auf den Tresen. »Ich sagte, ›Bekommen Sie noch etwas?‹«
Ich blinzle ein paar Mal, blicke auf den Tresen und dann in sein Gesicht.
»Ja.« Ich gebe ihm das Glas, und die Erinnerung verblasst, während ich auf Nachschub warte. »Noch einen Doppelten.«
Während der alte Glatzkopf an der Bar entlanggeht, höre ich eine überraschte Frauenstimme. »Hardin? Hardin Scott?«
Ich drehe mich um. Hinter mir steht Judy Welch, eine alte – oder besser gesagt ehemalige – Freundin meiner Mutter. »Ja.« Ich nicke und bemerke, dass sie ziemlich alt geworden ist.
»Unglaublich! Wie lang ist das her? Sechs Jahre? Sieben? Bist du allein hier?« Sie legt mir die Hand auf die Schulter und hievt sich auf den Barhocker neben mir.
»Ja, so ungefähr, und ja, ich bin allein hier. Mom wird dir nicht nachjagen.«
Judy hat das traurige Gesicht einer Frau, die ihr Leben lang zu viel getrunken hat. Ihr Haar ist noch genauso blond wie damals, und ihre falschen Brüste wirken viel zu groß für ihre zierliche Statur. Ich weiß noch, wie sie mich das erste Mal berührt hat. Damals, als ich die Freundin meiner Mutter vögelte, kam ich mir vor wie ein Mann. Jetzt wird mir fast schlecht bei dem Gedanken.
Sie zwinkert mir zu. »Du bist definitiv erwachsen geworden.«
Der Barmann stellt mir das Glas hin, und ich leere es innerhalb von Sekunden.
»Gesprächig wie eh und je.« Sie tätschelt schon wieder meine Schulter und ruft dem Barmann ihre Bestellung zu. Dann wendet sie sich an mich. »Bist du hier, um deine Sorgen zu ertränken? Hast du Liebeskummer?«
»Weder noch.« Ich drehe das Glas zwischen den Fingern und lausche dem klimpernden Eis.
»Tja, also ich kämpfe mit beidem, also lass uns einen trinken«, sagt Judy mit einem Lächeln, an das ich mich vage erinnere, und bestellt zwei Gläser billigen Whiskey.
5
Tessa
Kimberly beschimpft Christian so wüst am Handy, dass sie danach erst mal anhalten muss, um Atem zu schöpfen. Sie drückt meine Schulter. »Ich hoffe nur, dass Hardin einfach ein wenig herumläuft, um den Kopf frei zu bekommen. Christian meinte, er bräuchte Abstand.« Sie schnaubt verächtlich.
Aber ich kenne Hardin. Ich weiß, dass er keinen klaren Kopf bekommt, wenn er ein wenig herumläuft. Wieder versuche ich, ihn anzurufen, werde aber direkt zur Mailbox weitergeleitet. Er hat sein Handy ausgeschaltet.
»Meinst du, er taucht vielleicht bei der Hochzeit auf?« Kim sieht mich an. »Um eine Szene zu machen?«
Ich möchte ihr sagen, dass er so etwas niemals tun würde, aber in seiner momentanen Verfassung ist es nicht auszuschließen.
»Ich weiß gar nicht, ob ich dir das vorschlagen kann«, sagt Kimberly behutsam, »aber vielleicht solltest du doch mit zur Hochzeit kommen – nur um sicherzugehen, dass er sie nicht sprengt? Außerdem sucht er vermutlich eh schon nach dir, und wenn ihr euch nicht erreicht, geht er da zuerst hin.«
Ich darf mir gar nicht vorstellen, Hardin könnte in der Kirche erscheinen und eine Szene machen. Aber für mich hätte es Vorteile, wenn er tatsächlich dorthin geht, denn sonst weiß ich nicht, wie ich ihn finden soll. Es ist kein gutes Zeichen, dass er sein Handy ausgeschaltet hat. Vermutlich will er nicht gefunden werden.
»Du hast recht. Vielleicht sollte ich draußen warten, vor der Tür?«, schlage ich vor.
Kimberly nickt mitfühlend, doch ihr Ausdruck verhärtet sich, als ein eleganter schwarzer BMW auf den Parkplatz biegt und neben uns hält.
Christian steigt aus und kommt auf uns zu. Er trägt einen Anzug. »Irgendwas von ihm gehört?«, fragt er und will Kimberly auf die Wange küssen – aus Gewohnheit, nehme ich an. Doch sie weicht zurück.
»Es tut mir leid«, höre ich ihn flüstern.
Sie schüttelt den Kopf und wendet sich mir zu. Arme Kimberly. Sie hat es nicht verdient, betrogen zu werden. Aber so ist das wohl mit dem Betrug: Er kann jeden erwischen und trifft die am härtesten, die ihn weder kommen sehen noch verdienen.
»Tessa kommt mit uns und hält auf der Hochzeit nach Hardin Ausschau«, erklärt sie. Dann sieht sie Christian in die Augen: »Wenn wir also alle drinnen sitzen, wird sie dafür sorgen, dass dieser feierliche Tag nicht noch mal gestört wird.« Ihre Stimme klingt gehässig, obwohl sie äußerlich ganz ruhig wirkt.
Christian schüttelt den Kopf. »Wir gehen nicht zu dieser verdammten Hochzeit. Nicht nach all diesem Mist.«
»Warum nicht?«, fragt Kimberly mit leerem Blick.
»Deswegen« – Vance deutet abwechselnd auf uns beide – »und weil meine beiden Söhne wichtiger sind als jede Hochzeit, ganz besonders diese. Ich erwarte nicht von dir, dass du lächelnd in einem Raum mit ihr sitzt.«
Kimberly wirkt überrascht, doch seine Worte scheinen sie etwas zu besänftigen. Ich beobachte sie und halte den Mund. Es wühlt mich auf, dass Christian Hardin und Smith gerade zum ersten Mal seine »Söhne« genannt hat. Ich möchte diesem Mann so vieles an den Kopf werfen und ihm richtig die Meinung sagen – aber es würde nichts bringen. Ich muss mich auf Hardin konzentrieren, muss herausfinden, wo er steckt und wie er mit den Neuigkeiten zurechtkommt.
»Die Leute werden reden. Besonders Sasha.« Kimberly verzieht das Gesicht.
»Lass sie reden. Ich interessiere mich nicht für Sasha oder Max oder irgendwen. Wir wohnen in Seattle, nicht in Hampstead.« Er nimmt ihre Hand, und sie lässt es zu. »Im Moment zählt für mich nur, wie ich meine Fehler wiedergutmachen kann«, sagt er mit wackliger Stimme. Meine eiskalte Wut auf ihn beginnt zu schmelzen, aber nur ein wenig.
»Du hättest Hardin nicht aussteigen lassen dürfen«, sagt Kimberly. Christian hält noch immer ihre Hand.
»Ich konnte ihn nicht aufhalten. Du kennst doch Hardin«, sagt er, und Kimberly nickt.
Ich ringe mich durch, etwas zu sagen. »Weißt du, wo er hingegangen sein könnte? Wo soll ich suchen, wenn er nicht bei der Hochzeit erscheint?«
»Also, ich habe gerade in den zwei Pubs nachgesehen, die um diese Zeit schon offen haben«, sagt Vance und runzelt die Stirn. Sein Gesicht wird weicher, als er mich ansieht. »Ich hätte es ihm nicht sagen dürfen, als du nicht dabei warst. Es war ein großer Fehler, und ich weiß, dass er dich jetzt dringend braucht.«
Mir fällt keine Antwort ein, die auch nur ansatzweise höflich wäre, also nicke ich einfach, ziehe mein Handy aus der Tasche und rufe noch mal bei Hardin an. Ich weiß, dass er sein Handy ausgeschaltet hat, aber ich muss es versuchen.
Während ich anrufe, sehen sich Kimberly und Christian an. Sie stehen da, Hand in Hand, und forschen schweigend in den Augen des anderen. Als ich auflege, wendet sich Christian an mich: »Die Trauung beginnt in zwanzig Minuten. Ich kann dich fahren, wenn du willst.«
Kimberly hebt die Hand. »Ich fahre sie. Du nimmst Smith und fährst ins Hotel.«
»Aber …«, setzt er an, doch dann sieht er ihr Gesicht und überlegt es sich wohlweislich anders. »Du kommst auch zum Hotel, oder?«, fragt er. In seinen Augen steht Angst.
»Ja.« Sie seufzt. »Ich werde nicht das Land verlassen.«
Christian sieht erleichtert aus und lässt Kimberlys Hände los. »Sei vorsichtig und ruf an, wenn du etwas brauchst. Du findest zur Kirche, oder?«
»Ja. Gib mir deinen Schlüssel.« Sie streckt eine Hand aus. »Smith ist eingeschlafen, und ich will ihn nicht wecken.«
Ich bewundere sie für ihre Nerven. An ihrer Stelle wäre ich vollkommen aufgelöst. Gut, das bin ich sowieso.
Keine zehn Minuten später lässt mich Kimberly vor einer kleinen Kirche raus. Die meisten Gäste sind schon reingegangen, nur ein paar Nachzügler stehen noch auf den Stufen. Ich setze mich auf eine Bank und suche die Straßen nach Hardin ab.
Von meinem Platz aus höre ich, wie der Hochzeitsmarsch einsetzt, und stelle mir vor, wie Trish in ihrem Hochzeitskleid auf den Altar und ihren Bräutigam zugeht. Sie lächelt und ist bildhübsch.
Aber die Trish in meinem Kopf passt nicht mit der Mutter zusammen, die ihrem einzigen Sohn verschweigt, wer sein Vater ist.
Die Treppe leert sich, und die letzten Gäste gehen in die Kirche, um bei der Trauung von Trish und Mike dabei zu sein. Minuten verstreichen, und ich höre fast jeden Ton, der aus der Kirche dringt. Eine halbe Stunde später jubelt die Hochzeitsgesellschaft, als Braut und Bräutigam zu Mann und Frau erklärt werden. Ich nehme das zum Anlass zu gehen. Ich weiß zwar nicht, wohin, aber ich kann nicht weiter hier sitzen und warten. Trish kommt bald aus der Kirche, und ich habe absolut keine Lust auf eine peinliche Begegnung mit der frischgebackenen Braut.
Ich gehe den Weg zurück, den wir gekommen sind, zumindest glaube ich das. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich weiß auch nicht, was ich sonst tun soll. Ich hole mein Handy raus und versuche es erneut bei Hardin, aber ohne Erfolg. Mein Akku ist schon halb leer, aber ich will das Handy nicht ausschalten, für den Fall, dass Hardin anruft.
Während ich suchend durch die Straßen irre und hier und da in Restaurants und Bars schaue, geht langsam die Sonne über London unter. Ich hätte Kimberly bitten sollen, mir einen ihrer Mietwagen zu leihen, aber daran habe ich in dem Moment nicht gedacht, und sie hat gerade andere Sorgen. Hardins Auto steht noch vor dem Gabriel’s, aber ich habe keinen Schlüssel dafür.
Die Schönheit von Hampstead verblasst mit jedem Schritt, den ich weiter in die weniger bekannten Straßen des Stadtbezirks vordringe. Meine Füße tun weh, und die Frühlingsluft wird kühler, als die Sonne untergeht. Ich wünschte, ich hätte nicht dieses Kleid und diese dummen Schuhe an. Hätte ich gewusst, was mir bevorsteht, hätte ich Sportklamotten und Sneakers angezogen … das würde die Suche nach Hardin erleichtern. Das wird in Zukunft meine Standardausrüstung sein, sollte ich jemals wieder mit ihm verreisen.
Nach einiger Zeit frage ich mich, ob mir meine Erinnerung einen Streich spielt oder ob ich die Straße, durch die ich hier laufe, tatsächlich kenne. Die kleinen Häuser zu beiden Seiten ähneln dem von Trish, aber auf der Herfahrt mit Hardin bin ich immer wieder eingeschlafen, und deshalb bin ich mir einfach nicht sicher. Ich bin froh, dass kaum jemand unterwegs ist, die Anwohner haben sich schon in die Häuser zurückgezogen. Es würde mich noch mehr verängstigen, wenn die Straße sich jetzt noch mit den Leuten aus den Pubs füllen würde. Als ich Trishs Haus in einiger Entfernung entdecke, weine ich fast vor Erleichterung. Es ist dunkel geworden, aber die Straßenlaternen sind an, und mit jedem Schritt wächst die Gewissheit, dass es wirklich ihr Haus ist. Ich weiß nicht, ob Hardin dort sein wird, aber ich bete, dass zumindest die Tür offen ist, damit ich mich setzen und etwas Wasser trinken kann. Ich irre schon seit Stunden umher. Ich habe Glück, dass ich in der einzigen Straße gelandet bin, die mir etwas nützen könnte.
Als ich näher komme, fällt mein Blick auf ein ramponiertes Leuchtschild in Form eines Biers. Die kleine Bar liegt an einer Straßenecke. Ich erschaudere. Es muss schwer für Trish gewesen sein, in ihrem Haus zu bleiben, so nah an der Bar, aus der ihre Angreifer gekommen sind, auf der Suche nach Ken. Hardin hat mir mal erzählt, dass sie sich einfach keinen Umzug leisten konnte. Es hat mich überrascht, dass er es mit einem Schulterzucken sagte, aber so ist das nun mal mit dem Geld.
Hardin ist dort drin, ich weiß es.
Ich gehe auf den kleinen Pub zu, und als ich die Stahltür aufziehe, schäme ich mich für mein Aussehen. Es muss total verrückt wirken, dass ich im Kleid in so eine Bar gehe, barfuß, die Schuhe in der Hand. Ich habe schon vor einer Stunde aufgegeben und sie ausgezogen. Jetzt lasse ich sie fallen und ziehe sie wieder an. Es tut weh, als die Riemchen an die wund gescheuerten Knöchel kommen.
Der Laden ist nicht voll, und es dauert nicht lange, bis ich Hardin an der Bar entdecke, wo er ein Glas an den Mund hebt. Meine Brust schnürt sich zusammen. Ich wusste, dass ich ihn in diesem Zustand finden würde, und trotzdem versetzt es meinem Glauben an ihn einen harten Schlag. Ich hatte so gehofft, dass er nicht darauf verfallen würde, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Ich hole tief Luft und gehe auf ihn zu.
»Hardin.« Ich tippe ihm auf die Schulter.
Er dreht sich um und sieht mich an. Als ich ihn betrachte, zieht sich mir alles zusammen. Seine Augen sind so rot, dass fast kein Weiß mehr zu sehen ist. Auch seine Wangen sind gerötet, und er riecht so stark nach Schnaps, dass ich ihn fast schmecken kann. Meine Hände werden feucht, mein Mund trocknet aus.
»Sieh mal, wer da ist«, lallt er. Das Glas in seiner Hand ist fast leer, drei weitere leere Gläser stehen vor ihm auf dem Tresen. »Wie hast du mich gefunden?« Er legt den Kopf in den Nacken und leert den letzten Rest aus seinem Glas, dann ruft er dem Barmann zu: »Noch einen!«
Ich stelle mich vor ihn und gehe ganz nah an sein Gesicht, sodass er nicht wegschauen kann. »Babe, ist alles in Ordnung?« Mir ist klar, dass gar nichts in Ordnung ist, aber ich muss erst mal seine Stimmung abschätzen und wie viel er getrunken hat, bevor ich weiß, wie ich mit ihm umgehen soll.
»Baby«, sagt er geheimnisvoll, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Doch dann wacht er auf und sieht mich mit einem Killerlächeln an. »Ja, ja, alles gut. Setz dich. Willst du was trinken? Trink einen – noch einen, bitte!«
Der Barkeeper schaut mich an, und ich schüttele den Kopf. Hardin bemerkt es nicht. Er zieht mir einen Hocker hin und klopft auf die Sitzfläche. Ich sehe mich in der kleinen Bar um, bevor ich mich setze.
»Also, wie hast du mich gefunden?«, fragt er erneut.
Ich bin verwirrt. Er ist eindeutig betrunken, aber das ist es nicht, was mich nervös macht. Es ist die unheimliche Ruhe in seiner Stimme. Ich kenne sie, und sie bedeutet nie etwas Gutes.
»Ich bin stundenlang herumgelaufen, dann habe euer Haus gegenüber erkannt, und da wusste ich … also, ich wusste, dass ich mal reinschauen sollte.« Ich erschauere bei den Erinnerungen an Hardins Geschichten, wie Ken Nacht für Nacht in genau dieser Bar verbracht hat.
»Meine kleine Detektivin«, sagt Hardin leise und hebt eine Hand an mein Gesicht, um mir die Haare hinters Ohr zu stecken.
Ich zucke nicht zurück, obwohl meine Unruhe wächst.
»Kommst du mit mir? Ich will zurück ins Hotel, und morgen Vormittag reisen wir ab.«
In dem Moment kommt der Barmann mit seinem Glas, und Hardin mustert es. »Noch nicht.«
»Bitte, Hardin.« Ich sehe in seine geröteten Augen. »Ich bin so müde, und ich weiß, dass du es auch bist.« Ich versuche, ihn mit meiner Schwäche zu überreden, ohne Christian oder Ken zu erwähnen. Ich beuge mich zu ihm hin. »Meine Füße bringen mich um, und du hast mir gefehlt. Christian hat dich gesucht, aber nicht gefunden. Ich bin weit gelaufen und würde jetzt wirklich gern zurück ins Hotel. Mit dir.«
Ich weiß, dass ich ihn nicht zu sehr bedrängen darf, weil er sonst ausflippt und seine Gelassenheit dahin ist.
»Er kann nicht lange gesucht haben. Ich bin in die nächste Bar gegangen« – Hardin hebt sein Glas – »direkt da, wo er mich rausgelassen hat.«
Ich schmiege mich an ihn, und er fängt an zu reden, bevor ich mir etwas Neues ausdenken kann. »Trink was. Meine Freundin wird dir einen ausgeben.« Er deutet auf die Gläser auf dem Tresen. »Wir sind uns zufällig in dieser anderen wundervollen Bar begegnet, aber weil es wie ein Abend aus einer anderen Zeit war, sind wir hierher umgezogen. Um der alten Zeiten willen.«
Mein Magen zieht sich zusammen. »Freundin?«
»Eine alte Freundin der Familie.« Er nickt in Richtung einer Frau, die gerade von der Toilette kommt. Sie sieht aus wie Ende dreißig oder Anfang vierzig und hat blondiertes Haar. Ich bin erleichtert, dass es kein junges Mädel ist, da Hardin offensichtlich schon länger mit ihr trinkt.
»Ich glaube wirklich, wir sollten gehen«, wiederhole ich und greife nach seiner Hand.
Er reißt sie weg. »Judith, das ist Theresa.«
»Judy«, korrigiert sie ihn, während ich »Tessa« sage.
»Angenehm.« Ich ringe mir ein Lächeln ab und wende mich wieder an Hardin. »Bitte«, dränge ich.
»Judy wusste, dass Mom eine Hure war«, sagt Hardin, und wieder schlägt mir der Geruch von Alkohol entgegen.
»Das habe ich nicht gesagt.« Die Frau lacht. Sie ist zu jugendlich gekleidet für ihr Alter. Ihr Top ist sehr tief ausgeschnitten, und ihre Schlaghose sitzt zu eng.
»O doch, das hat sie. Mom hasst Judy!« Hardin lächelt.
Die fremde Frau erwidert sein Lächeln. »Tja, woran das wohl liegt?«
Ich fühle mich mehr und mehr ausgeschlossen. »Woran denn?«, frage ich, ohne nachzudenken.
Hardin wirft ihr einen warnenden Blick zu und winkt ab. Ich muss mich zurückhalten, um ihn nicht vom Hocker zu stoßen. Wüsste ich nicht, dass er nur seinen Schmerz übertüncht, würde ich es tun.
»Das ist eine lange Geschichte, Süße.« Judy winkt dem Barmann. »Egal, du siehst aus, als könntest du einen Tequila vertragen.«
»Nein, danke.« Bloß keinen Drink.
»Entspann dich, Baby.« Hardin beugt sich zu mir rüber. »Du hast schließlich nicht gerade erfahren, dass dein ganzes Leben eine verfickte Lüge ist, also mach dich locker und trink einen mit mir.«
Seine Wut bricht mir das Herz, aber Trinken ist keine Lösung. Ich muss ihn hier rausbekommen. Jetzt.
»Möchtest du deinen Margarita mit gestoßenem Eis oder Eiswürfeln? Das hier ist kein edler Schuppen, die Auswahl ist begrenzt«, meint Judy.
»Ich sagte, ich will keinen verdammten Drink«, schnauze ich.
Ihre Augen weiten sich, doch sie erholt sich schnell. Ich bin über meinen Ausbruch fast so überrascht wie sie. Hardin lacht leise, aber ich behalte diese Frau im Augen, die es ganz eindeutig genießt, dass sie ihre Geheimnisse hat.
»Also gut. Hier muss sich jemand entspannen.« Sie kramt in ihrer übergroßen Handtasche, zieht eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug heraus und zündet sich eine an. »Auch?«, fragt sie Hardin.
Ich sehe ihn an, und zu meiner Überraschung nickt er. Judy nimmt die angezündete Zigarette aus dem Mund und langt um mich herum, um sie Hardin zu geben. Wer zur Hölle ist diese Frau?
Das widerliche Ding steckt jetzt zwischen Hardins Lippen, und er zieht daran. Der Rauch kringelt sich zwischen uns, und ich halte mir Mund und Nase zu.
Wütend blitze ich ihn an. »Seit wann rauchst du?«
»Ich habe immer geraucht. Nur nicht an der WCU.« Er zieht erneut. Die rote Glut an der Spitze verhöhnt mich, und ich reiße sie ihm aus dem Mund und werfe sie in sein halb volles Glas.
»Was soll der Scheiß?«, ruft er aus und starrt in seinen Drink.
»Wir gehen. Jetzt.« Ich lasse mich vom Hocker gleiten und ziehe Hardin am Ärmel.
»Nein.« Er macht sich los und versucht, dem Barmann zu winken.
»Er will nicht gehen«, schaltet sich Judy ein.
Ich koche vor Wut, und diese Frau geht mir auf die Nerven. Ich blicke tief in ihre spöttischen Augen, die ich unter den Bergen von Make-up, die sie sich ins Gesicht gekleistert hat, kaum finden kann. »Ich erinnere mich nicht, Sie gefragt zu haben. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten und trinken Sie mit jemand anderem weiter, denn wir gehen!«, rufe ich.
»Ich sagte, ich will nicht gehen«, wiederholt Hardin stur.
Ich ziehe hier alle Register, doch er hört nicht auf mich. Mir bleibt also nur noch, ihn eifersüchtig zu machen – ich weiß, es ist ein Schlag unter die Gürtellinie, besonders in seinem Zustand, aber er lässt mir keine andere Wahl.
»Tja«, sage ich und sehe mich demonstrativ in der Bar um. »Wenn du mich nicht zum Hotel bringst, muss ich mir eben jemand anderes suchen.« Mein Blick fällt auf den jüngsten Typen in diesem Laden, der mit Freunden am Tisch sitzt. Ich gebe Hardin ein paar Sekunden Zeit, doch als er schweigt, gehe ich auf den Tisch mit den Männern zu.
Im nächsten Moment packt mich Hardin am Arm. »Scheiße, nein, vergiss es.«
Ich wirbele herum und bemerke den Barhocker, den er in seiner Eile umgeworfen hat, und Judys unkoordinierten Versuch, ihn wieder aufzustellen.
»Dann bring mich ins Hotel«, antworte ich und werfe den Kopf zurück.
»Ich bin total betrunken«, sagt er, als würde das alles entschuldigen.
»Ich weiß. Wir können ein Taxi zu Gabriel’s nehmen, und von dort fahre ich uns mit dem Mietwagen ins Hotel.« Ich bete, dass dieser Trick funktioniert.
Hardin kneift die Augen zusammen und sieht mich an. »Du hast alles voll im Griff, habe ich recht?«, murmelt er sarkastisch.
»Nein, aber es bringt nichts, wenn du hierbleibst, also zahlst du jetzt, und wir gehen, oder ich suche mir jemand anderen.«
Er lässt meinem Arm los und tritt auf mich zu. »Komm mir nicht mit Drohungen. Ich kann genauso gut mit jemand anderem gehen«, sagt er ganz nah an meinem Gesicht.
Die Eifersucht sticht, doch ich achte nicht darauf. »Dann los, geh mit Judy. Ich weiß, dass du schon mit ihr geschlafen hast. Ich sehe es euch an.« Ich straffe die Schultern und provoziere ihn mit fester Stimme.
Er schaut erst mich an, dann sie, und lächelt leicht. Als ich das Gesicht verziehe, verfinstert sich seine Miene. »Es war nichts Besonderes. Ich erinnere mich kaum.« Er versucht, mich zu trösten, bewirkt aber genau das Gegenteil.
»Also, wie sollen wir es machen?« Ich hebe die Braue.
»Verdammt«, brummt er, dann torkelt er zur Bar und zahlt. Es sieht aus, als würde er einfach seine Taschen auf den Tresen leeren, und nachdem der Barmann ein paar Scheine genommen hat, schiebt er Judy den Rest zu. Sie sieht ihn an, dann mich, und sinkt ein wenig in sich zusammen, als hätte ihr Rücken die Spannung verloren.
Als wir rausgehen, sagt Hardin: »Judy lässt noch mal grüßen.«
Ich explodiere fast.
»Red bloß nicht von ihr«, rufe ich.
»Bist du eifersüchtig, Theresa?«, lallt er und schlingt die Arme um mich. »Fuck, ich hasse diese Stadt, diese Bar und dieses Haus.« Er deutet auf das kleine Gebäude auf der anderen Straßenseite. »He! Soll ich dir was Lustiges erzählen? Hier hat Vance einmal gewohnt.« Hardin deutet auf das Backsteinhaus neben der Bar. Im ersten Stock brennt schwaches Licht, und in der Einfahrt steht ein Auto. »Ich frage mich, wo er in der Nacht war, als die Männer zu uns gekommen sind.« Hardin sucht den Boden ab und bückt sich. Ehe ich mich versehe, hat er einen Stein in der Hand und holt aus.