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Das dreiteilige Drama Alexis, an dem Immermann fast den ganzen Winter von 1830-31 gearbeitet hatte, gehört zu seinen bedeutendsten, großartigsten Schöpfungen, und zu derjenigen seiner Dichtungen, an denen er selbst nie das Interesse verlor. Durch die gewaltige Aufgabe dieses Dramas hatte er sich nach der Julirevolution wieder in sein eigenes Leben zurückgefunden und aufs Neue an die Arbeit gefesselt gefühlt.
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Seitenzahl: 231
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Alexis
Karl Immermann
Inhalt:
Karl Immermann – Biografie und Bibliografie
Alexis
Die Bojaren
Personen.
Erster Aufzug
Zweiter Aufzug
Dritter Aufzug
Vierter Aufzug
Fünfter Aufzug
Das Gericht von St. Petersburg
Tragödie
Personen.
Erster Aufzug
Zweiter Aufzug
Dritter Aufzug
Vierter Aufzug
Fünfter Aufzug
Eudoxia
Ein Epilog
Personen.
Alexis, K. Immermann
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849628512
www.jazzybee-verlag.de
Dichter und Dramaturg, geb. 24. April 1796 in Magdeburg, gest. 25. Aug. 1840 in Düsseldorf, besuchte bis 1813 das Gymnasium seiner Vaterstadt und bezog, um Rechtswissenschaft zu studieren, im Frühling des großen deutschen Erhebungsjahrs die Universität Halle. Durch Napoleons Wiederkunft von Elba 1815 zu den Waffen gerufen, nahm er an den Schlachten von Ligny und Waterloo teil, zog mit Blüchers Heer in Paris ein und wurde als Offizier entlassen. Die Selbständigkeit seines Charakters betätigte er 1817, als die Burschenschafter zu Halle einen armen Studenten, der nicht zu ihnen halten wollte, brutal mißhandelten. I. wandte sich in einer Immediateingabe an den König und schrieb die (beim Wartburgfest mit verbrannte) Schrift »Über die Streitigkeiten der Studierenden zu Halle« (Leipz. 1817). Im I. 1817 trat er in den preußischen Staatsdienst, arbeitete bis 1819 als Referendar in Aschersleben und wurde darauf als Auditeur nach Münster versetzt. Hier lernte er die Gräfin Elisa v. Ahlefeldt, die Gattin des Freischarenführers v. Lützow, kennen und blieb in langjährigen Beziehungen zu ihr, nachdem sie sich von ihrem Gatten hatte scheiden lassen. I. trat während der Münsterschen Zeit zuerst mit dem Lustspiel »Die Prinzen von Syrakus« (Hamm 1821) hervor, dem eine Sammlung »Gedichte« (das. 1822) und die Trauerspiele: »Petrarca« (1822), »König Periander und sein Haus« (Elberf. 1823) u. a. folgten, Werke, in denen er durchaus die Wege der Romantiker wandelte. 1824 als Kriminalrichter an das Oberlandesgericht seiner Vaterstadt berufen, wohin ihm die Gräfin folgte, übersetzte er daselbst Walter Scotts »Ivanhoe« (1826), schrieb die ästhetische Abhandlung »Über den rasenden Ajax des Sophokles« (Magdeb. 1826) und veröffentlichte neue Dramen, wie das Lustspiel »Das Auge der Liebe« (Hamm 1824), die seltsame Tragödie »Cardenio und Celinde« (Berl. 1826), die das Interesse literarischer Kreise auf ihn lenkten. Als er 1827 als Landgerichtsrat nach Düsseldorf versetzt ward, folgte ihm die Gräfin auch dahin nach. Düsseldorf hatte eben damals den künstlerischen Aufschwung genommen; I. und andre brachten das literarische Element in die Kunstkreise. Allseitig angeregt, schuf er die ersten selbständigen Werke. Bald nacheinander entstanden die Tragödien: »Das Trauerspiel in Tirol« (Hamb. 1827) und »Kaiser Friedrich II« (das. 1828; vgl. Deetjen, Immermanns ›Kaiser Friedrich II.‹ Berl. 1901), das komische Heldengedicht »Tulifäntchen« (Hamb. 1827; neue Ausg., Berl. 1862), die Lustspiele: »Die Verkleidungen« (Hamb. 1828) und »Die Schule der Frommen« (Stuttg. 1829), das phantastische und tiefsinnige Mysterium »Merlin« (Düsseld. 1831; vgl. Kurt Jahn, Immermanns ›Merlin‹, Berl. 1899; Zielinski, Die Tragödie des Glaubens. Betrachtungen zu Immermanns ›Merlin›, Leipz. 1901) und die Trilogie ›Alexis‹ (Düsseld. 1832; vgl. Leffson, Immermanns ›Alexis‹, Gotha 1904). Auch »Der im Irrgarten der Metrik umhertaumelnde Kavalier«, eine gegen Graf Platen gerichtete »literarische Tragödie« (Hamb. 1829), die »Miszellen« (Stuttg. 1830), eine neue Folge von »Gedichten« (das. 1830) u. a. fallen in jene Zeit. Mit dem Roman »Die Epigonen« (Düsseld. 1836; 2. Aufl., Berl. 1856), den er 1835 vollendete, betrat I. das Gebiet der erzählenden Prosadichtung, wofür sich seine Begabung am meisten eignete. Bedeutenden Gehalt und Schwung erhielt sein Leben durch die Leitung des Düsseldorfer Theaters zwischen 1835 und 1838. Aus zufälligen Anfängen war der Gedanke, eine Musterbühne zu errichten, emporgewachsen; I. nahm Urlaub von seinem Amt, um sich der Leitung des Theaters ausschließlich zu widmen, und erreichte mit verhältnismäßig geringen Kräften Ungewöhnliches in Repertoire und Ensemble. Nicht an den Prinzipien, sondern am Mangel einer ausgiebigen materiellen Unterstützung scheiterte diese Reformbühne, und es war ein Fehler, daß keins der größern Theater Immermanns dramaturgisches Talent in Dienst nahm. Der Untergang seiner Lieblingsschöpfung verstimmte ihn tief, beugte aber seinen freudigen Schaffensmut nicht. Er begann den humoristisch-idyllischen Roman »Münchhausen, eine Geschichte in Arabesken« (Düsseld. 1839, 4 Tle.; 3. Aufl., Berl. 1854), der im Grund aus zwei locker verknüpften Romanen bestand und sich durch Gestaltenreichtum, Fülle realen und poetischen Lebens im idyllischen Teil (»Der Oberhof«, wovon zahlreiche Sonderausgaben erschienen), durch eine Reihe satirischer Meisterzüge in der humoristisch-satirischen Zeitdarstellung auszeichnete (vgl. die Programme von F. Bauer, Sternescher Humor in Immermanns;Münchhausen', Wien 1897, und W. Volkmann, Beiträge zur Erläuterung von Immermanns. Münchhausen', Bresl. 1897). Im Herbst 1839 vermählte sich I. mit Marianne, einer Enkelin des Kanzlers Niemeyer in Halle (gest. 17. Febr. 1886 in Hamburg). Im Glück seiner jungen Ehe, im Vollgefühl der mit seinem letzten Werk endlich errungenen allgemeinen Anerkennung schritt I. zur Neugestaltung des Liebesepos »Tristan und Isolde« (Hamb. 1842; 2. Aufl., Berl. 1854) und schrieb gleichzeitig an seinen »Memorabilien« (Hamb. 1840–43, 3 Tle.); aber die Vollendung beider Werke war ihm nicht vergönnt, ein tückisches Nervenfieber raffte den Dichter mitten aus seinem Schaffen hinweg. I. gehörte zu jenen spröden Talenten, die erst mit den Jahren voll erglühen und in Fluß kommen. Mit seinen »Epigonen« und dem »Münchhausen« hat er der poetischen Darstellung modernen Lebens Bahn gebrochen und seine Stellung in der Geschichte der deutschen Dichtung gesichert. Eine Gesamtausgabe seiner Schriften, in sorgfältiger Auswahl, erschien in 14 Bänden (Düsseld. u. Hamb. 1835–43), eine neuere, herausgegeben von Boxberger, in 20 Bänden (Berl. 1883), eine Auswahl besorgte Muncker für Cottas »Bibliothek der Weltliteratur« (Stuttg. 1898, 6 Bde). Aus seinem Nachlaß veröffentlichte G. zu Putlitz seine »Theaterbriefe« (Berl. 1851). Vgl. Freiligrath, Karl I. Blätter der Erinnerung an ihn (Stuttg. 1842); D. F. Strauß, Kleine Schriften (Leipz. 1866); »Karl I., sein Leben und seine Werke« (von der Witwe Immermanns; hrsg. von G. zu Putlitz, Berl. 1870, 2 Bde.); Müller (von Königswinter), Erzählungen eines rheinischen Chronisten, Bd. 1: »Karl I. und sein Kreis« (Leipz. 1860); Fellner, Geschichte einer deutschen Musterbühne. K. Immermanns Leitung des Stadttheaters zu Düssel dorf (Stuttg. 1888); »Karl I. Eine Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag des Dichters« (Hamb. 1896; mit Beiträgen von R. Fellner, I. Geffcken, O. H. Geffcken, R. M. Meyer und F. Schulteß); Deetjen, Immermanns Jugenddramen (Leipz. 1904).
Eine Trilogie
Peter Alexiewitsch, Zar von Rußland.
Alexis Petrowitsch, sein Sohn.
Katharina Alexiewna, Peters Gemahlin.
Eudoxia Lapuchin, Peters frühere Gemahlin, verstoßen, unter dem Namen Helena im Kloster Susdal.
Fürst Alexander Menzikof.
Oberst Gordon, ein Schotte, Begleiter Peters.
Dosithei, Erzbischof von Rostow.
Stephan Iwanowitsch Glebof, Generalmajor,
Basil Dolgoruki, Generallieutenant,
Alexander Kikin, Admiral,
Abraham Lapuchin, Eudoxiens Bruder, Bojaren.
Euphrosyne, Geliebte des Alexis.
Oberst Schepelew, Kommandeur der Preobraschinskyschen Grenadiere.
Hauptmann Markof.
Ein Page Menzikofs.
Ein Diener Kikins.
Ein Diener Glebofs.
Ein Adjutant Dolgorukis.
Ein Schiffer.
Ein Steuermann.
Zwei Matrosen.
Erste Szene
Moskau. Eine Straße. Zwei Bürger. Später Ein Schiffer und Volk.
ERSTER BÜRGER.
Und du, du selber hört'st es, Sokolof?
ZWEITER BÜRGER.
Bin ich ein Narr, der nach Gerüchten schwatzt?
ERSTER BÜRGER.
Tot, sagst du?
ZWEITER BÜRGER.
Tritt beiseit', hier kommt der Schiffer,
Der ihn gefahren hat.
Ein Volkshaufen kommt. Darunter ein Schiffer.
DAS VOLK.
Nun redet, Schiffer.
DER SCHIFFER.
Ihr guten Russen ...
EINIGE.
Heda! Schließt 'nen Kreis.
SCHIFFER.
Ihr guten Russen, ach, warum muß ich
Euch diese schauderhafte Neuigkeit ...
EINER.
Erst sagt uns an: Wer seid Ihr, fremde Seele?
SCHIFFER.
Claus Madsen, Madsens Sohn aus Kopenhagen,
Ein wackres Schifflein hatt' ich untern Füßen,
Und fuhr ums Eiland Ösel. Wisset nun:
Ich hatte Euren großen, gnäd'gen Zar
In Lübeck eingenommen. Jetzt versteht mich:
Im Finnenmeer, dort um das Eiland Ösel,
Starrt es von Klippen, gleich 'ner Hechel. – Wie?
Mein Steuermann ... (Er brenne in der Hölle!)
Der steuert quer. Er war so was betrunken.
Auf einmal gibt's 'nen Stoß. Alles fällt hin.
Ich kucke über Bord ...
EINER.
Fielt Ihr nicht auch?
SCHIFFER.
Wer? Ich? Warum nicht gar! Ich hätt' ja sonst
Nicht über Bord ...
EINER.
Ihr bliebt alleine stehn?
ANDRE.
Laßt ihn, er macht's natürlich, daß man's sieht.
SCHIFFER.
Kuck' also über Bord. Ei, schönes Zeug!
Wir sitzen fest auf einem Stück von Fels,
Von Sandbank, oder sonst dergleichen Ding.
»Hülfe!« ruft's unten. Eine mächt'ge Faust
Streckt aus den Wellen sich. Zornrot geschwollen
Sieht Eures Zaren Haupt empor. Lang fluten
Die aufgelösten schwarzen Haare nach.
Er hatte spähend auf dem Deck gestanden,
Und war von dem gewalt'gen Stoß hinab-
Geschleudert in die Flut. Nun setzt' ich eilig
Ein Boot mit sechszehn starken Kerlen aus,
Den Herrn zu retten. Aber jählings warf
Der wilde Strom das Boot zum Schiff zurück.
Es schaffte nichts. Und jammernd, aus dem Schiff,
Sahn wir den Leib des Herren weitertreiben,
Zuletzt verschwand der Leichnam in der Brandung;
Drei Tage fischten wir, jedoch umsonst.
O Rußland, in dem Meer erlosch dein Licht,
Und auf dem Grunde liegt der Kerze Stumpf.
Mich strafe Gott und hol' der Teufel, sagt' ich
Ein Wort zuviel, zuwenig, oder falsch!
Zu melden dies den mächtigen Bojaren
Schickt Admiral Apraxin mich von Kronstadt.
Ein dumpfes Schweigen unter dem Volke.
EINER nach einer Pause.
Hm!
EIN ZWEITER.
Ja!
EIN DRITTER.
Und ist der Zar denn also tot!
EIN VIERTER zu einem Fünften, der weint.
Was schluchzest du, Iwaschka?
DER FÜNFTE.
Ach Batuschka!
Ach unser Väterchen! Du heller Mond,
Der über Rußland schien!
DAS VOLK herzudringend.
Wer weint?
DER VIERTE.
Iwaschka.
DAS VOLK.
Warum?
DER VIERTE.
Er weint um unsres Zaren Tod.
VOLK.
So, darum weint er.
SCHIFFER.
Nun Adjes, Ihr Leute.
EINER.
Wir gehn mit Euch. Ihr sollt noch mehr erzählen.
Wir hören's gern zweimal. Wie der nur mocht'
Aussehn im Todeskampfe!
Zu den beiden Bürgern.
Geht ihr mit?
ZWEITER BÜRGER.
Behüt' uns Gott!
Das Volk mit dem Schiffer ab. Die beiden Bürger bleiben.
ERSTER BÜRGER.
Was das nun geben wird?
ZWEITER BÜRGER.
Ich denke: Knute.
ERSTER BÜRGER.
Weil der Zar gestorben?
Aus welchem Grund?
ZWEITER BÜRGER.
Aus welchem Grund? – Du Tropf!
Die Ursach' liegt im Stiel und in den Riemen.
ERSTER BÜRGER.
Das ist ein furchtbar Land!
ZWEITER BÜRGER.
Wenn man drin aufwuchs,
Kommt's einem ganz natürlich vor. Ich war
Mit meinen Zobelfell'n auf Handel, weit
In Ungarn, Hamburg, Sachsen, Amsterdam.
Dort sind sie anders, menschlicher. So heißt's.
Mir konnt's da nicht gefallen. Immer dacht' ich
An unser altes, heil'ges Russenreich.
ERSTER BÜRGER.
Wer wohl den Thron besteigen wird?
ZWEITER BÜRGER.
Schweig still
Von Thron und solchen Sachen, Erich Igel!
Wir schwören Treu', wir Bürger, wenn die Herrn
Bojaren, Erzbischöfe, Bischöf', Äbte
Die Sache abgemacht. Bis dahin, Ruh'!
Wie ist's? Gehst mit? Ich hab' ein Fäßchen Kwaß
Vom besten, kriegt' auch Hausen von der Wolga.
Nun? Auf 'nen Imb's? Nicht wahr?
Sie wollen abgehn.
Zweite Szene
Alexander Kikin. Basil Dolgoruki. Beide mit Gefolge. Vorige.
KIKIN zu Dolgoruki.
Dort stehn zwei Bürger.
Zum zweiten Bürger.
Bist du nicht Sokolof, der Pelzhändler?
ZWEITER BÜRGER.
Zu deiner Gnaden gnädigstem Befehl.
Ich küsse deines Rockes Saum, Erlaucht.
Er küßt den Rock des Bojaren.
KIKIN zum ersten Bürger.
Und Ihr? Wie heißt Ihr?
ERSTER BÜRGER.
Zeugschmidt Erich Igel;
Patentisiert vom Hof.
DOLGORUKI.
Der Mann bleibt aufrecht;
Er muß ein Fremder sein.
ERSTER BÜRGER.
Aus Kexholm, Fürst.
KIKIN.
Hier war ein Auflauf. Sprecht, was gab's?
ZWEITER BÜRGER furchtsam.
Erlaucht,
Das Volk schrie durcheinander. Man vernahm
Kein Sterbenswort.
ERSTER BÜRGER.
Wozu die Lüg'? Die Fürsten
Begehren es zu wissen. Hohe Herrn,
Der Zar ertrank im Finnenmeer.
DOLGORUKI.
Sankt Niklas,
Ein schwerer Schlag für Rußland!
KIKIN.
Wer bracht's aus?
ERSTER BÜRGER.
Der Schiffer, Herr, der unsren Zaren fuhr.
KIKIN rasch.
So muß man's glauben! Hört Ihr? Glauben muß man's!
Verschließt die Häuser, gute Bürger, harrt
Des Ausgangs still. Groß Ding steht nun bevor.
Zum ersten Bürger.
Kannst du mir tausend Stück Gewehre liefern?
ERSTER BÜRGER.
Zweitausend, gnäd'ger Herr, wenn Ihr befehlt.
KIKIN.
Bring sie zu Stepanof, dem Waffenmeister.
Ich zahle bar und auf der Stelle. Geht.
Die Bürger ab.
DOLGORUKI.
Du bist zu rasch.
KIKIN.
Zu langsam du, Basil.
Ich hab' von diesem Peter was gelernt;
Die Eile zwingt den Stärksten.
DOLGORUKI.
Nun, was soll's?
KIKIN.
Jagd auf das fremde Wild in Rußlands Forst.
Hast du verschlafen diese zwanzig Jahre?
Verträumt die Not, den Druck, die Peinigung?
Verschmerzt die Schwielen, und der Ehre Wunden?
DOLGORUKI.
Oho! Ich bin ein Russ', heiß' Dolgoruki.
Ein Dolgoruki focht an Wladimirs
Des Großen, Seit'. Dein Stamm? Wo war er damals?
Der Name Dolgoruki ist ein Merkwort
Von allem Preislichen seit Ruriks Tagen.
Doch hört ich nie von meinen Ahnen, daß
Sie auf dem Markt gestürmt, getost. Der Pöbel
Lärm' in den Gassen! Einem Fürsten ziemt's
Zu schweigen und zu handeln.
Zu seinem Gefolge.
Öffnet weit
Die Pforten meines Hauses! Geht umher,
Und ladet mir die Freunde zum Gelag!
Es ströme der Tokaier! Deckt die Teppich'
Von Samarkand auf Bank' und Tische!
Zu Kikins Gefolge.
Helft
Ihr Euren Kameraden! Euer Herr,
Mein Freund, erlaubt es Euch.
Die beiden Gefolge ab.
KIKIN.
Was soll's?
DOLGORUKI.
»Was soll's«?
So fragst du selber nun. Hör' Alexander:
Der Atem des Tyrannen streift', ein Nebel,
Ob unsrem unglücksel'gen Vaterland.
Im Nebel kennt man die Gesichter nicht.
Nun denk' ich so: Wir schaun der Freunde Antlitz
Zuerst genauer an, und haben wir
Die frühern Lineament' erkannt, so gehn
Wir allesamt ...
KIKIN.
Wohin?
DOLGORUKI.
Zu Stephan Glebof.
KIKIN.
Warum zu dem?
DOLGORUKI.
Er ist, du weißt's wir alle
Sind dessen kundig; mehr noch, als ein Freund
Von der Zariza.
KIKIN.
Welcher?
DOLGORUKI.
Kahler Scherz!
Ich denk', für uns gibt es nur eine Zarin,
Und 'ne gekrönte Bauerdirne.
KIKIN.
Dann?
DOLGORUKI.
Glebof ist Freund, Vertrauter, Rat der Zarin.
Der Zarewitsch will, was die Zarin will,
Und unsere Gedanken, denk' ich, wandern
Nur eine Straße. Über Kloster Susdal
Führt sie ins Haus des arg gekränkten Sohns.
Der Glebof steht in dieses Weges Mitte,
Recht wie ein Mal von Stein, so stumm und kalt.
An diesem Male ziemt's, sich zu versammeln,
Und weitern Rat zu pflegen.
KIKIN.
Laß ihn fort.
Er hielt sich fern von uns, liebt nur sein Laster.
Er hat kein Herz, sieht immer spöttisch aus,
Beleidigend sind seine Reden oft.
DOLGORUKI.
Zuwider ist er mir, wie dir. Doch wenn
Der Kampf um Kronen geht, heißt's nicht: Wen mag ich?
Man fragt: Wer nützt uns? Und der Glebof ist
Der Mann des Tags, der Not, des Nutzens! – Komm!
Beide ab.
Dritte Szene
Saal in Glebofs Hause.
Glebof. Der Schiffer.
GLEBOF.
Wie nahm das Volk die Nachricht auf?
SCHIFFER.
Sie nahmen
Sie gar nicht auf.
GLEBOF.
Wie das?
SCHIFFER.
Die Lüge liegt
Noch auf der Straß', wo ich sie fallen lassen.
»Hm!« »So!« und: »Ei!« war alles, was ich hörte.
Sprach ich vom Wetter, macht's dieselbe Wirkung.
GLEBOF.
Gut.
SCHIFFER.
Bloß ein paar zerlumpte alte Weiber
Schrien, daß die Hunde an zu bellen fingen:
»Daß Gott erbarm'! So war die Prophezeihung
Von unsres Zaren bald'gem Tod doch richtig!«
GLEBOF.
Gut.
SCHIFFER.
Dem hochwürd'gen Erzbischof von Rostow,
Sei's, sagten sie, im Traume so erschienen.
GLEBOF.
Gut.
SCHIFFER.
Drauf versetzte wer: »Was kümmert's uns?«
GLEBOF.
Gut.
SCHIFFER.
Gut? – Mein gnäd'ger Herr, was ist da gut?
Ich dacht', Ihr hättet deshalb aus den Eisen
Mich losgemacht, in Schifferrock und Hose
Gesteckt, und auf mein leider zu bekannt
Gesicht, den Hut gedrückt mit breiter Krempe;
Ihr hättet deshalb mir ...
GLEBOF.
St! – Glaubten sie's?
SCHIFFER.
Beim heiligen Georg! Ich meine, denen
Könnt' man vorschwatzen; außer Rußland sei
Die Welt zu Ende, wie 'nes Sünders Leben.
Ach ja, geglaubt ward's wohl.
GLEBOF nach einem Tische deutend.
Dort liegt ein Beutel;
Nimm den zum Lohne. Flieh!
Verbirg dich fern am Irtysch in der Wüste.
Du bist nun frei. Sieh deine Wunden an,
Die dir die Fessel rieb; und denke stets,
Daß Galgen stehn in Rußland!
DER SCHIFFER.
Freilich! Freilich!
Ich dank' für deine Lehre dir, Erlaucht,
Und werde sie befolgen. Meiner Treu'!
Je wen'ger man zu leben wert, so mehr
Liebt man, zu leben.
Ab.
Vierte Szene
Glebof. Nachher: Ein Diener.
GLEBOF allein.
Dieser Schelm sagt mir
'Ne bittre Wahrheit. – Meine Tage sind
Ein wüst Gewirr von Lust und Ekel. – Still!
Weshalb den Kläger spielen gegen dich?
Vor einem Kalender und einer Landkarte.
Heut ist der sechste Junius. Meines Wissens
Ist Peter noch in Lübeck. Vierzehn Tage
Gehn auf die Fahrt nach Kronstadt. Dann verlaufen
Der Tage fünf, bis wir erfahren, daß
Er angekommen. Also neunzehn Tage
Sind unser zu des Plans Gedeihn. Nun, mehr
Hat Cäsar nicht gehabt, um Rom zu stürzen. –
Das Volk ist gut, hielt meine Probe aus.
Sie waren Sklaven, blieben's, sind's noch mehr
Durch dich geworden, Zar.
Ein Diener tritt auf.
Was gibt es, Bursch?
DIENER.
Herr, die Bojaren kommen truppweis vom
Palaste Dolgoruki.
GLEBOF.
Hieher?
DIENER.
Ja.
Die Säbel klirr'n, der Balaleika Ton
Begleitet ihren Zug.
GLEBOF.
Wen sahst du?
DIENER.
Viele;
Den Alexander Kikin, den Basil
Und Fedor Dolgoruki. Die Wasemskys,
Die Narischkins und ihre Sippschaft, Woinofs,
Den Bruder der Zariza, Abraham,
Den heil'gen Erzbischof von Rostow, und
Noch manchen andern.
GLEBOF.
Führ' die Herrn zu mir.
Diener ab.
Am Fenster stehend.
Ein wackrer Haufen. Eine Herde, die
Des Hirten noch bedarf. – Wird's glücken? Wird's?
In solchen Stunden, da verlohnt's, zu leben.
Dann ist der Tag was wert, wenn an dem Tage
Das Los von Tausenden, gleich einer Frucht,
Gezeitigt hängt. – Ha, wird es auch wohl glücken?
Wer gibt den Barometer uns, an dem
Der menschlichen Gedanken Stand sich zeigt?
In jeglichem Gemüte ist ein Wechsel
Von allen Jahreszeiten, jeden Tag.
So kann auch ich, auf Sommerhitze rechnend,
Den trägen Winter finden. – Prüfen wir's!
Er setzt sich an einen Tisch zu Büchern und Papieren.
Fünfte Szene
Glebof. Kikin. Dolgoruki. Abraham Lapuchin in Trauer Erzbischof von Rostow. Viele Bojaren. Sie treten nacheinander ein.
KIKIN.
Guten Morgen, Glebof.
DOLGORUKI.
Wir begrüßen dich.
LAPUCHIN.
Der Zeiten Not zwingt Lapuchin zu dir.
ERZBISCHOF.
Ich geb' dir Gott zum Gruß.
DOLGORUKI.
Er hört uns nicht.
ERZBISCHOF.
Was? Ist er so vertieft?
Er rührt ihn an.
Sieh auf, mein Sohn.
GLEBOF emporblickend.
Wer ist? ... Mein Gott! Hochwürd'ger Erzbischof,
Wie komm' ich ...
Er steht auf.
All Ihr Heiligen! Verzeiht
Sehr edle Herrn! Ich hab' Euch nicht bemerkt.
Wenn ich bei meinen Büchern bin, ist nur
Der träge Leib am Platz; die Seele wandert,
Wohin die Lettern sie geleiten; oft
Hat dies vertiefte und zerstreute Wesen
Mich lächerlich gemacht. – Seid mir gegrüßt!
Welch' eine vornehm glänzende Versammlung
In Eures armen Dieners Haus! Ich seh'
Die Blüte Rußlands.
Zu Kikin.
Gebt mir Eure Hand,
Herr Admiral!
Zu Dolgoruki.
Auch Eure, Generallieutenant.
Da beide ihre Hand zurückziehn.
Wie? Weigert Ihr dem Freunde dieses Zeichen?
KIKIN.
Der Admiral des Zaren ist nicht hier.
DOLGORUKI.
Nennt nicht die Titel, welche jünger sind,
Als unser wahrer Ruhm.
EIN BOJAR.
Ich bin ein Narischkin.
Kein Mensch auf Erden kann die Narischkins
Erhöhn. Ihr Name ist das Höchste.
GLEBOF.
Wohl!
Ich rechte nicht mit so erlauchten Gästen.
Nach altem Brauche: Vettern, Brüder! also.
Stephan Iwanowitsch Glebof dankt von Herzen
Für den Besuch. Nun setzt Euch. Heda, Mundschenk!
KIKIN.
Wir haben schon gefrühstückt. Laßt's.
GLEBOF.
Setzt Euch
Denn mindestens.
Sie setzen sich. Lapuchin unten.
Da unten, Lapuchin?
Nein Abraham, nicht unten ist dein Platz.
Den Ehrenstuhl für Abraham Lapuchin!
LAPUCHIN.
Soll Schand' auf einem Ehrenstuhle sitzen?
GLEBOF.
Du edler Trauernder!
LAPUCHIN.
Ich trage Schwarz
Um meiner Schwester Los. Wollt' Gott im Himmel,
Ich hätte keine andre Trauer, Glebof!
GLEBOF.
Heut ist ein Tag, an dem mein Glück gelacht.
Mich dünkt, du sahst mir scheel, mein Abraham,
Und miedst den Freund. Doch das ist nun vorüber,
Denn Lapuchin sitzt auf des Glebof Stuhl.
LAPUCHIN.
Ich setzte mich auf deinen Stuhl, wie ich
Auf einen Balken mich mit meinem Todfeind
Im Schiffbruch setzen würde. Spottest du?
Ich bin ein Mann von alter, reiner Art,
Verstoßen hat der Zar Eudoxien,
Glebof hat sie beschimpft.
GLEBOF die Hand am Säbel.
Dies Wort verdient ...
Dolgoruki Laßt Eure Zänkerein!
GLEBOF.
Ja wohl, ja wohl.
Er ist an seinem Tische stehn geblieben.
Nun, was ist Eu'r Begehren, meine Herrn?
ERZBISCHOF.
Du weißt, welch' eine Post mit Feuerschritten
Durch Moskaus Straßen ging. Der Schutzverwandte,
Der Bürger, Gast, Kosak und Hattaman,
Stadthäupter, Älteste, Bojarenkinder,
Sie alle rufen: »Unser Zar ist tot!«
Zum dritten Mal auf Fahrt nach fremdem Land,
Ich weiß nicht, welche fremde Kunst zu holen,
Dem falschen Meere lieber sich vertraund,
Als Rußlands treuer Erde, schlang ihn ein
Das falsche Meer.
GLEBOF.
Ihr habt's vorhergesagt.
ERZBISCHOF.
Unsel'ge Ahnungsgabe! – Stirbt ein Fürst,
Versammeln sich des Reichs geborne Pfleger
Gemeiner Wohlfahrt halber. Drum sind wir
Vereinigt. – Wir entschlossen uns, auch dich
In unsern Rat zu ziehn.
GLEBOF.
Ihr? Mich? – Recht gut.
Indes ...
Nach einer Pause.
Ich bin der General des Zaren.
ALLE.
Was?
GLEBOF kalt.
Menzikof verwaltet loco regis
Mit Katharinen dieses Land. Sie sind
Die treu'n Gefäße seines höchsten Willens.
DOLGORUKI.
Kath'rina! Menzikof!
KIKIN.
Siehst Du? Er meint
Es falsch. Ich sagte dir's.
GLEBOF.
Zu ihnen geht,
Und fragt, was der, wie's heißt, ertrunkne Zar
In casum mortis angeordnet.
LAPUCHIN.
Kommt!
Bojaren auf!
Sie sind im Begriff aufzubrechen.
GLEBOF.
Halt, einen Augenblick!
DOLGORUKI.
Was willst du noch von uns?
GLEBOF.
Daß Ihr die Lobschrift
Vernehmt, die auf den Toten ich entworfen.
ALLE.
Die Lobschrift?
GLEBOF mit erhobner Stimme.
Nun? Soll ein so großer Mann
Denn ungerühmt zum Grabe gehn? Das wäre
Stumpfsinn von uns, den er so oft gescholten.
LAPUCHIN.
Ich sage, kommt nach Haus!
DOLGORUKI.
Ich sage, bleibt!
Ich wittr' ein Schauspiel.
GLEBOF beiseite.
Recht. »Die Narrn des Glebof.« –
Er nimmt ein Papier vom Tische und beginnt zu lesen.
»Lobschrift, verfaßt mit ungeschickter Feder
Von Stephan Glebof, auf den großen Zar.«
EINIGE.
Sind wir um Possen hier?
ANDRE.
Still! Still! Hört zu.
GLEBOF liest.
»Rußlands Bojaren zogen auf im Land,
Ein jeder mit zehntausend Pferden mindstens. –
Rußlands Bojaren setzten Herrscher ein,
Und Herrscher ab. Aus ihrem Munde floß
Die Quelle der Gesetze. Also war's. –
Da kam ein Zar, hieß Fedor. Dieser ließ
Die Bücher bringen auf den heil'gen Kreml,
Worin verzeichnet unsre Titel, Vorzüg',
Und unser uraltfestgewalt'ges Recht.
Zar Fedor sprach: ›Entzündet mir ein Feuer!‹
Und als das Feuer lodert' im Kamin,
Da warf der Zar die Bücher all' hinein,
Und sprach: ›Hiemit verbrenn' ich Euer Recht.‹ –
Der Roßrad flog als Asche in die Luft,
Und die Bojaren sahn's und blieben stumm.«
EINER.
Ich nicht. Ich murrt'.
GLEBOF.
Ja doch, und sprachst kein Wort.
Liest.
»Dann kam ein Zar, hieß Peter. Dieser fand
Nur Sklaven von der Newa bis zum Don.
Ein Großer und Gewalt'ger! Sprach: ›Ich will
Der Knechte ganzer Herr sein! – Ihre Körper
Gehorchen schon, nun soll'n die Seelen auch,
Wie Puppen, tanzen an des Lenkers Draht.‹
Fuhr übers Meer nach Holland, Frankreich, Deutschland,
Und – lernte Schiffe baun: Der große Mann!
Und – lernte schmieden Erz: Der große Mann!
Und weil er's vorgelernt, so sollten's ihm
Nachlernen die verkleinerten Bojaren,
Und werden Schmied' und Zimmerleut' ...«
Bewegung in der Versammlung.
ERZBISCHOF.
Ein Lob,
Das kann man gelten lassen.
DOLGORUKI.
Warum uns
Bekannte Schand' erzählen?
MEHRERE.
Weiter! Weiter!
GLEBOF liest.
»Die Fürsten waren ungefüg, und lernten
Langsam das edle Handwerk. Alsobald
Ließ dieser große Mann von fern herbei
Sich schnell're Köpfe kommen, bess're Schüler.
Da strömt' es über unsres Reiches Grenzen
Aus England, Welschland, Frankreich. Fremde führten
Das Heer; das doppelaar'ge Siegel; Fremde
Führten die neugeschnitzte Flott'. Was sag' ich?
Fremd war ja niemand hier, als just der Russ'!
Nicht alle Russen, nein nicht alle! Nur,
Was hoch und herrlich war! Nein, mit dem Staub
Auf heim'schem Boden, schloß der große Mann
Ein innig Wahlverbündnis. In die Hand
Nahm er hier Staub, dort Staub, und formte draus
Gewalt'ge Untergötter! –
Weil Alexander Menzikof sehr schmackhaft
Pasteten buk, war er nach dem Geschmack
Des großen Manns, und ist ein Fürst. Und weil
Die Witwe des Dragoners schöne Augen
Besaß, taugt sie – das Aug' des Reichs zu sein.«
Die Bewegung in der Versammlung ist immer stärker geworden.
EINIGE.
Ha wackrer Glebof!
ANDRE.
Guter Lobredner!
EINIGE.
Tod diesem Menzikof!
ANDRE.
Tod Katharinen!
DOLGORUKI.
Tod dem Tyrannen!
GLEBOF ihn scharf fixierend: lachend.
Ei, der ist ja tot!
Liest.
»So schändete der Zar ...«
EINIGE.
Ihr sollt nicht mehr
Vom Zaren lesen!
ANDRE.
Sollt uns führen!
ALLE außer Kikin, Dolgoruki, dem Erzbischof und Lapuchin.
Sollt
Des Unternehmens Haupt sein.
Sie erheben sich.
GLEBOF.
Das klingt anders.
DOLGORUKI.
Hört mich, Bojaren!
LAPUCHIN.
Nicht im Sturme ...
KIKIN.
Halt!
GLEBOF wirft das Papier zu Boden.
Wer ruft hier: »Halt!« wenn ich gebiete: »Vorwärts!«
Er zieht den Säbel. Die Bojaren desgleichen, bis auf Kikin, Dolgoruki, Lapuchin.
Die alte Moskau, unser Heiligtum,
Ward zur verhöhnten Wüste! In dem Qualmsumpf
Der Newa baute der Despot die Zwingburg!
Wir sind gekränkte Bettler! Um den Thron
Des Rurik wuchern Pilze! In dem Kreml
Seufzt unsre Hoffnung, unsrer Bräuche Freund!
Gehaßt, weil er uns liebt, beschimpft, weil er
Uns Ehre gönnt! Hochherzige Bojaren,
Folgt mir zum Zarewitsch!
Sie wenden sich nach der Türe.
Sechste Szene
Eudoxia durch die Flügeltüre auftretend. Vorige.
ALLE bei Eudoxias Anblicke zurücktretend.
Ha, die Zariza!
GLEBOF.
Was? Sie? Wo kommst du her?
EUDOXIA.
Aus meiner Gruft.
GLEBOF.
Was suchst du hier?
EUDOXIA.
Ein Reich und eine Krone.
GLEBOF.
Wer hat dir das erlaubt?
EUDOXIA.
Ich selbst mir selber.
GLEBOF.
Du solltest bleiben, bis ich dich beriefe!
EUDOXIA.
Bis dahin wär' Eudoxia gestorben.
GLEBOF.
Folgt mir zum Zarewitsch!
EUDOXIA.
Hört seine Mutter!
GLEBOF.
Hört sie nicht an!
ERZBISCHOF.
Wie? Die Zariza? Glebof,
Du bist gewaltig kühn.
MEHRERE.
Sprecht, hohe Frau.
GLEBOF.
Fluch allen Weibern!
Er tritt zur Seite.
EUDOXIA.
Bin ich überflüssig?
Wenn Rußlands Fürsten dieses Landes Leid
Erwägen, fehlte dann Eudoxia
In solchem Kreis? Ist ein Gebäude fertig,
Bevor der Giebel ward gefügt? Ihr baut
Von Schmerz ein Haus! Was habt Ihr? Fundamente!
Die Spitze fehlt dem Turm. Was littet Ihr,
Das nicht vergütet könnte sein? Was mißt Ihr,
Das nicht mit Zins und Wucher jeder Tag
Euch rückerstatten könnte?
MeinLeiden ist ein unerschöpfter Born,
MeinSchmerz ist eine ew'ge Qualenwunde!
Ihr seid Vasallen im Gebiet der Trübsal,
Ich aber bin die Königin des Jammers!
EIN BOJAR.
Ach, arme Frau!
EIN ZWEITER.
Wie sie so majestätisch
Umherblickt!
EIN DRITTER.
Seht, sie weint!
EIN VIERTER.
Das schöne Weib!
EUDOXIA.
Moskau prangt gülden in begrünter Au!
Im Föhrenwald graut Susdal, bleich und tot.
Der Thron des Zaren ist des Lebens Sitz,
Der Betstuhl Kloster Susdals ist ein Sarg!
Wer liegt im Sarg? Eudoxia! Das ist,
So hör' ich sagen, ja dieselbe, die
Vorlängst auf jenem Sitz des Lebens saß.
Ei, die muß eine große Sünderin sein!
Unglück, Ihr Fürsten, macht Gedächtnis stumpf;
Ich hab' vergessen der Eudoxia Frevel.
Warum, Ihr Fürsten, ward Eudoxia
Vor ihrer Zeit ins Grab verstoßen? Kann's
Mir einer sagen, der verbindet mich!
Ich bitt' Euch, sagt es mir ...
DOLGORUKI.
Er hat unmenschlich
An Euch gehandelt.
LAPUCHIN.
Um die Buhlerin
Verstieß er Dich.
EUDOXIA.
Das kann nicht möglich sein!
Ihr irrt Euch ganz gewiß. Wie? um 'ne Buhlerin?
Ein pflichtgetreues Weib! O nicht doch! Nicht doch!
In Nacht und Tod die Zarin um 'ne Metze?
Und solche Untat hätt' zwölf Jahre lang
Die Erde Gottes getragen, und Rußlands Adel?
Um eine Buhlerin! Ich, Tochter aus
Dem Stamm der Lapuchin! Durchs Sakrament
Geweihet als sein Fleisch! Ich, die Gekrönte!
Ich weiß, ein großer Mann wägt nicht genau
Die Taten ab, doch das? O brich mein Herz!
Denn was zuviel ist, ist zuviel! Um eine –
Stirb, Seele, hin in ein entsetztes Ach! –
Um eine Buhlerin ...
Sie wankt. Glebof unterstützt sie.
GLEBOF.
Kommt, Ossudara,
Denn Ihr seid krank, und kränker, als Ihr meint.
Er führt sie durch eine Seitentüre ab.
Siebente Szene