Praxis und Theorie der Individualpsychologie - Alfred Adler - E-Book

Praxis und Theorie der Individualpsychologie E-Book

Alfred Adler

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Beschreibung

»Die individualpsychologische Forschung erstrebt eine Vertiefung der Menschenkenntnis, die nur zu holen ist aus dem Verständnis der Stellung des Individuums zu seiner sozial bestimmten Aufgabe. Nur die Bewegungslinie, in der sich die soziale Aktivität einer Persönlichkeit darstellen und empfinden läßt, gibt uns Aufschluß über den Grad der Verschmelzung eines Menschen mit den Forderungen des Lebens, der Mitmenschen, des Weltalls. Sie gibt uns auch Aufschluß über den Charakter, über den Elan, über sein körperlich-geistiges Wollen. Sie läßt sich zurückverfolgen bis zu ihren Ursprüngen in der Zeit der Ichfindung und zeigt uns dort, in der frühesten Position des Menschenkindes, die ersten Widerstände der Außenwelt und die Form und Kraft des Wollens und der Versuche, sie zu überwinden, In diesen frühesten Kindheitstagen schafft sich das Kind irrend und unverständig seine Schablone, sein Ziel und Vorbild und den Lebensplan, dem es wissend-unwissend folgt. Vorbildlich werden ihm dabei alle Erfolgsmöglichkeiten und die Beispiele anderer Überwinder. Den Rahmen gibt ihm die umgebende Kultur.« Alfred Adler

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Alfred Adler

Praxis und Theorie der Individualpsychologie

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Inhalt

Vorbemerkung des HerausgebersVorwort zur ersten AuflageVorwort zur vierten AuflageDie Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und ErgebnissePsychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest – ein Kernproblem der nervösen ErkrankungenWeitere Leitsätze zur Praxis der IndividualpsychologieIndividualpsychologische Behandlung der NeurosenÄtiologiea) Minderwertigkeitsgefühl und Kompensationb) Das Arrangement der Neurosec) Psychische Behandlung der NeurosenAnhang [Aus dem Seelenleben eines 22jährigen]Zur Theorie der HalluzinationKinderpsychologie und NeurosenforschungErster TeilZweiter TeilSchlußbetrachtungDie psychische Behandlung der TrigeminusneuralgieDas Problem der »Distanz«Über männliche Einstellung bei weiblichen NeurotikernBeitrag zum Verständnis des Widerstands in der BehandlungSyphilidophobieNervöse SchlaflosigkeitAnhang: Über SchlafstellungenAus den individualpsychologischen Ergebnissen bezüglich SchlafstörungenÜber die HomosexualitätDie ZwangsneuroseZur Funktion der Zwangsvorstellung als eines Mittels zur Erhöhung des PersönlichkeitsgefühlesErster TeilZweiter TeilNervöser HungerstreikTraum und TraumdeutungEin Napoleon-TraumZur Rolle des Unbewußten in der NeuroseDas organische Substrat der PsychoneurosenLebenslüge und Verantwortlichkeit in der Neurose und PsychoseMelancholie und Paranoiaa) Melancholieb) ParanoiaAnhang: Aus den Träumen eines MelancholikersDostojewskiDie neuen Gesichtspunkte in der Frage der KriegsneuroseLiteraturverzeichnisÜber individualpsychologische ErziehungDie individuelle Psychologie der Prostitutiona) Voraussetzungen und Standpunkte des kritischen Beurteilersb) Publikum und Prostitutionc) Kreis der Prostitutiond) Prostitution und GesellschaftVerwahrloste KinderNamen- und Sachregister

Vorbemerkung des Herausgebers

Praxis und Theorie der Individualpsychologie (1. Auflage 1920) ist – nach Heilen und Bilden (1. Auflage 1914) – die zweite große Sammlung von Vorträgen, die Adler veröffentlichte, diesmal ohne Beiträge von Mitarbeitern. Die Entstehungszeiten sind gegenüber der ersten Sammlung nur wenig verschoben: Dort stammen die Beiträge aus den neun Jahren zwischen 1904 und 1913 (mit vereinzelten Nachträgen aus der Nachkriegszeit in den späteren Auflagen); in der hier erneut vorliegenden zweiten Sammlung sind Vorträge aus den elf Jahren zwischen 1909 und 1920 vereinigt. Beide Male macht sich die Zeit des Ersten Weltkriegs bemerkbar, in welcher Adler von seiner Tätigkeit als Truppenarzt offenbar voll in Anspruch genommen war. In der ersten Sammlung sind in den späteren Ausgaben die Jahre 1915 bis 1920, in der zweiten die Jahre 1915 bis 1917 unbesetzt.

In der früheren Sammlung kann man die allmähliche Klärung des theoretischen Standpunktes, die Einführung der Grundbegriffe und der als wesentlich betrachteten funktionalen Zusammenhänge verfolgen. Der (hier vorliegenden) späteren geht die Veröffentlichung des Hauptwerks Über den nervösen Charakter voraus. Der Begriffsapparat einer Sozial- oder Positionspsychologie der Entwicklung des normalen und des neurotischen Charakters sowie die Grundzüge einer Erziehung, durch die man charakterliche Fehlentwicklungen verhindern, und einer Psychotherapie, durch die man schon ausgebildeten Fehlhaltungen den Boden entziehen kann, liegen im großen fest.

Sinngemäß nehmen jetzt einen großen Teil des Textes Bemühungen ein, die Grundgedanken der Theorie auf die verschiedensten Sonderformen seelischer Störungen und charakterlicher Fehlhaltungen anzuwenden: Schlaflosigkeit, Hungerstreik, Zwangsneurose, Melancholie, Paranoia, Kriegsneurosen, Syphilidophobie, Trigeminusneuralgie, Verwahrlosung, Homosexualität, Prostitution und die Ablehnung des eigenen Geschlechts bei der Frau.

Daneben werden spezielle psychologische und charakterliche Erscheinungen eingehender behandelt, wie der Traum, die Halluzination, der Widerstand in der Behandlung, die Erscheinungen der »Distanz« und der »Lebenslüge« (ein Ausdruck, der hier zum erstenmal erscheint), und hypothetische Konstrukte wie das Unbewußte und die organischen Auslöser und Substrate neurotischer Erkrankungen.

Nicht zuletzt beschäftigt sich Adler mit dem Ausbau und der Präzisierung der aus seinem Grundansatz folgenden Anweisungen für den Erzieher und den Psychotherapeuten.

In zwei Beiträgen versucht er eine individualpsychologische Deutung schriftstellerischer Erzeugnisse, und zwar des Romanes Hofrat Eysenhardt von Alfred Berger und des Gesamtwerks von Dostojewski. In den Bemerkungen zu Dostojewski ist, wie mir scheint, überzeugend dargetan, daß der große Dichter mit künstlerischen Mitteln die Wechselbeziehungen zwischen Schicksal und Charakter in einer Weise schildert, die, in die Sprache der Wissenschaft übersetzt, den Überzeugungen, zu denen Adler gelangt war, erstaunlich nahe kommt. Diese Konvergenz ist um so bedeutsamer, als Dostojewskis Romane viel früher entstanden sind als Adlers Darstellung seiner Positionspsychologie – dies im Gegensatz zu der umfangreichen neueren Romanliteratur, in der versucht wird, aufgrund der Kenntnis Freudscher Ansätze menschliche Schicksale mit psychoanalytischen Mitteln zu deuten.

Auch der Beitrag über den Roman Hofrat Eysenhardt handelt von einem literarischen Vorläufer der Individualpsychologie. Der Held der Geschichte ist offenbar ein Mann, der tatsächlich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Wien gelebt hat. Nicht nur in seiner Darstellung durch den Dichter, sondern auch in deren Würdigung durch Alfred Adler, ist aber die Grenze zwischen Tatsachenbericht und dichterischer Eingebung ständig so sehr verwischt, mit anderen Worten, der Leser wird über diese Grenzen so sehr im unklaren gelassen, daß er am Ende nicht weiß, ob die Gültigkeit der Grundthesen der Individualpsychologie an einem tatsächlichen Lebenslauf demonstriert werden soll, oder ob durch die Analyse eines Kunstwerks gezeigt werden soll, daß der Schriftsteller Berger die geheimen Zusammenhänge eines halb wirklichen, halb erdichteten Lebenslaufs im Sinne der Individualpsychologie dargestellt hat, ohne diese zu kennen.

Diese Zwielichtigkeit von Adlers Bemerkungen zu Bergers Roman ist geeignet, einen Leser, der Adlers Gedankenwelt erst kennenlernen will, in einem Maße zu verwirren, daß wir in der hier vorliegenden Neuausgabe auf ihren Abdruck verzichtet haben.

In den bisherigen Auflagen des Werks ist noch ein weiterer Beitrag enthalten, der einen Leser von 1974 nur verwirren und vom Wesentlichen ablenken kann. Es ist das Kapitel ›Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit?‹, etwas unorganisch kurz vor dem Ende der Sammlung eingefügt, aber tatsächlich vor allen übrigen Beiträgen, im Jahre 1909, entstanden. Wie die Jahreszahl zeigt, handelt es sich um eine Arbeit aus der Zeit des pathologisch-anatomischen Zwischenspiels in der Entwicklung der Adlerschen Theorie, das mit der Studie über Minderwertigkeit von Organen1907 beginnt, zu dem auch die beiden Beiträge ›Entwicklungsfehler des Kindes‹ und ›Über Vererbung von Krankheiten‹ gehören, die wir in unserer Neuausgabe von Heilen und Bilden ebenfalls nicht mit abgedruckt haben, und das mit dem Beitrag ›Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit?‹ im Jahr 1909 im wesentlichen abgeschlossen zu sein scheint.

In Adlers Werdegang als Theoretiker der Persönlichkeitsentwicklung spielt dieser Exkurs ins Somatische eine bedeutende Rolle. Denn durch die pathologisch-anatomischen Ansätze wurde man in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf seinen Namen aufmerksam. Hiermit mag es zusammenhängen, daß Adler diesem Kind seines Geistes gegenüber bis zuletzt Gefühle väterlicher Zuneigung bewahrte, auch nachdem es ihm längst klar geworden war, daß Organminderwertigkeiten bei der Entwicklung von Minderwertigkeitsgefühlen und bei der Entstehung der neurotischen Formen des gesuchten Ausgleichs nur eine auslösende und allenfalls verstärkende Wirkung haben, daß sie zu der Ableitung einer Systematik der verschiedenen Neuroseformen aber nicht geeignet sind. Jedenfalls steht fest, daß in den späteren Falldarstellungen Adlers die besondere Art der Organminderwertigkeiten keine mit den Besonderheiten der Position in der Familie auch nur entfernt vergleichbare Rolle spielt.

Um den Leser nicht nachträglich auf Wege zu locken, die längst als Holzwege erwiesen sind, wurde auf eine Aufnahme auch dieses Aufsatzes in die vorliegende Neuausgabe verzichtet.

Ohnehin findet sich in einem Aufsatz von 1912 noch mindestens eine bemerkenswerte Nachwirkung der pathologisch-anatomischen Phase, ein Versuch, gewisse neurotische Erscheinungen, etwa das Ausweichen in das »Als-Ob« nicht aus der Dynamik der Leitlinien, aus der Spannung zwischen allzu hoch gesteckten Zielen und übertriebenen Sicherungstendenzen zu verstehen, sondern aus der verhältnismäßigen Leistungsfähigkeit und infolgedessen wechselnden Vorherrschaft antagonistischer »psychischer Apparate« (oder gar »Bahnen«). In der Abhandlung ›Über männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern‹ (1911) ist auf Seite 142 f dieser Sammlung die Rede von der Wechselwirkung zwischen einem »fingierenden Apparat« und einem »korrigierenden Apparat«. Auf der Funktionstüchtigkeit des letzteren beruht danach das Gefühl der »Verpflichtung zur Logik« und die Fähigkeit, sich »vernünftig« zu benehmen. Eine »Korrelationsschwäche der korrigierenden Bahnen«, das heißt eine verhältnismäßige Minderwertigkeit des korrigierenden Apparats, die seine Kompensationsfähigkeit noch weiter herabsetzt, oder auch »stärkere Leistungen« des »fingierenden Apparats« dagegen sollen der Psychose, der Schizophrenie zugrunde liegen.

Es scheint mir bedeutsam, daß diese Gedankengänge noch aus der Zeit vor der Trennung von Freud (und vor der Niederschrift des Hauptwerks Über den nervösen Charakter stammen. Der »korrigierende Apparat« Adlers hat alle Merkmale des Freudschen »Realitätsprinzips« und ist zweifellos mit diesem identisch. Dagegen enthält, soweit ich sehen kann, die Theorie Freuds kein Gegenstück zu Adlers »fingierendem Apparat«. Übrigens findet sich in Adlers späteren Schriften keine Fortentwicklung dieses Ansatzes. Das ist verständlich; denn verschiedene einander ausschließende oder miteinander unverträgliche Verhaltensweisen einer Mehrzahl von seelischen Apparaten zuzuschreiben, widerspricht dem Adlerschen Grundansatz, nach welchem die Person gerade nicht als eine Art Bühne verstanden werden soll, auf der verschiedene »Instanzen« gegeneinander kämpfen. Sein Ansatz kennt vielmehr nur einen einzigen Akteur, das – »ungeteilte« – Individuum, das leider die im Grenzfall krankmachende Fähigkeit besitzt, Verschiedenes und sogar Widersprüchliches gleichzeitig zu wollen. Es liegt also in der Konsequenz seines Ansatzes selbst, daß das Denken in Apparaten auch im einzelnen mehr und mehr durch echt dynamische Annahmen abgelöst wird.

Aufgrund von Erfolgen der Erziehung und der Psychotherapie erheben sich Zweifel sogar an der Bedeutsamkeit der körperlichen Grundlagen von Störungen wie dem Einnässen. Ob ein Kind nach dem dritten Lebensjahr ohne Rückfälle seine Blase beherrscht, darüber entscheidet schließlich – daran zweifelt Adler schon 1909 nicht mehr – die »Geschicklichkeit und Kooperation der Mutter«[1].

Selbstverständlich kann man den entscheidenden Erfolg mütterlicher Erziehungskunst auch – in der Sprache der Studie über Minderwertigkeit von Organen – als eine »Kompensation durch das Gehirn« bezeichnen, und das theoretisch sogar mit Recht. Nur bleibt das für die Praxis ohne Bedeutung, da wir weit davon entfernt sind, gezielte unmittelbare Einwirkungen auf das Gehirn auszuüben, sondern – möglicherweise für immer – auf die Gestaltung der Lebenslage des Patienten, auf sprachliche Verständigung und auf sein durch sie vertieftes Selbst- und Weltverständnis angewiesen sein werden.

Einen unmißverständlichen Hinweis auf diese Entwicklung gibt die ein Jahr später (1912) zuerst erschienene Schrift über ›Das organische Substrat der Psychoneurosen‹ (S. 242 bis 254, besonders Satz IX und X der Zusammenfassung). Im Grunde wird hier – ungeachtet des Titels – das Organische oder Somatische gar nicht mehr als »Substrat« oder Korrelat der Neurose behandelt, sondern als auslösender Faktor, noch genauer, als ein auslösender Faktor unter einer ganzen Reihe von anderen. Nicht anders können die Ausführungen unter Nummer IX über die Bedeutung der »konstitutionellen Erkrankungen (und der organischen Mängel) des Kindesalters« verstanden werden. Sofern gewisse Organe konstitutionell nicht voll funktionstüchtig sind (Nummer X), muß man natürlich (wenn man von vorgeburtlichen Einwirkungen wie Alkohol, Lues und sonstigen Krankheiten der Mutter absieht) eine vorgeordnete Störung schon im Keimplasma annehmen. Dies bestätigen auch die Stammbäume von Geisteskranken. Aber wie die Störung des Keimplasmas sich schließlich auswirkt, hängt von ganz anderen Dingen ab: den materiell guten oder schlechten Verhältnissen, in die das Kind hineingeboren wird, aber zum Beispiel auch von »der nervösen Familientradition« (Satz X, Schluß). Das Keimplasma und die funktionsuntüchtigen Organe können also nur in sehr uneigentlichem Sinn als »Substrat« der Neurose bezeichnet werden. Und der angeführte Satz von Adler scheint mir eher ein leicht ironisch verkleideter Hinweis darauf zu sein, daß wir von eigentlichen körperlichen Substraten dieser Abartigkeiten so wenig wissen wie von denjenigen der geistigen, seelischen, charakterlichen Gesundheit.

Auf den Stand der allgemeinen Theorie der Neurose zur Zeit der Herausgabe dieser Sammlung, wie er in den ersten vier Aufsätzen dargestellt wird, soll hier nicht eingegangen werden. Dies würde unter anderem eine eingehende Erörterung des Begriffs der »Fiktion« erfordern, der, genau wie die Begriffe der »Minderwertigkeit« und der »Kompensation«, von Adler in mehreren Bedeutungen gebraucht wird. Doch scheint mir eine Bemerkung Adlers über die Beziehungen zwischen Individualpsychologie und Gestaltpsychologie erwähnenswert (S. 20, Fußnote). Er stellt dort eine übereinstimmende Anschauung beider Richtungen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den gegenwärtigen Anliegen eines Menschen und seinem wahrnehmbaren Verhalten fest. Diese Übereinstimmung besteht tatsächlich. Man vergleiche dazu das 8. Kapitel der Psychologischen Probleme von Wolfgang Köhler (Berlin 1933).

Dies ist jedoch nur eine von zahlreichen Übereinstimmungen und Konvergenzen, von denen noch einige besonders bedeutsame hier genannt werden sollen.

Die erste ist die Fortentwicklung bzw. Ergänzung des Freudschen Postulats der strengen Determiniertheit alles seelischen Geschehens, wie es wohl am eingehendsten in Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901, 1904) behandelt ist, durch das Postulat der Ableitbarkeit aller Schicksale, Handlungen, Entscheidungen (und Unterlassungen) aus einem einheitlichen, den ganzen Lebenslauf eines gegebenen Menschen durchziehenden Prinzip. Es beruht auf der Grundannahme, daß die einzelnen Ereignisse – auch wenn der Anschein zunächst noch so sehr dafür spricht – nicht stückhaft wie die Glieder einer Summe nebeneinander stehen oder aufeinander folgen, daß man daher erst dann sicher sein kann, einen Menschen verstanden zu haben, wenn dieses durchgehende Prinzip entdeckt ist. Das Leben eines Menschen in solcher Weise als ein in sich stimmendes Ganzes zu betrachten, ist tatsächlich ein echt gestalttheoretisches Unterfangen. Gestalttheoretisch ist auch die Annahme, daß das Ganze, das ein Mensch darstellt, ständig – um mit Köhler[2] zu sprechen – einem »ausgezeichneten Endzustand« zustrebt. Eine weitere grundlegende Übereinstimmung besteht in der Anerkennung der Tatsache, daß die Gruppen, in denen wir alle uns seit dem Beginn unseres Lebens befinden, keine Gedankendinge sind, sondern, sofern sie uns als Bestandteile der Wahrnehmungswelt gegeben sind, wirkliche lebendige Ganze sind und daß die Stelle innerhalb oder außerhalb der Gruppe und die schicksalsbedingte Rolle in ihr für jeden von uns lebensentscheidende Bedeutung hat. Man vergleiche dazu auch die von Max Wertheimer angeregte und betreute Untersuchung von H. Schulte ›Versuch einer Theorie der paranoischen Eigenbeziehung und Wahnbildung‹[3].

Individualpsychologie und Gestaltpsychologie gemeinsam ist endlich, wie schon früher bemerkt, noch der Grundbegriff der »Sachlichkeit«, den zwar erst Fritz Künkel[4] als Oberbegriff des Gemeinschaftsgefühls ausführlich erörtert hat, der aber von Adler selbst schon 1914 – in dem ersten Aufsatz dieser Sammlung – ganz im Sinne Wertheimers verwendet wird.

Abschließend noch einige Hinweise auf die Beiträge dieses Bandes zu Erziehungsproblemen.

Daß der Blick des Forschers sich mehr und mehr auf die Zeit der frühen Kindheit richtet, in der – nicht im Sinne von Schicksalen des Geschlechtstriebs, sondern im Sinne einer die Entwicklung fördernden oder störenden Lebenslage und Position – Entscheidungen für das ganze Leben fallen, ist eine notwendige Auswirkung der Adlerschen Grundannahmen.

Im Beitrag ›Kinderpsychologie und Neurosenforschung‹ wird in sehr eindrucksvoller Weise der Grundgedanke der Abhandlung über ›Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes‹ von 1908 weiter ausgeführt, indem sämtliche kindlichen Unarten und Erziehungsschwierigkeiten darauf zurückgeführt werden, daß sich statt des Bewußtseins der Zugehörigkeit und der Eintracht das Bewußtsein der Ausschließung und infolgedessen die Haltung einer Kampfposition ausbildet, verbunden mit der Unfähigkeit, sich »einem fremden Willen anzuvertrauen«.

Im Kapitel ›Über individualpsychologische Erziehung‹ scheint mir besonders wichtig der erste Versuch eines Ausbaues der (schon früher eingeführten) Theorie der Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe.

Besonders eindrucksvoll ist das Schlußkapitel (›Verwahrloste Kinder‹) durch die Fülle seiner Gedanken und die Geschlossenheit seines Aufbaues. Überzeugend wird die auslösende Bedeutung von Erlebnissen der »Entthronung« und des »Scheiterns« dargestellt, wobei zum erstenmal der inzwischen ohne Kenntnis seiner Herkunft allgemein geläufig gewordene Begriff des »Nebenkriegsschauplatzes« auftritt.

Die kritischen Bemerkungen über die Schulverhältnisse, vor allem über den Unsinn der Notengebung, der überfüllten Klassen, der pädagogisch ahnungslosen Lehrer sind in dem inzwischen verstrichenen halben Jahrhundert nicht gegenstandslos geworden.

Wichtig ist, daß die Forderung von 1904, das Ehrgefühl des Kindes dürfe nicht verletzt werden, jetzt weiter ausgeführt wird durch die Forderungen, das Kind ernst zu nehmen, es als gleichwertig anzusehen, es nicht herabzusetzen, komisch zu finden, zu verspotten.

Praktisch läuft alles auf eine Erziehung hinaus, von der auch heute noch nicht feststeht, ob sie besser »antiautoritär« oder »nicht-autoritär« heißt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Auseinandersetzung darüber schon kurze Zeit nach dem Erscheinen dieser Sammlung ausbrach. In der (1925 erschienenen) Schrift über Das Proletarierkind von Otto Rühle, einem hervorragenden Mitarbeiter Adlers, streiten sich Psychologen und Revolutionäre, welcher der beiden Ausdrücke der angemessenere sei; wobei, wie heute, verständlicherweise die Revolutionäre mehr für »anti-« sind.

Die Entscheidung Adlers ist schon 1912 gefallen, in dem Aufsatz ›Zur Erziehung der Eltern‹. Dort heißt es: »Es wäre oft nicht schwer, Kinder wie auch Erwachsene durch Anbefehlen des Gegenteils auf den richtigen Weg zu bringen. Nur liefe man dabei Gefahr, alle Gemeinschaftsgefühle zu untergraben, ohne die Selbständigkeit des Urteils zu fördern; und ›negative Abhängigkeit‹ ist ein größeres Übel als Folgsamkeit«.[5]

 

Münster, den 19. November 1973 Wolfgang Metzger

Vorwort zur ersten Auflage

Die individualpsychologische Forschung erstrebt eine Vertiefung der Menschenkenntnis, die nur zu holen ist aus dem Verständnis der Stellung des Individuums zu seiner sozial bestimmten Aufgabe. Nur die Bewegungslinie, in der sich die soziale Aktivität einer Persönlichkeit darstellen und empfinden läßt, gibt uns Aufschluß über den Grad der Verschmelzung eines Menschen mit den Forderungen des Lebens, der Mitmenschen, des Weltalls. Sie gibt uns auch Aufschluß über den Charakter, über den Elan, über sein körperlich-geistiges Wollen. Sie läßt sich zurückverfolgen bis zu ihren Ursprüngen in der Zeit der Ichfindung und zeigt uns dort, in der frühesten Position des Menschenkindes, die ersten Widerstände der Außenwelt und die Form und Kraft des Wollens und der Versuche, sie zu überwinden. In diesen frühesten Kindheitstagen schafft sich das Kind irrend und unverständig seine Schablone, sein Ziel und Vorbild und den Lebensplan, dem es wissend-unwissend folgt. Vorbildlich werden ihm dabei alle Erfolgsmöglichkeiten und die Beispiele anderer Überwinder. Den Rahmen gibt ihm die umgebende Kultur.

Über dieser tiefsten Bewegungslinie des Individuums, von der das Menschenkind manches weiß, deren grundlegende Bedeutung es immer verkennt, baut sich die ganze seelische Struktur auf. Alles Wollen, der ganze Kreis der Gedanken, des Interesses, Assoziationsverlauf, Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen laufen im Geleise dieser Dynamik. Aus ihr und zu ihrem Schutze stammen Weltanschauung, Antrieb oder Bremsvorrichtungen, und jedes Erlebnis wird so weit gedreht und gewendet, bis es zugunsten des eigentlichen Persönlichkeitskernes, jener kindlichen Bewegungslinie, seinen Nutzeffekt abgegeben hat.

Unsere Individualpsychologie hat aber auch den Nachweis erbracht, daß die Bewegungslinie des menschlichen Strebens zunächst einer Mischung von Gemeinschaftsgefühl und Streben nach persönlicher Überlegenheit entspringt. Beide Grundfaktoren zeigen sich als soziale Gebilde, die erste als angeboren, die menschliche Gemeinschaft festigend, der zweite als anerzogen, als naheliegende allgemeine Verführung, die unablässig die Gemeinschaft zum eigenen Prestige auszubeuten trachtet.

Es war nicht allzu schwierig, die Prestigepolitik des Einzelindividuums den Psychologen, Pädagogen und Neurologen klarzulegen. Daß sich Prestigewissenschaft dem Einflusse unserer Individualpsychologie zu entwinden trachtet, daß sie mit Finten und auf Umwegen unsere Aufdeckungen nicht bekämpft, sondern übernimmt, ist mir und meinen Schülern keine sonderliche Überraschung. Vor der einen Tatsache, daß sie immer unseren Aufdeckungen des Machtrausches nachhinkt, sie niemals überflügelt, verblaßt ihr eigener Dünkel und ihre Großsprecherei.

Schwieriger dürfte es uns fallen, den allgemeinen Beitrag des Gemeinschaftsgefühls klarzumachen. Denn hier stoßen wir gegen das Gewissen des einzelnen. Viel leichter verträgt er den Nachweis, daß er wie alle andern nach Glanz und Überlegenheit strebt, als die unsterbliche Wahrheit, auch ihn umschlinge das Band der menschlichen Zusammengehörigkeit, und er verschleiere es listig vor sich und den andern. Seine Körperlichkeit verweist ihn auf den Zusammenschluß, Sprache, Moral, Ästhetik und Vernunft zielen auf Allgemeingültigkeit, setzen sie voraus, Liebe, Arbeit, Mitmenschlichkeit sind die realen Forderungen des menschlichen Zusammenlebens. Gegen diese unzerstörbaren Wirklichkeiten stürmt und tobt das Streben nach persönlicher Macht oder sucht sie listig zu umschleichen. In diesem unablässigen Kampf aber zeigt sich die Anerkennung des Gemeinschaftsgefühls.

Das Wissen der Menschen um die Beweggründe ihrer Handlungen, das allgemeine Verständnis von den seelischen Erscheinungen bei Gesunden und Nervösen, die immer anderes bedeuten können, als sie oberflächlich zum Ausdruck bringen, ist unzulänglich, solange die formale Gestaltung und die Dynamik ihrer Leitlinie verborgen bleibt. Was Führer der Menschheit als das Wirken Gottes, des Schicksals, der Idee, der ökonomischen Grundlage erfaßt hatten, zeigt uns die Individualpsychologie als die machtlüsterne Ausgestaltung eines formalen Gesetzes: der immanenten Logik des menschlichen Zusammenlebens.

Der vorliegende Band enthält Vorarbeiten, Erweiterungen und Forschungen der Theorie und Praxis der Individualpsychologie und hat die Aufgabe, durch eine Reihe von älteren und neuen Arbeiten den Weg zu unserer Wissenschaft zu weisen. In diesem Sinne ist er auch ein Begleiter des früher erschienenen Werkes Über den nervösen Charakter.

 

Prigglitz, im August 1920

Vorwort zur vierten Auflage

Ich habe durch Ergänzungen, Klarstellungen und Erweiterungen getrachtet, dieses Buch auf die gegenwärtige Höhe der Entwicklung der Individualpsychologie zu bringen.

 

Dr. Alfred Adler

Visiting Professor der Columbia University, New York

New York, im März 1930

Die Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und Ergebnisse[6]

Ein Überblick über die Anschauungen und Lehren der meisten Psychologen zeigt uns eine sonderbare Beschränkung, soweit ihr Forschungsgebiet und ihre Mittel der Erkenntnis in Frage kommen. Es ist, als ob Erfahrung und Menschenkenntnis mit tieferer Absicht ausgeschlossen sein sollten, und als ob der künstlerischen, schöpferischen Anschauung, dem Erraten und der Intuition jede Geltung bestritten wäre. Während die Experimentalpsychologen Phänomene sammeln oder erzeugen, um Reaktionsweisen zu erschließen, also eigentlich Physiologie des Seelenlebens betreiben, reihen andere alle Ausdrucks- und Erscheinungsformen in althergebrachte oder wenig geänderte Systeme ein. Dabei finden sie nun freilich jene Abhängigkeiten und Zusammenhänge in den Einzelbewegungen wieder, die sie in ihrem Schema der Seele von vorneherein angebracht hatten.

Oder man versucht aus kleinen, womöglich meßbaren Einzelerscheinungen physiologischer Art Seelenzustände und das Denken aufzubauen, indem man beide gleichsetzt. Daß dabei das subjektive Denken und Einfühlen des Forschers ausgeschaltet erscheint, in Wirklichkeit freilich recht kräftig den Zusammenhang meistert, gilt diesen Forschern noch als Vorzug ihrer psychologischen Auffassung.

Die Methodik dieser Richtungen erinnert auch in ihrer Bedeutung als Vorschule des menschlichen Geistes an die jetzt überholte ältere Naturwissenschaft mit ihren starren Systemen, die heute allgemein ersetzt sind durch Anschauungen, die biologisch, aber auch philosophisch und psychologisch das Leben und seine Varianten im Zusammenhang zu erfassen trachten. So auch jene Richtung in der Psychologie, die ich »vergleichende Individualpsychologie« genannt habe. Sie versucht das Bild der einheitlichen Persönlichkeit als einer Variante aus den einzelnen Lebensäußerungen und Ausdrucksformen zu gewinnen, indem sie die Einheit der Individualität voraussetzt. Nun werden die einzelnen Züge miteinander verglichen, auf ihre gemeinsame Linie gebracht und zu einem Gesamtporträt individualisierend zusammengetragen.[7]

Es dürfte auffallen, daß diese Art der Betrachtung des menschlichen Seelenlebens durchaus nicht ungewöhnlich oder besonders verwegen aussieht. In den Betrachtungen der Kinderpsychologie leuchtet sie trotz anderer Richtungslinien deutlich hervor. Vor allem aber ist es das Wesen und das Werk des Künstlers, des Malers, des Bildhauers, des Musikers, vorzüglich des Dichters, alle kleinen Züge seiner Geschöpfe so darzustellen, daß der Betrachter in ihnen die Grundlinien der Persönlichkeit, den Lebensstil zu erfassen vermag, aufzubauen imstande ist, was der Künstler vorher schon im Hinblick auf das Finale in sie versteckt hatte. Zumal das Leben in der Gesellschaft, das Leben ohne wissenschaftliche Voreingenommenheit, ist so sehr im Banne der Frage nach dem Wohin? einer Erscheinung, daß man es aussprechen muß: Trotz aller gegenteiligen wissenschaftlichen Anschauung hat noch nie einer sich über ein Geschehnis ein Urteil gebildet, ohne nach einer Linie gehascht zu haben, die alle seelischen Erscheinungen einer Person bis zu ihrem fiktiven Ziel zu verbinden scheint.

Wenn ich nach Hause eile, werde ich dem Betrachter alle Haltung, Miene, Bewegung und Gebärde darbieten, die man gemeiniglich von einem Heimkehrenden erwarten darf.[8] Und dies trotz aller Reflexe und trotz aller Kausalität. Ja, meine Reflexe könnten auch andere sein, die Ursachen könnten variieren – was man psychologisch erfassen kann und vor allem, was uns praktisch und psychologisch fast ausschließlich interessiert, ist: die Linie, die einer verfolgt.

Ferner: wenn ich das Ziel einer Person kenne, so weiß ich ungefähr, was kommen wird. Und ich vermag es dann auch, jede der aufeinanderfolgenden Bewegungen einzureihen, im Zusammenhang zu sehen und meine ungefähre psychologische Kenntnis des Zusammenhangs fortlaufend zu korrigieren oder anzupassen. Solange ich nur die Ursachen, demnach nur Reflexe und Reaktionszeiten, Merkfähigkeit und ähnliches kenne, weiß ich nichts von dem, was in der Seele dieses Menschen vorgeht.

Dazu kommt noch, daß auch der Untersuchte nichts mit sich anzufangen wüßte, solange er nicht nach einem Ziel gerichtet ist. Solange wir seine durch ein Ziel bestimmte Lebenslinie nicht kennen, wäre das ganze System seiner erkannten Reflexe samt allen kausalen Bedingungen nicht imstande, über die nächste Folge seiner Bewegungen Sicherheit zu verschaffen: Sie würden sich mit jeder möglichen seelischen Konsequenz in Einklang bringen lassen. Am deutlichsten ist dieser Mangel bei Assoziationsversuchen zu verstehen. Ich würde nie von einem Manne, der eine schwere Enttäuschung erlitten hat, erwarten können, daß er auf »Baum« etwa »Strick« assoziiert. Kenne ich aber sein Ziel, den Selbstmord, so werde ich eine solche Abfolge seiner Gedanken mit Sicherheit erwarten, so sicher, daß ich ihm Messer, Gift und Schießwaffen aus dem Wege räumen werde. Erst in den Konsequenzen, die einer zieht, zeigt sich seine Individualität, sein Apperzeptionsschema.

Sieht man näher zu, so findet man folgende Gesetzmäßigkeit, die die Entfaltung alles seelischen Geschehens durchzieht: wir sind nicht in der Lage zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne daß uns ein Ziel vorschwebt. Denn alle Kausalitäten genügen dem lebenden Organismus nicht, das Chaos des Zukünftigen zu bewältigen und die Planlosigkeit, deren Opfer wir wären, aufzuheben. Alles Tun verharrte im Stadium eines wahllosen Herumtastens, die Ökonomie des Seelenlebens bliebe unerreicht: Ohne jede Einheitlichkeit, jede Physiognomie und jede persönliche Note glichen wir Lebewesen vom Rang einer Amöbe. Nur Lebloses gehorcht einer erkennbaren Kausalität. Das Leben aber ist ein Sollen.

Daß wir durch die Annahme einer Zielsetzung im Seelenleben der Wirklichkeit besser gerecht werden, kann nicht bezweifelt werden. Bezüglich einzelner, aus dem Zusammenhang gerissener Phänomene besteht wohl auch kein Zweifel. Der Beweis kann leichthin angetreten werden. Man braucht nur einmal die Gehversuche eines kleinen Kindes oder einer Wöchnerin mit dieser Voraussetzung zu betrachten. Freilich, wer voraussetzungslos an die Dinge herantreten will, dem dürfte sich meist der tiefere Sinn verbergen. Bevor der erste Schritt gemacht wird, steht schon das Ziel der Bewegung fest und spiegelt sich in jeder Teilbewegung.

In gleicher Weise läßt sich von allen seelischen Bewegungen zeigen, daß sie ihre Richtung durch ein vorher gesetztes Ziel bekommen. Aber alle diese vorläufigen, im einzelnen sichtbaren Ziele geraten nach kurzem Bestand der seelischen Entwicklung des Kindes unter die Herrschaft des fiktiven Endziels, des als fix gedachten oder empfundenen Finales. Mit anderen Worten: das Seelenleben des Menschen richtet sich wie eine von einem guten dramatischen Dichter geschaffene Person nach ihrem V. Akt.

Diese aus jeder Persönlichkeit individualpsychologisch einwandfrei zu erschließende Einsicht führt uns zu einem wichtigen Satz: Jede seelische Erscheinung kann, wenn sie uns das Verständnis einer Person ergeben soll, nur als Vorbereitung für ein Ziel erfaßt und verstanden werden. Das Endziel erwächst jedem bewußt oder unbewußt, immer aber in seiner Bedeutung unverstanden.

Wie sehr diese Anschauung unser psychologisches Verständnis fördert, ergibt sich besonders, sobald uns die Vieldeutigkeit der aus dem Zusammenhang gerissenen seelischen Prozesse klargeworden ist. Halten wir uns einen Menschen mit einem »schlechten Gedächtnis« vor Augen. Nehmen wir an, er sei sich dieses Umstandes bewußt, und die Prüfung ergäbe eine geringe Merkfähigkeit für sinnlose Silben. Nach dem bisherigen Usus der Psychologie, der heute wohl ein Abusus zu nennen wäre, müßten wir das Urteil fällen: der Mann leide angeborener- oder krankhafterweise an einem Mangel der Merkfähigkeit. Nebenbei gesagt, kommt bei dieser Art der Untersuchung gewöhnlich als Urteil heraus, was mit anderen Worten in der Prämisse bereits gesagt ist, z. B. in diesem Fall: wenn einer ein schlechtes Gedächtnis hat, oder: wenn einer nur wenige Worte merkt – so hat er eine geringe Merkfähigkeit.

Der Vorgang der Individualpsychologie ist nun von diesem gänzlich verschieden. Sobald sich organische Ursachen sicher ausschließen lassen, müßte sie die Frage aufwerfen: wohin zielt die Gedächtnisschwäche? Auf was kommt es ihr an? Dieses Ziel können wir nur aus einer intimen Kenntnis des ganzen Individuums erschließen, so daß uns das Verständnis des Teiles erst aus dem Verständnis des Ganzen erwächst. Und wir würden etwa finden, was einer großen Anzahl von Fällen entspräche: Diese Person ist daran, vor sich und vor anderen den Beweis zu erbringen, daß sie aus irgendwelchen zugrunde liegenden Motiven, die ungenannt oder unbewußt bleiben sollen, die sich aber durch Gedächtnisschwäche besonders wirksam vertreten lassen, von irgendeiner Handlung oder Entscheidung (Berufswechsel, Studium, Prüfung, Heirat) fernbleiben müsse. Dann wäre diese Gedächtnisschwäche als tendenziös entlarvt, wir verstünden ihre Bedeutung als Waffe im Kampf gegen ein Unterliegen, und wir würden bei jeder Prüfung einer solchen Merkfähigkeit gerade jenen Defekt erwarten, der zum geheimen Lebensplan dieses Mannes gehört. Diese Schwäche hat also eine Funktion, die erst aus dem Bezugssystem des ganzen Lebens dieser Persönlichkeit klarwird. Bleibt noch die Frage, wie man solche Mängel oder Übel erzeugt. Der eine »arrangiert« sie bloß, indem er allgemeine physiologische Schwächen absichtlich unterstreicht und sie als persönliche Leiden in die Rechnung stellt. Anderen gelingt es, sei es durch Einfühlung in einen abnormen Zustand oder durch Präockupation mit gefahrvollen, pessimistischen Erwartungen und folgender seelischer Spannung den Glauben an ihr Können so weit zu erschüttern, daß ihnen dann kaum die Hälfte ihrer Kraft, ihrer Aufmerksamkeit, ihres Willens zur Verfügung stehen. Ihre Darstellung dieser Mangelhaftigkeit habe ich den »Minderwertigkeitskomplex« genannt.

Um noch ein Beispiel zu geben: die gleiche Beobachtung machen wir bei den Affekten. Wir finden bei einer Dame Angstausbrüche, die sich von Zeit zu Zeit wiederholen. Solange nichts Wertvolleres zu finden war, konnte man sich mit der Annahme einer hereditären Degeneration, einer Erkrankung der Vasomotoren, des Vagus usw., begnügen. Oder man konnte glauben, dem Verständnis näher zu sein, wenn man in der Vorgeschichte ein schreckensvolles Erlebnis, Trauma, aufspürte und diesem die Schuld beimaß. Sehen wir uns aber diese Individualität an und gehen wir ihren Richtungslinien nach, so entdecken wir etwa ein Übermaß von Herrschsucht, dem sich als Angriffsorgan die Angst beigesellt, sobald die Hörigkeit des anderen zu Ende geht, sobald die geforderte Resonanz fehlt, wie es sich etwa ergibt, wenn beispielsweise der Gatte einer solchen Patientin ohne Bewilligung das Haus verlassen möchte.

Unsere Wissenschaft erfordert ein streng individualisierendes Vorgehen und ist deshalb Verallgemeinerungen nicht geneigt. In usum delphini aber will ich folgenden Lehrsatz hierher stellen: Wenn ich das Ziel einer seelischen Bewegung oder eines Lebensplanes erkannt habe, dann muß ich von allen Teilbewegungen erwarten, daß sie mit dem Ziel und mit dem Lebensplan übereinstimmen.

Diese Formulierung ist mit geringen Einschränkungen im weiten Ausmaß aufrechtzuerhalten. Sie behält auch ihren Wert, wenn man sie umdreht: Die richtig verstandenen Teilbewegungen müssen in ihrem Zusammenhang das Abbild eines einheitlichen Lebensplanes und seines Endzieles ergeben. Wir stellen demnach die Behauptung auf, daß, unbekümmert um Anlage, Milieu und Erlebnisse, alle psychischen Kräfte im Banne einer richtigen Idee stehen, und daß alle Ausdrucksbewegungen, das Fühlen, Denken, Wollen, Handeln, Träumen und die psychopathologischen Phänomene von einem einheitlichen Lebensplan durchzogen sind. Aus dieser selbstgesetzten Zielstrebigkeit erwächst die Einheit der Persönlichkeit; so ergibt sich im seelischen Organ eine Teleologie, die als Kunstgriff und Eigenkonstruktion, als endgültige Kompensation des allgegenwärtigen menschlichen Minderwertigkeitsgefühls zu verstehen ist. Ein kurzer Hinweis mag diese ketzerischen Sätze begründen und zugleich mildern: Wichtiger als Anlage, objektives Erlebnis und Milieu ist deren subjektive Einschätzung, und ferner: diese Einschätzung steht in einem gewissen, freilich oft wunderlichen Verhältnis zu den Realien. In der Massenpsychologie ist diese grundlegende Tatsache schwer zu entdecken, weil der »ideologische Überbau über der ökonomischen Grundlage« (Marx und Engels) und seine Tatsetzungen einen Ausgleich der persönlichen Differenzen erzwingen. Aus der Einschätzung des einzelnen aber, die meist zu einer dauernden Stimmungslage im Sinne eines Minderwertigkeitsgefühls Anlaß gibt, entspinnt sich entsprechend der unbewußten Technik unseres Denkapparates ein fiktives Ziel als gedachte, endgültige Kompensation und ein Lebensplan als der Versuch einer solchen.[9]

Ich habe bisher viel vom »Verstehen« des Menschen gesprochen. Fast so viel als manche Theoretiker der »verstehenden Psychologie« oder der Persönlichkeitspsychologie, die immer abbrechen, wenn sie uns zeigen sollten, was sie eigentlich verstanden haben. Die Gefahr, auch diese Seite unserer Untersuchungen, die Ergebnisse der Individualpsychologie in Kürze auseinanderzusetzen, ist groß genug. Man wird lebende Bewegung in Worte, in Bilder einfangen müssen, man ist gezwungen, über Differenzen hinwegzusehen, um einheitliche Formeln zu gewinnen, und man wird bei der Beschreibung den Fehler machen müssen, den uns in der Ausübung zu begehen strenge verboten ist: mit einer trockenen Schablone an das individuelle Seelenleben heranzutreten, wie es die Freudsche Schule versucht.

Unter dieser Voraussetzung will ich in der Folge die wichtigsten Ergebnisse unserer Erforschung des Seelenlebens vorlegen. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß sich die hier zu besprechende Dynamik des Seelenlebens in gleicher Weise bei Gesunden und Kranken findet. Was den Nervösen vom Gesunden unterscheidet, liegt in der stärkeren »Sicherungstendenz« des Kranken, mittels deren er seinen Lebensplan ausstattet. Was aber die »Zielsetzung« und den ihr angepaßten Lebensplan anlangt, so finden sich keinerlei grundlegende Differenzen außer der einen, freilich maßgebenden, daß das »konkrete« Ziel des Neurotikers immer auf der unnützlichen Seite des Lebens liegt.

Ich darf demnach von einem allgemeinen Ziel der Menschen sprechen. Die eingehendste Betrachtung ergibt nun, daß wir die seelischen Bewegungen aller Art am besten verstehen können, wenn wir als ihre allgemeinste Voraussetzung erkannt haben, daß sie auf ein Ziel der Überlegenheit gerichtet sind. Vieles davon haben große Denker verkündigt, manches weiß jeder für sich davon, das meiste birgt sich in ein geheimnisvolles Dunkel, und nur im Wahnsinn oder in der Ekstase liegt es deutlich zutage. Ob einer ein Künstler, der erste in seinem Fache oder ein Haustyrann sein will, ob er Zwiesprache mit seinem Gotte hält oder die anderen herabsetzt, ob er sein Leid als das größte ansieht, dem alle sich beugen müssen, ob er nach unerreichbaren Idealen jagt oder alte Götter, alte Grenzen und Normen zerbricht[10] – auf jedem Teil seines Weges leitet und führt ihn seine Sehnsucht nach Überlegenheit, sein Gottähnlichkeitsgedanke, sein Glaube an seine besondere Zauberkraft. In der Liebe will er gleichzeitig seine Macht über den Partner empfinden, bei freiwilliger Berufswahl dringt das vorschwebende Ziel in übertriebenen Erwartungen und Befürchtungen durch, und noch im Selbstmord empfindet er rachedürstend den Sieg über alle Hindernisse. Um sich einer Sache, einer Person zu bemächtigen, kann er auf geraden Linien wandeln, kann stolz, herrschsüchtig, trotzig, grausam, mutig zu Werke gehen; oder er zieht es vor, durch Erfahrungen auf Abwege und Umwege gedrängt, seine Sache zum Siege zu führen durch Gehorsam, Unterwerfung, Sanftmut und Bescheidenheit. Auch die Charakterzüge haben kein selbständiges Dasein, auch sie passen immer zu dem individuellen Lebensplan, dessen wichtigste Kampfbereitschaften sie vorstellen.

Dieses Ziel der Allüberlegenheit, das im Einzelfall oft wunderlich genug aussieht, ist aber nicht von dieser Welt. Für sich betrachtet müssen wir es unter die »Fiktionen« oder »Imaginationen« einreihen. Von ihnen sagt Vaihinger (Die Philosophie des Als-Ob,2. Aufl. 1913) mit Recht, ihre Bedeutung liege darin, daß sie, an sich unsinnig, dennoch für das Handeln die größte Bedeutung hätten. Dies stimmt in unserem Falle so sehr, daß wir sagen können: Diese der Wirklichkeit so vollkommen Hohn sprechende Fiktion eines Zieles der Überlegenheit ist die Hauptvoraussetzung unseres bisherigen Lebens geworden. Sie lehrt uns die Unterschiede machen, sie gibt uns Haltung und Sicherheit, gestaltet, leitet unser Tun und Handeln und nötigt unseren Geist vorauszusehen und sich zu vervollkommnen. Daneben die Schattenseite: sie bringt leicht eine feindliche, kämpferische Tendenz in unser Leben, raubt uns die Unbefangenheit des Empfindens und versucht es stets, uns der Wirklichkeit zu entfremden, indem sie deren Vergewaltigung nahelegt. Wer dieses Ziel der Gottähnlichkeit real und persönlich faßt, es wörtlich nimmt, wird bald gezwungen sein, das wirkliche Leben als ein Kompromiß zu fliehen, um ein Leben neben dem Leben zu suchen, bestenfalls in der Kunst, meist aber im Pietismus, in der Neurose oder im Verbrechen.[11]

Ich kann hier auf Einzelheiten nicht eingehen. Eine offene Andeutung dieses überlebensgroßen Zieles findet sich wohl bei allen Menschen. Manchmal sticht es aus der Haltung hervor, zuweilen verrät es sich nur in den Forderungen und Erwartungen. Zuweilen findet man seine Spur in dunklen Erinnerungen, Phantasien oder Träumen. Sucht man es ernstlich, so darf man kaum je danach fragen. Aber eine körperliche oder geistige Attitüde spricht deutlich ihre Abstammung vom Streben nach Macht aus und trägt das Ideal irgendeiner Art von Vollkommenheit und Fehlerlosigkeit in sich. Immer wird in jenen Fällen, die sich der Neurose nähern, ein verstärktes Messen an der Umgebung, auch an Verstorbenen und Helden der Vergangenheit auffällig werden.

Die Probe auf die Richtigkeit dieses Befundes ist leicht anzustellen. Trägt nämlich jeder, wie wir es beim Nervösen in vergrößertem Maße wahrnehmen, ein Ideal der Überlegenheit in sich, dann müssen auch oft Erscheinungen zu finden sein, die auf eine Unterdrückung, auf Verkleinerung, auf Entwertung der anderen hinzielen. Charakterzüge wie Unduldsamkeit, Rechthaberei, Neid, Schadenfreude, Selbstüberschätzung, Prahlerei, Mißtrauen, Geiz – kurz alle Stellungen, die der Voraussetzung eines Kampfes entsprechen, müssen zum Durchbruch kommen, in weitaus höherem Grade, als es etwa die Selbsterhaltung gebietet und das Gemeinschaftsgefühl verlangt.

Daneben, manchmal gleichzeitig oder austauschbar, wird man je nach dem Eifer und dem Selbstvertrauen, mit dem das Endziel gesucht wird, Züge von Ehrgeiz, Wetteifer, Mut, die Attitüde des Rettens und Schenkens und Dirigierens auftauchen sehen. Eine psychologische Untersuchung erfordert so viel Objektivität, daß ein moralisches Urteil die Übersicht nicht stört. Man muß auch noch hinzunehmen, daß das verschiedene Niveau der Charakterzüge in erster Reihe unser Wohlgefallen oder unsere Mißachtung auslöst. Und schließlich liegen, insbesondere bei Nervösen, die feindlichen Züge oft so versteckt, daß der Träger dieser Eigenschaften mit Recht erstaunt und unwillig wird, sobald ihn einer darauf hinweist. Von zwei Kindern z. B. schafft sich das ältere eine recht unbehagliche Situation, weil es durch Trotz und Eigensinn die Herrschaft in der Familie an sich reißen will. Das jüngere Kind fängt es klüger an, zeigt sich als ein Muster von Gehorsam und bringt es so dahin, daß es der Abgott in der Familie wird, dem man alle Wünsche erfüllt. Als es der Ehrgeiz weitertrieb, und als die unausweichlichen Enttäuschungen eintraten, kam es zur Zerstörung der Gehorsamsbereitschaft; es stellten sich krankhafte Zwangserscheinungen ein, mittels deren jeder Befehl der Eltern durchkreuzt wurde, trotzdem man das Kind sich abmühen sah, im Gehorsam zu verharren. Ein Gehorsam also, dem seine Aufhebung durch Zwangsdenken auf dem Fuße folgte. Man sieht den Umweg, der gemacht wurde, um auf die gleiche Linie wie das andere Kind zu kommen.

Die ganze Wucht des persönlichen Strebens nach Macht und Überlegenheit geht frühzeitig beim Kinde in die Form und in den Inhalt seines Strebens über, während das Denken nur so viel davon beiläufig aufnehmen darf, als das unsterbliche, reale, physiologisch gegründete Gemeinschaftsgefühl erlaubt. Aus letzterem entwickelt sich Zärtlichkeit, Nächstenliebe, Freundschaft, Liebe; das Streben nach Macht entfaltet sich verschleiert und sucht sich heimlich und listig auf den Wegen des Gemeinschaftsgefühls durchzusetzen.

An dieser Stelle muß ich eine alte Grundanschauung aller Seelenkenner bestätigen. Jede auffällige Haltung eines Menschen läßt sich bis zu einem Ursprung in der Kindheit verfolgen. In der Kinderstube formt sich und bereitet sich die künftige Haltung des Menschen vor und zeigt die Abdrücke der Umgebung. Grundlegende Änderungen ergeben sich nur durch einen hohen Grad der Selbsterkenntnis oder im Stadium der Nervosität durch ein individualpsychologisches Vorgehen des Arztes, wenn der Patient den Fehler seines Lebensstils im Zusammenhang erkennt.

An einem andern Falle, wie er sich ähnlich ungezählte Male ereignet, will ich noch näher auf die Zielsetzung des Nervösen eingehen. Ein hervorragend begabter Mann, der sich durch Liebenswürdigkeit und feines Benehmen die Gunst eines wertvollen Mädchens errungen hatte, denkt an die Verlobung. Gleichzeitig rückt er mit einem Erziehungsideal dem Mädchen an den Leib, das diesem recht schwere Opfer auferlegt. Eine Zeitlang erträgt sie die maßlosen Anordnungen, bis sie weiteren Prüfungen durch den Abbruch der Beziehungen aus dem Wege geht. Nun stürzt der Mann in nervösen Anfällen zusammen. Die individualpsychologische Aufklärung des Falles ergab, daß das Ziel der Überlegenheit bei diesem Patienten, wie es sich in den herrschsüchtigen Anforderungen an die Braut ergab, schon längst zu einer Ausschaltung der Ehe gedrängt hatte, und daß er, ohne es zu verstehen, selbst dem Bruch zutreiben mußte, weil er sich dem offenen Kampfe, als den er sich die Ehe ausmalte, nicht gewachsen glaubte. Auch dieser Zweifel an sich selbst stammte aus seiner frühesten Kindheit, wo er als einziger Sohn ziemlich abgeschlossen von der Welt mit seiner früh verwitweten Mutter lebte. Aus dieser Zeit, die sich in fortwährenden häuslichen Kämpfen abwickelte, hat er den unauslöschlichen Eindruck gewonnen, den er sich offen nie eingestanden hätte: als sei er nicht männlich genug, als würde er nie einer Frau gewachsen sein. Diese psychische Attitüde ist einem dauernden Minderwertigkeitsgefühl vergleichbar, und man kann es wohl verstehen, wie sie in das Schicksal eines Menschen bestimmend eingreift und ihn zwingt, sein Prestige anders zu wahren als in der Erfüllung realer Forderungen auf der nützlichen Seite des Lebens.

Daß der Patient erreichte, was seine heimlichen Vorbereitungen zur Ehelosigkeit bezweckten, und was ihm seine Furcht vor dem Partner eingab, Kampfszenen und eine ruhelose Beziehung zur Frau, ist kaum zu verkennen. Ebensowenig, daß er sich zu seiner Braut ähnlich stellte wie zu seiner Mutter, die er ja gleichfalls niederringen wollte. Diese durch Sehnsucht auf Sieg erzwungene Beziehung ist von der Freudschen Schule als dauernd inzestuöse Verliebtheit in die Mutter mißverstanden worden. In Wirklichkeit treibt den Patienten sein aus der schmerzlichen Beziehung zu seiner Mutter verstärktes kindliches Minderwertigkeitsgefühl dazu, es im Leben noch einmal unter Anwendung der stärksten Sicherungstendenz auf den Kampf mit der Frau ankommen zu lassen. Was immer wir sonst unter Liebe verstehen wollen, sie ist in diesem Fall nicht qualifiziertes Gemeinschaftsgefühl, sondern nur ihr Schein, ihre Karikatur, nur Mittel zum Zweck. Letzterer aber ist: endlich Triumph über ein geeignetes weibliches Wesen zu erzwingen. Deshalb die fortgesetzten Prüfungen und Forderungen, deshalb auch die mit Sicherheit zu erwartende Lösung des Verhältnisses. Diese Lösung hat sich nicht »ereignet«, sie wurde kunstgerecht inszeniert, und ihr Arrangement erfolgte mit den alten Mitteln einer Erfahrung, wie der Mann sie an seiner Mutter geübt hatte. Eine Niederlage in der Ehe schien ausgeschlossen, weil er die Ehe verhinderte. Man sieht in dieser Stellungnahme das Überwuchern des »Persönlichen« gegenüber der »Sachlichkeit«, gegenüber der Unbefangenheit. Die Erklärung findet sich in der Feststellung des zitternden Ehrgeizes. Es gibt zwei Formen des Ehrgeizes, von denen die zweite die erste ablöst, sobald durch Niederlagen eine Entmutigung eingetreten ist. Die erste Form steht hinter dem Menschen und jagt ihn nach vorne. Die zweite stellt sich vor den Menschen und drängt ihn zurück: »Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.« In der zweiten Lage befinden sich zumeist die Nervösen, und die erste Form findet sich bei ihnen nur mehr spurweise, bedingungsweise oder zum Schein. Sie sagen dann wohl auch: »Ja, früher, da war ich ehrgeizig.« Sie sind es aber noch ebenso, haben sich aber durch das Arrangement ihres Leidens, ihrer Verstimmung, ihrer Teilnahmslosigkeit den Weg nach vorne verlegt. Ihre Antwort auf die Frage: »Wo warst du denn, als man die Welt verteilet?«, lautet regelmäßig: »Ich war krank.« So gelangen sie anstatt zur Beschäftigung mit der Außenwelt – zur Beschäftigung mit sich. Jung und Freud haben später, der eine als »Introversion«, der andere als »Narzißmus« diesen wichtigsten neurotischen Vorgang irrtümlich als angeborene (?) Typen aufgefaßt.

Bleibt so kaum etwas Rätselhaftes an dem Verhalten dieses Mannes, erkennen wir in seiner herrschsüchtigen Attitüde deutlich die Aggression, die sich als Liebe gibt, so bedarf doch der weniger verständliche nervöse Zusammenbruch des Patienten einiger erläuternder Worte. Wir betreten damit den eigentlichen Boden der Neurosenpsychologie. Wieder einmal wie in der Kinderstube ist der Patient am Weibe gescheitert. In allen ähnlichen Fällen lockt es den Nervösen, seine Sicherungen zu verstärken und sich in einen größeren Abstand von der Gefahr[12] zu begeben. Unser Patient braucht den Zusammenbruch, um eine böse Erinnerung in sich zu nähren, um die Schuldfrage aufzuwerfen und sie zuungunsten der Frau zu lösen, um in späteren Zeiten mit noch größerer Vorsicht zu Werke zu gehen! Oder um endgültig von Liebe und Ehe Abschied zu nehmen! Dieser Mann zählt heute 30 Jahre. Gestatten wir uns die Annahme, daß er seinen Schmerz 10–20 Jahre mit sich herumtragen und ebenso lange sein verlorenes Ideal betrauern wird, so hat er sich dadurch vielleicht für immer vor jeder Liebesbeziehung und so in seinem Sinne vor jeder neuen Niederlage gesichert.

Den nervösen Zusammenbruch aber konstruiert er gleichfalls mit den alten verstärkten Mitteln seiner Erfahrung, ähnlich wie er etwa als Kind das Essen, das Schlafen, die Arbeit von sich gewiesen hatte und die Rolle des Sterbenden spielte. Da sinkt die Schale mit der Schuld der Geliebten, und er selbst überragt sie an Gesittung und Charakter und siehe: er hat erreicht, nach was er Sehnsucht trug, er ist der Überlegene, er ist der Bessere, sein Partner aber ist »schlecht wie alle Mädchen«. Sie können sich mit ihm, dem Manne nicht messen. So hat er die Verpflichtung, die er schon als Knabe fühlte, erfüllt, er hat gezeigt, daß er höher steht als das weibliche Geschlecht, ohne seine Kraft auf die Probe zu stellen.

Wir begreifen, daß seine nervöse Reaktion nicht scharf genug ausfallen kann. Er muß als lebender Vorwurf gegen die Frau auf Erden wandeln.[13]

Wüßte er um seine geheimen Pläne, so wäre sein ganzes Tun Gehässigkeit und böse Absicht, könnte demnach den beabsichtigten Zweck, seine Erhebung über die Frau, gar nicht erreichen. Denn er sähe sich so, wie wir ihn sehen, wie er das Gewicht fälscht, und wie er alles zu einem vorher bestimmbaren Ziele führt. Was sich mit ihm begibt, wäre nicht mehr »Schicksal«, geschweige denn, daß es für ihn ein Plus ergäbe. Sein Ziel, sein Lebensplan, seine Lebenslüge verlangen aber dieses Plus! Folglich »ergibt« sich auch, daß dieser Lebensplan im Unbewußtsein bleibt, damit der Patient an ein unverantwortliches Schicksal, nicht an einen lange vorbereiteten, ausgeklügelten, verantwortlichen Weg glauben darf.

Ich muß hier einer weitläufigen Schilderung dieser »Distanz«, die der Nervöse zwischen sich und die Entscheidung – in diesem Fall die Ehe – legt, aus dem Wege gehen. Auch wie er sie macht, ist einer Beschreibung des »nervösen Arrangements« vorzubehalten. Es sei nur darauf hingewiesen, daß diese Distanz sich in der »zögernden Attitüde« des Patienten, in seinen Prinzipien, in seiner Weltanschauung und in seiner Lebenslüge deutlich ausspricht. Am wirksamsten zu ihrer Entfaltung erweist sich immer die Neurose und Psychose. Auch die Eignung der aus den gleichen Quellen stammenden Perversionen und jeglicher Impotenz ist ungemein groß. Den Abschluß und die Versöhnung mit dem Leben findet der Mensch dann in der Konstruktion eines oder mehrerer »Wenn-Sätze«. »Wenn irgend etwas anderes gewesen wäre …!«

Die Bedeutung der Erziehungsfragen, auf die unsere Schule das größte Gewicht legt (siehe Heilen und Bilden,3. Aufl. 1929[14]), geht aus diesen Zusammenhängen scharf hervor.

Es ergibt sich aus der Anlage der vorliegenden Arbeit, daß unsere Untersuchung wie im Falle einer Kur den rückläufigen Weg einschlägt, zuerst das Ziel der Überlegenheit betrachtet, an ihm die Kampfstellung des Menschen[15], insonderheit des Nervösen erläutert und nun die Quellen dieses hervorragenden seelischen Mechanismus zu erfassen trachtet. Einer Grundlage dieser psychischen Dynamik haben wir bereits gedacht, sie liegt in der vorläufig unausweichlichen, artistischen Eignung des seelischen Apparats, die Anpassung und die Expansion in der Realität mittels des Kunstgriffs der Fiktion und der Zielsetzung zu ermöglichen. Wie das Ziel der Gottähnlichkeit die Stellung des Individuums zu seiner Umgebung meist in eine kämpferische umgestaltet, und wie der Kampf den Menschen auf den Linien geradliniger Aggression oder auf Leitlinien der Vorsicht dem Ziele näher zu treiben sucht, habe ich kurz zu beleuchten unternommen. Verfolgt man den Werdegang dieser Aggression weiter in die Kindheit zurück, so stößt man in jedem Falle auf die auslösende Grundtatsache: dem Kinde haftet während der ganzen Zeit seiner Entwicklung ein Gefühl der Minderwertigkeit in seinem Verhältnis zu den Eltern, Geschwistern und zur Welt an. Durch die Unfertigkeit seiner Organe, durch seine Unsicherheit und Unselbständigkeit, infolge seines Anlehnungsbedürfnisses an Stärkere und wegen der oft schmerzlich empfundenen Unterordnung unter andere erwächst ihm dieses Gefühl der Insuffizienz, das sich in seiner ganzen Lebenstätigkeit verrät. Dieses Gefühl der Minderwertigkeit erzeugt die beständige Unruhe des Kindes, seinen Betätigungsdrang, sein Rollensuchen, sein Kräftemessen, sein Vorbauen in die Zukunft und seine körperlichen und geistigen Vorbereitungen. Die ganze Erziehungsfähigkeit des Kindes hängt an diesem Insuffizienzgefühl. So wird ihm die Zukunft ein Land, das ihm die Kompensationen bringen soll. Auch in seinem Minderwertigkeitsgefühl spiegelt sich die Kampfstellung wider; und als Kompensation gilt ihm nur, was seine gegenwärtige dürftige Lage dauernd aufhebt und ihn allen andern überlegen macht. So kommt das Kind zur Zielsetzung und zum fiktiven Ziele der Überlegenheit, wo sich seine Armut in Reichtum, seine Unterwerfung in Herrschaft, sein Leiden in Freude und Lust, seine Unkenntnis in Allwissenheit, seine Unfähigkeit in Kunst verwandeln wird. Dieses Ziel wird um so höher angesetzt und um so prinzipieller festgehalten, je deutlicher und länger das Kind seine Unsicherheit empfindet und je mehr es unter körperlicher oder geringgradiger geistiger Schwäche leidet, je mehr es seine Zurücksetzung im Leben spürt. Wer dieses Ziel erraten will, muß das Kind beim Spiel, bei freigewählten Beschäftigungen oder bei seinen Phantasien über die künftige Berufswahl beobachten. Der fortgesetzte Wandel in diesen Erscheinungen ist nur äußerer Schein, in jedem neuen Ziel glaubt es seinen Triumph vorwegzunehmen. Einer Variante dieses Pläneschmiedens sei noch gedacht, die man häufig bei weniger aggressiven Kindern, bei Mädchen und bei häufig erkrankten Geschöpfen findet: Sie lernen ihre Schwäche mißbrauchen und verpflichten so die anderen, sich ihnen unterzuordnen. Sie werden es auch später immer wieder versuchen, bis die Aufdeckung ihres Lebensplanes und ihrer Lebenslüge einwandfrei gelungen ist.

Ein besonderer Aspekt bietet sich dem aufmerksamen Betrachter, sobald das Wesen dieser kompensatorischen Dynamik die Geschlechtsrolle als minderwertig erscheinen läßt und zu übermännlichen Zielen drängt. In unserer männlich gerichteten Kultur wird sich das Mädchen wie der Knabe zu ganz besonderen Anstrengungen und Kunstgriffen genötigt glauben. Unstreitig gibt es unter diesen eine große Anzahl fördernder. Diese zu erhalten, die zahllosen irreführenden und krankmachenden Leitlinien aber aufzudecken und unschädlich zu machen, ist unsere gegenwärtige Aufgabe, die weit über die Grenzen einer ärztlichen Kunst hinausführt, von der unser gesellschaftliches Leben, die Kinder- und Volkserziehung die wertvollsten Keime erwarten dürfen. Denn das Ziel dieser Lebensanschauung ist: verstärkter Wirklichkeitssinn, Verantwortlichkeit und Ersatz der latenten Gehässigkeit durch gegenseitiges Wohlwollen, die aber ganz nur zu gewinnen sind durch die bewußte Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls und durch den bewußten Abbruch des Strebens nach Macht.

Wer die Machtphantasien des Kindes sucht, findet sie meisterhaft in Dostojewskis »Jüngling« (auch: »ein Werdender«) geschildert. Bei einem meiner Patienten fand ich sie besonders kraß. In seinen Gedanken und Träumen kehrte immer der Wunsch wieder: andere mögen sterben, damit er Raum zum Leben habe, anderen möge es schlecht gehen, damit er bessere Möglichkeiten gewänne. Es erinnert diese Haltung an Gedankenlosigkeiten und Herzlosigkeiten vieler Menschen, die alle ihre Übel darauf zurückführen, daß schon zuviel Menschen auf Erden seien, Regungen, die sicherlich allenthalben den Weltkrieg schmackhafter gemacht haben. – Das Gefühl der Gewißheit bei solchen Fiktionen wird aus anderen Sphären herübergeholt, in obigem Falle aus den Grundtatsachen des kapitalistischen Handelns, bei dem wirklich der eine um so besser fährt, je schlechter es dem anderen geht. »Ich will Totengräber werden«, sagte mir ein vierjähriger Junge, »ich will der sein, der die anderen eingräbt.« –

Psychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest – ein Kernproblem der nervösen Erkrankungen[16]

Es war ein gewaltiger Schritt vorwärts, als sich in der Lehre von den nervösen Erkrankungen die einheitliche Anschauung Bahn brach, die nervösen Störungen seien durch seelische Alterationen hervorgerufen und müßten durch Einwirkungen auf die Psyche behandelt werden. Eine endgültige Entscheidung brachte das Eingreifen berufener Forscher, wie Charcot, Janet, Dubois, Dejerine, Breuer, Freud u. a. Dazu kamen von Frankreich die Erfahrungen des hypnotischen Experimentes und der hypnotischen Behandlung, welche die Wandelbarkeit nervöser Symptome und ihre Beeinflußbarkeit auf den Wegen der Psyche erwiesen. Die Heilerfolge blieben trotz dieses Fortschrittes unsicher, so daß auch namhafte Autoren, unbeeinflußt durch ihre theoretischen Erwägungen, Neurasthenie, Hysterie, Zwangs- und Angstneurosen mit den althergebrachten Arzneien, mittels Elektrizität und Hydrotherapie zu heilen versuchten. Die ganze Frucht der erweiterten Kenntnisse war auf Jahre hinaus eine Anhäufung von Schlagworten, die den Sinn und das Wesen der komplizierten neurotischen Mechanismen erschöpfen und erschließen sollten. Für die einen lag der Schlüssel zum Verständnis in der »reizbaren Schwäche«, »sinkenden Spannung«, für die anderen in der »Suggestibilität«. »Erschütterbarkeit«, »hereditären Belastung«. »Degeneration«, »krankhafte Reaktion«, »Labilität des psychischen Gleichgewichts« und andere ähnliche Begriffe sollten das Geheimnis der nervösen Erkrankungen ausmachen. Zugunsten des Patienten ergab sich daraus im wesentlichen bloß eine etwas dürre Suggestivtherapie, meist fruchtlose Versuche, die Krankheit »auszureden«, »eingeklemmte Affekte abzureagieren«, und der nicht weniger fruchtlose Versuch, psychische Schädigungen dauernd fernzuhalten. Immerhin entwickelte sich dieses therapeutische Verfahren zu einem öfters nützlichen »traitement moral«, wenn der Patient unter der Leitung weltkundiger, mit Intuition begabter Ärzte stand. Aber unter den Laien wurde ein Vorurteil wach, genährt durch voreilige Schlüsse aus der Beobachtung der rasch sich vermehrenden Unfallneurosen, als ob der Nervöse an »Einbildungen« leide und sich willkürlicher Übertreibungen schuldig mache, und als ob es ihm möglich wäre, durch Kräftigung seiner Energie seine Krankheitserscheinungen zu überwinden.

Josef Breuer kam auf den Gedanken, dem Patienten Sinn und Entwicklung seines Krankheitssymptoms, etwa einer hysterischen Lähmung, abzufragen. Er, und mit ihm S. Freud, taten dies anfangs ohne jedwedes Vorurteil und bestätigten dabei die auffällige Tatsache von Erinnerungslücken, die dem Patienten sowohl als dem Arzt die Einsicht in die Ursache und den Verlauf der Erkrankung verwehrten. Die Versuche, aus der Kenntnis der Psyche, der krankhaften Charakterzüge, der Phantasien und des Traumlebens der Patienten auf das vergessene Material zu schließen, hatten Erfolg und führten zur Begründung der psychoanalytischen Methode und Anschauungsweise. Dank dieser Methode gelang es Freud, die Wurzeln der nervösen Erkrankung bis in die früheste Kindheit zurückzuverfolgen und eine Anzahl ständiger psychischer Mechanismen aufzudecken, wie die der Verdrängung und der Verschiebung. Bei der Behandlung wurden regelmäßig früher unbewußte Regungen und Wünsche des Patienten erschlossen, in gleicher Weise bei den verschiedenartigsten nervösen Formen, von verschiedenen Autoren, die sich der psychoanalytischen Methode bedienten und oft unabhängig voneinander arbeiteten. Freud selbst hat die Ursachen der nervösen Erkrankungen in den Verwandlungen des Sexualtriebes und in einer besonderen Konstitution des Sexualtriebs gesucht, eine Theorie, die viel angefeindet wurde, aber nicht untrennbar mit der psychologischen Methode verbunden ist. –

Als Grundsatz für die Ausübung der individual-psychologischen Methode möchte ich geltend machen die Zurückführung aller bei einem einzelnen bestehenden nervösen Symptome auf ein »größtes gemeinschaftliches Maß«. Die Richtigkeit der so gemeinschaftlich mit dem Patienten durchgeführten Reduktion wird dadurch festgestellt, daß das in jedem Falle gewonnene psychische Bild mit einer wirklichen psychischen Situation aus der frühesten Kindheit des Patienten übereinstimmt. D. h. die psychische Grundlage, die Schablone der nervösen Erkrankung und des Symptoms ist aus der Kindheit unverändert übernommen, über dieser Grundlage aber hat sich im Laufe der Jahre ein vielverzweigter Überbau erhoben, die individuelle Neurose, die der Behandlung unzugänglich ist, sofern man nicht die Grundlage ändert. In diesen Überbau sind auch alle Entwicklungstendenzen, Charakterzüge und persönlichen Erlebnisse eingegangen, unter denen besonders hervorzuheben sind: Stimmungsreste eines einmaligen oder wiederholten Mißerfolges auf einer Hauptlinie menschlichen Strebens – der unmittelbare Anlaß zum Ausbruch der nervösen Erkrankung. Nunmehr geht das Sinnen und Trachten des Patienten dahin, den Mißerfolg wett zu machen, anderen, meist untauglichen Triumphen gierig nachzujagen, vor allem aber, sich vor neuen Mißerfolgen und Schicksalsprüfungen zu sichern. Und dies ermöglicht ihm seine ausgebrochene Neurose, die ihm so zur Stütze wird. Die nervöse Angst, Schmerzen, Lähmungen und der nervöse Zweifel hindern ihn am aktiven Eingreifen ins Leben, der nervöse Zwang leiht ihm – im Zwangsdenken und Zwangshandeln – den Schein der verlorengegangenen Aktivität auf der unnützlichen Seite des Lebens, gibt ihm andererseits den Vorwand zur Passivität auf Grund der Krankheitslegitimation. –

Ich selbst sah mich gezwungen, bei Ausübung der individualpsychologischen Methode die krankmachende kindliche Situation weiter aufzulösen, und stieß dabei auf Quellen, die sich aus nachteiligen Einflüssen des Organismus und des Familienlebens herschrieben. Darüber hinaus aber kamen Ursachen zutage, die zum Teil dieses schädliche Milieu formen halfen – die familiäre organische Konstitution. Ich wurde regelmäßig und unerbittlich auf den Umstand hingewiesen, daß der Besitz hereditär minderwertiger Organe, Organsysteme und Drüsen mit innerer Sekretion für das Kind in den Anfängen seiner Entwicklung eine Position schaffe, in der das sonst normale Gefühl der Schwäche und Unselbständigkeit ganz ungeheuer vertieft wird und sich zu einem tief empfundenen Gefühl der Minderwertigkeit auswächst.[17] Aus der verlangsamten oder fehlerhaften inadäquaten Einrichtung der minderwertigen Organe ergeben sich nämlich anfangs Zustände von Schwäche, Kränklichkeit, Plumpheit, Häßlichkeit (oft infolge von äußeren Degenerationszeichen), Ungeschicklichkeit und eine große Anzahl von Kinderfehlern wie Augenblinzeln, Schielen, Linkshändigkeit, Hörstummheit, Stottern, Sprachfehler, Erbrechen, Bettnässen und Stuhlanomalien, derentwegen das Kind recht häufig Zurücksetzungen erfährt oder dem allgemeinen Spotte und der Strafe verfällt und gesellschaftsunfähig wird. Das psychische Bild dieser Kinder weist bald auffallende Verstärkungen sonst normaler Züge von kindlicher Unselbständigkeit, von Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis auf und artet aus in Ängstlichkeit, Furcht vor dem Alleinsein, Schüchternheit, Scheu, Furcht vor allem Fremden und Unbekannten, in übergroße Schmerzempfindlichkeit, Prüderie und dauernde Furcht vor Strafe und vor Folgen jedes Handelns – Charakterzüge, die insbesondere den Knaben einen scheinbar weiblichen Einschlag geben.

Bald aber sieht man bei diesen zur Nervosität disponierten Kindern das Gefühl der Zurückgesetztheit auffallend im Vordergrunde. Und damit im Zusammenhange stellt sich eine Überempfindlichkeit ein, welche ein ruhiges Gleichmaß der Psyche ununterbrochen stört. Solche Kinder wollen alles besitzen, alles essen, alles hören, alles sehen, alles wissen. Sie wollen alle anderen übertreffen und alles allein vollbringen. Ihre Phantasie spielt mit allerlei Größenideen: sie wollen die anderen retten, sehen sich als Helden, glauben an eine fürstliche Abkunft, halten sich für verfolgt, bedrängt, für Aschenbrödel. Der Grund zu einem brennenden, unersättlichen Ehrgeiz ist gelegt, dessen Scheitern man mit Sicherheit voraussagen kann. Nun erwachen auch und verstärken sich böse Instinkte. Geiz und Neid wachsen ins Unermeßliche, weil das Kind nicht imstande ist, auf die Befriedigung seiner Wünsche zu warten. Gierig und hastig jagt es jedem Triumph nach, wird unerziehbar, jähzornig, gewalttätig gegen die Kleineren, lügenhaft den Großen gegenüber und belauert alle mit zähem Mißtrauen. Es ist klar, wieviel ein guter Erzieher bei solcher keimenden Selbstsucht bessern, ein schlechter verschlimmern kann. Im günstigsten Falle entwickelt sich ein unstillbarer Wissensdurst oder das Treibhausgewächs eines Wunderkindes, ungünstigen Falles erwachen verbrecherische Neigungen oder das Bild eines abgekämpften Menschen, der seinen Rückzug vor den Forderungen des Lebens durch die arrangierte Neurose zu verschleiern sucht.

Als Ergebnis solcher direkter Beobachtungen aus dem Kinderleben ist also anzuführen, daß die kindlichen Züge von Unterwürfigkeit, Unselbständigkeit und Gehorsam, kurz der Passivität des Kindes sehr bald – und zumal bei neurotischer Disposition sehr schroff – durch heimliche Züge von Trotz und Auflehnung, Zeichen des Ressentiments, ergänzt werden. Ein genauer Einblick ergibt ein Gemisch von passiven und aktiven Zügen, aber stets waltet die Tendenz vor, vom mädchenhaften Gehorsam zum knabenhaften Trotz durchzubrechen. Ja man gewinnt genug Anhaltspunkte für die Einsicht, daß die Züge des Trotzes als Reaktion, als Protest gegen die gleichzeitigen Regungen des Gehorsams oder gegen die erzwungene Unterwerfung zu gelten haben, und daß sie den Zweck haben, dem Kinde raschere Triebbefriedigung, Geltung, Aufmerksamkeit, Privilegien zu verschaffen. Ist dieser fatale Entwicklungsstandpunkt erreicht, so fühlt sich das Kind allenthalben vom Zwang zur Unterwerfung bedroht und obstruiert in allen Verrichtungen des täglichen Lebens, im Essen, Trinken, Einschlafen, in den Stuhl- und Harnfunktionen, sowie bei der Körperreinigung. Die Forderungen des Gemeinschaftsgefühls werden gedrosselt. Das Streben nach Macht entfaltet sich zumeist in einer öden, dürftigen Spiegelfechterei und Plusmacherei.

Ein anderer, vielleicht der gefährlichste Typus von nervös disponierten Kindern zeigt diese kontrastierenden Anlagen von Unterwerfung und aktivem Protest in einem engeren Zusammenhang, wie im Verhältnis von Mittel zum Zweck. Sie haben scheinbar ein Weniges aus der Dialektik des Lebens erraten und wollen durch die grenzenloseste Unterwerfung (Masochismus) ihre maßlosen Wünsche befriedigen. Gerade sie vertragen Herabsetzung, Mißerfolg, Zwang und Warten, vor allem das Ausbleiben des Sieges am allerschlechtesten und schrecken wie die anderen Disponierten vor Handlungen, Entscheidungen, vor allem Fremden, Neuen zurück. Sie stellen meist das Bewußtsein einer fatalistischen Schwäche durch ein selbstgeschaffenes Krankheitsalibi fest – um dann vor den Forderungen der Gemeinschaft Halt zu machen und sich zu isolieren. –

Dieses scheinbare Doppelleben, eigentlich ein verkapptes, einheitliches Halt! oder zurück!, das bei normalen Kindern innerhalb mäßiger Grenzen bleibt und auch den Charakter des Erwachsenen formt, läßt beim Nervösen die einheitliche Verfolgung eines nützlichen Zieles nicht zu und hemmt seine Entschließungen durch die Konstruktion von Angst und Zweifel.[18]

Andere Typen retten sich aus Angst und Zweifel in den Zwang und jagen unablässig nach Erfolgen, wittern überall Angriffe, Beeinträchtigungen und Ungerechtigkeiten und suchen krampfhaft eine Retter- und Heldenrolle zu spielen, nicht selten, indem sie ihre Kräfte an ungeeignete Objekte wenden (Don Quixoterie). Unersättlich und lüstern nach dem Schein der Macht begehren sie Liebesbeweise, ohne sich befriedigt zu fühlen (Don Juan, Messalina). Stets bleibt die Harmonie ihres Strebens aus, denn die doppelte Artung ihres Wesens, das scheinbare Doppelleben der Nervösen (»double vie«, »Dissoziation«, »Bewußtseinsspaltung« der Autoren) ist durch einen weiblich und männlich empfundenen Anteil der Psyche fest gegründet, die nach einer Einheit zu streben scheinen, ihre Synthese aber planvoll verfehlen, um die Persönlichkeit vor dem Anprall an die Wirklichkeit zu retten. An diesem Punkte hat die Individualpsychologie belehrend einzugreifen und durch vertiefte Introspektion und Bewußtseinserweiterung die Herrschaft des Intellekts über divergierende, bisher unverstandene, nicht unbewußte Regungen zu sichern.

Was als eine tiefwurzelnde Empfindung den Volksgeist durchzieht, was seit jeher das Interesse von Dichtern und Denkern geweckt, die gewaltsame, aber mit unserem sozialen Leben noch übereinstimmende Wertung und Symbolisierung von Erscheinungsformen durch »Männlich« und »Weiblich«[19]