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»Sechs Jahre, nachdem Alice aus dem Wunderland zurückgekehrt ist, wird sie zum zweitenmal ausgeschickt in befremdliche Gegenden. Aber die Landschaft >Hinter den Spiegeln< ist nicht mehr so harmlos wie in ihrer ersten Reise; irgend etwas hat sich darin ins Beklemmende und Aufsässige gewendet.« Christian Enzensberger
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Lewis Carroll
Alice hinter den Spiegeln
Aus dem Englischen
von Christian Enzensberger
eBook Insel Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4503.
© Insel Verlag Frankfurt am Main 1963
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Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluss des Bandes
Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-75280-6
1. Das Haus hinterm Spiegel
2. Im Garten der sprechenden Blumen
3. Eine Spiegelschnake und andere Insekten
4. Zwiddeldum und Zwiddeldei
5. Schaf und Ruder
6. Goggelmoggel
7. Löwe und Einhorn
8. Die Erfindungen des Weißen Ritters
9. Königin Alice
10. Rohe Behandlung
11. Rasche Verwandlung
12. Wer träumte wen?
Kind mit der klaren Stirne du,
Dem Aug, wo Träume weben!
Die Zeit enteilt uns ohne Ruh,
Uns trennt ein halbes Leben –
Gleichviel! Solang es dir gefällt,
Was ich mit Lieb' dir hier erzählt.
Heut ist dein Silberlachen weit,
Dein sonnenheller Blick,
Und denkst wohl auch in künft'ger Zeit
Nicht mehr an mich zurück –
So sei ein Lächeln mein Entgelt
Für das, was ich dir hier erzählt:
Die Mär, die schon vor Tag und Jahr,
In Sommers buntem Treiben,
Als Ruderlied uns dienlich war,
Im rechten Takt zu bleiben –
Des Ton noch heut im Ohr mir liegt,
Vom Neid der Jahre unbesiegt:
Hör sie! bevor dich jene Stimm'
Mit bittrer Zeitung schrecket
Und auf ein Lager kalt und grimm
Ein trauernd Mädchen strecket!
Auch uns ist ja das größte Leid,
Wie einem Kind, die Schlafenszeit.
Draußen wehts kalt, der Schnee treibt hin,
Der Wind singt seine Klagen –
Drin breitet fröhlich der Kamin
Um Kinder sein Behagen;
Doch wenns auch wild das Haus umtost,
Mein Zauberwort hält dich getrost.
Und wenn ein leiser Seufzer geht
Heimlich durch diese Seiten
Nach Sommerglück, schon lang verweht,
Und sel'gen Sommerszeiten,
Verscheuch ihn! Dass er nicht vergällt,
Was nun vergnüglich sei erzählt.
weiss
schwarz
Figuren
Bauern
Bauern
Figuren
Zwiddeldei
Maßliebchen
Maßliebchen
Goggelmoggel
Einhorn
Hasa
Bote
Zimmermann
Schaf
Auster
Auster
Walross
Weiße
Schwarze
Königin
›Lilienkind‹
Feuerlilie
Königin
Weißer
Schwarzer
König
Reh
Rose
König
Der uralte
Mann
Auster
Auster
Krähe
Weißer
Schwarzer
Ritter
Hutmar
Frosch
Ritter
Zwiddeldum
Maßliebchen
Maßliebchen
Löwe
1.
Alice d2 und begegnet der Schwarzen Königin
1. Schwarze Königin e2-h5
2.
Alice d2-d3 per Eisenbahn,nebst d3-d4 zu Zwiddeldei und Zwiddeldum
2. Weiße Königin c1-c4 hinter dem Schal her
3.
Alice d4 und begegnet der Weißen Königin samt Schal
3. Weiße Königin c4-c5 und wird Schaf
4.
Alice d4-d5 durch Laden, Fluss und Laden
4. Weiße Königin c5-f8 und hinterlässt Ei
5.
Alice d5-d6 zu Goggelmoggel
5. Weiße Königin flieht f8-c8 vor Schwarzem Ritter
6.
Alice d6-d7 durch den Wald
6. Schwarzer Ritter springt g8-e7 + und bietet Schach
7.
Weißer Ritter springt f5 × e7 und schlägt den Schwarzen
7. Weißer Ritter e7-f5
8.
Alice d7-d8 und wird Königin
8. Schwarze Königin h5-e8 zur Prüfung von Alice
9.
Alice d8 beim Festschmaus
9. Weiße Königin c8-a6 in die Terrine
10.
Alice d8 × e8 + nimmt die Schwarze Königin und gewinnt.
Da die oben angegebene Schachpartie unter einigen meiner Leser Verwirrung gestiftet hat, ist der Hinweis vielleicht angebracht, dass die Bewegungsart der einzelnen Figuren durchaus den Regeln folgt; die Vorschrift freilich, dass Weiß und Schwarz abwechselnd ziehen, hätte möglicherweise etwas strenger befolgt werden können; immerhin steht das Schach im 6. Zug, das Schlagen des Schwarzen Ritters im 7. und schließlich auch das Schachmatt des Schwarzen Königs in vollem Einklang mit den Spielregeln, wovon sich ein jeder, der die Mühe nicht scheut, durch das Nachspielen der angegebenen Züge selbst überzeugen kann.
So viel stand fest: das weiße Kätzchen hatte nichts damit zu tun – das schwarze war ganz allein an allem schuld. Denn das weiße war ja die ganze letzte Viertelstunde von seiner Mutter gewaschen worden (und hatte sich dabei, alles in allem, recht tapfer gehalten); infolgedessen, das müsst ihr doch selber sagen, konnte es an der Bescherung gar nicht mit schuld gewesen sein.
Wenn Suse ihre Kinder wusch, dann ging das so vor sich: sie hielt zuerst die armen Dinger mit einer Pfote am Ohr auf dem Boden fest, und dann rieb sie ihnen mit der anderen, angefangen vom Näschen, das Gesicht ab, und zwar gegen den Strich: und gerade eben hatte sie sich, wie ich schon sagte, über das weiße Kätzchen hergemacht, das ganz stillhielt und auch noch versuchte zu schnurren – wahrscheinlich, weil es sich einreden wollte, es geschehe alles nur zu seinem Besten.
Das schwarze Kätzchen aber war schon am früheren Nachmittag an der Reihe gewesen, und wie nun Alice, in eine Ecke des großen Lehnstuhls gekuschelt, halb vor sich hin redete und halb vor sich hin schlief, da hatte es sich inzwischen wie närrisch mit dem Wollknäuel herumgebalgt, das Alice vorher aufgewickelt hatte, und es so lange hin und her gerollt, bis alles wieder aufgegangen war; und da lag der Faden jetzt in lauter Knoten und Wirrwarr über den Kaminvorleger verstreut, und mitten darin jagte das Kätzchen seinem Schwanz nach.
»Ach, du garstiges, garstiges Ding!«, rief Alice, hob das Kätzchen auf und küsste es, damit es auch merken sollte, wie böse sie mit ihm war. »Suse hätte dir aber auch wirklich bessere Manieren beibringen können! – Ja, Suse, das wäre deine Pflicht gewesen, du weißt es ganz genau!«, fuhr sie mit einem vorwurfsvollen Blick zur Katzenmutter fort und versuchte dabei ihre Stimme möglichst zornig klingen zu lassen – und dann kletterte sie samt Kätzchen und Wolle in den Sessel zurück und begann das Knäuel von neuem aufzuwickeln. Allzu schnell kam sie damit freilich nicht voran, denn sie schwatzte die ganze Zeit entweder mit dem Kätzchen oder sich selbst. Mieze aber blieb sehr folgsam auf ihrem Schoß sitzen und tat so, als passte sie beim Aufwickeln genau auf; und ab und zu hob sie ein Pfötchen und tappte sanft nach der Wollkugel, wie wenn sie gerne mithelfen wollte.
»Weißt du denn auch, was morgen für ein Tag ist, Mieze?«, begann Alice. »Wenn du mit mir am Fenster gesessen wärst, hättest du es gleich erraten – nur, Suse wusch dich gerade, und deswegen ging es nicht. Ich habe die Buben Holz für das Neujahrsfeuer zusammentragen sehen – dazu braucht man nämlich sehr viele Stecken, Mieze. Aber dann ist es so kalt geworden und es hat so geschneit, dass sie aufhören mussten. Na, das Feuer werden wir uns morgen trotzdem ansehen.« Und dabei schlang sie den Faden zwei- oder dreimal dem Kätzchen um den Hals, nur um zu sehen, wie sich das ausnähme: und schon gab es ein Durcheinander, das Knäuel kugelte zu Boden, und ganze Riesenlängen von Wolle wickelten sich wieder auf. »Also, da war ich so zornig, Mieze«, sprach Alice weiter, sobald sie sich wieder bequem zurechtgesetzt hatte, »als ich sah, was für eine Bescherung du angerichtet hattest, dass ich um ein Haar das Fenster aufgemacht und dich in den Schnee hinausgesetzt hätte! Das hättest du nämlich verdient, du ungezogenes liebes Ding! Was hast du dagegen vorzubringen? Laß mich ausreden!«, fuhr sie fort und hob dabei den Finger. »Jetzt werden deine Missetaten einmal alle aufgezählt. Erstens: Heute früh bei der Morgenwäsche hast du zweimal gequietscht. Das brauchst du gar nicht erst zu leugnen, Mieze, denn ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Wie meinst du?« (geradeso, als hätte das Kätzchen etwas gesagt), »sie ist dir mit einer Pfote ins Auge gefahren? Da bist du aber selber schuld; warum lässt du sie auch offen – wenn du sie fest zugemacht hättest, wäre es nicht passiert. Schluss jetzt mit den Ausreden und zugehört! Zweitens: Du hast Schneeweißchen am Schwanz gezogen, kaum dass ich ihr das Milchschüsselchen hingestellt hatte. Wie, durstig willst du gewesen sein? Und woher weißt du, dass sie nicht genauso durstig war? Und drittens und letztens hast du mir mein Wollknäuel bis zum letzten Fädchen aufgewickelt, nur weil ich einmal gerade nicht hinsah!
Das macht drei böse Streiche, Mieze, und bestraft worden bist du noch für gar keinen. Du weißt ja, dass ich all deine Strafen aufspare bis Mittwoch in acht Tagen – wenn ich mir vorstelle, dass sie meine Strafen auch alle aufsparen wollten!«, fuhr sie fort, mehr zu sich selbst als zu dem Kätzchen. »Was sie da wohl mit mir am Jahresende alles anfingen! Wahrscheinlich müsste ich dann ins Gefängnis an Silvester! Oder, wenn es so wäre, dass ich jedesmal zur Strafe kein Abendessen bekäme: dann müsste ich an diesem scheußlichen Tag ja fünfzig Abendessen auf einmal auslassen! Aber das würde mir gar nichts ausmachen! Viel lieber leer ausgehen, als sie alle essen müssen!
Hörst du den Schnee am Fenster, Mieze? Wie weich und sanft er dagegenrieselt! Fast als wenn draußen jemand das Fenster immerzu küsste. Ob der Schnee vielleicht die Bäume und Felder liebhat, dass er sie so zärtlich küsst? Und dann deckt er sie schön warm mit einem Federbett zu, und dabei wird er wohl sagen: ›Schlaft ein, ihr Lieben, bis der Sommer wieder da ist.‹ Und wenn sie dann im Sommer aufwachen, Mieze, ziehen sie sich alle grüne Kleider an und fangen an zu tanzen – sobald der Wind ein wenig weht – ach, wie schön!«, rief Alice und ließ das Wollknäuel fallen, damit sie in die Hände klatschen konnte. »Wenn es doch wirklich so sein könnte! Denn die Wälder sehen doch wirklich schläfrig drein, im Herbst, wenn die Blätter braun werden.
Mieze, kannst du Schach spielen? Nun, da brauchst du gar nicht zu lächeln, ich meine das ganz ernst. Als wir vorhin spielten, hast du doch recht aufgepasst, gerade als hättest du alles verstanden; und als ich dann ›Schach!‹ rief, fingst du an zu schnurren. Es war aber auch ein hübsches Schach, und sicher hätte ich auch gewonnen, wenn sich nicht dieser freche Ritter mit seinem Pferd durch meine ganzen Figuren durchgeschlängelt hätte. Komm, liebe Mieze, tun wir doch so, als ob –« Und ich wollte, ich könnte euch auch nur die Hälfte von dem erzählen, was bei Alice alles mit den Worten anfing »Tun wir doch so, als ob«. Erst gestern hatte sie sich mit ihrer Schwester verzankt, weil sie gesagt hatte: »Tun wir doch so, als ob wir Könige und Königinnen wären!«, Aber ihre Schwester, die immer alles sehr genau nahm, hatte eingewandt, das könnten sie nicht, weil sie nur zu zweit seien, und da blieb Alice schließlich keine andere Antwort mehr als: »Gut, dann bist du eben einer davon und ich alle Übrigen.« Und ein andermal hatte sie ihrem alten Kindermädchen einen rechten Schrecken eingejagt, als sie ihr plötzlich ins Ohr schrie: »Ach bitte, Fräulein! Tun wir doch so, als ob ich eine hungrige Hyäne wäre und Sie ein Knochen!«
Aber das führt uns zu weit ab von Alicens Rede an das Kätzchen. »Tun wir doch so, als ob du die Schwarze Schachkönigin wärst, Mieze! Weißt du, du brauchtest dich nur aufzusetzen und die Arme über der Brust zu kreuzen, und schon glichest du ihr aufs Haar. Nun sei schön brav und versuchs einmal!«, Und Alice nahm die Schwarze Schachkönigin vom Tisch und stellte sie vor Mieze als Vorbild auf: Aber aus der Vorstellung wurde nichts, und zwar hauptsächlich, erklärte Alice, weil das Kätzchen die Arme nicht richtig verschränken wollte; und deswegen hob sie es zur Strafe zum Spiegel über dem Kamin hinauf, damit es einmal sehen konnte, wie mürrisch es dreinschaute; »– und wenn du dich nicht auf der Stelle besserst«, sagte sie dazu, »dann stecke ich dich in das Haus hinterm Spiegel. Und was machst du dann?
Also, wenn du einmal ordentlich zuhörst, Mieze, und nicht dauernd dazwischenredest, will ich dir erzählen, wie ich mir das Haus hinterm Spiegel vorstelle. Zuerst einmal kommt das Zimmer, das du hinter dem Glas siehst – das ist genau wie unser Wohnzimmer, nur ist alles verkehrt herum. Wenn ich auf einen Stuhl steige, kann ich alles genau erkennen, bis auf das Stück hinter dem Kamin. Ach, wenn ich da doch auch hineinsehen könnte! Ich wüsste zu gerne, ob sie dort im Winter auch ein Feuer brennen haben; genau weiß man das nämlich nie – höchstens, wenn unser Kaminfeuer qualmt, dann qualmt es in dem andern Zimmer auch: aber vielleicht tun sie dort nur so, damit es wie ein Feuer aussehen soll. Nun ja, und die Bücher sind auch ungefähr wie die unsern, nur laufen die Wörter alle nach der falschen Seite, so viel weiß ich, denn ich habe schon einmal ein Buch vor den Spiegel gehalten, und dann halten sie einem von drüben aus dem Zimmer genauso eins entgegen.
Wie gefiele dir das, Mieze, wenn du in dem Haus hinterm Spiegel wohnen müsstest? Ob sie dir dort auch deine Milch zu trinken gäben? Aber vielleicht schmeckt Spiegelmilch nicht so besonders gut – aber jetzt, Mieze, jetzt kommen wir zum Korridor! Davon kann man einen winzigen Blick erhaschen, wenn man bei uns die Wohnzimmertür weit aufmacht; der Korridor ist dann dem unseren sehr ähnlich, soviel man davon sehen kann, aber dahinter könnte er natürlich ganz anders sein. Ach, Mieze! Wie schön das wäre, wenn wir in das Spiegelhaus hinüber könnten! Sicherlich gibt es dort, ach! so herrliche Dinge zu sehen! Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, dass man hindurchsteigen könnte. Aber es wird ja tatsächlich zu einer Art Nebel! Da kann man ja mit Leichtigkeit durch –«, und während sie das sagte, war sie schon auf dem Kaminsims, sie wusste selbst nicht wie, und wirklich schmolz das Glas dahin, ganz wie ein heller, silbriger Nebel.
Sogleich war Alice durch das Glas geschlüpft und flink in das Spiegelzimmer hinabgesprungen. Als Erstes drehte sie sich gleich einmal um, um zu sehen, ob da auch ein Feuer im Kamin brannte, und zu ihrer großen Zufriedenheit knisterte da wirklich eins und flackerte genauso hell wie das auf der anderen Seite. »Da wird mir hier so warm sein wie in dem vorigen Zimmer«, dachte sich Alice, »und sogar noch wärmer, denn hier vertreibt mich niemand vom Feuer. Ach, wie lustig das wird, wenn sie mich hier drüben im Spiegel sehen und nicht zu mir herkommen können!«
Dann sah sie sich allmählich um und stellte fest, dass alles, was man drüben von dem Zimmer aus hatte sehen können, ganz gewöhnlich und alltäglich war; das Übrige aber war so verschieden wie nur möglich. Die Bilder neben dem Kamin zum Beispiel schienen alle lebendig zu sein, und sogar die Uhr auf dem Kaminsims (das wisst ihr ja, dass man im Spiegel nur ihre Rückseite sehen kann) hatte sich statt des Zifferblatts das Gesicht von einem alten Männlein aufgesetzt und grinste sie an.
»Hier ist nicht so ordentlich aufgeräumt wie drüben«, dachte sich Alice, denn in der Asche vor dem Kamin bemerkte sie einige ihrer Schachfiguren; doch dann hatte sie sich auch schon mit einem kleinen Schrei der Überraschung auf alle viere heruntergelassen, um sie näher zu sehen. Die Figürchen gingen je zwei und zwei auf und ab!
»Das da ist der Schwarze König mit seiner Königin«, sagte Alice (im Flüsterton, damit sie sich nicht erschreckten), »und was da auf dem Rand der Kohlenschaufel sitzt, ist der Weiße König und die Weiße Königin – und da gehen zwei Türme Arm in Arm – es sieht so aus, als hörten die mich gar nicht«, fuhr sie fort und beugte dabei den Kopf noch etwas tiefer, »und es kommt mir auch ganz so vor, als könnten sie mich nicht sehen. Mir ist fast, als wäre ich –«
Da quietschte auf einmal etwas vom Tisch her, und Alice drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie ein Weißer Bauer umpurzelte und anfing zu strampeln; gespannt wartete sie, was jetzt wohl geschähe.
»Da ruft mein Kind!«, schrie die Weiße Königin und sauste so heftig los, dass sie den König dabei in die Asche warf. »Mein Lilienkind! Mein kaiserliches Lilienkätzchen!« Und dabei begann sie wie wild die Kamineinfassung hinaufzuklettern.
»Kaiserliche Kinkerlitzchen!«, brummte der König und rieb sich die Nase, denn er hatte sich beim Fallen daran weh getan. Und er hatte wohl auch einigen Grund zum Ärger, denn er war über und über mit Asche bedeckt.
Alice war immer bemüht, sich nützlich zu machen, und da sich die zarte Lilie fast die Seele aus dem Leib schrie, hob sie die Königin schnell auf und setzte sie neben ihrem kleinen Schreihals nieder.
Die Königin japste nach Luft und setzte sich: Der schnelle Flug hatte sie so außer Atem gebracht, dass sie eine Zeitlang nur stumm ihre Lilie umklammern konnte. Sobald sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, rief sie dem König zu, der noch immer mürrisch in der Asche saß: »Gib acht auf den Vulkan!«
»Auf welchen Vulkan?«, sagte der König und schaute ängstlich zum Feuer hinauf, als hielte er das für den wahrscheinlichsten Ort für dergleichen.
»Hat mich – gerade – in die Luft – gesprengt«, brachte die Königin immer noch atemlos hervor. »Gib acht beim Heraufkommen – mach es wie sonst – lass dich nicht sprengen!«
Alice sah eine Weile zu, wie der König mühsam von Stange zu Stange kletterte, aber dann sagte sie schließlich: »Wenn du so weitermachst, brauchst du ja eine Ewigkeit, bis du auf dem Tisch bist! Da wird es doch besser sein, wenn ich ein wenig nachhelfe, oder nicht?« Aber der König nahm ihre Frage überhaupt nicht zur Kenntnis: es war ganz offenbar, dass er sie weder hören noch sehen konnte.
Alice ergriff ihn also sehr sanft und hob ihn viel gemächlicher als die Königin auf den Tisch hinüber, damit er nicht auch außer Atem geriet; aber bevor sie ihn niedersetzte, wollte sie ihn doch lieber noch ein wenig abstauben, da er so voller Asche war.
Später dann sagte Alice, in ihrem ganzen Leben habe sie noch niemanden ein solches Gesicht machen sehen wie den König, als ihn da eine unsichtbare Hand plötzlich hochhob und abstaubte: um einen Schrei auszustoßen, war er viel zu erschrocken; stattdessen wurden seine Augen und