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Alfred Adler

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Beschreibung

Die Individualpsychologie Alfred Adlers gehört neben den Schulen Sigmund Freuds und C. G. Jungs zu den Grundpfeilern der modernen Psychologie. Die »Gesammelten Werke« enthalten die drei Hauptwerke »Praxis und Theorie der Individualpsychologie« (1920), »Menschenkenntnis« (1927) und »Der Sinn des Lebens« (1933). Schon früh stehen bei Adler die Triebkräfte des Unbewussten im Mittelpunkt und jeder Mensch ist für ihn ein soziales Individuum – ein in der Einheit von Körper und Seele unteilbares Einzelwesen, dessen Empfinden und Streben von einem tief in seiner Persönlichkeit verankerten »Gemeinschaftsgefühl« geprägt wird.

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Seitenzahl: 1334

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Alfred Adler

Gesammelte Werke

Die Vortragssammlung Praxis und Theorie der Individualpsychologie erschien zuerst 1920 bei J. F. Bergmann in München und Wiesbaden. Der Text folgt hier der vierten Auflage München 1930. – Menschenkenntnis erschien erstmals 1927 im S. Hirzel Verlag in Leipzig. – Der Sinn des Lebens erschien erstmals 1933 im Verlag Dr. Rolf Passer, Wien, Leipzig.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Anaconda Verlag GmbH, KölnEin Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Alfred Adler (1870–1937), Foto, um 1930, akg-images / ImagnoUmschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Bad HonnefSatz und Layout: Roland Poferl Print-Design, Köln

ISBN [email protected]

Inhalt

Praxis und Theorie der Individualpsychologie

Menschenkenntnis

Der Sinn des Lebens

Praxis und Theorie der Individualpsychologie

Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer

Vorwort zur ersten Auflage

Die individualpsychologische Forschung erstrebt eine Vertiefung der Menschenkenntnis, die nur zu holen ist aus dem Verständnis der Stellung des Individuums zu seiner sozial bestimmten Aufgabe. Nur die Bewegungslinie, in der sich die soziale Aktivität einer Persönlichkeit darstellen und empfinden läßt, gibt uns Aufschluß über den Grad der Verschmelzung eines Menschen mit den Forderungen des Lebens, der Mitmenschen, des Weltalls. Sie gibt uns auch Aufschluß über den Charakter, über den Elan, über sein körperlich-geistiges Wollen. Sie läßt sich zurückverfolgen bis zu ihren Ursprüngen in der Zeit der Ichfindung und zeigt uns dort, in der frühesten Position des Menschenkindes, die ersten Widerstände der Außenwelt und die Form und Kraft des Wollens und der Versuche, sie zu überwinden. In diesen frühesten Kindheitstagen schafft sich das Kind irrend und unverständig seine Schablone, sein Ziel und Vorbild und den Lebensplan, dem es wissendunwissend folgt. Vorbildlich werden ihm dabei alle Erfolgsmöglichkeiten und die Beispiele anderer Überwinder. Den Rahmen gibt ihm die umgebende Kultur.

Über dieser tiefsten Bewegungslinie des Individuums, von der das Menschenkind manches weiß, deren grundlegende Bedeutung es immer verkennt, baut sich die ganze seelische Struktur auf. Alles Wollen, der ganze Kreis der Gedanken, des Interesses, Assoziationsverlauf, Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen laufen im Geleise dieser Dynamik. Aus ihr und zu ihrem Schutze stammen Weltanschauung, Antrieb oder Bremsvorrichtungen, und jedes Erlebnis wird so weit gedreht und gewendet, bis es zugunsten des eigentlichen Persönlichkeitskernes, jener kindlichen Bewegungslinie, seinen Nutzeffekt abgegeben hat.

Unsere Individualpsychologie hat aber auch den Nachweis erbracht, daß die Bewegungslinie des menschlichen Strebens zunächst einer Mischung von Gemeinschaftsgefühl und Streben nach persönlicher Überlegenheit entspringt. Beide Grundfaktoren zeigen sich als soziale Gebilde, der erste als angeboren, die menschliche Gemeinschaft festigend, der zweite als anerzogen, als naheliegende allgemeine Verführung, die unablässig die Gemeinschaft zum eigenen Prestige auszubeuten trachtet.

Es war nicht allzu schwierig, die Prestigepolitik des Einzelindividuums den Psychologen, Pädagogen und Neurologen klar zu legen. Daß sich Prestigewissenschaft dem Einflusse unserer Individualpsychologie zu entwinden trachtet, daß sie mit Finten und auf Umwegen unsere Aufdeckungen nicht bekämpft, sondern übernimmt, ist mir und meinen Schülern keine sonderliche Überraschung. Vor der einen Tatsache, daß sie immer unseren Aufdeckungen des Machtrausches nachhinkt, sie niemals überflügelt, verblaßt ihr eigener Dünkel und ihre Großsprecherei.

Schwieriger dürfte es uns fallen, den allgemeinen Beitrag des Gemeinschaftsgefühls klar zu machen. Denn hier stoßen wir gegen das Gewissen des einzelnen. Viel leichter verträgt er den Nachweis, daß er wie alle andern nach Glanz und Überlegenheit strebt, als die unsterbliche Wahrheit, auch ihn umschlinge das Band der menschlichen Zusammengehörigkeit, und er verschleiere es listig vor sich und den andern. Seine Körperlichkeit verweist ihn auf den Zusammenschluß, Sprache, Moral, Ästhetik und Vernunft zielen auf Allgemeingültigkeit, setzen sie voraus, Liebe, Arbeit, Mitmenschlichkeit sind die realen Forderungen des menschlichen Zusammenlebens. Gegen diese unzerstörbaren Wirklichkeiten stürmt und tobt das Streben nach persönlicher Macht oder sucht sie listig zu umschleichen. In diesem unablässigen Kampf aber zeigt sich die Anerkennung des Gemeinschaftsgefühls.

Das Wissen der Menschen um die Beweggründe ihrer Handlungen, das allgemeine Verständnis von den seelischen Erscheinungen bei Gesunden und Nervösen, die immer anderes bedeuten können als sie oberflächlich zum Ausdruck bringen, ist unzulänglich, solange die formale Gestaltung und die Dynamik ihrer Leitlinie verborgen bleibt. Was Führer der Menschheit als das Wirken Gottes, des Schicksals, der Idee, der ökonomischen Grundlage erfaßt hatten, zeigt uns die Individualpsychologie als die machtlüsterne Ausgestaltung eines formalen Gesetzes: der immanenten Logik des menschlichen Zusammenlebens.

Der vorliegende Band enthält Vorarbeiten, Erweiterungen und Forschungen der Theorie und Praxis der Individualpsychologie und hat die Aufgabe, durch eine Reihe von älteren und neuen Arbeiten den Weg zu unserer Wissenschaft zu weisen. In diesem Sinne ist er auch ein Begleiter des früher erschienenen Werkes »Über den nervösen Charakter«. (Vierte Auflage, J. F. Bergmann, München.)

Prigglitz, im August 1920

Vorwort zur vierten Auflage

Ich habe durch Ergänzungen, Klarstellungen und Erweiterungen getrachtet, dieses Buch auf die gegenwärtige Höhe der Entwicklung der Individualpsychologie zu bringen.

Dr. Alfred Adler

Visiting Professor der Columbia University,

New York New York, im März 1930

Inhaltsverzeichnis

I. Die Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und Ergebnisse

II. Psychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest – ein Kernproblem der nervösen Erkrankungen

III. Weitere Leitsätze zur Praxis der Individualpsychologie

IV. Individualpsychologische Behandlung der Neurosen

Ätiologie

a) Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation

b) Das Arrangement der Neurose

c) Psychische Behandlung der Neurose

Anhang

V. Zur Theorie der Halluzination

VI. Kinderpsychologie und Neurosenforschung

Erster Teil

Zweiter Teil

Schlußbetrachtung

VII. Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie

VIII. Das Problem der »Distanz«

IX. Über männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern

X. Beitrag zum Verständnis des Widerstands in der Behandlung

XI. Syphilidophobie

XII. Nervöse Schlaflosigkeit

Anhang: Über Schlafstellungen

XIII. Aus den individualpsychologischen Ergebnissen bezüglich Schlafstörungen

XIV. Über die Homosexualität

XV. Die Zwangsneurose

Zusammenfassung

XVI. Zur Funktion der Zwangsvorstellung als eines Mittels zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühles

Erster Teil

Zweiter Teil

XVII. Nervöser Hungerstreik

XVIII. Traum und Traumdeutung

XIX. Zur Rolle des Unbewußten in der Neurose

XX. Das organische Substrat der Psychoneurosen

Zusammenfassung

XXI. Lebenslüge und Verantwortlichkeit in der Neurose und Psychose

XXII. Melancholie und Paranoia

a) Melancholie

b) Paranoia

Anhang: Aus den Träumen eines Melancholikers

XXIII. Individualpsychologische Bemerkungen zu Alfred Bergers »Hofrat Eysenhardt«

XXIV. Dostojewski

XXV. Die neuen Gesichtspunkte in der Frage der Kriegsneurose

Literaturverzeichnis

XXVI. Myolodysplasie oder Organminderwertigkeit?

XXVII. Über individualpsychologische Erziehung

XXVIII. Die individuelle Psychologie der Prostitution

a) Voraussetzungen und Standpunkte des kritischen Beurteilers

b) Publikum und Prostitution

c) Kreis der Prostitution

d) Prostitution und Gesellschaft

XXIX. Verwahrloste Kinder

I. Die Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und Ergebnisse

Ein Überblick über die Anschauungen und Lehren der meisten Psychologen zeigt uns eine sonderbare Beschränkung, soweit ihr Forschungsgebiet und ihre Mittel der Erkenntnis in Frage kommen. Es ist, als ob Erfahrung und Menschenkenntnis mit tieferer Absicht ausgeschlossen sein sollten, und als ob der künstlerischen, schöpferischen Anschauung, dem Erraten und der Intuition jede Geltung bestritten wäre. Während die Experimentalpsychologen Phänomene sammeln oder erzeugen, um Reaktionsweisen zu erschließen, also eigentlich Physiologie des Seelenlebens betreiben, reihen andere alle Ausdrucks- und Erscheinungsformen in althergebrachte oder wenig geänderte Systeme ein. Dabei finden sie nun freilich jene Abhängigkeiten und Zusammenhänge in den Einzelbewegungen wieder, die sie in ihrem Schema der Seele von vorneherein angebracht hatten.

Oder man versucht aus kleinen, womöglich meßbaren Einzelerscheinungen physiologischer Art Seelenzustände und das Denken aufzubauen, indem man beide gleichsetzt. Daß dabei das subjektive Denken und Einfühlen des Forschers ausgeschaltet erscheint, in Wirklichkeit freilich recht kräftig den Zusammenhang meistert, gilt diesen Forschern noch als Vorzug ihrer psychologischen Auffassung.

Die Methodik dieser Richtungen erinnert auch in ihrer Bedeutung als Vorschule des menschlichen Geistes an die jetzt überholte ältere Naturwissenschaft mit ihren starren Systemen, die heute allgemein ersetzt sind durch Anschauungen, die biologisch, aber auch philosophisch und psychologisch das Leben und seine Varianten im Zusammenhang zu erfassen trachten. So auch jene Richtung in der Psychologie, die ich »vergleichende Individualpsychologie« genannt habe. Sie versucht das Bild der einheitlichen Persönlichkeit als einer Variante aus den einzelnen Lebensäußerungen und Ausdrucksformen zu gewinnen, indem sie die Einheit der Individualität voraussetzt. Nun werden die einzelnen Züge miteinander verglichen, auf ihre gemeinsame Linie gebracht und zu einem Gesamtporträt individualisierend zusammengetragen.1

Es dürfte auffallen, daß diese Art der Betrachtung des menschlichen Seelenlebens durchaus nicht ungewöhnlich oder besonders verwegen aussieht. In den Betrachtungen der Kinderpsychologie leuchtet sie trotz anderer Richtungslinien deutlich hervor. Vor allem aber ist es das Wesen und das Werk des Künstlers, des Malers, des Bildhauers, des Musikers, vorzüglich des Dichters, alle kleinen Züge seiner Geschöpfe so darzustellen, daß der Betrachter in ihnen die Grundlinien der Persönlichkeit, den Lebensstil zu erfassen vermag, aufzubauen imstande ist, was der Künstler vorher schon, im Hinblick auf das Finale in sie versteckt hatte. Zumal das Leben in der Gesellschaft, das Leben ohne wissenschaftliche Voreingenommenheit ist so sehr im Banne der Frage nach dem Wohin? einer Erscheinung, daß man es aussprechen muß: trotz aller gegenteiligen wissenschaftlichen Anschauung hat noch nie einer sich über ein Geschehnis ein Urteil gebildet, ohne nach einer Linie gehascht zu haben, die alle seelischen Erscheinungen einer Person bis zu ihrem fiktiven Ziel zu verbinden scheint.

Wenn ich nach Hause eile, werde ich dem Betrachter alle Haltung, Miene Bewegung und Gebärde darbieten, die man gemeiniglich von einem Heimkehrenden erwarten darf.2 Und dies trotz aller Reflexe und trotz aller Kausalität. Ja, meine Reflexe könnten auch andere sein, die Ursachen könnten variieren – was man psychologisch erfassen kann und vor allem, was uns praktisch und psychologisch fast ausschließlich interessiert, ist: die Linie, die einer verfolgt.

Ferner: wenn ich das Ziel einer Person kenne, so weiß ich ungefähr, was kommen wird. Und ich vermag es dann auch, jede der aufeinanderfolgenden Bewegungen einzureihen, im Zusammenhang zu sehen und meine ungefähre psychologische Kenntnis des Zusammenhangs fortlaufend zu korrigieren oder anzupassen. Solange ich nur die Ursachen, demnach nur Reflexe und Reaktionszeiten, Merkfähigkeit und ähnliches kenne, weiß ich nichts von dem, was in der Seele dieses Menschen vorgeht.

Dazu kommt noch, daß auch der Untersuchte nichts mit sich anzufangen wüsste, solange er nicht nach einem Ziel gerichtet ist. Solange wir seine durch ein Ziel bestimmte Lebenslinie nicht kennen, wäre das ganze System seiner erkannten Reflexe samt allen kausalen Bedingungen nicht imstande, über die nächste Folge seiner Bewegungen Sicherheit zu verschaffen: sie würden sich mit jeder möglichen seelischen Konsequenz in Einklang bringen lassen. Am deutlichsten ist dieser Mangel bei Assoziationsversuchen zu verstehen. Ich würde nie von einem Manne, der eine schwere Enttäuschung erlitten hat, erwarten können, daß er auf »Baum« etwa »Strick« assoziiert. Kenne ich aber sein Ziel, den Selbstmord, so werde ich eine solche Abfolge seiner Gedanken mit Sicherheit erwarten, so sicher, daß ich ihm Messer, Gift und Schießwaffen aus dem Wege räumen werde. Erst in den Konsequenzen, die einer zieht, zeigt sich seine Individualität, sein Apperzeptionsschema.

Sieht man näher zu, so findet man folgende Gesetzmäßigkeit, die die Entfaltung alles seelischen Geschehens durchzieht: wir sind nicht in der Lage zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne daß uns ein Ziel vorschwebt. Denn alle Kausalitäten genügen dem lebenden Organismus nicht, das Chaos des Zukünftigen zu bewältigen und die Planlosigkeit, deren Opfer wir wären, aufzuheben. Alles Tun verharrte im Stadium eines wahllosen Herumtastens, die Ökonomie des Seelenlebens bliebe unerreicht, ohne jede Einheitlichkeit, jede Physiognomie und jede persönliche Note glichen wir Lebewesen vom Rang einer Amöbe. Nur Lebloses gehorcht einer erkennbaren Kausalität. Das Leben aber ist ein Sollen.

Daß wir durch die Annahme einer Zielsetzung im Seelenleben der Wirklichkeit besser gerecht werden, kann nicht bezweifelt werden. Bezüglich einzelner, aus dem Zusammenhang gerissener Phänomene besteht wohl auch kein Zweifel. Der Beweis kann leichthin angetreten werden. Man braucht nur einmal die Gehversuche eines kleinen Kindes oder einer Wöchnerin mit dieser Voraussetzung zu betrachten. Freilich, wer voraussetzungslos an die Dinge herantreten will, dem dürfte sich meist der tiefere Sinn verbergen. Bevor der erste Schritt gemacht wird, steht schon das Ziel der Bewegung fest und spiegelt sich in jeder Teilbewegung.

In gleicher Weise läßt sich von allen seelischen Bewegungen zeigen, daß sie ihre Richtung durch ein vorher gesetztes Ziel bekommen. Aber alle diese vorläufigen, im einzelnen sichtbaren Ziele geraten nach kurzem Bestand der seelischen Entwicklung des Kindes unter die Herrschaft des fiktiven Endzieles, des als fix gedachten oder empfundenen Finales. Mit anderen Worten: das Seelenleben des Menschen richtet sich wie eine von einem guten dramatischen Dichter geschaffene Person nach ihrem V. Akt.

Diese aus jeder Persönlichkeit individualpsychologisch einwandfrei zu erschließende Einsicht führt uns zu einem wichtigen Satz: jede seelische Erscheinung kann, wenn sie uns das Verständnis einer Person ergeben soll, nur als Vorbereitung für ein Ziel erfaßt und verstanden werden. Das Endziel erwächst jedem bewußt oder unbewußt, immer aber in seiner Bedeutung unverstanden.

Wie sehr diese Anschauung unser psychologisches Verständnis fördert, ergibt sich besonders, sobald uns die Vieldeutigkeit der aus dem Zusammenhang gerissenen seelischen Prozesse klar geworden ist. Halten wir uns einen Menschen mit einem »schlechten Gedächtnis« vor Augen. Nehmen wir an, er sei sich dieses Umstandes bewußt, und die Prüfung ergäbe eine geringe Merkfähigkeit für sinnlose Silben. Nach dem bisherigen Usus der Psychologie, der heute wohl ein Abusus zu nennen wäre, müßten wir das Urteil fällen: der Mann leide angeborener- oder krankhafterweise an einem Mangel der Merkfähigkeit. Nebenbei gesagt, kommt bei dieser Art der Untersuchung gewöhnlich als Urteil heraus, was mit anderen Worten in der Prämisse bereits gesagt ist, z. B. in diesem Falle: wenn einer ein schlechtes Gedächtnis hat, oder: wenn einer nur wenige Worte merkt – so hat er eine geringe Merkfähigkeit.

Der Vorgang der Individualpsychologie ist nun von diesem gänzlich verschieden. Sobald sich organische Ursachen sicher ausschließen lassen, müßte sie die Frage aufwerfen: wohin zielt die Gedächtnisschwäche? Auf was kommt es ihr an? Dieses Ziel können wir nur aus einer intimen Kenntnis des ganzen Individuums erschließen, so daß uns das Verständnis des Teiles erst aus dem Verständnis des Ganzen erwächst. Und wir würden etwa finden, was einer großen Anzahl von Fällen entspräche: diese Person ist daran, vor sich und vor anderen den Beweis zu erbringen, daß sie aus irgendwelchen zugrundeliegenden Motiven, die ungenannt oder unbewußt bleiben sollen, die sich aber durch Gedächtnisschwäche besonders wirksam vertreten lassen, von irgendeiner Handlung oder Entscheidung (Berufswechsel, Studium, Prüfung, Heirat) fern bleiben müsse. Dann wäre diese Gedächtnisschwäche als tendenziös entlarvt, wir verstünden ihre Bedeutung als Waffe im Kampfe gegen ein Unterliegen, und wir würden bei jeder Prüfung einer solchen Merkfähigkeit gerade jenen Defekt erwarten, der zum geheimen Lebensplan dieses Mannes gehört. Diese Schwäche hat also eine Funktion, die erst aus dem Bezugssystem des ganzen Lebens dieser Persönlichkeit klar wird. Bleibt noch die Frage, wie man solche Mängel oder Übel erzeugt. Der eine »arrangiert« sie bloß, indem er allgemeine physiologische Schwächen absichtlich unterstreicht und sie als persönliche Leiden in die Rechnung stellt. Anderen gelingt es, sei es durch Einfühlung in einen abnormen Zustand oder durch Präokkupation mit gefahrvollen, pessimistischen Erwartungen und folgender seelischer Spannung den Glauben an ihr Können so weit zu erschüttern, daß ihnen dann kaum die Hälfte ihrer Kraft, ihrer Aufmerksamkeit, ihres Willens zur Verfügung stehen. Ihre Darstellung dieser Mangelhaftigkeit habe ich den »Minderwertigkeitskomplex« genannt.

Um noch ein Beispiel zu geben: die gleiche Beobachtung machen wir bei den Affekten. Wir finden bei einer Dame Angstausbrüche, die sich von Zeit zu Zeit wiederholen. Solange nichts Wertvolleres zu finden war, konnte man sich mit der Annahme einer hereditären Degeneration, einer Erkrankung der Vasomotoren, des Vagus usw., begnügen. Oder man konnte glauben dem Verständnis naher zu sein, wenn man in der Vorgeschichte ein schreckensvolles Erlebnis, Trauma, aufspürte und diesem die Schuld beimaß. Sehen wir uns aber diese Individualität an und gehen wir ihren Richtungslinien nach, so entdecken wir etwa ein Übermaß von Herrschsucht, dem sich als Angriffsorgan die Angst beigesellt, sobald die Hörigkeit des anderen zu Ende geht, sobald die geforderte Resonanz fehlt, wie es sich etwa ergibt, wenn beispielsweise der Gatte einer solchen Patientin ohne Bewilligung das Haus verlassen möchte.

Unsere Wissenschaft erfordert ein streng individualisierendes Vorgehen und ist deshalb Verallgemeinerungen nicht geneigt. In usum delphini aber will ich folgenden Lehrsatz hierher stellen: Wenn ich das Ziel einer seelischen Bewegung oder eines Lebensplanes erkannt habe, dann muß ich von allen Teilbewegungen erwarten, daß sie mit dem Ziel und mit dem Lebensplan übereinstimmen.

Diese Formulierung ist mit geringen Einschränkungen im weiten Ausmaß aufrecht zu erhalten. Sie behält auch ihren Wert, wenn man sie umdreht: die richtig verstandenen Teilbewegungen müssen in ihrem Zusammenhang das Abbild eines einheitlichen Lebensplanes und seines Endzieles ergeben. Wir stellen demnach die Behauptung auf, daß, unbekümmert um Anlage, Milieu und Erlebnisse, alle psychischen Kräfte im Banne einer richtenden Idee stehen, und daß alle Ausdrucksbewegungen, das Fühlen, Denken, Wollen, Handeln, Träumen und die psychopathologischen Phänomene von einem einheitlichen Lebensplan durchzogen sind. Aus dieser selbstgesetzten Zielstrebigkeit erwächst die Einheit der Persönlichkeit; so ergibt sich im seelischen Organ eine Teleologie, die als Kunstgriff und Eigenkonstruktion, als endgültige Kompensation des allgegenwärtigen menschlichen Minderwertigkeitsgefühls zu verstehen ist. Ein kurzer Hinweis mag diese ketzerischen Sätze begründen und zugleich mildern: wichtiger als Anlage, objektives Erlebnis und Milieu ist deren subjektive Einschätzung, und ferner: diese Einschätzung steht in einem gewissen, freilich oft wunderlichen Verhältnis zu den Realien. In der Massenpsychologie ist diese grundlegende Tatsache schwer zu entdecken, weil der »ideologische Überbau über der ökonomischen Grundlage« (Marx und Engels) und seine Tatsetzungen einen Ausgleich der persönlichen Differenzen erzwingen. Aus der Einschätzung des einzelnen aber, die meist zu einer dauernden Stimmungslage im Sinne eines Minderwertigkeitsgefühls Anlaß gibt, entspinnt sich entsprechend der unbewußten Technik unseres Denkapparates ein fiktives Ziel als gedachte, endgültige Kompensation und ein Lebensplan als der Versuch einer solchen.1

Ich habe bisher viel vom »Verstehen« des Menschen gesprochen. Fast so viel als manche Theoretiker der »verstehenden Psychologie« oder der Persönlichkeitspsychologie, die immer abbrechen, wenn sie uns zeigen sollten, was sie eigentlich verstanden haben. Die Gefahr, auch diese Seite unserer Untersuchungen, die Ergebnisse der Individualpsychologie in Kürze auseinanderzusetzen, ist groß genug. Man wird lebende Bewegung in Worte, in Bilder einfangen müssen, man ist gezwungen über Differenzen hinwegzusehen, um einheitliche Formeln zu gewinnen, und man wird bei der Beschreibung den Fehler machen müssen, den uns in der Ausübung zu begehen strenge verboten ist: mit einer trockenen Schablone an das individuelle Seelenleben heranzutreten, wie es die Freudsche Schule versucht.

Unter dieser Voraussetzung will ich in der Folge die wichtigsten Ergebnisse unserer Erforschung des Seelenlebens vorlegen. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß sich die hier zu besprechende Dynamik des Seelenlebens in gleicher Weise bei Gesunden und Kranken findet. Was den Nervösen vom Gesunden unterscheidet, liegt in der stärkeren »Sicherungstendenz« des Kranken, mittels deren er seinen Lebensplan ausstattet. Was aber die »Zielsetzung« und den ihr angepaßten Lebensplan anlangt, so finden sich keinerlei grundlegende Differenzen außer der einen, freilich maßgebenden, daß das »konkrete« Ziel des Neurotikers immer auf der unnützlichen Seite des Lebens liegt.

Ich darf demnach von einem allgemeinen Ziel der Menschen sprechen. Die eingehendste Betrachtung ergibt nun, daß wir die seelischen Bewegungen aller Art am besten verstehen können, wenn wir als ihre allgemeinste Voraussetzung erkannt haben, daß sie auf ein Ziel der Überlegenheit gerichtet sind. Vieles davon haben große Denker verkündigt, manches weiß jeder für sich davon, das meiste birgt sich in ein geheimnisvolles Dunkel, und nur im Wahnsinn oder in der Ekstase liegt es deutlich zutage. Ob einer ein Künstler, der erste in seinem Fache oder ein Haustyrann sein will, ob er Zwiesprache mit seinem Gotte hält oder die anderen herabsetzt, ob er sein Leid als das größte ansieht, dem alle sich beugen müssen, ob er nach unerreichbaren Idealen jagt oder alte Götter, alte Grenzen und Normen zerbricht1 – auf jedem Teil seines Weges leitet und führt ihn seine Sehnsucht nach Überlegenheit, sein Gottähnlichkeitsgedanke, sein Glaube an seine besondere Zauberkraft. In der Liebe will er gleichzeitig seine Macht über den Partner empfinden, bei freiwilliger Berufswahl dringt das vorschwebende Ziel in übertriebenen Erwartungen und Befürchtungen durch, und noch im Selbstmord empfindet er rachedürstend den Sieg über alle Hindernisse. Um sich einer Sache, einer Person zu bemächtigen, kann er auf geraden Linien wandeln, kann stolz, herrschsüchtig, trotzig, grausam, mutig zu Werke gehen; oder er zieht es vor, durch Erfahrungen auf Abwege und Umwege gedrängt, seine Sache zum Siege zu führen durch Gehorsam, Unterwerfung, Sanftmut und Bescheidenheit. Auch die Charakterzüge haben kein selbständiges Dasein, auch sie passen immer zu dem individuellen Lebensplan, dessen wichtigste Kampfbereitschaften sie vorstellen.

Dieses Ziel der Allüberlegenheit, das im Einzelfall oft wunderlich genug aussieht, ist aber nicht von dieser Welt. Für sich betrachtet müssen wir es unter die »Fiktionen« oder »Imaginationen« einreihen. Von ihnen sagt Vaihinger (Die Philosophie des Als-Ob, Berlin, Reuter und Reichardt, 2. Aufl. 1913) mit Recht, ihre Bedeutung liege darin, daß sie, an sich unsinnig, dennoch für das Handeln die größte Bedeutung hätten. Dies stimmt in unserem Falle so sehr, daß wir sagen können: Diese der Wirklichkeit so vollkommen Hohn sprechende Fiktion eines Zieles der Überlegenheit ist die Hauptvoraussetzung unseres bisherigen Lebens geworden. Sie lehrt uns die Unterschiede machen, sie gibt uns Haltung und Sicherheit, gestaltet, leitet unser Tun und Handeln und nötigt unseren Geist vorauszusehen und sich zu vervollkommnen. Daneben die Schattenseite: sie bringt leicht eine feindliche, kämpferische Tendenz in unser Leben, raubt uns die Unbefangenheit des Empfindens und versucht es stets, uns der Wirklichkeit zu entfremden, indem sie deren Vergewaltigung nahegelegt. Wer dieses Ziel der Gottähnlichkeit real und persönlich faßt, es wörtlich nimmt, wird bald gezwungen sein, das wirkliche Leben als ein Kompromiß zu fliehen, um ein Leben neben dem Leben zu suchen, bestenfalls in der Kunst, meist aber im Pietismus, in der Neurose oder im Verbrechen.1

Ich kann hier auf Einzelheiten nicht eingehen. Eine offene Andeutung dieses überlebensgroßen Zieles findet sich wohl bei allen Menschen. Manchmal sticht es aus der Haltung hervor, zuweilen verrät es sich nur in den Forderungen und Erwartungen. Zuweilen findet man seine Spur in dunklen Erinnerungen, Phantasien oder Träumen. Sucht man es ernstlich, so darf man kaum je danach fragen. Aber eine körperliche oder geistige Attitüde spricht deutlich ihre Abstammung vom Streben nach Macht aus und trägt das Ideal irgendeiner Art von Vollkommenheit und Fehlerlosigkeit in sich. Immer wird in jenen Fällen, die sich der Neurose nähern, ein verstärktes Messen an der Umgebung, auch an Verstorbenen und Helden der Vergangenheit auffällig werden.

Die Probe auf die Richtigkeit dieses Befundes ist leicht anzustellen. Trägt nämlich jeder, wie wir es beim Nervösen in vergrößertem Maße wahrnehmen, ein Ideal der Überlegenheit in sich, dann müssen auch oft Erscheinungen zu finden sein, die auf eine Unterdrückung, auf Verkleinerung, auf Entwertung der anderen hinzielen. Charakterzüge wie Unduldsamkeit, Rechthaberei, Neid, Schadenfreude, Selbstüberschätzung, Prahlerei, Mißtrauen, Geiz – kurz alle Stellungen, die der Voraussetzung eines Kampfes entsprechen, müssen zum Durchbruch kommen, in weitaus höherem Grade als es etwa die Selbsterhaltung gebietet und das Gemeinschaftsgefühl verlangt.

Daneben, manchmal gleichzeitig oder austauschbar, wird man je nach dem Eifer und dem Selbstvertrauen, mit dem das Endziel gesucht wird, Züge von Ehrgeiz, Wetteifer, Mut, die Attitüde des Rettens und Schenkens und Dirigierens auftauchen sehen. Eine psychologische Untersuchung erfordert so viel Objektivität, daß ein moralisches Urteil die Übersicht nicht stört. Man muß auch noch hinzunehmen, daß das verschiedene Niveau der Charakterzüge in erster Reihe unser Wohlgefallen oder unsere Mißachtung auslöst. Und schließlich liegen, insbesondere bei Nervösen, die feindlichen Züge oft so versteckt, daß der Träger dieser Eigenschaften mit Recht erstaunt und unwillig wird, sobald ihn einer darauf hinweist. Von zwei Kindern z. B. schafft sich das ältere eine recht unbehagliche Situation, weil es durch Trotz und Eigensinn die Herrschaft in der Familie an sich reißen will. Das jüngere Kind fängt es klüger an, zeigt sich als ein Muster von Gehorsam und bringt es so dahin, daß es der Abgott in der Familie wird, dem man alle Wünsche erfüllt. Als es der Ehrgeiz weiter trieb, und als die unausweichlichen Enttäuschungen eintraten, kam es zur Zerstörung der Gehorsamsbereitschaft; es stellten sich krankhafte Zwangserscheinungen ein, mittels deren jeder Befehl der Eltern durchkreuzt wurde, trotzdem man das Kind sich abmühen sah, im Gehorsam zu verharren. Ein Gehorsam also, dem seine Aufhebung durch Zwangsdenken auf dem Fuße folgte. Man sieht den Umweg, der gemacht wurde, um auf die gleiche Linie wie das andere Kind zu kommen.

Die ganze Wucht des persönlichen Strebens nach Macht und Überlegenheit geht frühzeitig beim Kinde in die Form und in den Inhalt seines Strebens über, während das Denken nur so viel davon beiläufig aufnehmen darf, als das Unsterbliche, reale, physiologisch gegründete Gemeinschaftsgefühl erlaubt. Aus letzterem entwickelt sich Zärtlichkeit, Nächstenliebe, Freundschaft, Liebe; das Streben nach Macht entfaltet sich verschleiert und sucht sich heimlich und listig auf den Wegen des Gemeinschaftsgefühls durchzusetzen.

An dieser Stelle muß ich eine alte Grundanschauung aller Seelenkenner bestätigen. Jede auffällige Haltung eines Menschen läßt sich bis zu einem Ursprung in der Kindheit verfolgen. In der Kinderstube formt sich und bereitet sich die künftige Haltung des Menschen vor und zeigt die Abdrücke der Umgebung. Grundlegende Änderungen ergeben sich nur durch einen hohen Grad der Selbsterkenntnis oder im Stadium der Nervosität durch ein individualpsychologisches Vorgehen des Arztes, wenn der Patient den Fehler seines Lebensstils im Zusammenhang erkennt.

An einem andern Falle, wie er sich ähnlich ungezählte Male ereignet, will ich noch näher auf die Zielsetzung des Nervösen eingehen. Ein hervorragend begabter Mann, der sich durch Liebenswürdigkeit und feines Benehmen die Gunst eines wertvollen Mädchens errungen hatte, denkt an die Verlobung. Gleichzeitig rückt er mit einem Erziehungsideal dem Mädchen an den Leib, das diesem recht schwere Opfer auferlegt. Eine Zeitlang erträgt sie die maßlosen Anordnungen, bis sie weiteren Prüfungen durch den Abbruch der Beziehungen aus dem Wege geht. Nun stürzt der Mann in nervösen Anfällen zusammen. Die individualpsychologische Aufklärung des Falles ergab, daß das Ziel der Überlegenheit bei diesem Patienten, wie es sich in den herrschsüchtigen Anforderungen an die Braut ergab, schon längst zu einer Ausschaltung der Ehe gedrängt hatte, und daß er, ohne es zu verstehen, selbst dem Bruch zutreiben mußte, weil er sich dem offenen Kampfe, als den er sich die Ehe ausmalte, nicht gewachsen glaubte. Auch dieser Zweifel an sich selbst stammte aus seiner frühesten Kindheit, wo er als einziger Sohn ziemlich abgeschlossen von der Welt mit seiner früh verwitweten Mutter lebte. Aus dieser Zeit, die sich in fortwährenden häuslichen Kämpfen abwickelte, hat er den unauslöschlichen Eindruck gewonnen, den er sich offen nie eingestanden hätte: als sei er nicht männlich genug, als würde er nie einer Frau gewachsen sein. Diese psychische Attitüde ist einem dauernden Minderwertigkeitsgefühl vergleichbar, und man kann es wohl verstehen, wie sie in das Schicksal eines Menschen bestimmend eingreift und ihn zwingt, sein Prestige anders zu wahren als in der Erfüllung realer Forderungen auf der nützlichen Seite des Lebens.

Daß der Patient erreichte, was seine heimlichen Vorbereitungen zur Ehelosigkeit bezweckten, und was ihm seine Furcht vor dem Partner eingab, Kampfszenen und eine ruhelose Beziehung zur Frau, ist kaum zu verkennen. Ebensowenig, daß er sich zu seiner Braut ähnlich stellte wie zu seiner Mutter, die er ja gleichfalls niederringen wollte. Diese durch Sehnsucht auf Sieg erzwungene Beziehung ist von der Freudschen Schule als dauernd inzestuöse Verliebtheit in die Mutter missverstanden worden. In Wirklichkeit treibt den Patienten sein aus der schmerzlichen Beziehung zu seiner Mutter verstärktes kindliches Minderwertigkeitsgefühl dazu, es im Leben noch einmal unter Anwendung der stärksten Sicherungstendenz auf den Kampf mit der Frau ankommen zu lassen. Was immer wir sonst unter Liebe verstehen wollen, sie ist in diesem Falle nicht qualifiziertes Gemeinschaftsgefühl, sondern nur ihr Schein, ihre Karikatur, nur Mittel zum Zweck. Letzterer aber ist: endlich den Triumph über ein geeignetes weibliches Wesen zu erzwingen. Deshalb die fortgesetzten Prüfungen und Forderungen, deshalb auch die mit Sicherheit zu erwartende Lösung des Verhältnisses. Diese Lösung hat sich nicht »ereignet«, sie wurde kunstgerecht inszeniert, und ihr Arrangement erfolgte mit den alten Mitteln einer Erfahrung, wie der Mann sie an seiner Mutter geübt hatte. Eine Niederlage in der Ehe schien ausgeschlossen, weil er die Ehe verhinderte. Man sieht in dieser Stellungnahme das Überwuchern des »Persönlichen« gegenüber der »Sachlichkeit«, gegenüber der Unbefangenheit. Die Erklärung findet sich in der Feststellung des zitternden Ehrgeizes. Es gibt zwei Formen des Ehrgeizes, von denen die zweite die erste ablöst, sobald durch Niederlagen eine Entmutigung eingetreten ist. Die erste Form steht hinter dem Menschen und jagt ihn nach vorne. Die zweite stellt sich vor den Menschen und drängt ihn zurück: »Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.« In der zweiten Lage befinden sich zumeist die Nervösen, und die erste Form findet sich bei ihnen nur mehr spurweise, bedingungsweise oder zum Schein. Sie sagen dann wohl auch: »Ja, früher, da war ich ehrgeizig.« Sie sind es aber noch ebenso, haben sich aber durch das Arrangement ihres Leidens, ihrer Verstimmung, ihrer Teilnahmslosigkeit den Weg nach vorne verlegt. Ihre Antwort auf die Frage: »Wo warst du denn, als man die Welt verteilet?«, lautet regelmäßig: »Ich war krank.« So gelangen sie anstatt zur Beschäftigung mit der Außenwelt zur Beschäftigung mit sich. Jung und Freud haben später, der eine als »Introversion«, der andere als »Narcismus« diesen wichtigsten neurotischen Vorgang irrtümlich als angeborene (?) Typen aufgefaßt.

Bleibt so kaum etwas Rätselhaftes an dem Verhalten dieses Mannes, erkennen wir in seiner herrschsüchtigen Attitüde deutlich die Aggression, die sich als Liebe gibt, so bedarf doch der weniger verständliche nervöse Zusammenbruch des Patienten einiger erläuternder Worte. Wir betreten damit den eigentlichen Boden der Neurosenpsychologie. Wieder einmal wie in der Kinderstube ist der Patient am Weibe gescheitert. In allen ähnlichen Fällen lockt es den Nervösen, seine Sicherungen zu verstärken und sich in einen größeren Abstand von der Gefahr1 zu begeben. Unser Patient braucht den Zusammenbruch, um eine böse Erinnerung in sich zu nähren, um die Schuldfrage aufzuwerfen und sie zuungunsten der Frau zu lösen, um in späteren Zeiten mit noch größerer Vorsicht zu Werke zu gehen! Oder um endgültig von Liebe und Ehe Abschied zu nehmen! Dieser Mann zählt heute 30 Jahre. Gestatten wir uns die Annahme, daß er seinen Schmerz 10–20 Jahre mit sich herumtragen und ebensolange sein verlorenes Ideal betrauern wird, so hat er sich dadurch vielleicht für immer vor jeder Liebesbeziehung und so in seinem Sinne vor jeder neuen Niederlage gesichert.

Den nervösen Zusammenbruch aber konstruiert er gleichfalls mit den alten verstärkten Mitteln seiner Erfahrung, ähnlich wie er etwa als Kind das Essen, das Schlafen, die Arbeit von sich gewiesen hatte und die Rolle des Sterbenden spielte. Da sinkt die Schale mit der Schuld der Geliebten, und er selbst überragt sie an Gesittung und Charakter und siehe: er hat erreicht, nach was er Sehnsucht trug, er ist der Überlegene, er ist der Bessere, sein Partner aber ist »schlecht wie alle Mädchen«. Sie können sich mit ihm, dem Manne nicht messen. So hat er die Verpflichtung, die er schon als Knabe fühlte, erfüllt, er hat gezeigt, daß er höher steht als das weibliche Geschlecht, ohne seine Kraft auf die Probe zu stellen

Wir begreifen, daß seine nervöse Reaktion nicht scharf genug ausfallen kann. Er muß als lebender Vorwurf gegen die Frau auf Erden wandeln.1

Wüsste er um seine geheimen Pläne, so wäre sein ganzes Tun Gehässigkeit und böse Absicht, könnte demnach den beabsichtigten Zweck, seine Erhebung über die Frau, gar nicht erreichen. Denn er sähe sich so, wie wir ihn sehen, wie er das Gewicht fälscht, und wie er alles zu einem vorher bestimmbaren Ziele führt. Was sich mit ihm begibt, wäre nicht mehr »Schicksal«, geschweige denn, daß es für ihn ein Plus ergäbe. Sein Ziel, sein Lebensplan, seine Lebenslüge verlangen aber dieses Plus! Folglich »ergibt« sich auch, daß dieser Lebensplan im Unbewußten bleibt, an ein unverantwortliches Schicksal, nicht an einen lange vorbereiteten, verantwortlichen Weg glauben darf.

Ich muß hier einer weitläufigen Schilderung dieser »Distanz«, die der Nervöse zwischen sich und die Entscheidung – in diesem Falle die Ehe – legt, aus dem Wege gehen. Auch wie er sie macht, ist einer Beschreibung des »nervösen Arrangements« vorzubehalten. Es sei nur darauf hingewiesen, daß diese Distanz sich in der »zögernden Attitüde« des Patienten, in seinen Prinzipien, in seiner Weltanschauung und in seiner Lebenslüge deutlich ausspricht. Am wirksamsten zu ihrer Entfaltung erweist sich immer die Neurose und Psychose. Auch die Eignung der aus den gleichen Quellen stammenden Perversionen und jeglicher Impotenz ist ungemein groß. Den Abschluß und die Versöhnung mit dem Leben findet der Mensch dann in der Konstruktion eines oder mehrerer »Wenn-Sätze«. »Wenn irgend etwas anderes gewesen wäre …!«

Die Bedeutung der Erziehungsfragen, auf die unsere Schule das größte Gewicht legt (siehe »Heilen und Bilden«, 3. Aufl. 1929 dieses Verlags), geht aus diesen Zusammenhängen scharf hervor.

Es ergibt sich aus der Anlage der vorliegenden Arbeit, daß unsere Untersuchung wie im Falle einer Kur den rückläufigen Weg einschlägt, zuerst das Ziel der Überlegenheit betrachtet, an ihm die Kampfstellung des Menschen1, insonderheit des Nervösen erläutert und nun die Quellen dieses hervorragenden seelischen Mechanismus zu erfassen trachtet. Einer Grundlage dieser psychischen Dynamik haben wir bereits gedacht, sie liegt in der vorläufig unausweichlichen, artistischen Eignung des seelischen Apparats, die Anpassung und die Expansion in der Realität mittels des Kunstgriffs der Fiktion und der Zielsetzung zu ermöglichen. Wie das Ziel der Gottähnlichkeit die Stellung des Individuums zu seiner Umgebung meist in eine kämpferische umgestaltet, und wie der Kampf den Menschen auf den Linien geradliniger Aggression oder auf Leitlinien der Vorsicht dem Ziele näher zu treiben sucht, habe ich kurz zu beleuchten unternommen. Verfolgt man den Werdegang dieser Aggression weiter in die Kindheit zurück, so stößt man in jedem Falle auf die auslösende Grundtatsache: dem Kinde haftet während der ganzen Zeit seiner Entwicklung ein Gefühl der Minderwertigkeit in seinem Verhältnis zu den Eltern, Geschwistern und zur Welt an. Durch die Unfertigkeit seiner Organe, durch seine Unsicherheit und Unselbständigkeit, infolge seines Anlehnungsbedürfnisses an Stärkere und wegen der oft schmerzlich empfundenen Unterordnung unter andere erwächst ihm dieses Gefühl der Insuffizienz, das sich in seiner ganzen Lebenstätigkeit verrät. Dieses Gefühl der Minderwertigkeit erzeugt die beständige Unruhe des Kindes, seinen Betätigungsdrang, sein Rollensuchen, sein Kräftemessen, sein Vorbauen in die Zukunft und seine körperlichen und geistigen Vorbereitungen. Die ganze Erziehungsfähigkeit des Kindes hängt an diesem Insuffizienzgefühl. So wird ihm die Zukunft ein Land, das ihm die Kompensationen bringen soll. Auch in seinem Minderwertigkeitsgefühl spiegelt sich die Kampfstellung wieder; und als Kompensation gilt ihm nur, was seine gegenwärtige dürftige Lage dauernd aufhebt und ihn allen andern überlegen macht. So kommt das Kind zur Zielsetzung und zum fiktiven Ziele der Überlegenheit, wo sich seine Armut in Reichtum, seine Unterwerfung in Herrschaft, sein Leiden in Freude und Lust, seine Unkenntnis in Allwissenheit, seine Unfähigkeit in Kunst verwandeln wird. Dieses Ziel wird um so höher angesetzt und um so prinzipieller festgehalten, je deutlicher und länger das Kind seine Unsicherheit empfindet und je mehr es unter körperlicher oder geringgradiger geistiger Schwäche leidet, je mehr es seine Zurücksetzung im Leben spürt. Wer dieses Ziel erraten will, muß das Kind beim Spiel, bei freigewählten Beschäftigungen oder bei seinen Phantasien über die künftige Berufswahl beobachten. Der fortgesetzte Wandel in diesen Erscheinungen ist nur äußerer Schein, in jedem neuen Ziel glaubt es seinen Triumph vorwegzunehmen. Einer Variante dieses Pläneschmiedens sei noch gedacht, die man häufig bei weniger aggressiven Kindern, bei Mädchen und bei häufig erkrankten Geschöpfen findet: sie lernen ihre Schwäche mißbrauchen und verpflichten so die anderen, sich ihnen unterzuordnen. Sie werden es auch später immer wieder versuchen, bis die Aufdeckung ihres Lebensplanes und ihrer Lebenslüge einwandfrei gelungen ist.

Ein besonderer Aspekt bietet sich dem aufmerksamen Betrachter, sobald das Wesen dieser kompensatorischen Dynamik die Geschlechtsrolle als minderwertig erscheinen läßt und zu übermännlichen Zielen drängt. In unserer männlich gerichteten Kultur wird sich das Mädchen wie der Knabe zu ganz besonderen Anstrengungen und Kunstgriffen genötigt glauben. Unstreitig gibt es unter diesen eine große Anzahl fördernder. Diese zu erhalten, die zahllosen irreführenden und krankmachenden Leitlinien aber aufzudecken und unschädlich zu machen, ist unsere gegenwärtige Aufgabe, die weit über die Grenzen einer ärztlichen Kunst hinausführt, von der unser gesellschaftliches Leben, die Kinder- und Volkserziehung die wertvollsten Keime erwarten dürfen. Denn das Ziel dieser Lebensan- schauung ist: verstärkter Wirklichkeitssinn, Verantwortlichkeit und Ersatz der latenten Gehässigkeit durch gegenseitiges Wohlwollen, die aber ganz nur zu gewinnen sind durch die bewußte Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls und durch den bewußten Abbruch des Strebens nach Macht.

Wer die Machtphantasien des Kindes sucht, findet sie meisterhaft in Dostojewskis »Jüngling« (auch: »ein Werdender«) geschildert. Bei einem meiner Patienten fand ich sie besonders kraß. In seinen Gedanken und Träumen kehrte immer der Wunsch wieder: andere mögen sterben, damit er Raum zum Leben habe, anderen möge es schlecht gehen, damit er bessere Möglichkeiten gewänne. Es erinnert diese Haltung an Gedankenlosigkeiten und Herzlosigkeiten vieler Menschen, die alle ihre Übel darauf zurückführen, daß schon zuviel Menschen auf Erden seien, Regungen, die sicherlich allenthalben den Weltkrieg schmackhafter gemacht haben. – Das Gefühl der Gewißheit bei solchen Fiktionen wird aus anderen Sphären herübergeholt, in obigem Falle aus den Grundtatsachen des kapitalistischen Handels, bei dem wirklich der eine umso besser fährt. je schlechter es dem anderen geht. »Ich will Totengräber werden«, sagte mir ein vierjähriger Junge, »ich will der sein, der die anderen eingräbt.« –

II. Psychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest – ein Kernproblem der nervösen Erkrankungen

Es war ein gewaltiger Schritt vorwärts, als sich in der Lehre von den nervösen Erkrankungen die einheitliche Anschauung Bahn brach, die nervösen Störungen seien durch seelische Alterationen hervorgerufen und müßten durch Einwirkungen auf die Psyche behandelt werden. Eine endgültige Entscheidung brachte das Eingreifen berufener Forscher, wie Charcot, Janet, Dubois, Dejerine, Breuer, Freud u.a. Dazu kamen von Frankreich die Erfahrungen des hypnotischen Experimentes und der hypnotischen Behandlung, welche die Wandelbarkeit nervöser Symptome und ihre Beeinflußbarkeit auf den Wegen der Psyche erwiesen. Die Heilerfolge blieben trotz dieses Fortschrittes unsicher, so daß sich namhafte Autoren, unbeeinflußt durch ihre theoretischen Erwägungen, Neurasthenie, Hysterie, Zwangs- und Angstneurosen mit den althergebrachten Arzneien, mittels Elektrizität und Hydrotherapie zu heilen versuchten. Die ganze Frucht der erweiterten Kenntnisse war auf Jahre hinaus eine Anhäufung von Schlagworten, die den Sinn und das Wesen der komplizierten neurotischen Mechanismen erschöpfen und erschließen sollten. Für die einen lag der Schlüssel zum Verständnis in der »reizbaren Schwäche«, »sinkenden Spannung«, für die anderen in der »Suggestibilität«. »Erschütterbarkeit«, »hereditäre Belastung«, »Degeneration«, »krankhafte Reaktion«, »Labilität des psychischen Gleichgewichts« und andere ähnliche Begriffe sollten das Geheimnis der nervösen Erkrankungen ausmachen. Zugunsten des Patienten ergab sich daraus im wesentlichen bloß eine etwas dürre Suggestivtherapie, meist fruchtlose Versuche, die Krankheit »auszureden«, »eingeklemmte Affekte abzureagieren« und der nicht weniger fruchtlose Versuch psychische Schädigungen dauernd fernzuhalten. Immerhin entwickelte sich dieses therapeutische Verfahren zu einem öfters nützlichen »traitement moral«, wenn der Patient unter der Leitung weltkundiger, mit Intuition begabter Ärzte stand. Aber unter den Laien wurde ein Vorurteil wach, genährt durch voreilige Schlüsse aus der Beobachtung der rasch sich vermehrenden Unfallneurosen, als ob der Nervöse an »Einbildungen« leide und sich willkürlicher Übertreibungen schuldig mache, und als ob es ihm möglich wäre, durch Kräftigung seiner Energie seine Krankheitserscheinungen zu überwinden.

Josef Breuer kaut auf den Gedanken, dem Patienten Sinn und Entwicklung seines Krankheitssymptoms, etwa einer hysterischen Lähmung, abzufragen. Er, und mit ihm S. Freud, taten dies anfangs ohne jedwedes Vorurteil und bestätigten dabei die auffällige Tatsache von Erinnerungslücken, die dem Patienten sowohl als dem Arzt die Einsicht in die Ursache und den Verlauf der Erkrankung verwehrten. Die Versuche, aus der Kenntnis der Psyche, der krankhaften Charakterzüge, der Phantasien und des Traumlebens der Patienten auf das vergessene Material zu schließen, hatten Erfolg und führten zur Begründung der psychoanalytischen Methode und Anschauungsweise. Dank dieser Methode gelang es Freud, die Wurzeln der nervösen Erkrankung bis in die früheste Kindheit zurückzuverfolgen und eine Anzahl ständiger psychischer Mechanismen aufzudecken, wie die der Verdrängung und der Verschiebung. Bei der Behandlung wurden regelmäßig früher unbewußte Regungen und Wünsche des Patienten erschlossen, in gleicher Weise bei den verschiedenartigsten nervösen Formen, von verschiedenen Autoren, die sich der psychoanalytischen Methode bedienten und oft unabhängig voneinander arbeiteten. Freud selbst hat die Ursachen der nervösen Erkrankungen in den Verwandlungen des Sexualtriebes und in einer besonderen Konstitution des Sexualtriebs gesucht, eine Theorie, die viel angefeindet wurde, aber nicht untrennbar mit der psychologischen Methode verbunden ist. –

Als Grundsatz für die Ausübung der individual-psychologischen Methode möchte ich geltend machen die Zurückführung aller bei einem einzelnen bestehenden nervösen Symptome auf ein »größtes gemeinschaftliches Maß«. Die Richtigkeit der so gemeinschaftlich mit dem Patienten durchgeführten Reduktion wird dadurch festgestellt, daß das in jedem Falle gewonnene psychische Bild mit einer wirklichen psychischen Situation aus der frühesten Kindheit des Patienten übereinstimmt, d. h. die psychische Grundlage, die Schablone der nervösen Erkrankung und des Symptoms ist aus der Kindheit unverändert übernommen, über dieser Grundlage aber hat sich im Laufe der Jahre ein vielverzweigter Überbau erhoben, die individuelle Neurose, die der Behandlung unzugänglich ist, sofern man nicht die Grundlage ändert. In diesen Überbau sind auch alle Entwicklungstendenzen, Charakterzüge und persönlichen Erlebnisse eingegangen, unter denen besonders hervorzuheben sind: Stimmungsreste eines einmaligen oder wiederholten Mißerfolges auf der Hauptlinie menschlichen Strebens – der unmittelbare Anlaß zum Ausbruch der nervösen Erkrankung. Nunmehr geht das Sinnen und Trachten des Patienten dahin, den Mißerfolg wett zu machen, anderen, meist untauglichen Triumphen gierig nachzujagen, vor allem aber, sich vor neuen Mißerfolgen und Schicksalsprüfungen zu sichern. Und dies ermöglicht ihm seine ausgebrochene Neurose, die ihm so zur Stütze wird. Die nervöse Angst, Schmerzen, Lähmungen und der nervöse Zweifel hindern ihn an aktiven Eingreifen ins Leben, der nervöse Zwang leiht ihm – im Zwangsdenken und Zwangshandeln – den Schein der verlorengegangenen Aktivität auf der unnützlichen Seite des Lebens, gibt ihm andererseits den Vorwand zur Passivität auf Grund der Krankheitslegitimation. –

Ich selbst sah mich gezwungen, bei Ausübung der individualpsychologischen Methode die krankmachende kindliche Situation weiter aufzulösen, und stieß dabei auf Quellen, die sich aus nachteiligen Einflüssen des Organismus und des Familienlebens herschrieben. Darüber hinaus aber kamen Ursachen zutage, die zum Teil dieses schädliche Milieu formen halfen – die familiäre organische Konstitution. Ich wurde regelmäßig und unerbittlich auf den Umstand hingewiesen, daß der Besitz hereditär minderwertiger Organe, Organsysteme und Drüsen mit innerer Sekretion für das Kind in den Anfängen seiner Entwicklung eine Position schaffe, in der das sonst normale Gefühl der Schwäche und Unselbständigkeit ganz ungeheuer vertieft wird und sich zu einem tief empfundenen Gefühl der Minderwertigkeit auswächst.1 Aus der verlangsamten oder fehlerhaften inadäquaten Einrichtung der minderwertigen Organe ergeben sich nämlich anfangs Zustände von Schwäche, Kränklichkeit, Plumpheit, Häßlichkeit (oft infolge von äußeren Degenerationszeichen), Ungeschicklichkeit und eine große Anzahl von Kinderfehlern wie Augenblinzeln, Schielen, Linkshändigkeit, Hörstummheit, Stottern, Sprachfehler, Erbrechen, Bettnässen und Stuhlanomalien, derentwegen das Kind recht häufig Zurücksetzungen erfährt oder dem allgemeinen Spotte und der Strafe verfällt und gesellschaftsunfähig wird. Das psychische Bild dieser Kinder weist bald auffallende Verstärkungen sonst normaler Züge von kindlicher Unselbständigkeit, von Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis auf und artet aus in Ängstlichkeit, Furcht vor dem Alleinsein, Schüchternheit, Scheu, Furcht vor allem Fremden und Unbekannten, in übergroße Schmerzempfindlichkeit, Prüderie und dauernde Furcht vor Strafe und vor Folgen jedes Handelns – Charakterzüge, die insbesondere den Knaben einen scheinbar weiblichen Einschlag geben.

Bald aber sieht man bei diesen zur Nervosität disponierten Kindern das Gefühl der Zurückgesetztheit auffallend im Vordergrunde. Und damit im Zusammenhange stellt sich eine Überempfindlichkeit ein, welche ein ruhiges Gleichmaß der Psyche ununterbrochen stört. Solche Kinder wollen alles besitzen, alles essen, alles hören, alles sehen, alles wissen. Sie wollen alle anderen übertreffen und alles allein vollbringen. Ihre Phantasie spielt mit allerlei Größenideen: sie wollen die anderen retten, sehen sich als Helden, glauben an eine fürstliche Abkunft, halten sich für verfolgt, bedrängt, für Aschenbrödel. Der Grund zu einem brennenden, unersättlichen Ehrgeiz ist gelegt, dessen Scheitern man mit Sicherheit voraussagen kann. Nun erwachen auch und verstärken sich böse Instinkte. Geiz und Neid wachsen ins Unermeßliche, weil das Kind nicht imstande ist auf die Befriedigung seiner Wünsche zu warten. Gierig und hastig jagt es jedem Triumph nach, wird unerziehbar, jähzornig, gewalttätig gegen die Kleineren, lügenhaft den Großen gegenüber und belauert alle mit zähem Mißtrauen. Es ist klar, wieviel ein guter Erzieher bei solcher keimenden Selbstsucht bessern, ein schlechter verschlimmern kann. Im günstigsten Falle entwickelt sich ein unstillbarer Wissensdurst oder das Treibhausgewächs eines Wunderkindes, ungünstigen Falles erwachen verbrecherische Neigungen oder das Bild eines abgekämpften Menschen, der seinen Rückzug vor den Forderungen des Lebens durch die arrangierte Neurose zu verschleiern sucht.

Als Ergebnis solcher direkter Beobachtungen aus dem Kinderleben ist also anzuführen, daß die kindlichen Züge von Unterwürfigkeit, Unselbständigkeit und Gehorsam, kurz der Passivität des Kindes sehr bald – und zumal bei neurotischer Disposition sehr schroff – durch heimliche Züge von Trotz und Auflehnung, Zeichen des Ressentiments, ergänzt werden. Ein genauer Einblick ergibt ein Gemisch von passiven und aktiven Zügen, aber stets waltet die Tendenz vor, vom mädchenhaften Gehorsam zum knabenhaften Trotz durchzubrechen. Ja man gewinnt genug Anhaltspunkte für die Einsicht, daß die Züge des Trotzes als Reaktion, als Protest gegen die gleichzeitigen Regungen des Gehorsams oder gegen die erzwungene Unterwerfung zu gelten haben, und daß sie den Zweck haben, dem Kinde raschere Triebbefriedigung, Geltung, Aufmerksamkeit, Privilegien zu verschaffen. Ist dieser fatale Entwicklungsstandpunkt erreicht, so fühlt sich das Kind allenthalben vom Zwang zur Unterwerfung bedroht und obstruiert in allen Verrichtungen des täglichen Lebens, im Essen, Trinken, Einschlafen, in den Stuhl- und Harnfunktionen, sowie bei der Körperreinigung. Die Forderungen des Gemeinschaftsgefühls werden gedrosselt. Das Streben nach Macht entfaltet sich zumeist in einer öden, dürftigen Spiegelfechterei und Plusmacherei.

Ein anderer, vielleicht der gefährlichste Typus von nervös disponierten Kindern zeigt diese kontrastierenden Anlagen von Unterwerfung und aktivem Protest in einem engeren Zusammenhang, wie im Verhältnis von Mittel zum Zweck. Sie haben scheinbar ein Weniges aus der Dialektik des Lebens erraten und wollen durch die grenzenloseste Unterwerfung (Masochismus) ihre maßlosen Wünsche befriedigen. Gerade sie vertragen Herabsetzung, Mißerfolg, Zwang und Warten, vor allem das Ausbleiben des Sieges am allerschlechtesten, und schrecken wie die anderen Disponierten vor Handlungen, Entscheidungen, vor allem Fremden, Neuen zurück. Sie stellen meist das Bewußtsein einer fatalistischen Schwäche durch ein selbstgeschaffenes Krankheitsalibi fest – um dann vor den Forderungen der Gemeinschaft Halt zu machen und sich zu isolieren. –

Dieses scheinbare Doppelleben, eigentlich ein verkapptese, inheitliches Halt! oder zurück!, das bei normalen Kindern innerhalb mäßiger Grenzen bleibt und auch den Charakter des Erwachsenen formt, läßt beim Nervösen die einheitliche Verfolgung eines nützlichen Zieles nicht zu und hemmt seine Entschließungen durch die Konstruktion von Angst und Zweifel1.

Andere Typen retten sich aus Angst und Zweifel in den Zwang und jagen unablässig nach Erfolgen, wittern überall Angriffe, Beeinträchtigungen und Ungerechtigkeiten und suchen krampfhaft eine Retter- und Heldenrolle zu spielen, nicht selten, indem sie ihre Kräfte an ungeeignete Objekte wenden (Don Quixoterie). Unersättlich und lüstern nach dem Schein der Macht begehren sie Liebesbeweise, ohne sich befriedigt zu fühlen (Don Juan, Messalina). Stets bleibt die Harmonie ihres Strebens aus, denn die doppelte Artung ihres Wesens, das scheinbare Doppelleben der Nervösen (»double vie«, »Dissoziation«, »Bewußtseinsspaltung« der Autoren) ist durch einen weiblich und männlich empfundenen Anteil der Psyche fest gegründet, die nach einer Einheit zu streben scheinen, ihre Synthese aber planvoll verfehlen, um die Persönlichkeit vor dem Anprall an die Wirklichkeit zu retten. An diesem Punkte hat die Individualpsychologie belehrend einzugreifen und durch vertiefte Introspektion und Bewußtseinserweiterung die Herrschaft des Intellekts über divergierende, bisher unverstandene, nicht unbewußte Regungen zu sichern.

Was als eine tiefwurzelnde Empfindung den Volksgeist durchzieht, was seit jeher das Interesse von Dichtern und Denkern geweckt, die gewaltsame, aber mit unserem sozialen Leben noch übereinstimmende Wertung und Symbolisierung von Erscheinungsformen durch »Männlich« und »Weiblich«,1 drängt sich auch frühzeitig dem kindlichen Geiste auf. So stellt sich dem Kinde, im einzelnen zuweilen verschieden, als männlich dar: Kraft, Größe, Reichtum, Wissen, Sieg, Roheit, Grausamkeit, Gewalttätigkeit, Aktivität, das Gegenteil aber als weiblich.

Das normale Anlehnungsbedürfnis des Kindes, die übertriebene Unterwürfigkeit des zur Nervosität Disponierten, das Schwächegefühl und das durch Überempfindlichkeit geschützte Minderwertigkeitsgefühl, die Wahrnehmung seiner natürlichen Unzulänglichkeit und sein Gefühl der dauernden Zurückgesetztheit und Benachteiligung fließen alle zusammen in die Empfindung der Weiblichkeit, während sein aktives Streben, bei Mädchen gleicherweise wie bei Knaben, sein Jagen nach Befriedigung, die Aufpeitschung seiner Triebe und Begierden als sein männlicher Protest in die Wagschale geworfen sind. So entwickelt sich, auf der Grundlage einer falschen Wertung, die aber aus unserem gesellschaftlichen Leben reichlich genährt wird, ein psychischer Hermaphroditismus des Kindes, der sich »dialektisch«, durch seine innere Gegensätzlichkeit stützt, und aus sich heraus eine Dynamik entwickelt, den unverstandenen Zwang zum verstärkten männlichen Protest als einer Lösung der Disharmonie.

Die unvermeidliche Bekanntschaft mit dem Sexualproblem steigert in erster Linie den männlichen Protest, speist den disharmonischen Komplex mit Sexualphantasien und Sexualregungen, gestaltet sexuelle Frühreife aus und kann durch Furcht vor »weibischer« Liebeshörigkeit zu allen Perversionen Anlaß geben. Insbesondere aber wird der psychische Hermaphroditismus des Kindes vertieft, damit auch die innere psychische Spannung vermehrt, wenn die Geschlechtsrolle dem Kinde unklar bleibt oder im unklaren gehalten wird.1 Dann wird die natürliche Unsicherheit, das Schwanken, der Zweifel fixiert, und an beiden Polen des Hermaphroditen werden Verstärkungen aufgetragen. Die Schwierigkeit, der wachsenden Bewußtseinsspaltung Herr zu werden, vergrößert sich ungemein, und gelingt nur durch den Kunstgriff der nervösen Symptome, durch seelischen Rückzug und Isolierung. – Die Energie und Willensanstrengung von Arzt, Patient und Erzieher scheitert an diesem Problem. Dann gelingt es nur noch der individualpsychologischen Methode Licht in diese Vorgänge des Unbewußten hineinzubringen und die Korrektur einer falschen Entwicklung vorzunehmen. – Vieles von dem hier Gesagten wurde später als »Kastrationskomplex« vorgetragen.

III. Weitere Leitsätze zur Praxis der Individualpsychologie

Wir kommen demnach zu folgenden Feststellungen:

I. Jede Neurose kann als ein kulturell verfehlter Versuch verstanden werden, sich aus einem Gefühl der Minderwertigkeit zu befreien, um ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen.

II. Der Weg der Neurose führt nicht auf der Linie der sozialen Aktivität, zielt nicht auf die Lösung der gegebenen Lebensfragen, mündet vielmehr in den kleinen Kreis der Familie und erzwingt die Isolierung des Patienten.

III. Der große Kreis der Gemeinschaft wird durch ein Arrangement von Überempfindlichkeit und Intoleranz ganz oder weitgehend ausgeschaltet. Dadurch bleibt nur ein kleiner Kreis für die Kunstgriffe zur Überlegenheit und für deren Artung übrig. Zugleich wird so die Sicherung und der Rückzug vor den Forderungen der Gemeinschaft und vor den Entscheidungen des Lebens ermöglicht, während gleichzeitig meist der Schein des Wollens erhalten bleibt.

IV. Der Wirklichkeit zum großen Teile abgewandt führt der Nervöse ein Leben in der Einbildung und Phantasie und bedient sich einer Anzahl von Kunstgriffen, die es ihm ermöglichen, realen Forderungen auszuweichen und eine ideale Situation anzustreben, die ihn von einer Leistung für die Gemeinschaft und der Verantwortlichkeit enthebt.

V. Diese Enthebungen und die Privilegien der Erkrankung, des Leidens, bieten ihm den Ersatz für das ursprüngliche, riskante Ziel der realen Überlegenheit.

VI. So stellt sich die Neurose und die neurotische Psyche als ein Versuch dar, sich jedem Zwang der Gemeinschaft durch einen Gegenzwang zu entziehen. Letzterer ist derart zugeschnitten, daß er der Eigenart der Umgebung und ihren Forderungen wirkungsvoll entgegentritt. Man kann aus seiner Erscheinungsform, demnach aus der Neurosenwahl, auf beide letztere bindende Schlüsse ziehen.

VII. Der Gegenzwang hat einen gegen die Gemeinschaft revoltierenden Charakter, holt sein Material aus geeigneten affektiven Erlebnissen oder aus Beobachtungen, präokkupiert die Gedanken – und die Gefühlssphäre mit solchen Regungen, aber auch mit Nichtigkeiten, die geeignet sind, den Blick und die Aufmerksamkeit des Patienten von seinen Lebensfragen abzulenken. So können, je nach Bedarf der Situation, Angst- und Zwangszustände, Schlaflosigkeit, Ohnmacht, Perversionen, Halluzinationen, krankhafte Affekte, neurasthenische und hypochondrische Komplexe und psychotische Zustandsbilder als Vorwände fertiggestellt werden.

VIII. Auch die Logik gelangt unter die Diktatur des Gegenzwanges. Dieser Prozeß kann bis zur Aufhebung der Logik, wie in der Psychose, gehen und eine private Logik an Stelle der Vernunft, des common sense setzen.

IX. Logik, Ästhetik, Liebe, Mitmenschlichkeit, Mitarbeit und Sprache entstammen der Notwendigkeit des menschlichen Zusammenlebens. Gegen sie richtet sich automatisch die Haltung des zur Isolierung strebenden, machtlüsternen Nervösen.

X. Die Heilung der Neurose und Psychose erfordert die erzieherische Umwandlung des Patienten, die Korrektur seiner Irrtümer und seine endgültige Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft ohne Phrase.

XI. Alles wirkliche Wollen und alles Streben des Nervösen steht unter dem Diktat seiner Prestigepolitik, greift immer Vorwände auf, um Lebensfragen ungelöst zu lassen, und wendet sich automatisch gegen die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls. Was er im Munde führt und was seine Gedanken sagen, hat keinerlei praktische Bedeutung. Seine starre Tatrichtung spricht sich nur in seiner Haltung aus.

XII. Steht die Forderung nach einem einheitlichen Verständnis des Menschen, nach einem Erfassen seiner (unteilbaren) Individualität einmal fest – zu denen wir einerseits durch die Artung unserer Vernunft, andererseits durch die individualpsychologische Erkenntnis vom Zwang zur Vereinheitlichung der Persönlichkeit genötigt sind – so hilft uns die Vergleichung als das Hauptmittel unserer Methode ein Bild von den Kraftlinien gewinnen, auf denen der einzelne zur Überlegenheit strebt. Als Gegenpole zur Vergleichung dienen ins dabei:

1. Unsere eigene Haltung in einer ähnlichen Situation wie in der von einer Forderung gegenwärtig bedrängten des Patienten – wobei eine erhebliche Gabe der Einfühlung auf Seite des Therapeuten notwendig ist.

2. Haltungen und Haltungsanomalien des Patienten aus früheren, immer auch frühkindlichen Zeiten – die sich stets durch die Position des Kindes in der Umgebung, durch seine fehlerhafte, meist generalisierende Einschätzung, durch sein starrsinnig vertieftes Minderwertigkeitsgefühl und durch sein Streben nach persönlicher Macht determiniert erweisen.

3. Andere Individualtypen, insbesondere deutlich neurotische. Dabei macht man die auffällige Entdeckung, daß der eine Typus etwa durch neurasthenische Beschwerden erreicht, was andere durch Angst, Hysterie, neurotischen Zwang oder durch die Psychose anstreben. Charakterzüge, Affekte, Prinzipien und nervöse Symptome, alle für sich zum gleichen Ziele weisend, oft scheinbar von gegensätzlicher Bedeutung, wenn man sie aus dein Zusammenhang reißt, sichern vor dem Anprall an die Forderungen der Gemeinschaft.

4. Eben diese Forderungen der Gemeinschaft, denen der Nervöse stärker oder schwächer ausweicht, wie die Mitarbeit, die Mitmenschlichkeit, die Liebe, die soziale Einfügung, die Verpflichtungen zur Gemeinschaft.

Man erfährt bei dieser individualpsychologischen Untersuchung, daß der Nervöse stärker als der beiläufig Normale sein Seelenleben auf ein Streben nach Macht über den Mitmenschen eingerichtet hat. Seine Sehnsucht nach solcher Überlegenheit bewirkt es auch, daß fremder Zwang, die Forderungen anderer und die Verpflichtungen zur Gemeinschaft durch die »Krankheit« beharrlich und weitgehend abgelehnt werden. Die Kenntnis dieser Grundtatsache des nervösen Seelenlebens erleichtert die Einsicht in den seelischen Zusammenhang so sehr, daß sie als die brauchbarste Arbeitshypothese zur Erforschung und Heilung nervöser Erkrankungen angesehen werden muß, bis ein weitreichendes Verständnis für das Individuum gestattet, die realen Faktoren des vorliegenden Falles in ihrer Tragweite nachzuempfinden.

Was den Gesunden an dieser Argumentation und an ihren Folgerungen am meisten irritiert, ist der Zweifel, ob denn ein fiktives Ziel einer gefühlsmäßigen Überlegenheit stärker wirken könne als eine vernunftsgemäße Überlegung. Aber wir erleben diese Umstellung auf ein Ideal im Leben des Gesunden und ganzer Völker ebensooft. Krieg, politische Ausartungen, Verbrechen, Selbstmord, asketische Bußübungen, Hang zu kritischen Stilübungen bieten uns die gleichen Überraschungen, vieles von unseren Qualen und Leiden erzeugen wir selbst und ertragen es im Banne einer Idee.

Daß die Katze Mäuse fängt, sich sogar, ohne es je gesehen zu haben, in den ersten Tagen ihrer Entwicklung schon darauf vorbereitet, ist mindestens ebenso wunderbar, als daß der Nervöse nach seiner Art und Bestimmung, nach seiner Position und Selbsteinschätzung jeglichem Zwange ausweicht, ihn unerträglich findet und heimlich oder offen, bewußt oder unbewußt nach Vorwänden sucht, um sich von ihm zu befreien, meistens auch diese Vorwände selber ins Leben ruft. Sein Leben verläuft unter Ausschaltung aller Lebensbeziehungen, soweit sie von ihm als Störungen seines Machtgefühls oder als Entlarvungen seines Minderwertigkeitsgefühls – weniger gedacht und verstanden als empfunden werden.

Der Grund für die Intoleranz des Nervösen gegen den Zwang der Gemeinschaft liegt, wie aus der Kindheitsgeschichte hervorgeht, in einer andauernden, meist viele Jahre geübten Kampfstellung gegen die Umgebung. Dieser Kampf wird dem Kinde aufgedrängt, ohne daß eine volle Berechtigung zu einer solchen generalisierenden und kontinuierlichen Reaktion vorläge, durch eine körperlich oder seelisch vermittelte Position, aus der das Kind andauernde oder verschärfte Minderwertigkeitsgefühle empfängt. Der Zweck der Kampfstellung ist die Eroberung von Macht und Geltung – das Ziel: ein mit kindlicher Unfähigkeit und Überschätzung aufgebautes Ideal der Überlegenheit, dessen Erfüllung Kompensationen und Überkompensationen ganz allgemeiner Art bietet, in dessen Verfolgung sich aber immer auch der Sieg über den Zwang der Gesellschaft und über den Willen der Umgebung einstellt. Sobald dieser Kampf schärfere Formen angenommen hat, erzeugt er aus sich heraus die Intoleranz gegen Zwang aller Art, gegen Zwang der Erziehung, der Wirklichkeit und Gemeinschaft, der fremden Stärke, der eigenen Schwäche, aller natürlich gegebenen Faktoren wie Arbeit, Reinlichkeit, Nahrungsaufnahme, normaler Harn- und Stuhlentleerung, des Schlafes, der Krankheitsbehandlung, der Liebe und Zärtlichkeit und Freundschaft, des Alleinseins wie der Geselligkeit. In toto ergibt sich das Bild eines Menschen, der nicht mitspielen will, des Spielverderbers, eines Menschen der nicht heimisch geworden ist, nicht Wurzel geschlagen hat, eines Fremdlings auf dieser Erde. Wo sich die Intoleranz gegen das Erwachen von Gefühlen der Liebe und Kameradschaft richtet, bereitet sie einen Zustand von Liebes- und Ehescheu vor, deren Grade und Formen außerordentlich vielgestaltig sein können. An dieser Stelle sollen noch einige Formen des Zwanges, dem Normalen kaum spürbar, vermerkt werden, die fast regelmäßig durch ein nervöses oder psychotisches Zustandsbild verhindert werden. So der Zwang anzuerkennen, zuzuhören, sich unterzuordnen, die Wahrheit zu sprechen, zu studieren oder Prüfung zu machen, pünktlich zu sein, sich einer Person, einem Wagen, der Eisenbahn anzuvertrauen, das Haus, das Geschäft, die Kinder, den Gatten, sich selbst anderen Personen anzuvertrauen, der Hauswirtschaft, einem Berufe zu obliegen, zu heiraten, dem andern recht zu geben, dankbar zu sein, Kinder zu gebären, die eigene Geschlechtsrolle zu spielen oder sich erotisch gebunden zu fühlen, des Morgens aufzustehen, des Nachts zu schlafen, die Gleichberechtigung undGleichstellung des andern, des weiblichen Geschlechts anzuerkennen, Maß zu halten, Treue zu bewahren, allein zu sein. Alle Idiosynkrasien gegen solchen Zwang können bewußt oder unbewußt sein, sind aber vom Patienten niemals in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt und verstanden worden.

Diese Betrachtung lehrt uns zweierlei:

1. Der Begriff des Zwanges zeigt sich beim Nervösen ungeheuer erweitert und umfaßt – wenn auch verständlich, so doch – Beziehungen, wie sie der Normale nicht unter das Schema des störenden Zwanges einreiht.

2. Die Intoleranz gegen ihn ist keine Enderscheinung sondern weist über sich hinaus, hat immer eine Fortsetzung, eine sauere Gärung zur Folge, bedeutet stets eine Kampfposition und zeigt uns in einem scheinbar ruhenden Punkt das Streben des Nervösen nach Überwältigung des anderen, nach tendenziöser Vergewaltigung der logischen Folgerungen aus dem menschlichen Zusammenleben. »Non me rebus, sed mihi res subigere conor.« Horaz, dessen Brief an Mäcenas diese Stelle entnommen ist, weist dort auch darauf hin, wo diese aufgepeitschte Gier nach Geltung endet: in Kopfschmerz und in Schlaflosigkeit.

Folgender Fall vermag diese Leitsätze zu illustrieren:

Ein 35jähriger Patient klagt, daß er seit mehreren Jahren an Schlaflosigkeit, Zwangsgrübeln und Zwangsmasturbation leide. Letzteres Symptom sei besonders auffällig, weil Patient verheiratet und Vater von 2 Kindern sei und mit seiner Gattin in guter Ehe lebe. Von anderen quälenden Erscheinungen müsse er noch über einen »Gummifetischismus« berichten. Von Zeit zu Zeit nämlich, in Situationen irgendwelcher Erregung, dränge sich ihm das Wort »Gummi« auf die Lippen.

Die Ergebnisse einer eingehenden individualpsychologischen Untersuchung waren folgende: aus einer Periode äußerster Gedrücktheit in der Kindheit, in der Patient Bettnässer gewesen war und wegen seiner Ungeschicklichkeit als »blödes« Kind galt, hatte er eine Richtungslinie des Ehrgeizes so weit entwickelt, daß sie in eine Größenidee mündete. Der Druck seiner Umgebung, der wirklich in ungeheurem Maße bestand, legte ihm das Bild einer durchaus feindlichen Außenwelt nahe und gab ihm den dauernd pessimistischen Blick fürs Leben. Alle Forderungen der Außenwelt empfand er in dieser Stimmungslage als unerträglichen Zwang und antwortete auf sie mit der Revolte des Bettnässens und der Ungeschicklichkeit, bis er auf einen Lehrer traf, der ihm, zum erstenmal in seinem Leben, das Bild eines guten Mitmenschen klar vor die Seele rückte und ihn ermutigte. Nun begann er seinen Trotz und seine Wut gegen die Forderungen der anderen, seine Kampfstellung gegen die Gemeinschaft so weit zu mildern, daß ihm die Möglichkeit blieb, das Bettnässen zu beenden, ein vorzüglicher, »begabter«1 Schüler zu werden und im Leben nach den höchsten Zielen zu streben. Die Intoleranz gegen den Zwang der anderen erledigte er wie ein Dichter und Philosoph durch einen Griff ins Transzendentale. Er entwickelte eine gefühlsbetonte Idee, als ob er das einzige lebende Wesen sei, alles andere aber, und insbesondere die Menschen, nur Schein. Die Verwandtschaft mit Ideen Schopenhauers, Fichtes und Kant ist nicht von der Hand zu weisen. Die tiefere Absicht aber war, sich durch eine Entwertung des Seienden zu sichern, »der Zeiten Spott und Zweifel« zu entgehen, indem er durch einen Zauber, wie er den Wünschen unsicherer Kinder entspricht, den Tatsachen ihre Kraft benimmt. Auf diesem Wege wurde ihm der Radiergummi