Alarm im Sommerlager - René Bote - E-Book

Alarm im Sommerlager E-Book

René Bote

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Beschreibung

Der Diebstahl der Lagerfahne ist eine böse Überraschung für die Pfadfinder und Pfadfinderinnen in ihrem großen Sommerlager. Trotzdem, wenn es nur das gewesen wäre, Estelle hätte es als dummen Streich abgetan. Doch was die Täter ihrer kleinen Schwester angetan haben, ist alles andere als ein Scherz, und damit wird sie sie nicht davonkommen lassen. Zusammen mit ihrer besten Freundin Leonie und ihrem Kameraden Jeremy macht sie sich auf die Suche. Als die drei merken, dass sich hinter der Sache mehr verbirgt, als sie denken, sind sie bereits in höchster Gefahr.

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Der kleine Colin merkte es als Erster. Als er aus dem Zelt kroch, war es erst kurz nach halb sechs und sonst noch keiner der fast siebzig Pfadfinder und Pfadfinderinnen wach. Es war der vierte Tag des großen Sommerlagers im Münsterland, und die Kinder und Jugendlichen hatten sich häuslich eingerichtet. Dazu gehörte natürlich auch ein Mast mit der Lagerfahne, doch jetzt stand der entastete und zwei Meter tief eingegrabene Baumstamm nackt da.

Colin sah es, vergaß auf der Stelle, dass er dringend auf die Toilette musste, und rannte über die Wiese zu den Zelten der Leiterinnen und Leiter. „Gunnar! Andi!“, rief er seine Gruppenleiter, während er sich an den Schnüren zu schaffen machte, die den Zelteingang verschlossen. „Die Fahne ist weg!“

Damit weckte er nicht nur die beiden Leiter, die zusammen mit Maxine für die Wölflinge zuständig waren, die Acht- bis Zehnjährigen und damit Jüngsten im Lager. Auch die anderen Leiter und Leiterinnen wurde aus dem Schlaf gerissen, und ein Teil der Rover, wie die älteste der vier Altersstufen hieß. Köpfe wurden aus den Zelten gestreckt, und Colin sprudelte atemlos seine Beobachtung hervor.

Kaum eine Minute später standen zwei Dutzend Jugendliche und junge Erwachsene vor dem Fahnenmast, sahen aber auch nicht mehr als der Wölfling: Die Fahne, die am Vorabend noch dort geflattert hatte, war weg.

Nach dem ersten Schreck begannen zwei von den Rovern, die Umgebung des Fahnenmasts abzusuchen. Vielleicht war die Fahne ja nur vom Wind abgerissen und ein Stück davongeweht worden? Sehr wahrscheinlich schien das allerdings nicht, die Fahne war gut befestigt und die Nacht nicht windig gewesen. Gunnar prüfte es, indem er sich von Andi eine Räuberleiter machen ließ, um die Kordeln zu untersuchen, die immer noch oben um den Mast geschlungen waren. „Sauber durchgeschnitten!“, meldete er. „Eindeutig.“

Also war die Fahne mutwillig entfernt worden. Aber von wem? „Wer macht das denn?“, fragte Colin entgeistert. Er war noch nicht lange bei den Pfadfindern, und es war sein erstes Lager. „Früher gab’s das häufiger“, erklärte Maxine ihm. „Das war mehr oder weniger ein Spiel, dass die Pfadfinder aus dem Ort versucht haben, denen, die bei ihnen in der Nähe ihr Lager hatten, die Fahne zu klauen. Meistens wurde sie dann gegen Süßigkeiten zurückgegeben, oder die Pfadfinder aus dem Lager mussten sie bei einer Schnitzeljagd wiederfinden. Aber in den letzten Jahren gab’s das eigentlich nicht mehr.“ „Und jetzt?“, wollte Colin wissen. Maxine zuckte mit den Schultern. „Abwarten“, meinte sie. „Wenn’s die Pfadfinder von hier waren, dann werden sie schon eine Nachricht schicken, wie wir unsere Fahne zurückbekommen sollen. Vielleicht haben sie auch irgendwo einen Zettel hingelegt.“

Eine Stunde später wussten alle Bescheid, und die Aufregung war groß, vor allem bei den Jüngeren. Die Leiter und Leiterinnen wollten die Sache nicht zu hoch hängen, und versuchten beruhigend auf die Kinder einzuwirken. Gunnar befragte die Wachen, die wie in jeder Nacht aufgestellt worden waren, doch die hatten nichts bemerkt. Die Räuber mussten die Sache gründlich geplant und herausgefunden haben, dass die letzte Wachschicht um fünf Uhr endete. Danach noch Wachen aufzustellen, hatte niemand für nötig erachtet, weil es da ohnehin schon wieder hell war. Die kurze Spanne zwischen dem Abzug der letzten Wachen und dem Wachwerden der ersten Frühaufsteher hatten die Diebe perfekt abgepasst. Ganz ungefährlich war das nicht gewesen, eben weil der Schutz der Dunkelheit nicht mehr gegeben gewesen war, und wenn Colin ein paar Minuten früher von seiner Blase geweckt worden wäre … Allerdings war es ganz gut, dass er die Fahnendiebe verpasst hatte, denn selbst wenn die abgehauen wären, sobald sie ihn bemerkt hätten, hätte er den Schreck seines Lebens bekommen.

In der allgemeinen Aufregung ging zunächst völlig unter, dass nicht nur die Fahne fehlte. Erst als das Leitungsteam versuchte, die Kinder und Jugendlichen an den Frühstückstisch zu bringen, schnappte Estelle sich ihre Kameradin Mila und zog sie zur Seite. Estelle war zwölf und gehörte den sogenannten Jungpfadfindern an, Mila war noch bei den Wölflingen, würde aber beim Stufenwechsel im Herbst ebenfalls aufrücken. „Weißt du, wo Lotta steckt?“, fragte Estelle. „Ich hab sie die ganze Zeit noch nicht gesehen.“ Lotta, eigentlich Carlotta, war ihre vier Jahre jüngere Schwester und schlief mit Mila in einem Zelt.

Mila stutzte, überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Keine Ahnung“, antwortete sie. „Vielleicht auf dem Klo?“ „Kaum“, meinte Estelle zweifelnd. „So lange? Ich suche schon eine ganze Weile nach ihr.“ Darauf wusste Mila nichts zu sagen, und Estelle ließ sie gehen. Besorgt ließ sie abermals den Blick über den Lagerplatz schweifen – nein, keine Spur von ihrer Schwester. Entschlossen ging sie über die Wiese zum Zelt der Wölflings-Mädchen, bückte sich und schob die Zeltbahn am Eingang zur Seite. Wenn sie jemand sah, war das kein Beinbruch, die meisten wussten, dass Lotta ihre Schwester war.

Das Zelt war verwaist. Die Schlafsäcke waren leer, und dazwischen herrschte zwar Chaos, aber es gab nichts, was groß genug war, um eine durchschnittlich große Achtjährige zu verdecken.

Estelle überlegte kurz und beschloss dann, doch Milas Idee aufzugreifen und auf der Toilette nachzusehen. Die Toiletten und Duschen waren in einem einfachen Bungalow untergebracht, der neben der Zufahrt stand und auch das einzige Gebäude auf der Anlage war.

Doch falls Lotta sich nicht in die rechte Hälfte des Bungalows verirrt hatte, die den Jungen vorbehalten war, war sie auch nicht auf der Toilette oder unter der Dusche. Jetzt hatte Estelle endgültig keine Idee mehr, wo ihre Schwester stecken konnte.

Als sie das Gebäude verließ, hatte sie die Rückseite der Zeltreihe im Blick. Die Zelte der Wölflinge waren die ersten, wohl damit die Kinder, die am frühesten ins Bett mussten, möglichst weit weg waren von den Älteren, die deutlich länger auf waren. Estelle fiel auf, dass bei den Wölflings-Mädchen die Zeltleinwand nicht ordentlich gespannt war, und daneben entdeckte sie im Gras etwas Orangerotes. Ein Erdnagel, wie sich auf den zweiten Blick herausstellte, einer von denen, die dazu verwendet wurden, die Zeltbahnen am Boden zu befestigen. Anders als bei anderen Zeltarten waren Seitenwände und Boden nicht vernäht, die Seitenwände endeten in einem breiten Streifen aus weichem Plastik, der unter die Bodenplane geschlagen wurde. Eben damit der Rand nicht herausrutschte, wurden die Seitenwände in kurzen Abständen am Boden festgemacht.

Estelle beschloss, das zu reparieren, sonst würden Lotta und die anderen Wölflings-Mädchen mehr als nur nasse Füße bekommen, wenn es mal ordentlich regnete. Sie erreichte die Stelle, stopfte den Rand der Zeltwand wieder unter die Bodenplane und griff nach dem Erdnagel. Wie konnte der eigentlich freigekommen sein? Hatten die Mädchen ihn nicht richtig eingeschlagen? Kaum vorstellbar, Maxine hatte den Mädchen geholfen, schon weil die nicht die Kraft hatten, den Mast allein aufzurichten, und sicherlich am Ende alles kontrolliert. Außerdem verschwand der Erdnagel fast bis zum Haken am oberen Ende in dem Loch, in dem er gesteckt hatte, er war auf jeden Fall tief genug drin gewesen. Eigentlich konnte er nicht von allein herausgefallen sein, auch nicht herausgezogen vom Wind, der an den Zeltplanen gezerrt hatte. Da hätte es schon sehr, sehr stürmisch sein müssen, das hätte Estelle gemerkt, und vor allem hätte man dann auch bei den anderen Erdnägeln etwas sehen müssen.

Die Erleuchtung kam Estelle, als ihr Blick auf der Suche nach etwas, womit sie den Erdnagel wieder fest einschlagen konnte, auf den Boden unter den Büschen fiel, die die Wiese hinter den Zelten begrenzten. Dort war die Erde zerkratzt, bei genauerem Hinsehen sah es aus wie eine Schleifspur, die ins Gebüsch führte. Hatten die Mädchen heimlich einen Ausflug in den Wald gemacht? Die Ersten, die durch die nicht vorhandene Hintertür ausrückten, wären sie damit nicht gewesen. Im letzten Sommerlager zwei Jahre zuvor, da war sie noch Wölfling gewesen, war Estelle selbst mit zwei Freundinnen heimlich ins Freie geschlüpft, um sich für einen Streich zu revanchieren, den die Jungen ihnen tagsüber gespielt hatten. Wahrscheinlich gab es das seit Jahr und Tag, dass die Kontrolle der Nachtruhe aus unterschiedlichen Anlässen so umgangen wurde.

Estelle stemmte sich hoch, warf noch einen Blick zurück zu den Tischen und Bänken vor dem Küchenzelt und folgte dann der Spur. Die Fährte führte zwischen den Büschen hindurch und weiter in das Waldstück, das sich auf dieser Seite an den Zeltplatz anschloss. Unter den Bäumen war sie nicht mehr so deutlich auszumachen, bedingt durch den trockenen Boden, aber Estelle fand genug Anhaltspunkte, um die Richtung nicht zu verlieren. Wer auch immer die Spur hinterlassen hatte, er oder sie war stur geradeaus gegangen.

Nach zwanzig Metern blieb Estelle stehen, als wäre sie plötzlich genauso fest verwurzelt wie die Bäume um sie herum. Da war Lotta – gefesselt an einen Baum und mit einem Tuch geknebelt, damit sie nicht schreien konnte. Und sie war nicht allein, ein paar Meter weiter befand sich einer der Wölflings-Jungen, Jari, in derselben misslichen Lage. Von ihm führte ebenfalls eine Spur zurück zu den Zelten.

Estelle löste sich aus ihrer Erstarrung und stürzte zu ihrer Schwester. „Lotta!“, rief sie. „Bist du okay?“ Dabei konnte Lotta gar nicht antworten, das Tuch, das ihr stramm über den Mund gebunden worden war, unterdrückte jeden Laut. Sonst wäre sie auch schon längst gefunden worden, so weit weg von den Zelten war sie nicht.

Hastig löste Estelle das Tuch, dessen Enden am Hinterkopf verknotet waren. Es dauerte ein paar Augenblicke, einerseits, weil der Knoten sehr fest war, andererseits, weil Lotta unwillkürlich schauen wollte, was ihre Schwester machte, und dabei natürlich den Kopf bewegte. Endlich gab der Knoten nach, und Lotta atmete hastig ein. Es schien nicht so, als hätte sie Luftnot gehabt, aber allein die Angst, die Nase könnte sich zusetzen, musste eine Qual gewesen sein, die Estelle sich gar nicht ausmalen wollte.

Instinktiv riss Estelle an den Fesseln, um ihre Schwester vollends zu befreien. Doch die Stricke – Sprungseile, wie sie nebenbei feststellte – saßen bombenfest, und die Knoten hatten sich so zugezogen, dass Estelle keine Chance hatte, sie mit den Fingern zu öffnen. Wahrscheinlich hatte Lotta an den Fesseln gezerrt, in der Hoffnung, sie zu lockern, und damit das Gegenteil erreicht. „Das wird nichts“, sagte Estelle. „Ich brauche ein Messer.“

Dabei fiel ihr Blick auf Jari, der immer noch geknebelt war. Verflixt, sie musste Ordnung in den Kopf kriegen, das Wichtigste zuerst und dann den Rest! Sie lief hinüber und befreite auch Jari von seinem Knebel. Das Tuch war ein Pfadfinder-Halstuch, allerdings nicht sein eigenes; es war rot, das war die Farbe der Rover, die Wölflinge trugen Orange. Lottas Knebel war ebenfalls ein Halstuch, in ihrem Fall in Grau, das sonst die Leiter und Leiterinnen trugen.

Estelle versuchte, die beiden Wölflinge wenigstens ansatzweise zu beruhigen, und überlegte gleichzeitig, was sie machen sollte. Mit bloßen Händen konnte sie die Fesseln nicht lösen, auch die von Jari saßen zu fest. In der Tasche hatte sie nur ihr Handy, aber nichts, womit sie den Fesseln zu Leibe hätte rücken können. Auf dem Boden lag auch nichts, was nützlich gewesen wäre, Hinterlassenschaften rücksichtsloser Wanderer gab es an dieser Stelle nicht.

Zurückzugehen zu den Zelten und ein Messer zu holen, widerstrebte Estelle jedoch. Es hätte bedeutet, Lotta und Jari alleinzulassen, und das wollte sie nicht nach allem, was die beiden durchgemacht hatte, auch wenn es nicht lange gedauert hätte und sie nicht weit weg gewesen wäre. Sie hätte rufen können, doch dann wären alle angerannt gekommen. 1001 Fragen, die von allen Seiten auf sie einprasselten, waren aber das Letzte, was Lotta und Jari jetzt brauchen konnten.

Damit blieb nur eins: Sie nahm ihr Handy und schickte eine Kurznachricht an ihre beste Freundin Leonie und an Jaris Bruder Jeremy. Sie formulierte den Text sorgfältig und erwähnte die beiden gefesselten Wölflinge nicht einmal. Das musste sein, denn der Schrecken, den Leonie und Jeremy bekommen hätten, wäre nicht unbemerkt geblieben. Sie ließ es so aussehen, als hätte sie etwas gefunden, das sie erst mal nicht allen zeigen wollte, und das war ja nicht mal komplett gelogen. Auf die Dauer würde sich nicht verheimlichen lassen, dass Lotta und Jari in den Wald verschleppt worden waren, und das wollte sie auch gar nicht. Aber es sollte in geordneten Bahnen verlaufen, ohne Chaos; Angst und Aufregung hatten die beiden mehr als genug gehabt. Bei Jeremy versuchte sie den Eindruck zu erwecken, dass sein Wissen gefragt war, ohne ins Detail zu gehen. Das konnte ihn nicht stutzig machen, weil er sich intensiver mit Tricks und Überlebenstechniken befasste als die meisten anderen. Gleichzeitig erklärte es, warum Estelle ausgerechnet ihn holte, so viel hatten sie sonst nicht miteinander zu tun, auch wenn sie in der Schule in dieselbe Klasse gingen und gut miteinander auskamen.

Zum Glück schafften es beide, sich vom Rest der Gruppe abzusetzen, ohne aufzufallen. Estelles Nachricht war wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, noch hatten nicht alle am Tisch gesessen; wenn sie dann wieder aufgestanden wären, hätte das sicherlich Fragen aufgeworfen.

Was sie leider nicht schafften, war, ordentliches Werkzeug zu besorgen. Von ihren Eltern, die als Kinder und Jugendliche auch bei den Pfadfindern gewesen waren, wusste Estelle, dass früher immer einige Fahrten- oder wenigstens Taschenmesser gehabt hatten. Doch diese Zeiten waren vorbei, das Mitbringen jeglicher Messer außer dem im Campingbesteck war streng verboten. Die Küchenmesser waren unter Verschluss, wenn sie nicht gebraucht wurden, ebenso das Werkzeug, zu dem auch Beile und Sägen gehörten. Leiter und Leiterinnen hatten natürlich Zugriff, aber von denen wollte Estelle niemanden rufen; damit wollte sie warten, bis sie sicher sein konnte, dass sie damit nicht das ganze Lager wieder aufscheuchte.

Die Fesseln zu lösen, wurde auf diese Weise ein Kraftakt. Jeremy säbelte mit dem Besteckmesser an den Sprungseilen herum, die seinen Bruder an den Baum fesselten, Leonie hatte ihre Nagelschere aus dem Zelt geholt und schnippelte damit an Lottas Fesseln herum. Die Schere war zwar scharf, aber kurz, Leonie musste Faser für Faser durchschneiden und immer wieder neu nach dem nächsten Ansatzpunkt suchen. Dazu kam, dass sie und Jeremy natürlich die Gefesselten nicht verletzen wollten. Estelle pendelte zwischen den beiden Bäumen, die unfreiwillig zu Komplizen der Entführer geworden waren, und versuchte, Lotta und Jari aufzumuntern.