Alea Aquarius 6. Der Fluss des Vergessens - Tanya Stewner - E-Book
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Alea Aquarius 6. Der Fluss des Vergessens E-Book

Tanya Stewner

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Beschreibung

Sehnsüchtig erwartet: Mit Band 6 der Bestseller-Reihe von Tanya Stewner gehen die Abenteuer mit Alea Aquarius in eine neue Runde. Sämtlicher Erinnerungen beraubt, muss sich die Alpha Cru erst wieder neu orientieren. Wer hat es auf sie abgesehen? Wer ist dieser Mann mit dem schwarzen Mantel und dem Leierkasten, der sie vom Ufer aus beobachtet? Und gab es ursprünglich noch mehr Bandenmitglieder? Alea wäre nicht Alea, wenn sie nicht trotz aller Widrigkeiten den Kampf mit ihren Gegenspielern aufnehmen würde, um ihre Freunde zu retten.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über dieses Buch

Sacht glitt die Crucis über die Wellen der Elbe und schien im stillen Einklang mit dem Fluss, der sich wie ein sanfter Riese durchs Land schlängelte. Alea stand am Bug. Sie hatte sich schon immer auf unerklärliche Weise von der Elbe angezogen gefühlt. Und doch hatte Alea in ihrem bisherigen Leben kaum etwas mit Wasser zu tun gehabt. Sie hatte nie schwimmen gelernt. Warum eigentlich nicht? Angestrengt versuchte Alea, sich zu erinnern …

 

Sämtlicher Erinnerungen beraubt, müssen sich Alea und die Alpha Cru erst wieder neu orientieren. Sie segeln über die Flüsse in Richtung Marseille. Doch plötzlich werden sie angegriffen! Wer hat es auf sie abgesehen? Wer ist dieser Mann mit dem schwarzen Mantel und dem Leierkasten, der sie vom Ufer aus beobachtet? Und gab es ursprünglich noch mehr Bandenmitglieder?

 

Alea wäre nicht Alea, wenn sie nicht trotz aller Widrigkeiten den Kampf mit ihren Gegenspielern aufnehmen würde, um ihre Freunde zu retten.

 

Der sechste Band der großen Meermädchen-Saga von Bestsellerautorin Tanya Stewner

 

 

 

 

Für Jana, die mein guter Wellenschlag ist

 

 

 

 

Sie setzte alles auf eine Karte und sprang in den Fluss, um der alten Frau mit der türkisfarbenen Haut zu folgen. Doch als sie die Oberfläche auf sich zukommen sah, fragte sie sich plötzlich, ob das nicht eine hochgradig bescheuerte Idee gewesen war. Einen Moment später stürzte sie ins Wasser, und es schlug über ihrem Kopf zusammen. Kaltes Grauen ergriff Besitz von ihr. Würde sie ertrinken?

Alea erwachte mit einem seltsamen Gefühl, das sich in den wenigen Augenblicken zwischen Traum und Wirklichkeit in herzrasendes Erschrecken verwandelte. Kerzengerade fuhr sie in die Höhe. Ihr Herzschlag pochte laut und schnell in ihren Ohren, und mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, sich zu orientieren. Was war geschehen? Wo war sie?

Hektisch sah sie sich um. Sie befand sich in einer kleinen Kajüte in der unteren Koje eines Stockbettes. Alea griff sich an den Kopf. Es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Bilder, Wörter, Gesichter … alles wirbelte durcheinander wie in einem tosenden Orkan. Angestrengt rieb sie sich die Schläfen. Eines der Wörter, die sich in ihrem Kopf drehten, war Crucis. Sie konzentrierte sich darauf. Natürlich!, dachte sie im nächsten Moment. Ich bin auf der Crucis!

Am Tag zuvor hatte Alea dieses alte Segelschiff zum ersten Mal betreten, nachdem sie stundenlang auf einer Bank am Hamburger Hafen gesessen und darauf gewartet hatte, dass Marianne anrief. Ihre Pflegemutter war gestern wegen eines Herzinfarktes mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus eingeliefert worden, und für Alea waren die Ereignisse ein absoluter Albtraum gewesen. Nicht nur, dass sie Marianne furchtbar lieb hatte und sich schreckliche Sorgen um sie machte. Alea befürchtete auch, zu einer neuen Pflegefamilie geschickt zu werden, und hatte sich zunächst nicht getraut, ins Krankenhaus zu fahren. Denn womöglich wartete dort jemand vom Jugendamt auf sie …

Alea massierte sich die Stirn und versuchte, aus dem Durcheinander in ihrem Kopf die Puzzlestücke herauszufischen, die ihr am ehesten helfen würden, ein Gesamtbild zu erkennen. Ja, sie hatte voller Angst auf dieser Bank gesessen, und dann … dann war die Crucis in den Hafen eingefahren. Zwei Jugendliche und ein etwa neunjähriger Junge waren von Bord geklettert und hatten vor einem nahe gelegenen Café Straßenmusik gemacht. Verdammt gute Musik. Alea erinnerte sich genau an den Song und an Tess’ Stimme …

Ja, Tess! Das Mädchen mit der Rockröhre hieß Tess, und die beiden Jungs waren Brüder. Ben und Sammy. Langsam klärten sich Aleas Gedanken, und die durcheinandertobenden Informationen kreisten nicht mehr ganz so wild umher.

Ben hatte Alea zum Abendessen auf das Schiff eingeladen, und obwohl sie normalerweise nicht so schnell neue Freundschaften schloss, war sie an Bord gegangen. Irgendetwas an diesem Schiff und dem ungewöhnlichen Trio gefiel ihr. Sie hatten sich unterhalten. Die drei waren eine Bande und nannten sich die Alpha Cru, wegen irgendeines Sternbildes. Sammy wollte, dass Alea ebenfalls Mitglied wurde, und so hatten sie das Aufnahmeritual gemacht – eine Sache, die allen überraschend ernst gewesen war. Und durch das alte lateinische Buch hatte Alea ihren Bandennamen Aquarius erhalten.

Alea Aquarius.

Der Name verursachte ein Kribbeln in ihrem Nacken. Er klang … groß. Wichtig. Und dabei war er doch nur Teil eines Spiels. Oder etwa nicht?

Alea erinnerte sich, dass sie der Cru von ihrer Pflegemutter und dem Infarkt erzählt hatte, woraufhin sie zusammen ins Krankenhaus gefahren waren. Niemand vom Jugendamt war dort gewesen, niemand hatte etwas von einer neuen Familie gesagt. Alea hatte unbehelligt mit Marianne sprechen können, die sich während der kommenden Wochen schonen und wahrscheinlich eine Reha machen musste. Für die Dauer der Sommerferien durfte Alea bei der Alpha Cru bleiben. Wenn im August jedoch in Hamburg die Schule wieder begann, würde Alea in ihr normales Leben mit Marianne zurückkehren.

Alea zog die Augenbrauen zusammen. Hatte Marianne ihr wirklich erlaubt, mit der Alpha Cru zu segeln? Die Ereignisse des vergangenen Abends lagen halb verschüttet unter dem Geröllhaufen, den der Gedanken-Orkan in ihrem Kopf hinterlassen hatte, und alles wirkte eigenartig undeutlich. Was war nur mit ihr los?

Leise schlüpfte Alea unter ihrer Bettdecke hervor und schaute aus dem Bullauge der Kajüte. Sie waren noch immer im Hamburger Hafen, genau dort, wo die Crucis gestern angelegt hatte.

Ein zartes Schnaufen erklang. In der oberen Koje des Stockbettes lag Tess. Natürlich, sie teilten sich ja die Mädchenkajüte! Ihre Zimmerkameradin schlief noch tief und fest, und Alea konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu betrachten. Tess hatte schokoladenbraune Haut, Dreadlocks und schöne Hände, die aussahen, als könnten sie ordentlich zupacken. Im Schlaf erschien die Piratenprinzessin, wie Sammy sie gestern immer wieder genannt hatte, viel verletzlicher als bei den Gesprächen, die sie am Tag zuvor geführt hatten. Da hatte Tess sehr tough gewirkt und Alea mit ihrer Lässigkeit beeindruckt. Im Gegensatz dazu empfand Alea sich selbst als ziemlich linkisch und unbeholfen und war bestimmt noch nie von jemandem für irgendetwas bewundert worden. Außer vielleicht für ihre Mode-Ideen. Ihr Styling fanden manche Leute cool, das wusste Alea. Dabei war es um so vieles eindrucksvoller, wenn man eine tolle Persönlichkeit hatte anstatt nur ein tolles Outfit.

Alea lächelte die schlafende Tess an. Sie hoffte, dass dieses Mädchen, das bestimmt auf jedem Schulhof wie keine Zweite aus der Menge herausstach, ihre Freundin werden würde.

Auf Zehenspitzen schlich Alea aus der Kajüte in den Salon der Crucis. Als sie die Tür hinter sich zuzog, wurde ihr schwindelig, und sie musste sich an der Klinke festhalten.

»Ahoi!«, hörte sie Sammy rufen. Sammy hieß mit vollem Bandennamen Samuel Draco – eigentlich Samuel Walendy – und war das jüngste Bandenmitglied. Der Neunjährige kam barfüßig herangehüpft. »Ist dir auch schlecht? Ben hat grade gekotzt!«

Der Schwindel verschwand nur langsam, und Alea traute sich kaum, die Klinke loszulassen. »Irgendwie bin ich ganz durchgerüttelt.«

»Morgen.« Ben kam aus dem Bad. Sein Gesicht war kalkweiß. »Ich hab einen tierischen Brummschädel«, grummelte er und ließ sich stöhnend auf der Couch nieder.

»Sag mal …«, Sammy musterte Alea, »hattest du gestern nicht hellere Augen? So ein krasses Grün?«

»Ich …« In Aleas Kopf hakte etwas, und sie konnte nicht genau sagen, was sie eigentlich für eine Augenfarbe hatte.

Detektivisch reckte Sammy den Kopf vor und hätte wahrscheinlich eine Lupe gezückt, wenn eine da gewesen wäre. »Im Ernst, deine Augen sind heute dunkler als gestern!«

»Hör mit dem Quatsch auf, Sammy«, kam es von der Couch. »Mach mir lieber ein Käsebrot. Ich hab echt Hunger.«

Das hörte Sammy wohl nicht. »Du hast aber zum Glück noch immer dieses wundersame Märchengesicht«, sagte er zu Alea. »Dunkle Haare, blasse Haut und rote Lippen wie Schneewittchen – ein absolutes Wunderwittchen!«

Ben warf ein Kissen nach Sammy. Der lachte und ließ sich neben Ben auf die Couch fallen. Ben verpasste ihm eine Kopfnuss. Doch dann zog er seinen kleinen Bruder in die Arme, und Sammy schmuste sich wie ein Kätzchen an ihn.

Alea staunte ein bisschen. Sie hatte noch nie erlebt, dass Jungs derart ungeniert herumkuschelten.

Ben streichelte Sammy über den Kopf. »Sag mal, sind deine Haare seit gestern länger geworden?«

»Klar, sie wachsen jeden Tag!«, erwiderte Sammy. »Aber mein letzter Schnitt ist echt noch nicht long hair!«

Alea lachte, und Sammy strahlte sie an.

Jetzt nahm Sammy Bens Rockstar-Frisur genauer ins Visier. »Deine Friese ist allerdings ziemlich kurz! Als hätte ich sie dir vor nicht allzu langer Zeit erst gemäht.« Während Alea wieder lachen musste, wuschelte Sammy Ben fachkundig durch die Haare. »Wahrscheinlich liegen sie heute nur besonders gut.«

Tess kam aus der Mädchenkajüte geschlurft. »Bonjour«, murmelte sie in schnodderigem Tonfall und gähnte.

»Hast du auch Kopfweh?«, überfiel Sammy sie.

Mit einer lässigen Bewegung ließ Tess sich auf das gegenüberliegende Sofa fallen, trank aus einem herumstehenden Glas und verschränkte die Arme. Erst dann antwortete sie. »Nö.«

Sammy stieß einen verträumten Seufzer aus. »Guck dir das an, Schneewittchen!«

Das tat Alea. Tess trug eine Jogginghose mit Sternchen und ein rosafarbenes Schlafshirt, aber allein ihr selbstbewusster Blick und ihre aufrechte Körperhaltung machten klar, dass man kein Mäuschen vor sich hatte.

»Ist unser Tesselchen nicht einfach spektakulös anschwärmenswert?«, säuselte Sammy. »Ich bin total verliebt!«

Tess verdrehte die Augen und band unbeeindruckt ihre Dreadlocks zu einem hohen Zopf zusammen. »Wer hat denn Kopfweh?«, erkundigte sie sich mit ihrem leichten französischen Akzent.

»Ben und Schneewittchen«, informierte Sammy sie. »Ben braucht ein Käsebrot.«

Tess nickte beiläufig, erhob sich und ging zur Küchennische hinüber, offenbar, um Ben ein Käsebrot zu machen. Einen Augenblick später fragte sie: »Wer hat denn den Käse gekauft?« Reklamierend hielt sie ein Stück Edamer in Bens Richtung. »So einen holen wir doch grundsätzlich nicht, weil Draco keinen Käse mit Löchern mag …«

Ben schien verwundert. »Also, ich hab den nicht gekauft.«

»Aber du bist im Laden gewesen!« Kopfschüttelnd schmierte Tess ihm das Brot und setzte zwischendurch Teewasser auf.

»Ich möchte bitte einen Kakao mit Schlagsahne und Schokostückchen.« Sammy schenkte Tess ein breites Frechdachslächeln. Allerdings reagierte Tess nicht darauf, sondern brummte nur etwas auf Französisch und hantierte geschäftig herum.

Alea ging erst einmal aufs Klo und wusch sich in dem winzig kleinen Badezimmer des Schiffs das Gesicht. Als sie ihr Spiegelbild sah, erschrak sie. Ihre Augen waren tatsächlich dunkel, irgendwie grau. Aber waren sie das denn nicht schon immer gewesen? Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Kopf. Es konnte doch nicht sein, dass sie nicht wusste, welche Augenfarbe sie hatte!

Als sie aus dem Bad trat, reichte Tess Ben gerade ein Edamerkäsebrot und einen Becher mit dampfendem Tee. Für Sammy hatte sie Kakao gemacht. Der war zwar ohne Schlagsahne, aber es verwunderte Alea dennoch, dass die coole Piratenprinzessin allem Anschein nach eine fürsorgliche Seite hatte.

Da drückte Tess auch ihr einen Becher mit Tee in die Hand.

Überrascht lächelte Alea. »Danke.« Sie fand es spannend, dass die drei so ungewöhnlich waren. Sammy sah mit seinem wilden roten Haarschopf, den Sommersprossen und seiner Zahnlücke wie ein typischer Lausebengel aus. Er war bestimmt auch einer, aber vor allem war er … echt. Ein bisschen verrückt. Irgendwie übergeschnappt. Außerdem schien er ganz viel Liebe im Herzen zu tragen, die immer wieder aus ihm herausschwappte wie aus einer überlaufenden Wanne voller Wunderbarkeiten.

Ben war ohne Frage der ruhende Pol der Cru. Alea hatte das Gefühl, dass man sich hundertprozentig auf diesen Skipper verlassen konnte, der auf den ersten Blick aber gar nicht so vernünftig wirkte, sondern eher wie ein ungezähmter Wind-und-Wetter-Posterboy. Ben schien nach seinen eigenen Regeln zu leben und sich von dem, was normal war, nicht einschränken zu lassen.

Alea mochte die Alpha Cru. Sie war … anders. Und das traf auch auf sie selbst zu. Zugegebenermaßen war ihr behütetes Dasein im Vergleich zu dem abenteuerlichen Seefahrerleben dieser drei total langweilig. Aber Alea hatte sich in den engen Strukturen der Großstadtwelt noch nie so richtig wohlgefühlt, sondern vielmehr wie ein Bild, das in keinen Rahmen passte. Außerdem war da schon immer dieses sehnsüchtige Fernweh in ihr gewesen, das sie bereits als Kleinkind von unentdeckten Orten und fremden Ländern hatte träumen lassen. Fürs Reisen war jedoch nie genug Geld da gewesen, und Alea hatte noch nicht viel von der Welt gesehen.

Sie trank einen Schluck Kräutertee. Der tat ihrem Magen gut, aber an der sonderbaren Verwirrung in ihrem Kopf änderte sich trotzdem nichts. »Ich weiß gar nicht mehr so genau, was ich gestern alles mit Marianne besprochen habe«, sagte sie und hoffte, die anderen könnten ihr helfen. »Hat sie mir ihre Zustimmung gegeben, mit euch den Sommer zu verbringen?«

»Ja, klar!«, erwiderte Ben sofort.

Tess zog eine Augenbraue in die Höhe, als wäre sie sich da nicht so sicher.

»Du segelst den ganzen Sommer mit uns?« Sammy sprang auf. »Das ist ja der Hammer!«

»Das hörst du gerade zum ersten Mal?«, hakte Alea nach, während Ben etwas irritiert dreinschaute.

»Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher.« Sammy hob die Achseln. »Gestern ist … ganz schön weit weg.«

Tess guckte ihn an, als merkte sie gerade, dass er damit recht hatte. Mit nach innen gerichtetem Blick ließ sie sich neben Ben auf der Couch nieder.

Alea hatte das Gefühl, dass sie lieber Marianne anrufen und sie selbst fragen sollte. Ihr Handy lag auf dem Couchtisch. Als sie jedoch Mariannes Nummer wählte, kam keine Verbindung zustande. »Mist, ich habe kein Netz.« Außerdem wurden noch nicht einmal die Uhrzeit und das Datum angezeigt.

»Mitten im Hamburger Hafen hast du keinen Empfang?«, wunderte sich Tess und schaute sich nach ihrem eigenen Handy um. Sie fand es auf der kleinen Fensterbank unter dem Bullauge. »Da lege ich es nie hin!«, rief sie verdutzt. »Wenn das Bullauge geöffnet ist, kommt manchmal Spritzwasser rein! Wer hat es dahin getan?«

Niemand antwortete.

»Das ist … komisch«, stellte Ben fest.

»Finde ich auch.« Tess runzelte die Stirn. »Weiß übrigens jemand, wo die Äpfel sind?«

Alea hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

»Gestern stand noch ein ganzer Sack Äpfel in der Küchenecke«, klärte Tess sie auf. »Heute ist aber kein einziger Apfel mehr da. Stattdessen liegen da Kartoffeln.«

»Was? Die Äpfel sind weg?« Alarmiert setzte Ben sich auf. »Ist jemand an Bord gewesen, während wir geschlafen haben?« Er kratzte sich am Kopf. »Aber wieso sollte jemand unsere Äpfel klauen und stattdessen Kartoffeln hinlegen?«

»In der Küche sind einige Sachen merkwürdig, nicht nur das mit den Äpfeln und dem Käse.« Tess wirkte ein klein wenig beunruhigt. »Im Schrank stehen französisches Mehl und französischer Zucker – keinen Schimmer, wo die herkommen. Davon abgesehen ist der Schmutzwäschekorb voll, obwohl wir vorgestern erst gewaschen haben und er leer sein müsste.«

Ben blickte sie an, als könnte das doch gar nicht sein.

Alea wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»Ich hab’s!«, rief Sammy unvermittelt. »Wir haben einen Klabautermann an Bord!«

»Einen was?«, fragte Tess.

»Einen Klabautermann!« Plötzlich war Sammy ganz aufgeregt. »Das ist ein Schiffsgeist, ein Kobold, der üblen Schabernack veranstalten kann. Er hat jede Menge Zaubertricks drauf!«

»Zaubertricks?«, wiederholte Tess. Ihr stand ins Gesicht geschrieben, dass sie das für kompletten Unsinn hielt. »Und so ein Klabautermann soll also die Äpfel verschwinden lassen und dafür die Kartoffeln und Schmutzwäsche hergezaubert haben?«

»Ja!« Sammy schien den beißenden Sarkasmus in Tess’ Worten einfach zu überhören. »Das sind typische Scherze eines Klabautermanns. Er versteckt nicht nur gern Sachen, sondern benutzt mit Vorliebe seine Koboldmagie, um die Schiffsbesatzung an der Nase herumzuführen.«

»Koboldmagie …«, sagte Tess in einem Tonfall, als müsste Sammy doch selbst hören, wie verrückt das klang.

Der ließ sich aber nicht von der Idee abbringen. »Wir haben wohl einen echt ausgebufften Vertreter seiner Art an Bord!«

Tess stöhnte vielsagend.

Ben nickte jedoch. »Wenn das auf das Konto eines Klabautermanns geht, müssen wir versuchen, ihn zu beschwichtigen.«

Tess stieß ein Verwunderungsgeräusch hervor. »Du nimmst diesen Quatsch ernst?«

»Klabautermänner sind kein Quatsch«, entgegnete Ben. »Seit jeher berichten Seefahrende von ihnen, und erst in neuerer Zeit wurden sie als Aberglaube abgetan. Vorher waren Klabautermänner für alle Seeleute etwas Normales.«

»Zum Glück wissen wir, wie man einen Klabautermann freundlich stimmen kann!«, fiel Sammy ein. »Man muss ihm jeden Tag ein Schüsselchen mit Essen hinstellen und ihm zeigen, dass er willkommen ist. Das besänftigt ihn.«

Ben brach ein Stück von seinem Käsebrot ab und legte es auf die Fensterbank. »Für dich, Kobold!«

Entgeistert starrte Tess ihn an. »Das hast du gerade nicht wirklich getan …«

Ben lachte. »Doch. Und vielleicht bringt es was.«

Sammy nickte heftig, und Alea fragte sich, warum sie nicht ebenfalls so entgeistert war wie Tess. Sie hatte in der Schule gelernt, dass der Osterhase, der Weihnachtsmann und sämtliche Fabelwesen nicht real waren. Trotzdem ergab die Theorie mit dem Klabautermann für sie irgendwie Sinn.

»Könntest du mal versuchen, ob du Empfang hast?«, bat sie Tess nun mit Blick auf deren Handy.

»Stimmt, ich wollte ja versuchen, deine Pflegemutter für dich anzurufen.« Tess ließ sich Mariannes Nummer geben, doch mit ihrem Handy kam ebeso wenig eine Verbindung zustande. »Nicht mal die Uhrzeit wird angezeigt!«, stellte sie fest. »Mein Kalender und meine Wetter-App sind auch off. Steckt da auch der Klabautermann dahinter?«, setzte Tess spitz hinzu. »Warte, ich versuche mal, meinen Vater anzurufen.« Das klappte jedoch genauso wenig, wie zu Tess’ Mutter eine Verbindung aufzubauen.

»Mist«, knurrte Ben. »Ich würde es mit meinem eigenen Handy ja auch mal versuchen, aber ich kann es nicht finden.«

»Das hat der Klabautermann bestimmt versteckt!«, kommentierte Sammy. »Dieser Kobold ist echt ein Profi.«

Alea war mit den Gedanken allerdings bei ihrer Pflegemutter. »Wenn wir Marianne nicht anrufen können, woher soll ich dann wissen, wie es ihr heute geht?«

Ben schien zu verstehen, wie dringend Alea von ihrer Pflegemutter hören wollte. »Wie wäre es, wenn wir noch mal zusammen zum Krankenhaus fahren?«

»Oh, das wäre toll!« Der Gedanke, sich allein auf den Weg zum Krankenhaus zu machen, war Alea überaus unangenehm, denn sie hatte Angst vor dem, was sie womöglich dort erwartete. »Ihr würdet wieder mitkommen?«

»Klaro!« Sammy umarmte Alea. »Knuddel mich!«, verlangte er, obwohl es offensichtlich war, wer hier geknuddelt werden musste.

Ben kam hinzu und schloss Alea und Sammy in seine starken Arme. Mit Blick auf Tess johlte Sammy: »Gruppenkuscheln!«

Tess hatte allerdings auf einmal etwas sehr Wichtiges in der Küche zu tun und huschte davon.

»Sie ist halt nicht so der Knuddeltyp.« Sammy drückte Alea und Ben umso fester an sich.

Einen kleinen Moment lang erlaubte sich Alea, von den Jungs gehalten zu werden. Dann löste sie sich aus der Umarmung, da sie es nicht gewöhnt war, jemandem für länger als ein paar Sekunden so nahe zu sein.

Doch Sammy wirkte sehr zufrieden. »Du gewöhnst dich schon noch an das Geschmuse«, sagte er breit lächelnd. »Ich spüre es genau: Dein Herz ist wie ein Schwamm, der sich mit Liebe vollsaugen will!«

Alea lächelte schief, denn sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Außer Marianne hatte es in ihrem Leben bisher niemanden gegeben, der sie lieb gehabt hatte. Dass dieser einzigartig bekloppte Neunjährige so schnell von Liebe sprach, war zwar merkwürdig, aber auch schön.

Sammy klatschte in die Hände. »Fahren wir in die Stadt!«

»Wir sollten zuerst hier am Hafen einen Straßengig machen.« Ben hielt ihnen seine nahezu leere Geldbörse hin. »Dann können wir uns auch Tickets für die S-Bahn leisten.«

Tess schnappte nach Luft. »Wo ist denn das ganze Geld hin, das wir gestern verdient haben?«

»Weg.« Bens Blick wanderte an Tess vorbei zu dem Käsebrot auf der Fensterbank. Er musste gar nicht laut aussprechen, dass er offenbar glaubte, ihr Klabautermann hätte das Geld genommen. »Wer weiß, was hier noch alles verschwunden ist …«

Tess murmelte irgendetwas Französisches in sich hinein. Dann sagte sie auf Deutsch: »Gut, dann lasst uns auftreten, bevor wir uns auf den Weg zum Krankenhaus machen.«

Alea war auf einmal ganz aufgeregt. Sie hoffte, dass keiner der anderen sie fragen würde, ob sie ein Instrument beherrschte oder singen konnte. Sie spielte schon seit Jahren auf Weingläsern, der sogenannten »Wasserharfe«, und auch singen konnte sie ein bisschen. Aber sie hatte die Alpha Cru gestern gehört und wusste, wie gut sie waren. Damit konnte sie keinesfalls mithalten, ganz abgesehen davon, dass ihre Gläser sich zu Hause in Mariannes Wohnung befanden.

»Ich gehe während eures Auftritts rum und sammle Geld ein«, beeilte Alea sich vorzuschlagen.

»Okay«, stimmte Ben zu. »Es bringt bestimmt noch mal extra Einnahmen, wenn jemand einen Hut hinhält.«

Tess stand auf. »Dann ziehen wir uns mal was Schönes an!«

Alea konnte sich vorstellen, dass Tess bestimmt großen Wert auf ihr Äußeres legte. »Du hast garantiert total viel Erfahrung mit Styling.«

»Nee, der wahre Styling-Fanatiker ist Draco!«, wehrte Tess ab. »Der steht immer viel länger vor dem Spiegel als ich.«

Sammy lächelte breit. »Ich bin absoluter Experte, wenn es um den Ausdruck des freakigen Inneren im Äußeren geht«, ließ er sie wissen. »Allerdings habe ich den Eindruck, dass Alea mir eventuell den Rang als Outfit-Genie streitig machen könnte. Deine abgeschnittenen Handschuhe finde ich zum Beispiel saucool, Schneewittchen.«

»Wo sind die eigentlich?« Alea blickte auf ihre nackte Hand. Schlagartig erfasste sie eine Welle der Traurigkeit – ein unerklärlich tiefes Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Etwas fehlte. Und es waren nicht nur die Handschuhe.

»Ich hab doch gesagt, dass Draco ein Fanatiker ist«, seufzte Tess.

»Ich kann aber auch anders!«, konterte Sammy. »Wie wäre es, wenn wir heute in genau den Klamotten auftreten, die wir gerade anhaben?«

Tess stutzte und sah an sich, ihrem ausgeleierten T-Shirt und der Sternchen-Jogginghose hinab. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Klar, warum nicht.« Das war der Gipfel der Lässigkeit.

Im Vergleich dazu wollte Alea nicht spießig wirken. »Ich bin auch dabei.« Sie hatte allerdings in ihrer Jeans geschlafen, und die Überwindung war nicht allzu groß.

Ben hatte sich heute Morgen schon umgezogen. Sammy hingegen lief in einer abgetragenen, lilafarbenen Trainingshose herum. Begeistert blitzte er Tess an. »Wir zwei können hier und heute beweisen, dass wahrer Glamour von innen kommt, Piratenprinzessin«, wisperte er. »Viva la Gammel-Look!«

Das brachte Tess zum Lachen.

Alea grinste. »Ihr seid echt komische Vögel«, rutschte es ihr heraus. Dabei meinte sie das eigentlich im besten Sinne.

Ben verstand es wohl auch so. »Das sind wir.« Beinahe klang er ein bisschen stolz. »Und zwar gerne!«

»So was von gerne!«, gab Sammy ihm recht und strahlte von einem Ohr zum anderen.

»Viva los komische Vögel!«, sagte Tess grinsend.

Ben brach in lautes Gelächter aus, und Sammy fiel ein. Alea und Tess grinsten sich an, dann lachten sie mit den beiden mit.

Es war ein solch schöner, unbeschwerter Moment, dass Alea für einen winzigen Augenblick alles andere vergaß – die Sorge um Marianne, das seltsame Chaos in ihrem Kopf und die Merkwürdigkeiten an Bord. Sie war nun Teil der Alpha Cru und fühlte sich so willkommen geheißen und gut aufgehoben, dass sie sich fragte, wie sie es jemals ohne wahre Freunde in ihrem Leben ausgehalten hatte. Nun wusste sie, wie sich Freundschaft anfühlte, und wollte sie nie wieder missen. Vielleicht musste sie das aber auch gar nicht. Vielleicht waren Sammy, Ben und Tess Freunde fürs Leben.

Nachdem sich alle Cru-Mitglieder Brote geschmiert und diese im Gehen gegessen hatten, verließen sie mit Akkordeon, Gitarre und Handtrommel das Schiff. Sammy warf Tess neugierige Blicke zu, als wollte er herausfinden, ob sie sich in ihrer Jogginghose nicht doch unwohl fühlte. Tess trug indessen ein undurchdringliches Pokerface zur Schau und marschierte mit hoch erhobenem Kopf und schlabbernder Hose voran.

Die Alpha Cru wollte gleich hier am Hafen auftreten, denn an Hamburgs Anlegestellen war zu jeder Tageszeit viel los. Ben wies auf einen Platz, an dem sich zwei Wege kreuzten. »Hier.« Er schob seine Gitarre am Gurt nach vorn. »Erster Song wie immer.«

Tess legte die rechte Hand auf die Tasten und die linke auf die Bassknöpfe ihres Akkordeons. Sammy hielt seine Trommel ebenfalls gezückt und wartete auf den Einsatz. Den gab Ben nun vor: »One, two, three …«

Die drei rockten los. Alea ging der Rhythmus direkt in die Beine, und am liebsten hätte sie getanzt. Aber dazu war sie zu schüchtern, vor allem angesichts der Tatsache, dass gleich ein paar Leute stehen geblieben waren. Anstatt zu tanzen, zog Alea ihre meerblaue Lieblingsmütze vom Kopf und ging freundlich lächelnd auf die kleine Gruppe zu. Sie bekam mehrere große Münzen und war regelrecht stolz darauf, obwohl sie natürlich wusste, dass die Leute ihre Geldbeutel in erster Linie für Tess zückten. Tess hatte eine Stimme, die herausragend außergewöhnlich war – rau, tief, kraftvoll, ungehemmt. Beim Zuhören hatte man unweigerlich den Eindruck, einen künftigen Superstar vor sich zu haben. Ben und Sammy, die in den Refrain einfielen, konnten ebenfalls gut singen, doch Tess war der eindeutige Dreh- und Angelpunkt des Trios.

Immer mehr Zuhörer sammelten sich vor ihnen, und nach dem ersten Song erklang Applaus. Während Alea mit ihrer Mütze herumging, begann das nächste Lied. Es war ein Rocksong, und Ben spielte die Eingangsriffs solo. Alea drehte sich zu ihm um und hatte mit einem Mal ein eigenartiges Gefühl. Es war, als wäre etwas … falsch. Als müsste jemand anderes diese Riffs spielen.

Alea griff sich ans Herz, denn plötzlich tat es ein bisschen weh. Verstört starrte sie Ben an, der seine Sache wirklich gut machte. Trotzdem sträubte sich alles in ihr dagegen, dass er dort mit der Gitarre stand.

Sie presste die Lider zusammen. Was dachte sie da denn nur? Das ergab keinen Sinn! Hatte sie sich gestern womöglich den Kopf angestoßen? So langsam machte sie sich Sorgen …

Als der Refrain kam, forderte Sammy Alea auf, mitzusingen. Sie kannte den Song zwar, doch sie wollte auf keinen Fall vor all diesen Menschen singen! Tess, Sammy und Ben schmetterten den Refrain zu dritt, und wahrscheinlich hätte man Alea sowieso kaum gehört. Aber sie traute sich nicht und drehte stattdessen schnell eine neue Runde mit ihrer Mütze. Als der Refrain zum zweiten Mal kam, fixierte Sammy sie jedoch derart erwartungsvoll, dass sie diesmal ganz leise mitsang. Sammy trat näher und streckte den Kopf vor, um sie hören zu können. Alea bekam flammend heiße Wangen und flüsterte mehr, als dass sie sang.

Nachdem der zweite Song zu Ende war, klatschte das Publikum begeistert. Inzwischen standen mindestens zwanzig Leute um sie herum.

Sammy trat an Alea heran. »Warum bist du so leise?«

»Ich bin generell eher der leise Typ«, versuchte sie zu scherzen.

»Aber so schüchtern zu sein, passt gar nicht zu dir!« Sammy betrachtete sie. »Ich glaube, da schlummert etwas Großes in deinem Inneren.«

Alea lachte, doch mittendrin stockte sie, denn es fühlte sich so an, als ob er recht hatte. Was für ein Blödsinn!, dachte sie und dachte es gleichzeitig auch nicht. Wie eingefroren stand sie da.

Sammy nickte, als wäre es absolut angemessen, dass ihr das Lachen im Hals stecken blieb. »Etwas ganz Großes!«, betonte er noch einmal und hüpfte zurück zu den anderen, um das dritte Lied zu beginnen.

Der Auftritt war ein voller Erfolg. Nach sechs Songs beendete die Alpha Cru ihren Gig und bedankte sich bei den Zuhörern. »Musik aus und Welt wieder an!«, rief Sammy mit einer tiefen Verbeugung, während das Publikum sich zerstreute.

Alea zeigte den dreien, wie viel Geld sie eingenommen hatten. »Vierundsechzig Euro!«

»Es war schon mal mehr«, bemerkte Tess. »Aber für die Bahn und ein Mittagessen wird es reichen.«

»Dafür ist es sogar zu viel!« Sammy setzte sein süßestes Schlawinergesicht auf. »So viel brauchen wir gar nicht.«

Ben stöhnte. »Was willst du stattdessen kaufen?«

Sammy fing an zu strahlen. »Da vorn ist ein Secondhandladen. Im Schaufenster hab ich eben was unglaublich unvorstellbar Wunderschönes gesehen – so schön, dass man zu Boden sinken und dem Modegott huldigen will.«

»Worum geht es genau?«, hakte Ben argwöhnisch nach.

»Das müsst ihr euch selbst ansehen!« Sammy nahm Bens Hand und führte ihn, Alea und Tess zu einem kleinen Laden an der nächsten Straßenecke. Im Schaufenster stand eine abgenutzte Puppe, und diese trug einen purpurfarbenen, altertümlichen Königsumhang. »Ist das nicht das Atemberaubendste, was ihr jemals in eurem ganzen Leben und darüber hinaus gesehen habt?«, wisperte Sammy und drückte seine Nase an der Glasscheibe platt.

Tess stöhnte. »Ich bringe die Instrumente zum Schiff zurück, während ihr reingeht.« Es schien für sie außer Frage zu stehen, dass Sammy seinen Willen bekommen würde.

Mit einem nur schlecht unterdrückten Grinsen reichte Ben ihr seine Gitarre und zog Sammy, der wie gebannt zum Königsumhang starrte, die Trommel unter dem Arm hervor. »In Ordnung, Flipper. Gucken wir mal, wie viel das Teil kostet.«

Sammy strahlte ihn mit voller Zahnlückenpracht an, und zu dritt betraten sie den Laden. Zehn Minuten später verließen sie ihn wieder – mit dreißig Euro weniger in der Tasche, dafür aber mit einem königlichen, leicht muffigen Umhang. Sammy hatte ihn sofort angezogen und schritt einher wie ein erhabener Monarch mit lila Trainingshosen. Selig betrachtete er sich in der Schaufensterscheibe. »Skandalös pompös!«

»Ist noch genug für die Bahntickets da?« Das war Tess, die vom Schiff zurückgekommen war und mit verschränkten Armen an der Hauswand lehnte.

»Gerade so«, antwortete Ben, während Sammy murmelte: »Dieses bombastische Gewand ist jeden Cent wert!«

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur S-Bahn-Haltestelle. Der Umhang schleifte königlich hinter Sammy her, der jeden Schritt zu genießen schien und so sehr von innen heraus strahlte, dass Alea zu verstehen begann, warum Ben den Wunsch seines kleinen Bruders erfüllt hatte.

Als sie die Bahnstation erreichten und Ben und Tess die Tickets am Automaten kaufen gingen, wurde der König wieder zu Sammy. »Sing mir mal was vor«, bat er Alea.

»Was?«, fragte sie erschrocken. »Wieso das denn?«

»Ich hab da eben was gehört.« Sammy neigte das Kinn. »Du hast zwar sehr leise gesungen, aber ich glaube, du hast eine schöne Stimme.«

»Gar nicht!«, blockte Alea ab und wusste doch gleich, dass sie verloren hatte. Wenn Sammy sich etwas in den Kopf setzte, hatte man keine Chance. Rasch blickte sie sich um. Sie standen hier recht allein, nur drüben am Automaten war viel los.

Sammy funkelte sie mit seinen braunen Augen an. »Sing, Schneewittchen, sing!«

Alea tat es einfach. Sie sang das Lied von eben. Zwar recht zart und nur mit halber Kraft, wodurch ihre klare Sopranstimme kaum zur Geltung kam, aber sie hörte nicht auf, bevor der Refrain zu Ende war.

Während sie sang, begann Sammy zu lächeln. »Ich wusste es!« Er nickte, als wollte er sich selbst beipflichten. »Du klingst wie ein frischer Frühlingsmorgen … im Frühling! Absolut oberwunderfrühlingsbärchen! Du musst unbedingt in der Band mitsingen.«

»Auf keinen Fall!«, protestierte Alea. »Ich könnte niemals vor so vielen Leuten singen.«

»Du hast richtig Angst davor, oder?«

»Ja«, gab sie zu. »Total.«

Sammy schüttelte den Kopf. »Das ist falsch«, sagte er, und die Art, wie er das letzte Wort betonte, verursachte Alea seltsamerweise eine Gänsehaut. Sammys Blick intensivierte sich. »Eines Tages wirst du laut fauchen wie ein Jaguar – und die ganze Welt wird dich hören.«

Aleas Gänsehaut verwandelte sich in einen Schauder, der ihren ganzen Körper erfasste.

Da kam ein Mädchen auf sie zu. Es stierte sie an, als könnte es seinen Augen kaum trauen. »Alea?«

Aleas Freude hielt sich in Grenzen, denn es war Chloé, eine ihrer Klassenkameradinnen. Eine, die sie schon oft angefeindet hatte und die auch immer wieder andere dazu brachte, Alea fühlen zu lassen, dass sie in ihrer Klasse nicht wirklich dazugehörte. Chloé kam näher. »Du bist es wirklich! Das gibt’s doch gar nicht!« Sie tat, als wäre es ein Wunder, Alea hier zu begegnen. Wollte sie sie wieder einmal veräppeln, wie sie es so oft versuchte? »Alea, alle Welt sucht nach dir!«, brachte Chloé mit ungläubigem Gesichtsausdruck hervor. »Und jetzt stehst du einfach so hier an der Haltestelle!«

»Ich bin doch erst seit gestern –« Alea brach ab. Konnte es sein, dass das Jugendamt bereits nach ihr suchte? Aber wie hätte Chloé so schnell davon erfahren sollen?

»Du warst einfach verschwunden!«, rief Chloé mit aufgelöster Miene, in die sich eine Prise Sensationsgier mischte.

»Wer bist du denn?«, klinkte Sammy sich ein und musterte das Mädchen interessiert. »Lass mich raten … Miss Dramaqueen?«

Chloé ignorierte Sammy. »Warum bist du nicht wieder zur Schule gekommen?«, fragte sie Alea.

»Zur Schule?« Heute war doch erst der zweite Tag der Sommerferien! Jetzt wusste Alea, dass Chloé wieder nur eins ihrer Hinterlistmanöver mit ihr abziehen wollte. »Hör mit dem Scheiß auf!«

Sammy grinste. »Oh, da ist ja der Jaguar!«

Chloé blieb allerdings bei ihrem Spiel. »Es gab deinetwegen sogar eine Lehrerkonferenz!«

Langsam wurde Alea sauer. »Das ist nicht witzig.«

Sammy schien die Situation entschärfen zu wollen und reichte Chloé vornehm die Hand. »Gestatten, König Samuel der Erste – König der Freaks«, stellte er sich formvollendet vor.

Verdutzt glotzte Chloé ihn an.

Sammy zeigte ihr das Victoryzeichen und warf seinen purpurfarbenen Umhang zurück. »Let your freak flag fly!«

Genau in diesem Moment kam die S-Bahn. Ben und Tess winkten ihnen von weiter vorn, und Alea und Sammy machten, dass sie zu ihnen kamen. Ein Blick zurück zeigte Alea, dass Chloé ihnen mit offenem Mund nachgaffte.

Die Alpha Cru stieg in die Bahn und setzte sich ganz nach hinten, wo sonst niemand war. »Wir fahren mindestens ’ne halbe Stunde.« Ben lehnte sich zurück.

»Mach es dir mal nicht zu gemütlich!« Sammy schien etwas vorzuhaben. »Ich finde, wir sollten die Zeit nutzen, um uns besser kennenzulernen. Schneewittchen ist ja noch ganz neu in der Bande.«

Tess sah ihn aus skeptisch zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du vor, Draco?«

»Also!« Sammy lehnte sich vor. »Jeder erzählt was über sich. Zum Beispiel, was für ihn schwierig ist oder was sein schlimmstes Erlebnis war. Dann wissen wir gleich, welchen Gefühlsmist die anderen mitschleppen, und können ohne langen Umweg Bestfreunde sein.«

Tess blickte demonstrativ aus dem Fenster.

Alea fand den Vorschlag aber gar nicht schlecht, obgleich sie es nicht gewöhnt war, sich anderen anzuvertrauen. Bei der Alpha Cru hatte sie jedoch das Gefühl, sie würde jeden von ihnen schon ewig kennen.

»Schneewittchen, du fängst an!«, bestimmte Sammy.

»In Ordnung.« Alea hätte zwar lieber erst einmal nur zugehört, allerdings wollte sie auch nicht kneifen. »Was für mich schwierig ist …« Sie überlegte. »Marianne ist alles, was ich habe. Aber sie leidet schon lange an Herzproblemen. Und ich habe mir oft Sorgen gemacht, dass etwas passieren könnte und ich dann ganz allein dastehen würde.«

»Kennst du deine leiblichen Eltern gar nicht?«, fragte Ben.

»Nein«, erwiderte Alea, und plötzlich hakte etwas in ihrem Kopf, als wäre die Antwort nicht richtig. »Ich weiß nicht, wer meine leiblichen Eltern sind«, sagte sie langsam, während es hinter ihren Schläfen so stark pochte, als wollte etwas anklopfen.

»Super, dass du uns das erzählst«, freute sich Ben.

»Ich wundere mich, ehrlich gesagt, selbst.« Alea lächelte unsicher. »Ich hab das noch nie jemandem gesagt, weil … Ich hatte noch nie richtige Freunde.«

»Na, das ist ja jetzt vorbei«, sagte Sammy leichthin.

Alea bedeutete das viel. »Was ist denn für dich ein schwieriges Thema, Samuel Draco? Du machst den Eindruck, als könnte dich nichts umhauen.«

»Stimmt ja auch!« Sammy zwinkerte. »Aber es gibt schon Sachen, die mir auf der Seele liegen.« Er warf Ben einen Blick zu, und sein Bruder legte die Stirn in Falten. »Es hat was mit dir zu tun.«

Ben wirkte überrascht. »Mit mir?«

»Du hast für mich die Liebe deines Lebens verlassen.«

Ben zog den Kopf ein, als ob ihn das Thema unvorbereitet erwischte.

Tess fragte: »Wer ist denn die Liebe deines Lebens?« Diese Geschichte hatte sie wohl auch noch nicht gehört.

Ben brauchte einen Augenblick, aber dann antwortete er. »Sie heißt Niki. Wir waren nur einen Sommer lang zusammen, vor zwei Jahren … Onkel Oskar, Sammy und ich waren damals mit der Crucis im Schwarzen Meer unterwegs und haben vor Konstanza geankert, einem total schönen Ort in Rumänien. Ich werde nie vergessen, wie ich Niki zum ersten Mal hinter ihrer Staffelei am Strand stehen sah, so vertieft in ihr Bild, so … schön.«

Niemand lachte. Ben machte gerade ein kleines Fenster zu seinem Herzen auf, und keiner von ihnen wollte, dass er es wieder verschloss.

»Sie hat richtig tolle Bilder vom Meer gemalt«, fuhr Ben fort. »Und sie war Umweltaktivistin! Außerdem hatte sie dieses riesengroße Herz, das Platz für die ganze Welt zu haben schien.« Verträumt lächelte er, und es war mehr als offensichtlich, wie sehr er in diese Niki verliebt gewesen sein musste – oder es noch immer war. »Irgendwas hat ihr an mir auch gefallen, und wir kamen zusammen. Eine Zeit lang schwebten wir auf Wolke sieben, aber am Ende des Sommers war alles vorbei«, erzählte er in ernüchtertem Ton weiter. »Onkel Oskar wollte endlich weitersegeln. Niki konnte allerdings nicht mit uns kommen, weil sie noch zur Schule ging und ihre Eltern ihr das niemals erlaubt hätten. Sie hat mich gefragt, ob ich stattdessen bei ihr in Rumänien bleiben wollte.« Er schlug die Augen nieder. »Ich musste mich zwischen meinem Leben auf der Crucis und Niki entscheiden. Und ich … ich habe die Crucis gewählt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, bei Nikis Eltern zu wohnen und eine Ausbildung anzufangen.«

»Aber der Hauptgrund, warum du dich für die Crucis entschieden hast, war ich«, sagte Sammy, und man hörte ihm an, dass es genau das war, was auf ihm lastete. »Du wolltest mich nicht verlassen, weil ich noch zu klein war.«

»Ja, wir hatten erst zwei Jahre zuvor unsere Eltern verloren«, räumte Ben ein. »Da durftest du nicht auch noch deinen Bruder verlieren.« Er seufzte. »Aber das ist nur die halbe Wahrheit, Sammy. Es ging auch darum, dass ich dich nicht verlieren wollte.«

Erstaunt lächelte Sammy. Ben lächelte zurück, und Tess und Alea saßen ganz still da, um diesen besonderen Moment nicht zu stören.

»Du musst kein schlechtes Gewissen haben«, versicherte Ben Sammy. »Das hab ich dir schon ein paarmal gesagt! Niki zu verlassen war das Schwierigste, was ich je tun musste, aber es war meine Entscheidung, und deswegen trage ich auch die volle Verantwortung dafür.« Er wandte sich wieder Alea und Tess zu. »Seitdem habe ich nie wieder etwas von Niki gehört.«

»Du denkst momentan trotzdem oft an sie, oder nicht?«, hakte Sammy nach.

Ben schien sich zu wundern. »Hast du dir das gemerkt?«

»Was denn?«, fragte Tess.

»Niki hat Mitte Juli ihren Schulabschluss in der Tasche«, erwiderte Sammy. »Dann ist sie … frei.«

Grübelnd blickte Ben zum Fenster hinaus. »Wenn ich ehrlich bin, frage ich mich schon, ob sie manchmal an mich denkt.«

»Ganz bestimmt tut sie das!«, rief Sammy voller Überzeugung. »Ich hab gesehen, wie sie dich damals angeschaut hat – sie liebt dich! Und ich finde, du musst dich bei ihr melden. Sie macht garantiert schon Pläne, wie es für sie nach der Schule weitergehen soll. Wenn sie wüsste, dass du noch immer in sie verliebt bist …«

»Ich kann sie nach all der Zeit doch nicht einfach anrufen!«, wehrte Ben ab.

»Doch! Warum denn nicht?« Sammy hob den Zeigefinger. »Wenn das Schicksal zwei Herzen zusammengeplant hat, dann kann nichts und niemand sie trennen.«

Auf einmal spürte Alea einen feinen, leisen Schmerz im Herzen, genau dort, wo es vorhin bei Bens Gitarrenriffs schon wehgetan hatte. Es fühlte sich beinahe an, als wäre dort eine besondere Stelle … eine Tür, hinter der etwas verborgen lag.

Ein anderes Herz, sagte irgendetwas in ihrem Inneren. In deinem Herzen wohnt ein anderes Herz.

Alea schnaufte. Das war doch Unsinn! Sie war noch nie verliebt gewesen, hatte noch nie einen Freund gehabt. Es gab kein anderes Herz, das in ihrem eigenen wohnte oder vom Schicksal mit ihrem zusammengeplant worden war!

»Das Schicksal hat einen Plan für die Liebe?«, fragte Tess mit zweifelndem Unterton. Sie hatte in dieser Runde bisher nicht viel gesagt, aber Sammys Worte schienen sie nun dazu herauszufordern. »Du glaubst also, es ist höhere Gewalt, in wen man sich verliebt?«

»Liebe ist niemals Zufall!«, antwortete Sammy im Brustton der Überzeugung. »Nix ist Zufall!« Er musterte Tess. »Warst du denn schon mal verliebt?«

»Ja, schon mehrmals.« Tess machte eine bedeutungsvolle Pause. »Immer in Mädchen.«

»Was, echt?«, fragte Sammy.

Ben war wohl weniger erstaunt. Alea hingegen überraschte diese Eröffnung. »Du … magst Mädchen? Keine Jungs?«

Tess zuckte mit den Schultern. »Ich finde Jungs okay. Aber ich mag sie nicht … so.«

Alea wunderte sich über die Sicherheit, mit der Tess das sagte. »War dir das schon früh klar?«

»Ja, geahnt hab ich es eigentlich schon immer.« Überlegend strich Tess sich über die schwarzen Dreadlocks. »In der Grundschule habe ich mich zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt. Allerdings war das keine besonders schöne Erfahrung.«

»Warum nicht?«, wollte Ben wissen.

»Ich habe dem Mädchen gestanden, dass ich sie toll finde … so richtig toll. Sie war aber total empört und hat gesagt, das wäre doch krank.« Um Tess’ Mund herum erschien ein harter Zug, der die Tiefe ihrer Verletzung verriet. »Ihre Eltern hatten ihr wohl beigebracht, dass es nicht normal ist, wenn Mädchen Mädchen lieben.«

Betretene Stille breitete sich aus.

Sammy durchbrach sie. »Also, ich glaube, ich bin schwul. Oder bi. Oder hetero. Alles kann ich mir voll gut vorstellen!«

Ben grinste.

»Ich würde mir sogar zutrauen, dass ich alles auf einmal bin!«, fügte Sammy fasziniert hinzu.

Tess lachte in sich hinein. »Sicher doch.«

»Ich bin schließlich auch total verliebt in euch alle drei«, stellte Sammy klar. »Weil mein Herz einfach zu groß für kleine Schubladen ist!«

Ben verpasste seinem Bruder eine Kopfnuss und wuschelte ihm zärtlich durch das wilde rote Haar.

Da hatten sie ihre Haltestation erreicht.

Als die Alpha Cru das Krankenhaus betrat, wurde sie von den Leuten im Foyer neugierig angestarrt. Vielleicht lag es daran, dass Sammy einen purpurfarbenen Königsumhang und lila Trainingshosen trug. Die Dame am Empfang begaffte allerdings ausschließlich Alea und schien etwas in ihrem Computer nachzusehen. Gleich darauf griff sie nach dem Telefon, sprach mit jemandem und winkte Alea zu sich. »Bist du hier, um deine Pflegemutter zu besuchen?«

Alea staunte nicht schlecht. Die Empfangsdame wusste, wer sie war! »Öhm, ja.«

»Am besten sprichst du zuerst mit der behandelnden Ärztin«, empfahl die Frau. »Ich habe ihr schon Bescheid gesagt. Dritte Etage, Zimmer 308, Dr. Dabrowski.«

Alea bedankte sich und ging mit einem mulmigen Gefühl zum Treppenhaus. Sammy, Ben und Tess folgten ihr. »Woher kennt sie dich?«, fragte Ben.

Das hätte Alea auch gern gewusst. Hatte die Empfangsdame etwa ein Foto von ihr im Computer gecheckt? Wartete heute jemand vom Jugendamt auf sie? »Ich muss trotzdem zu Marianne …«, sagte sie und versuchte, alle Ängste beiseitezuschieben.

Im dritten Stock fanden sie ohne Weiteres das Zimmer der Ärztin. Zaghaft klopfte Alea an und wurde hereingerufen. Ben und die anderen nickten ihr aufmunternd zu. Sie wollten draußen warten.

Die Ärztin, Dr. Dabrowski, bat Alea, sich zu setzen. »Wie schön, dass du Lust hast, deine Pflegemutter zu besuchen«, begann sie und klang geradezu ironisch. Doch dann schien sie in ihre professionelle Rolle zu schlüpfen. »Leider geht es ihr sehr schlecht.«

Aleas Rücken versteifte sich.

»Wir haben den Zustand deiner Pflegemutter in den vergangenen Wochen nicht stabilisieren können«, sagte Dr. Dabrowski.

Alea glaubte, sich verhört zu haben. »In den vergangenen Wochen?«

»Ja, und seit ihrem zweiten Herzinfarkt ist die Prognose leider noch schlechter.«

»Sie hatte einen zweiten Herzinfarkt?«, stieß Alea entsetzt hervor. »Wann? Heute?«

Die Antwort der Ärztin rauschte jedoch an ihr vorbei. Plötzlich dröhnte Alea nur noch ihr eigener Puls in den Ohren. Marianne hatte einen zweiten Herzinfarkt gehabt!

Dr. Dabrowski erhob sich und nahm sie beim Arm. Alea hörte sie etwas davon sagen, dass sie jetzt zu ihrer Pflegemutter gehen würden. Mit mechanischen Schritten folgte sie ihr. Vor dem Zimmer fragten Ben und die anderen, was los wäre. Alea murmelte etwas von dem zweiten Herzinfarkt. Die Ärztin schickte die drei in einen Aufenthaltsraum am Ende des Gangs.

Alles war so unwirklich. Dr. Dabrowski und Alea betraten die Intensivstation und schritten einen langen Gang entlang. Alea konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Nur das Quietschen ihrer Turnschuhe auf dem Linoleum ergab irgendwie Sinn. Kurz darauf betraten sie das Krankenzimmer. Zwei Betten standen darin. Eines war leer, in dem anderen lag Marianne.

Mit zögerlichen Schritten durchquerte Alea den steril wirkenden Raum, setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett und griff nach der Hand ihrer Pflegemutter, die schlief. Vorsichtig streichelte Alea mit der anderen Hand über Mariannes bleiches Gesicht und erschrak. Marianne schien regelrecht geschrumpft zu sein und sah ganz ausgemergelt aus. Viel schlechter als gestern! Wie hatte sie sich innerhalb eines einzigen Tages nur so verändern können?

Die Ärztin zog sich leise zurück und ließ Alea mit Marianne allein. Heftig schluckte Alea gegen das bleierne Gefühl der Hilflosigkeit an. Piepende Maschinen umzingelten das Bett. Überall hingen Kabel. In der Luft lag der Geruch von Chemie.

Es war so viel schlimmer, als Alea gedacht hatte. Marianne war nur noch ein Schatten ihrer selbst!

Da drückte Marianne ihre Hand. Sie war aufgewacht! Sobald sie Alea erkannte, trat ein warmer Glanz in ihre Augen. »Schatz«, brachte sie heiser hervor. »Bist du wirklich hier?«

»Wie geht es dir?«, stellte Alea eine Gegenfrage, und sie flüsterte mehr, als dass sie sprach.

Marianne antwortete nicht gleich, aber als sie es tat, trafen ihre Worte Alea wie ein Messerstich. »Liebes, ich werde nicht wieder auf die Beine kommen.«

Kälte schoss durch Aleas Körper.

»Mein Herz macht einfach nicht mehr mit.« Marianne hustete gequält, doch dann lächelte sie Alea liebevoll an. »Mein einziger Trost ist, dass du ein neues Zuhause gefunden hast.«

Alea stutzte.

»Du bist jetzt dort, wo du hingehörst«, sagte Marianne erstickt und lächelte noch immer.

Meinte sie die Alpha Cru? Aber wen sonst? Alea war irritiert – Marianne tröstete sich mit dem Gedanken, dass Alea nun zu einer Bande von Jugendlichen gehörte, die sie erst einen Tag zuvor kennengelernt hatte? Das sah ihrer Pflegemutter gar nicht ähnlich.

»Ich bin froh, dass sich alles so gut gefügt hat.« Wieder drückte Marianne ihre Hand. »Sobald du mir ihre Unterlagen gibst, können wir es endlich offiziell machen.«

»Was können wir offiziell machen?«, fragte Alea verwundert, doch Marianne sprach schon weiter.

»Mir läuft die Zeit davon, und es ist gut, dass du gekommen bist. Nicht nur wegen der Papiere – ich bin auch einfach unglaublich glücklich darüber, dass ich dich noch einmal sehe, Schatz.« Sie hustete wieder, redete aber gleich weiter. »So kann ich dir sagen, wie lieb ich dich habe.«

»Ich hab dich auch lieb«, presste Alea hervor und schluckte ihre Fragen hinunter. »Ganz furchtbar lieb.«

Marianne nickte, als hätte sie keine Sekunde lang daran gezweifelt. »Ist denn auch alles so, wie du es dir erträumt hast?«

Mit zittrigen Fingern wischte Alea sich eine Träne aus dem Augenwinkel und fragte sich, ob Marianne auf ihr sehnsüchtiges Fernweh anspielte und auf die Aussicht, dass sie mit der Alpha Cru an all die Orte reisen konnte, die bisher nur ein Traum gewesen waren. Hatten sie gestern darüber geredet, dass Alea sich ganz offiziell für die Dauer der Sommerferien an Bord der Crucis aufhalten durfte? Warum erinnerte sie sich nicht daran? »Ja, also … vieles ist neu, aber wirklich schön«, erwiderte Alea vage.

Erleichtert seufzte Marianne, schenkte Alea ein weiteres herzenswarmes Lächeln und sagte: »Dann ist ja jetzt alles gut.«

Da klickte etwas in Aleas Kopf. Sie hatte das Gefühl, genau diese Szene schon einmal erlebt zu haben. Es war wie ein kolossales Déjà-vu, das an ihrem Hirn rüttelte, als wollte es etwas herausschütteln. »Dann ist ja jetzt alles gut«, wiederholte Alea perplex und fragte sich, was um Himmels willen nur mit ihrem Kopf los war.

Plötzlich begannen die piependen Maschinen neben dem Bett Alarm zu schlagen. Im gleichen Moment griff Marianne sich an die Brust. Mit aufgerissenen Augen rang sie nach Luft.

Entsetzt sprang Alea auf.

Pfleger und Ärzte kamen hereingelaufen und drängten sie zur Seite.

»Kammerflimmern!«, schrie jemand.

Marianne sackte im Bett zusammen.

Einer der Ärzte begann eine Herzdruckmassage.

Stimmen sprachen hektisch durcheinander.

Hände hantierten herum.

Alea hatte das Gefühl, als fahre ihr ein eiskalter Wind über die Haut.

Da sank Mariannes Kopf zur Seite.

Und mit einem Mal piepten die Maschinen nicht mehr. Stattdessen war ein anhaltender Ton zu hören.

Wie erstarrt stand Alea da.

Mit betroffenen Mienen traten die Ärzte vom Bett zurück. »Es tut mir so leid«, hörte Alea einen von ihnen sagen. Ein anderer richtete ebenfalls das Wort an sie, aber Alea verstand ihn nicht richtig. Sie hatte das Gefühl, die Welt um sie herum würde in grauen Nebelschwaden versinken.

Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter. Jemand schüttelte mitfühlend den Kopf. Jemand zog die Krankenhausdecke über Mariannes Gesicht.

Alea war wie betäubt, gleichzeitig schien die ganze Welt zu wanken. Das konnte doch nicht sein! Marianne!

Marianne.

Jemand schob sie behutsam aus dem Krankenzimmer und den Gang entlang. Die Ärztin von eben. In flaumweichem Tonfall redete sie auf sie ein, aber Alea begriff nichts davon.

Vor der Tür der Intensivstation warteten Ben, Sammy und Tess. Als Sammy Aleas Gesicht sah, lief er zu ihr und zog sie an sich. Und plötzlich fühlte Alea wieder etwas.

Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. Mit dem nächsten Atemzug begann sie haltlos zu weinen, und jeder Schluchzer ließ ihren ganzen Körper erbeben.

Ben kam ebenfalls zu ihr und umarmte sie. Selbst Tess schloss sich an und drückte Alea ganz fest, als wollte sie ihr versichern, dass sie sich auf sie stützen konnte.

Die Ärztin zog sich zurück.

Eine kleine Ewigkeit stand die Alpha Cru dort. Nach einer Weile sagte Ben, dass Alea sich besser hinsetzen sollte. Schwer ließ sie sich auf einen Stuhl im Gang fallen und spürte doch kaum ihre Glieder. Die anderen nahmen neben ihr Platz, und dann saßen sie einfach nur dort. Alea wusste nicht, wie lange. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. In ihrem Inneren herrschte eine tonnenschwere Leere, und das Einzige, was sie fühlte, war Sammys Hand in ihrer.

Eine Stimme schreckte sie auf. »Das muss sie sein. Das ist das Mädchen!«

Mühsam hob Alea den Blick. Vor ihr stand ein Mann mit Krawatte. Hinter ihm ein weiterer Mann und eine Frau, die sie kritisch beäugte.

»Letztendlich bist du also doch wiederaufgetaucht«, bemerkte der Krawattenmann und klang, als hätte er ewig nach Alea gesucht.

»Ich?«, fragte sie matt.

»Ja, du«, erwiderte er mit einer Spur Gereiztheit. »Du bist einfach verschwunden! Wo warst du?«

Wahrscheinlich war das jemand vom Amt. Alea fand es schwierig, sich darauf zu konzentrieren, was dieser Mann sagte. »Ich war bei Freunden«, gab sie leise zur Antwort.

Der Blick des Mannes glitt über Ben, Tess und Sammy, der sich wegduckte. Alea wurde klar, dass die beiden Brüder riesige Probleme bekommen konnten, wenn jemand ihren Status überprüfte. Schließlich hatte Ben am Tag zuvor erzählt, dass sie nirgendwo so richtig gemeldet waren – und dabei war Sammy schulpflichtig. Alea versuchte, sich zusammenzureißen. »Wer sind Sie denn?«, erkundigte sie sich bei dem Krawattenmann.

»Mein Name ist Bianchi, Hamburger Jugendamt«, stellte er sich vor. »Und das hier sind Herr und Frau Widermeyer.« Er deutete auf das Paar hinter sich. »Deine neuen Pflegeeltern.«

Alea starrte den Mann an.

»Bitte bedrängen Sie Alea nicht.« Ben stand auf und platzierte sich zwischen Alea und die Leute. »Ihre Pflegemutter ist gerade –«

»Wir nehmen sie jetzt auf der Stelle mit!«, fuhr Frau Widermeyer dazwischen, als hätte Alea ihr schon länger Ärger bereitet. Mit einer resoluten Bewegung schob die Frau Ben zur Seite. »Auf keinen Fall geben wir dem Mädchen die Chance, wieder unterzutauchen!«

Offensichtlich waren diese Widermeyers schon gestern hier gewesen. Zum ersten Mal sah Alea sich das Paar richtig an. Sowohl der Mann als auch die Frau hatten verhärmte, abweisende Gesichter und warfen Alea Blicke zu, als wollten sie ihr allein mit ihrer Mimik klarmachen, dass sie sich unterstehen sollte, ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Als hielten sie ihre neue Pflegetochter für besonders widerspenstig – dabei kannten sie Alea doch gar nicht!

Alea schüttelte den Kopf. Gerade hatte sie noch fürchterliche Angst davor gehabt, zu einer neuen Familie zu müssen. Nun standen diese unsympathischen Leute vor ihr, und sie fühlte kaum etwas. Stattdessen sah sie immer wieder vor ihrem inneren Auge, wie Marianne die Augen aufriss und sich ans Herz griff …

»Es ist alles unterschrieben«, informierte Herr Widermeyer sie. »Du bist uns mit Stempel und Siegel zugeteilt worden.«

»Eine wie dich nimmt nicht jeder!«, fügte Frau Widermeyer hinzu.

Alea schaute wieder zu dem Krawattenmann. »Eine wie mich?«

»Alle anderen Familien sind abgesprungen, weil du so lange unauffindbar warst«, erläuterte er. »Wir können heilfroh sein, dass die Widermeyers dich überhaupt –«

»Was meinen Sie mit so lange?«, hakte Ben verwundert nach.

»Damit meine ich, dass wir seit dem Tag, an dem ihre Pflegemutter den ersten Herzanfall hatte, nach diesem Mädchen suchen!« Der Krawattenmann machte keinen Hehl mehr daraus, dass die ganze Sache mit Alea offenbar eine riesige Unannehmlichkeit für ihn war.

Alea begriff allerdings nicht, wieso.

Ben wohl auch nicht. Seine gerunzelte Stirn sprach Bände.

Tess kratzte sich hinter dem Ohr.

»Deine Pflegemutter hat behauptet, du bräuchtest keine neue Familie, weil du bei ihrem Sohn gut untergebracht wärest.« Der Krawattenmann fixierte Alea. »Wir haben aber sofort mit dem Sohn deiner Pflegemutter telefoniert, und der hat uns gesagt, dass das gar nicht stimmt! Er hatte keine Ahnung, wo du bist – bei ihm auf jeden Fall nicht!«

Alea presste die Lippen zusammen. Konnte es sein? Hatte Marianne den Leuten vom Jugendamt gegenüber behauptet, ihre Pflegetochter wäre bei ihrem Sohn Carsten, damit von Amtsseite her erst einmal nichts unternommen wurde? Das war Marianne durchaus zuzutrauen. Allerdings schien das Ganze umgehend aufgeflogen zu sein …

»Seitdem haben wir nach dir gesucht!« Anklagend zeigte der Krawattenmann mit dem Finger auf Alea. »Das haben wir deiner Pflegemutter allerdings nicht gesagt. Ihr Zustand ist ja alles andere als stabil, und wir mussten sie schonen.«

Ihr Zustand war alles andere als stabil, korrigierte Alea in Gedanken und wischte sich zittrig mit beiden Handrücken übers Gesicht.

»Deine Pflegemutter hätte uns bei der Suche nach dir sowieso nicht geholfen!« Der Krawattenmann fing nun an, über die vielen Herausforderungen zu lamentieren, mit denen man sich als Jugendamtsmitarbeiter konfrontiert sah. Derweil tuschelten Herr und Frau Widermeyer miteinander. Die beiden schienen irgendetwas abzuwägen, aber Alea konnte sie nicht verstehen.

Ben, der noch immer stand, lehnte sich vor und belauschte die Widermeyers, während der Krawattenmann weiterredete. Plötzlich verhärtete sich Bens Miene. »Pflegegeld?«

Die Widermeyers verstummten.

»Bekommt man für ein Pflegekind Geld?«, fragte Ben.

»Ja«, erwiderte Alea, denn sie wusste, dass Marianne staatliche Unterstützung für sie erhalten hatte.

Der Krawattenmann schüttelte den Kopf. »Um das Geld geht es doch gar nicht.«

»Diesen beiden geht es offenbar sehr wohl darum!«, entgegnete Ben. »Es scheint ihnen wichtiger zu sein als Alea.«

Beschwichtigend hob der Krawattenmann die Hände. »Bitte keine Anschuldigungen!«

Wütend funkelte Ben den Mann vom Jugendamt an. »Sie glauben doch selbst nicht, dass Alea bei diesen Leuten gut aufgehoben ist?«

»Wir haben keine anderen Optionen mehr als die Widermeyers!«, brauste der Krawattenmann auf, dem nun der Kragen zu platzen schien. »Wer seid ihr überhaupt?«, fragte er Ben in harschem Tonfall. »Habt ihr dieses Mädchen vor den Behörden versteckt?« Mit Blick auf das Loch in Bens Hemd setzte er hinzu: »Oder seid ihr selbst Ausreißer?«

Ben antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, dass er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Dennoch schien er weiter für Alea kämpfen zu wollen. »Was für Qualifikationen haben diese Leute als Pflegeeltern?«, verlangte er zu wissen.

»Wir haben bereits andere Pflegekinder!«, blaffte Herr Widermeyer. »Fünf Stück!«

»Tatsächlich?«, fragte Ben fassungslos. »Von all dem Pflegegeld können Sie bestimmt ganz gut leben, was?«

»Keine Unterstellungen!« Der Krawattenmann hob wieder die Hände, aber das brachte Ben nicht zum Schweigen.

»Wie können Sie sicher sein, dass diese Leute das Geld wirklich für ihre Pflegekinder ausgeben und nicht für sich selbst?«, rief er.

»Unverschämtheit!«, schrillte Frau Widermeyer, und Herr Widermeyer polterte: »Jetzt reicht es aber!«

Tess erhob sich, und Sammy stand ebenfalls auf. In der Luft lag die ganze Folgenschwere der Situation, und auch Alea kam auf die Beine. Die Widermeyers fingen an, Ben lauthals zu beschimpfen, und der Mann vom Jugendamt wurde puterrot im Gesicht, als Ben weiterhin nicht lockerließ.

»Zeig mir mal sofort deinen Ausweis, junger Mann!«, schnitt der Krawattenmann ihm das Wort ab und streckte fordernd die Hand aus. »Ich werde dich jetzt überprüfen. Und vielleicht nehmen wir dann nicht nur Alea, sondern euch alle mit!« Er warf Sammy einen drohenden Blick zu, und Sammy wurde aschfahl.

Da traf Ben eine Entscheidung. Alea konnte es in seinen Augen sehen. Er war nicht bereit, Sammy, Alea oder Tess in die Hände dieser schrecklichen Leute zu geben. Eher würde er drastische Maßnahmen ergreifen. Und das tat er.

»Lauft!«, schrie Ben.

Ben stieß den Mann vom Jugendamt zur Seite und rannte los. Tess, Alea und Sammy folgten ihm. Alea hatte zwar ganz weiche Knie, aber sie wollte unbedingt dieser grauenhaften Situation entfliehen. Also nahm sie die Beine in die Hand.

Ben preschte durch eine Tür ins Treppenhaus. Tess, Sammy und Alea waren ihm dicht auf den Fersen und nahmen immer zwei oder drei Stufen auf einmal – was nicht zu empfehlen war, wenn man einen Königsumhang trug. Sammy stolperte, und nur dadurch, dass Tess ihn auffing, landete er nicht auf der Nase. Gehetzt half Tess Sammy, den Umhang zu raffen, und sie liefen weiter.

Da hörten sie, dass jemand ihnen folgte. »Schneller!«, schrie Ben und raste durch eine weitere Tür und einen Gang entlang. Kurz darauf befanden sie sich wieder im Foyer des Krankenhauses, das sie im Dauerlauf durchquerten. Ben schob jemanden zur Seite, der im Weg stand, und dann hasteten sie durch die Eingangstür.

Ben schlug den Weg nach rechts ein, also rannten sie alle hinter ihm den Gehweg hinab. Ben blickte zurück. »Mist, sie folgen uns immer noch!«, stieß er im Laufen hervor.

Alea drehte sich um und sah sowohl den Mann vom Jugendamt als auch einen zweiten Mann aus der Eingangstür stürzen.

»Der Zweite ist vom Sicherheitsdienst!«, keuchte Tess. Woran sie das erkannt hatte, wusste Alea nicht, aber der Kerl wirkte bullig und sportlich zugleich – wie ein Wachmann.

»Weiter!« Ben legte noch einen Zahn zu.

Sie jagten die Straße hinab und folgten einer lang gezogenen Kurve. Diese führte zu einem riesigen Garagentor, über dem Ambulanzfahrzeuge stand. Sie waren in eine Sackgasse gelaufen!

»Shit!«, fluchte Ben.

Tess rüttelte an der Klinke einer Tür, die mit dem Wort Notaufnahme beschriftet war. Dieses Gebäude und die Einfahrt gehörten noch zum Krankenhaus. Aber um wieder hineinzukommen, musste man eine Klingel drücken. Sollten sie das tun?

Sie schauten zurück. Der Krawattenmann und der Sicherheitstyp kamen die Zufahrtsstraße herab auf sie zu. Links und rechts der Straße waren Mauern. Sie konnten nicht einfach zur Seite ausbrechen oder an den Männern vorbeirennen. Sie saßen in der Falle.

»Was machen wir jetzt?«, gellte Sammy.

Sie hatten keine Zeit mehr, jemanden herbeizuklingeln, der die Tür öffnete. Die Männer näherten sich ihnen im Laufschritt. Als sie keine zehn Meter mehr von ihnen entfernt waren, hob der Sicherheitsmann die Hände wie zum Angriff – als wollte er sie, falls nötig, körperlich bezwingen!

Seine Haltung erinnerte Alea an etwas.

Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie.

Irgendwo tief in ihr wurde etwas aktiviert.

Mit einem Satz sprang sie nach vorn, den Männern entgegen.

Ben rief: »Was machst du?«

Alea ging leicht in die Knie, spannte ihre Hände an und hielt die Handkanten wie brettharte Waffen vor sich.

»Schneewittchen!«, hörte sie Sammy hinter sich ungläubig hervorstoßen.

Auch die Männer schienen überrascht. Der Mann vom Jugendamt blieb stehen, doch der Sicherheitstyp marschierte geradewegs auf Alea zu und versuchte, sie zu fassen zu bekommen. Sie wich ihm jedoch geschickt aus und verpasste ihm einen Tritt gegen das Schienbein.

Der Mann grunzte verdutzt.

Alea wunderte sich selbst. Was tat sie denn da?

Wütend versetzte der Mann ihr einen heftigen Schubs und schien sie zu Fall bringen zu wollen. Alea fing sich allerdings ab, wirbelte sofort wieder zu dem Mann herum und verpasste ihm einen Ellbogencheck in die Nieren. Ächzend sackte er in die Knie.

Alea hatte keine Ahnung, was ihr Körper da machte, aber als der Mann versuchte, sie mit der Hand zu erwischen, sprang sie derart flink in die Luft, dass ihr selbst der Mund aufklappte.

Ben, Tess und Sammy liefen an ihr vorbei auf den Krawattenmann zu und stießen ihn zur Seite. Er landete auf dem Hosenboden. Alea warf sich ihrerseits mit einer raschen Drehung gegen den Sicherheitsmann, sodass der ebenfalls flach am Boden lag.

Einen winzigen Augenblick lang sahen sich die Cru-Mitglieder an, als könnten sie selbst kaum fassen, was sie da getan hatten. Dann rannten sie los. So schnell sie konnten, stürmten sie die Zufahrtsstraße wieder hinauf, denn die Männer würden sich bestimmt aufrappeln und ihnen erneut folgen.

Auf einmal erklangen Motorengeräusche hinter ihnen. Ein Sirenenhorn jaulte auf. Ein Ambulanzwagen kam aus der Garage auf sie zu! Offenbar war er auf dem Weg zu einem Notfall.

Tess, Sammy, Ben und Alea sprangen zur Seite und ließen den Wagen, der in der engen Kurve im Schritttempo fuhr, an sich