Alle Farben von Licht - Annika Scheffel - E-Book

Alle Farben von Licht E-Book

Annika Scheffel

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Beschreibung

Ein außergewöhnlicher Sommer voller Verlust und Liebe  Es sind Ferien und Rios Freunde haben viel vor, schließlich soll es ein unvergesslicher Sommer werden. Rio macht mit, aber spätestens, als er auf dem Fünfer im Schwimmbad eine Panikattacke bekommt, ist klar, dass es nicht funktioniert. So sehr er sich auch abmüht: Er ist kaputt und der Sommer auch. Denn im letzten Juni ist Rios Zwillingsschwester Mavis gestorben. Ein tragischer Unfall, heißt es. Doch dann findet Rio ihre alte Kamera und macht sich zusammen mit Dracula, dem Jungen aus dem Hinterhaus, auf die Reise quer durch die hitzekeuchende Stadt und folgt Mavis' fotografischen Spuren. Rio und Dracula, der eigentlich Franz heißt, gelangen an Orte, die niemand mehr auf dem Schirm hat: den verwilderten Park, den einsamen, brackigen See, das unheimliche Gruselkabinett. Die beiden lernen eine Mavis kennen, die ganz anders war, als Rio dachte und die Geheimnisse hatte, größer als das Tropical Island.  Während Rio und Franz an den schaurig-schönen Rändern ihrer bekannten Welt entlangbalancieren, werden sie Freunde. Richtig gute. Und Rio merkt, dass da mehr ist, dass er beginnt, sich in Franz zu verlieben. Aber: Darf Rio das? Darf er einen Sommer genießen, den Mavis nicht mehr erleben kann? Darf er, wenigstens zwischendurch mal, ganz heimlich, das warme Licht, die orangepinken Abende, das Herzhochhüpfen ganz wunderbar finden? Und: mag Franz ihn überhaupt auch? Also, so? »Scheffel überzeugt mit Stil, wuchtigen Bildern und einer poetischen Sprache.« (Neue Zürcher Zeitung, Andrea Lüthi über Bevor alles verschwindet) Erster Jugendroman der Robert-Gernhardt-Preisträgerin – und eine berührende Coming-of-Age-Geschichte

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ANNIKA SCHEFFEL – ALLE FARBEN VON LICHT

Dieser Sommer wird legendär! Meinen zumindest Nuri, Flip und die anderen. Rio will dabei sein, aber nach der Panikattacke im Freibad ist klar, dass er das nicht schafft. Denn im letzten Jahr ist Rios Zwillingsschwester Mavis gestorben. Als er ihre alte Kamera voller rätselhafter Fotos findet, macht er sich auf die Suche, und ausgerechnet Dracula aus dem Hinterhaus hilft ihm dabei. Mit ihm fühlt Rio sich fast wieder so was wie angeglückt. Aber ist das okay?

WOHIN SOLL ES GEHEN?

  Buch lesen

  Vita

 

Für dich.

 

Etwas ganz Wichtiges vorweg:

Manchmal ist das Leben unfassbar schön, und manchmal ganz schön schwierig.

Und so erleben es auch die Figuren in diesem Roman, in dem es neben Freundschaft, Liebe und Nähe auch um Trauer, Angst und Einsamkeit geht.

Es werden Dinge angesprochen, die triggernd sein könnten:

unter anderem Mobbing, eine Essstörung, suizidale Gedanken, Enuresis, selbstverletzendes Verhalten und Panikattacken.

Den Figuren in diesem Buch wird geholfen, Dinge werden besser.

Falls du oder eine Person aus deinem Umfeld Hilfe braucht, findest du am Ende dieses Buches Anlaufstellen, die dich unterstützen.

Du musst da nicht alleine durch.

 

Ich hab ’ne gute Nachricht und ’ne schlechte auch

Zuerst die schlechte: Wir zerfall’n zu Staub

Wir werden zu Asche, kehren in das Nichts

Zurück, aus dem wir alle einst gekommen sind

Und jetzt die gute: Heute nicht

Es bleibt noch Zeit für dich und mich

Und wenn du willst, dann schlaf doch heut bei mir.

(Danger Dan, Eine gute Nachricht)

FALLEN

Pass auf, schreit er, bitte bleib stehen!

Aber Mavis geht weiter, sie hört ihn nicht. Es kracht. Sie stürzt. Er kann sehen, wie sie fällt, aber er kann sie nicht halten. Nie kriegt er sie zu fassen.

Seine Zwillingsschwester ist aus Glas und zerspringt in unzählige winzige Stücke. Er ist ihr zu nah: ein Splitter trifft ihn im Auge, einer in der Brust. Er kann nichts mehr sehen, er kriegt keine Luft. Er stolpert, er schreit und er fällt –

Schwer atmend hockt Rio im Bett, er ist wach, endlich ist er wach, alles gut, alles gut, das Laken ist trocken. Mit beiden Händen umklammert er sein Handy. Flip hat geschrieben, schon vor ein paar Minuten:

Flipse

riolo wir sind gleich bei dir 🥳

Was soll das mit dem Party-Emoji? Rio beeilt sich, zurückzutippen:

RiYo

super. aber: 🤐

Flipse

😕

Scheiße! Sie hatten doch alles besprochen!

RiYo

🚫🥳🚫!!!!

Wie viele Ausrufungszeichen sind nötig, um seinem besten Freund klarzumachen, dass er es wirklich ernst meint an diesem Tag?

🙁🤷🏼♂️🕳️🤐👍

Flipse

Okay.

RiYo

🙏

Rio lässt das Handy auf die Bettdecke fallen. In seinem Augenwinkel bewegt sich etwas. Er sieht zum Schreibtisch hinüber und traut seinen Augen nicht:

Da sitzt eine Katze.

Fuck! Wie kann das sein? Hier oben im fünften Stock, fast unter dem Dach, einfach so? Rio schaut zur Tür: die ist zu, wie immer in den letzten Monaten. Okay, das Fenster steht offen, aber trotzdem – können Katzen Regenrinnen hochklettern? Über Katzen weiß Rio nichts. Und jetzt folgt gleich der nächste Schreck: Die Katze hat nur ein Auge! Da, wo rechts neben ihrer Nase das zweite Auge sein müsste, prangt eine martialische Narbe, die aussieht, als hätte das Tier die selbst vernäht. Oder eine rachsüchtige Maus um Hilfe gebeten.

»Tut das weh?«, flüstert Rio und zwingt sich, die Narbe auszublenden und die Katze direkt anzugucken. Die Katze sitzt reglos. Was erwartet er? Etwa, dass sie ihm antwortet? Dass sie spricht?

»Blöde Frage. Klar tut das weh, wenn man sein Auge verliert.«

Ganz behutsam streckt er die Hand aus. Die Katze sieht aus, als müsste sie mal wieder gekrault werden. Mag die das? Ist das okay? Er will sie auf keinen Fall erschrecken …

»Darf ich?«

Die Tür wird quietschend geöffnet. Die Katze huscht an seiner Hand vorbei, durch den Türspalt, hinaus in den Flur, seine Mutter schreit erschrocken auf, einen Moment später steht sie im Zimmer: »Was macht denn die Katze hier?«

»Ich kümmere mich drum!«

An Rosa vorbei hastet er in den Flur.

»Warte, ich helfe dir!«

»Ich mach das schon!«

Die Katze huscht durch die nächstgelegene Tür. Na klar, ausgerechnet.

Mavis’ Zimmer. Er folgt dem Tier, schließt die Tür, schließt ab.

Das Fenster ist einen Spalt weit geöffnet, die dünnen Vorhänge sind geschlossen, man kann die Straße hören. Hier ist das Licht schummrig gelb. Von der Katze keine Spur. Aber es gibt sie wirklich, sie war wirklich da, seine Mutter hat sie ja auch bemerkt. Rio sieht sich im Raum um, ohne richtig hinzuschauen. Er weiß, dass sein Vater hier nachts häufig weinend auf dem Bett liegt. Er weiß, dass seine Mutter täglich durch das Zimmer streift und alles berührt: die hölzerne Schreibtischplatte, das geöffnete Etui, den Kleiderstapel auf der Lehne des Stuhls, die Blätter der Pilea auf dem Fensterbrett, die Rücken der Bücher im Regal, Rudi, das selbst getöpferte Krokodil, die Bettdecke, das Kissen. Die Dinge sind lebendig, seit Mavis tot ist. Und Rio weiß, dass Mavis’ Zimmer für die anderen so was wie der verbotene Westflügel in einem Horrorfilm ist. Nur Jarek kommt ab und zu hier rein, sieht aus wie ertappt und seltsam benommen, wenn Rio ihn erwischt. Lales gar nicht ganz so unwahrscheinliche Theorie: Jarek ist scharf auf die Kiste, in der Mavis allen Süßkram gesammelt hat, der ihr jemals in die Hände geraten ist. Für schlechte Zeiten.

»Bist du da drin, Schatz?«

Seine Mutter muss dicht vor der Tür stehen.

»Ich komm gleich, ja?«

»Aber ich kann dir doch helfen! Soll ich einen Besen holen?«

Was will sie denn mit einem Besen? Die Katze ist doch sowieso schon völlig verängstigt!

»Nee, echt, ich kümmere mich!«

»Okay.« Rosa klingt erschöpft.

Er hört, wie sich ihre Schritte entfernen.

Rio legt sich vor Mavis’ Bett auf den Bauch: »Keine Angst«, flüstert er in die Dunkelheit. »Das war nur meine Mutter. Sie ist nicht gefährlich, sie weiß nur nicht, was sie tun soll.«

Es dauert einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit unter dem Bett gewöhnt haben. Die Katze sieht er nicht. Aber ganz hinten, neben einer Socke und einer leeren Plastikflasche, liegt etwas, was er nicht erkennen kann. Etwas Großes. Seltsam, dass seine Eltern das noch nicht entdeckt haben, so oft, wie die sich hier im Zimmer rumdrücken. Vorsichtig rutscht Rio auf dem Bauch vor, streckt die Hand aus, zieht den Gegenstand hervor. Eine eckige Lederhülle. Die Kamera! Papá hat sie Mavis geschenkt, in dem Jahr, in dem Rio das Fernglas bekommen hat. Rio kann sich nicht daran erinnern, dass Mavis sie jemals benutzt hat. Kein Wunder, das Ding ist unvorstellbar aufwendig. Man muss extra Filme kaufen und die dann irgendwo entwickeln lassen und darauf muss man mehrere Tage warten und weiß nicht mal, ob die Fotos was geworden sind, weil es nämlich kein Display gibt, weil man sich nirgendwo durchklicken, nichts bearbeiten und nicht mal was löschen kann. Rio nimmt die Kamera aus der Hülle. Der Zähler steht auf drei. Rio macht ein Bild vom Bett. Eins vom Fußboden. Mit dem letzten Bild fotografiert Rio sein Knie, das genauso gut das seiner Schwester, das genauso gut Mavis’ sein könnte. Er pult den Film aus der Kamera, steckt die kleine Plastikrolle in die Hosentasche. Alles, was jetzt noch von Mavis auftaucht, ist wertvoll. Vielleicht wird er den Film irgendwann entwickeln. Vielleicht hat sie etwas fotografiert, mit dem er seine Eltern trösten kann.

An der Wohnungstür klingelt es Sturm. Blitzschnell rast die Katze an Rio vorbei, hüpft auf den Stuhl, den Schreibtisch und springt dann zum Fenster hinaus.

Nein. Neinneinnein. Entsetzt starrt Rio rüber zum Fenster. Es sind nur drei, vier Schritte bis dorthin, aber er packt das nicht. Er kann nicht aufstehen. Er kann den Vorhang nicht zur Seite schieben. Er kann nicht aus dem Fenster sehen, hinunter auf den Gehweg, er kann nicht gucken, er zittert am ganzen Körper. Niemand, denkt Rio, niemand überlebt so einen Sturz. Man stirbt, wenn man fällt.

Er versucht, die Zeit in den Griff zu bekommen. Eine Sekunde, zwei, drei, vier – Eine Minute, zwei, drei, vier – Eine Stunde, zwei, drei, vier – Einen Tag, zwei, drei, vier. Eine Woche, zwei, drei, einen Monat, zwei drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn –

Ein Jahr.

Und jetzt hat er eine Katze umgebracht, nur, weil er mal wieder abgedriftet ist, weil er ständig wabert, weil er sich nicht konzentrieren kann. Er hat zwei Sechser im Zeugnis, drei Fünfer, aber irgendwie werden die nicht gezählt. Herr Horvath war verständnisvoll, aber: Im nächsten Schuljahr können wir keine Ausnahme mehr machen, verstanden?

Verstanden.

»Schatz?« Schon wieder ist Rosa an der Tür. »Die anderen sind da!«

Um fröhlich zu klingen, muss man nur die Mundwinkel hochziehen.

»Bin unterwegs!«, ruft Rio.

Er zieht das Kissen vom Bett, drückt sein Gesicht hinein. Es riecht muffig, auf eine gute Art. Er kann sich nicht mehr genau erinnern, ob das Mavis’ Geruch ist, aber er riecht das Aftershave seines Vaters.

»Schatz? Was ist denn nun mit der Katze? Hast du sie?«

Rio schlägt die Zähne in den weichen Stoff, beißt fest zu. Er möchte in Slow Motion leben. Er würde gerne die Zeit anhalten. Er will sie vorspulen, bis es vorbei ist. Aber es wird nie vorbei sein und niemals bekommt er die Zeit in den Griff.

»Bitte! Sag doch was! Ich mache mir –«

Er presst die Hände gegen seine Ohren. Sorgen. Sorgen macht sie sich. Er schreit, er brüllt in das Kissen hinein. Alle sind immerzu besorgt. Aber was soll er denn noch tun? Wie kriegt er ihre Sorgen weg? Lächeln. Lächelnlächelnlächeln.

»Bitte, alle warten auf dich!«

Rosa klingt so, als würde sie gleich weinen. Klar, dieser Tag muss auch für sie die Hölle sein. Mavis’ und Rios Geburtstag, der jetzt nur noch seiner ist und den er nicht feiern will.

Rio löst die Zähne aus dem Kissen. Sein Kiefer fühlt sich verrenkt an, sein Gesicht glüht, durch das offene Fenster drängt sich die Luft, schon seit Tagen steht die Hitze in der Stadt. Keine Wolke, kein Windhauch, der Fluss ist auf dem niedrigsten Stand seit immer überhaupt. Alle stöhnen, alle erzählen ständig, dass sie eingehen, aber Rio ist eiskalt. Immer ist ihm kalt. Und wenn dann nicht alle völlig ausflippen würden, er würde ’nen Wollpulli tragen und drüber seine Winterjacke, den Schal, die Mütze und die Kapuze. Er würde sich in einen bibbernden Kleiderhaufen verwandeln. Er würde sich definitiv vom Sommer distanzieren.

Seine Mutter sagt nichts mehr, aber er weiß, dass sie immer noch da draußen steht. Und irgendwie schafft er es jetzt doch aufzustehen.

»Kommst du?«

»Ich komme!«

Die Dielen sind kühl. Er zuckt zusammen, als er Mavis begegnet. Aus dem Spiegel neben der Tür sieht sie ihn an. Er schaut sich und Mavis ins Gesicht, sieht sie und sich in seinem Körper. Für Zweieiige sehen sie einander sehr ähnlich: die Form ihrer Münder (einziger Unterschied: die feine Narbe, die sich schräg über Rios Oberlippe zieht – eine Begegnung mit der Tischkante beim Laufenlernen), ihre Nasen (Unterschied: Rio hat Sommersprossen – im Winter nur ein paar, im Sommer mittelviele), ihre Hände, ihre Beine, ihre Finger, Füße (Unterschied: Rio braucht eine Schuhgröße mehr), Zehen (ein Unterschied auch hier: Mavis hatte am Ende neongrüne Nägel, bei Rio war es nur der Nagel am rechten kleinen Zeh. Weil Mavis unbedingt die Farbe an ihm ausprobieren wollte. Bis zum Mai dieses Jahres hat Rio immer wieder nachlackiert, aber jetzt, wo es warm ist und mit Schwimmbad und so, lieber nicht mehr).

Die braunen Augen.

Die meisten Leute haben sie am Haar auseinandergehalten. Da kommt Mavis nach Jaime: glattdunkelbraun, und Rio nach Rosa: lockig, im Winter mittel-, im Sommer hellbraun. Am Ende war Mavis’ Haar schlumpfblau. Sie hat nie erklärt, warum, aber es sah so richtig aus, dass nicht mal ihre Eltern gemotzt haben.

Noch ist es einfach, Mavis zurückzuholen. Wenn Rio sich Mühe gibt, kann er ihr seinen Körper leihen. Er ist nicht merklich gewachsen im letzten Jahr und schmaler gebaut als zum Beispiel Flip, oder Jarek. Wenn Rosa und Jaime nicht genau hinschauen, wenn Rio nicht spricht, kann er ihnen Mavis zurückgeben. Seine nervigen Locken kriegt er nicht weg, er hat es versucht, mit viel zu viel Gel und mit Haarspray. Aber wenn er irgendwann endlich den Mut aufbringt, kann er die versiegelte Plastiktüte aus dem Spalt zwischen Wand und Bett holen, kann sie öffnen, kann Mavis’ signalrote Mütze herausnehmen. Wenn er sich traut, kann er sie sich über das Haar ziehen – Kommt Ihnen diese Mütze bekannt vor? –, kann still im Hintergrund vorbeihuschen, und vielleicht entspannen sich seine Eltern dann, vielleicht werden sie dadurch für einen winzigen Moment fast die Alten.

»Kommst du?« Rosas Stimme vor der Tür ist inzwischen ganz klein.

»Ich komme!«

DIE ANDEREN

Die Anderen warten in der Wohnküche auf ihn. Als sie ihn in der Tür entdeckt, springt Nuri sofort vom Stuhl auf: »Da bist du!«

Ihr wippender Pferdeschwanz, die riesigen Kopfhörer um den Hals, das schwarze Shirt ohne Arme, die Trainingshose, bei der, Rio weiß nicht warum, immer ein Bein bis zum Knie hochgekrempelt ist; die Tennissocken in variierenden leuchtenden Farben. Und die Tatsache, dass Nuri eigentlich grundsätzlich so aussieht, als würde sie direkt vom Tanztraining kommen oder auf dem Weg dorthin sein, was auch meistens der Fall ist. Bei Nuri ist alles wie immer. Leichtfüßig läuft sie ihm entgegen. Erst denkt Rio, sie will ihn umarmen, aber dann bleibt sie direkt vor ihm stehen, berührt ihn nur leicht an der Schulter. Und trotzdem zuckt er heftig zusammen. Nuri merkt das, klar, tut aber so, als ob nicht: »Schön, dass du da bist!«, sagt sie leise und zieht sich wieder zurück auf ihren Stuhl neben Flip, verknotet sich im Schneidersitz.

Lale hebt träge den Kopf von der Tischplatte, schiebt ihr sonnengelbes Cap hin und her, nickt Rio kaugummikauend zu: »Hey, du!«

Zwischen ihr und Nuri hängt Flip wie zerflossen, seine langen Beine ausgestreckt, die Arme baumelnd, die Hände fast auf dem Boden, den Kopf weit in den Nacken gelegt: »Riolo!«, ruft er, als hätte er Rio eben erst entdeckt. Er wuchtet sich hoch, in eine marginal aufrechtere Position, und reibt sich die Augen, fährt mit beiden Händen über sein Gesicht, den Nacken.

In ihren Wassergläsern treiben Reste von Eiswürfeln, daneben liegt ein Haufen abgenagter Melonenschalen. Ihre Lässigkeit sieht verdammt anstrengend aus. Aber – wie versprochen: keine Glückwünsche, keine Girlanden, kein Geschenk in Sicht.

»Wirklich nett, dass du dich herbequemst, Schnucki«, ächzt Jarek aus der Fensternische, wo er sich aufs Sofa gehauen hat und sich einen träge surrenden Handventilator vors Gesicht hält. Er trägt heute Hawaiihemd, getigerte Shorts und eine ausladende Sonnenbrille, die mit all ihrem Gold und Pink und Glitzer vermutlich irgendwie ironisch gemeint ist.

»Ich würde mal sagen, wir sind jetzt ganz gut durchgebraten«, schnauft er.

»Ach, Jarek«, seufzt Nuri.

Flip erhebt sich von seinem Stuhl, baut sich zu seinen vollen eins neunzig auf, stellt sich vor Rio, Jarek fest im Blick, so, als müsste er Rio beschützen: »Und was soll das jetzt bitte heißen?«

»Ehem, Leute?«, Lale lüftet ihr Cap, zieht es dann tief in die Stirn. »Es sind Ferien! Also, bitte keinen Stress, ja?!«

Rio erinnert sich, dass es mit Flip und Jarek mal um einiges besser war. Flip hatte Jarek sogar mitgebracht, vor ein paar Jahren. Die beiden kannten sich schon länger vom Fußballplatz, trainieren ab und zu zusammen die ganz Kleinen. Zwar hatten sie immer schon so einen merkwürdigen Battle laufen, mit Regeln und Sprüchen und Seitenhieben, die Rio nie ganz kapiert hat, aber das wirkte immer so, als hätten Flip und Jarek daran und miteinander insgeheim ziemlich großen Spaß. Rio hat keine Ahnung, wann sich das geändert hat. Vermutlich im letzten Sommer, als grundsätzlich alles anders wurde.

Jarek angelt nach seinem Glas, trinkt es aus, ohne abzusetzen, erst dann sieht er Flip an: »Das heißt, was es heißt: dass es hier oben in Rio-Bärchens Bude eben extrem heiß ist.«

»Gehts noch?«, zischt Flip leise, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Rio ihn nicht hört. Aber natürlich hört Rio Flip ganz genau. So groß ist ihr Wohn-Ess-Küchen-Alles-Zimmer nicht, eigentlich und besonders jetzt kommt es ihm winzig vor.

Jarek setzt sich auf, wirft den Ventilator neben sich aufs Sofa: »Hä? Was ist denn jetzt schon wieder los? Was soll ich nicht sagen? Dass es heiß ist? Sorry, Flipse, ist es aber nun mal, und daran kannst nicht mal du was ändern!« Jarek schiebt seine Sonnenbrille zurück, steht auf. Er ist ein bisschen kleiner als Flip, aber kräftiger gebaut.

»Nicht euer Ernst, oder?«, stöhnt Lale. »Was soll das werden? Fangt ihr jetzt an euch zu schubsen?«

Jarek beachtet sie gar nicht: »Na? Na, Flip! Sag schon! Hm? Was?!«

Rio schließt die Augen.

Ri, Rio-Bär, Bärchen. Ist es das? Ist Flip deshalb so wütend? Weil Jarek schon wieder das mit den Bären macht? Mavis hat manchmal diese schrecklich peinlichen Spitznamen für Rio verwendet. Ab und zu, angeblich aus Versehen, auch vor den anderen, die sich damals überhaupt nicht mehr eingekriegt haben vor Lachen.

Flip sieht zu Rio, zu Jarek und dann wieder zu Rio, zuckt hilflos die Schultern: »Sorry, ich … ich will nur, dass …«

»Dass … dass …«, äfft Jarek ihn nach. »Ja, was denn, Flip? Was willst du? Dass wir so tun, als hätte es Mavis nie gegeben? Ist es das?«

Flip starrt Jarek an: »Ich warne dich: Hör auf!«

»Boah, Leute!«, stöhnt Nuri genervt. »Kriegt euch mal ein! Los gehts, ab ins Wunder!« Lale kommt ihr zu Hilfe, zieht Jarek die Sonnenbrille von der Stirn, stülpt sie sich über ihre Brille: »Danke! Steht mir eh viel besser als dir!«

Jarek sieht richtig erleichtert aus. Er lässt Flip stehen, schnappt sich den Ventilator vom Sofa und jagt mit dem surrenden Ding in der Hand hinter Lale her, um sich seine Sonnenbrille zurückzuholen. Schreiend poltern sie durchs Zimmer, an Flip vorbei, der da immer noch einfach so steht, wie irgendwie ausgeschaltet. Hinter ihm entdeckt Rio seine Eltern, die kurz die Köpfe reinstecken und angesichts des Chaos zufrieden lächeln. Früher hätte sie dieser Lärm gestört, hätten sie wahrscheinlich gemotzt, wegen der Nachbarn. Aber die trauen sich seit letztem Sommer nicht mehr sich zu beschweren, und normalerweise ist es hier oben jetzt ohnehin vollkommen still. Rosa und Jaime verschwinden wieder.

Rio holt tief Luft: »Leute, seid mir nicht böse, aber ich muss noch …«

Lale bleibt stehen, drückt Jarek seine Sonnenbrille in die Hand, sieht Rio dann durch ihre eigenen, extragroßen Brillengläser an und schüttelt energisch den Kopf: »Nee, Süßer, nichts da! Du musst gar nichts, außer mitkommen. Schnapp dir deine Badesachen, keine Ausreden heute!«

Rio zuckt die Schultern. Er wusste eh nicht, wo dieser Satz hinführen sollte. Er muss nichts, er will nichts, ist alles egal, er hat nur ein Ziel: diesen Tag irgendwie überstehen und dann den nächsten und dann den danach …

Lale sieht ihn noch mal streng an: »Verstanden? Wir gehen. Zusammen!«

Es hat keinen Sinn, ihr zu widersprechen. Sie stecken ja sowieso alle unter einer Decke, inklusive seiner Eltern. Offensichtlich ist das der Deal: kein Wort zum Geburtstag, dafür muss Rio sich beaufsichtigen lassen und möglichst normales Sommerferienzeug machen.

Die anderen sind schon draußen und Rio will gerade die Wohnungstür zuziehen, als Jaime ihn noch einmal zurückruft. Sein Vater hält den Altpapiereimer umschlungen, als wäre der etwas extrem Wertvolles.

Ein Geburtstagsgeschenk zum Beispiel.

»Kannst du das mitnehmen?«

Feierlich reicht Jaime ihm den Mülleimer. Auf dem Weg in Rios Arme fällt etwas heraus. Die Hälfte eines zerrissenen Briefumschlages. Es kommen Rechnungen. Es kommt eine Mieterhöhung. Es kommen Mahnungen. Es kommen Schwierigkeiten. Rio ist sich nicht sicher, ob es die schon immer gab, oder erst seit dem Weltuntergang. Seit Mavis weg ist, bekommt er jedenfalls mehr davon mit. Es ist ein bisschen so, als seien alle Infos und Zwischentöne vorher zwischen Mavis und ihm aufgeteilt gewesen und als würde er sie jetzt alleine empfangen, nicht nur die halbe, sondern immer die ganze Wahrheit sehen. Rio stopft den Umschlag zurück in den Eimer, hofft, dass seine Eltern sich drum kümmern. Er selbst hat nämlich keinen Plan, wie er das lösen soll, das Problem mit dem Geld. Dass seine Eltern zwar ständig machen und tun und immer irgendwie am Arbeiten sind, es aber grundsätzlich nie reicht, dass es immer zu wenig ist, das Geld, aber auch Rosa und Jaime selbst. Eigentlich wollte Rio drüben im Café aushelfen, jetzt, in den Ferien, um ein bisschen was beizusteuern, heimlich wenigstens ein paar kleinere Rechnungen zu bezahlen. Aber schon am Probetag ging alles schief, war einfach alles zu viel, zu laut, zu konfus, zu lebendig; er vergaß Bestellungen, ihm fiel ständig was um und runter, er verwechselte Macchiato mit Caffè Latte und Cappuccino mit Milchkaffee, er stolperte und schloss sich schließlich vor Scham und Angst im Gästeklo ein. Sie hatten Geduld, sie hatten Verständnis für etwas, was er selbst nicht verstand, aber am Ende doch keinen Job für ihn. Und logisch: Er kommt ja nicht mal mit seinem eigenen Scheiß klar, er kann ja noch nicht mal eine Katze retten, geschweige denn seine Eltern.

»Rio.«

»Mh?«

Jaime ist nicht rasiert, die Schatten liegen tief in seinem fahlen Gesicht. Sein Vater wirkt durchscheinend und steinschwer zugleich. Langsam müsste es besser werden. Wann wird es besser?

Und obwohl sein Vater der Showbiz-Profi ist und nicht er, beherrscht Rio das besser, das mit dem künstlichen Lächeln. Jaime vergisst nämlich, die Augen mitlachen zu lassen. Wenn man die ein bisschen zusammenkneift, dann sieht es ziemlich authentisch aus. Die Leute glauben einem. Vielleicht auch, weil sie einem glauben wollen, aber am Ende ist das ja egal.

»Riolo, kommst du?« Flip ruft aus dem Treppenhaus. Unschlüssig sieht Rio seinen Vater an. Der lächelt: »¡Pásalo bien! ¿Eh?«

Viel Spaß.

Jaime streckt die Hand aus, ist kurz davor, Rio durchs Haar zu fahren. Rio zwingt sich, nicht zurückzuweichen. Sein gesamter Körper ist wie ein riesiger Zündknopf. Bitte nicht anfassen! Weiß sein Vater das etwa nicht? Jaime hält inne. Seine Hand schwebt zwischen ihnen in der Luft. Er sollte seine Fingernägel schneiden. So wird das nichts, mit dem Comeback. Früher hatten Rosa und Jaime eine richtige Managerin. Früher, mit Solo el sol, früher, als es noch lief, als sie noch in Fernsehshows und zu Festivals eingeladen wurden. Jetzt fragt niemand mehr an, jetzt müssten sie sich selbst kümmern, darum, dass es irgendwie weitergeht. Aber Rio hat das Gefühl, dass sie das nicht besonders gut hinbekommen, egal, ob es um Rechnungen, Brotjobs, Songwriting oder die allergrundlegendsten Dinge des täglichen Lebens geht.

»¿Estás bien, querido?«

»Klar, alles super!«, versichert Rio.

»Ab jetzt wird es besser, todo …«, sagt Jaime und schüttelt gleichzeitig den Kopf.

Ernsthaft jetzt? Wer bitte soll das glauben?

Nachher gehen Jaime und Rosa in den Wald, Mavis besuchen. Sie haben erst gar nicht gefragt, ob Rio mitwill, sie rechnen nicht mehr mit ihm.

Du ignorierst ja nicht nur deinen Geburtstag.

»¡Claro!«

Das war schon wieder zu laut. Nichts, was Rio tut, kommt ihm jemals angemessen vor. Doch sein Vater sieht beruhigt aus: »Hast du dich eingecremt?«

Rio nickt. Streng genommen ist Nicken kein Lügen.

Jaime strubbelt ihm durchs Haar. Auf der Kopfhaut ist das wie Nadelstiche. Rio schließt die Augen, stellt sich vor, er wäre wirklich erst drei, er wäre noch klein, und alles vollkommen okay, todo und alles.

STREUBLUMEN

Jarek steht schon unten im Hausflur, nimmt die Sonnenbrille ab, späht durch das Fenster in der Tür in den Hinterhof: »Krass, guckt mal, unser Vampirchen kommt tatsächlich bei Tageslicht raus!«

Rio reckt sich, wirft einen Blick durch das Fenster: In der Nähe der Mülltonnen steht der Typ aus dem Hinterhaus, der eigentlich Fritz heißt oder Franz oder so. Rio weiß nicht, wer damit angefangen hat, jedenfalls nennt ihn mittlerweile die ganze Schule Dracula. Der Spitzname passt ziemlich perfekt: Dracula ist schmal und blass, er hat ultraextradunkle Augen, die Lider sehen aus wie mit Kajal bemalt, sein winternachtdunkles Haar ist überkinnlang. Dazu kommt, dass er grundsätzlich Schwarz trägt, riesige T-Shirts oder Hoodies, die bis über seine bemalten Fingerspitzen reichen, dazu dunkle Skinny Jeans, schwere Stiefel. Lale sagt, dass das krass Grunge ist und ein bisschen Manga, gemischt mit Emo, dass sie Dracula eigentlich ehrlich gesagt schon ziemlich sexy findet, auf eine sehr, sehr niedliche Art, aber nicht glaubt, dass er irgendein Interesse an der Welt der Sterblichen hat. Obwohl sie alle etwa gleich alt sind, ist Dracula eine Klasse unter ihnen. Er ist vor ein paar Jahren von einer anderen Schule rübergewechselt, ist dann sitzen geblieben und zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er ziemlich selten anwesend ist, so gut wie nie spricht, noch weniger lacht, und ganz offensichtlich keinen Bock auf nichts und niemanden hat. Um seine wahre Identität ranken sich die wildesten Mythen, von Sektenaussteiger über Massenmörder bis Zeugenschutzprogramm. Aber die Vampirtheorie hat sich durchgesetzt.

»Strange«, sagt Jarek. »Was wird das denn?«

Rio kennt das schon, die Tütenaktion. Das macht Dracula schon seit ein paar Wochen: plötzlich im Hof auftauchen, mit immer exakt den gleichen Plastiktüten. In einer Hand Aldi, in der anderen Penny, ein bisschen hin und her mäandern zwischen Hof- und Hinterhaustür, irgendwann wie versteinert stehen bleiben und dann umdrehen und zurück im Hinterhaus verschwinden, hinter seinem Fenster mit den immer geschlossenen Vorhängen. Und auch heute, bei etwa zweiundneunzig Grad, trägt er eine lange Jeans und seine alten, abgewetzten Stiefel. Mit dem Sommer scheint Dracula ähnlich wenig am Hut zu haben wie Rio.

»Was der wohl in den Tüten hat? Blutkonserven?«

Lale lacht halbherzig, Flip stöhnt genervt, Nuri seufzt: »Haha, Jarek, sehr witzig!«

Was kümmert Jarek das eigentlich? Ist doch egal, was Dracula da mit seinen Tüten macht! Und überhaupt: Rio will jetzt weiter, will los, will diesen Tag hinter sich bringen.

Er schnappt sich den Eimer, schiebt mit der Schulter die schwere Tür auf, nickt Dracula im Vorbeigehen zu und trottet dann weiter in Richtung Altpapier. Die anderen folgen ihm.

»Heyho, Dracula!«

»Jarek!«, zischt Nuri und nickt Dracula extra freundlich zu: »Hallo!«

Aber Dracula reagiert gar nicht, steht einfach nur da, sieht unter seiner Kapuze hervor an ihnen vorbei zur Hoftür, als lauere dahinter eine überlebensgroße Mission, oder aber ein mehrköpfiges Monster, und als seien sie lediglich die vergleichsweise alberne Vorhut.

»Warst du shoppen?«, fragt Jarek und macht einen Schritt auf Dracula zu. Der reagiert immer noch nicht.

Rio umklammert seinen Eimer, Flip öffnet die Altpapiertonne. »Komm, Riolo, ich helf dir.«

Cornflakespackung, Versandkarton, Rechnungen, Mahnungen, Amtsmist …

»Jetzt zeig doch mal!«, bittet Jarek und tritt noch näher an Dracula heran.

Ratlos sieht Rio auf die Briefumschläge. Ob das okay ist, dass fast die ganze Post ungeöffnet ist?

»Wollen wir dann jetzt endlich mal los?«, motzt Lale.

»Moment«, sagt Jarek, »ich will wirklich voll gerne wissen, was in diesen tollen Tüten ist!«

Über der Hinterhaustür flackert schon seit Ewigkeiten eine defekte Lampe.

»Leute?«, bittet Nuri, »kommt ihr?«

Jarek ist jetzt richtig, richtig nah vor Dracula. Der steht stocksteif, sieht an Jarek vorbei. Jarek greift nach der Alditüte. Dracula lässt nicht los. Die Tüte reißt. Ein Haufen sehr bunter Kleidung fällt auf den Boden: Röcke, Kleider, Strickjacken, Blusen.

Einen Moment lang ist es ganz still.

Lale hebt ein leuchtend rotes Kleid mit winzigen gelb-rosa Streublumen vom Boden auf: »Oh!«, ruft sie in die Stille hinein. »Das ist ja süß!«

»Gib mal her!«

Jarek nimmt ihr das Kleid weg, hält es Dracula an: »Jo, kannste echt tragen! Ganz, ganz doll cute, Draci!«

»Was fährt der denn heute für einen Film?« Genervt nimmt Flip Rio den Eimer aus den Händen, stopft noch einen Stapel Briefumschläge in die Tonne.

»Jarek, hör doch mal auf mit dem Scheiß!«, zischt Nuri.

Aber Jarek starrt Dracula weiter herausfordernd an, und der starrt zurück. Früher haben sie manchmal ein Spiel gespielt: wer zuerst blinzelt, wer zuerst lacht, hat verloren. Keiner lacht, aber jetzt schließt Dracula die Augen.

Jarek grinst, als hätte er irgendwas gewonnen: »Hey, heeeey, mein Süßer, du musst doch nicht gleich heulen! Echt jetzt, ich schwör dir: mit dem Look und ab und zu mal ’nem Lächeln wirds schon, und damit wirst du dann vielleicht endlich mal zu ’ner Party eingeladen!«

Flip knallt die Tonne zu: »Alter, echt! Schluss jetzt! Sofort!« Er drückt Rio den Eimer in die Arme, greift Jarek am Ellenbogen, zieht ihn hinter sich her, weg von Dracula: »Merkst du’s eigentlich noch?! Du benimmst dich wie so eine megaverfickte Arschgeige!«

»Und du komm mal wieder runter, Flipse!«, lacht Jarek und wirft das Kleid in Draculas Richtung: »Da! Fang, Freak!«

Das Kleid landet vor Draculas Füßen bei den anderen Sachen auf dem Boden. Dracula steht immer noch einfach nur da, die Augen fest zugekniffen.

»Boah, sorry, echt!«, ruft Nuri, hebt das Kleid auf und drückt es Dracula in die Hände. »Keine Ahnung, aber Jarek ist heute echt schräg drauf!«

»Ich glaube, das sollte lustig sein«, murmelt Lale und bearbeitet ihr Cap mit den Händen.

»Ja, unfassbar witzig!« Nuri schiebt ihre Freundin in Richtung Hoftür.

Rio bleibt zurück, steht da, mit dem leeren Mülleimer in den Armen, und weiß nicht so richtig, was jetzt. Dracula ist aus seiner Erstarrung erwacht, hockt sich auf den Boden und versucht vergeblich, den Staub aus dem Kleid zu klopfen.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragt Rio.

Dracula sieht ihn nicht an, schüttelt stumm den Kopf.

Rio beißt sich auf die Lippen, blöde Frage!

»Kommst du, Riolo? Sonst stehen wir gleich ewig an!« Flip wartet in der Tür auf ihn, und Rio schlurft mit seinem Mülleimer los, deutet auf Draculas Höhe eine Winkbewegung an, aber der merkt das wahrscheinlich gar nicht, weil er so mit seinen Sachen beschäftigt ist und mit seinem vergeblichen Versuch, die wieder sauber und irgendwie in Ordnung zu bekommen.

BLAUES WUNDER

Ungefähr die ganze Stadt ist im Blauen Wunder. Dieser erste Ferientag glüht bei vierzig Grad. Die Ständer vor dem Freibad sind überbelegt und so stellen sie ihre Fahrräder zu einem großen Pulk aneinander. Nuri und Flip pfriemeln ächzend und fluchend das riesige Schloss einmal quer durch alle Räder.

»Wir hätten zum See fahren sollen«, stöhnt Jarek.

»Und in der S-Bahn eingehen? Nee, danke! Weißt du nicht mehr, das letzte Mal?« Lale fächert sich mit ihrem Buch Luft zu.

Abrupt hält sie inne: »Ich meinte, also, an die S-Bahn-Fahrt, nicht … Wisst ihr nicht mehr … wir sind fast gestorben … also, nee, ich meine, es war so fies heiß … ihr erinnert euch doch, oder? Die Klimaanlage war kaputt …«

»Boah, ja. Und wir hatten das Wasser vergessen …«, springt Nuri schnell ein. Lale sieht sie dankbar an.

Flip guckt nostalgisch in die Ferne: »Rio, Jarek und ich wollten zum Fenster rausklettern …«

Lale verdreht die Augen: »Eine ganz großartige Idee!«

Rio erinnert sich nicht so richtig an die Sache mit der S-Bahn, aber er weiß, dass es ein paar Tage davor war, vor ihrem Geburtstag, bevor … Woran er sich aber noch genau erinnert: Am Morgen vor der S-Bahn-Sache hatten er und Mavis das letzte Mal miteinander gesprochen. Also, so richtig, mehr als ein, zwei Sätze. Sie hatten nebeneinander am offenen Fenster gesessen, ihre Füße übereinander auf der Fensterbank abgelegt, frisches Neongrün auf den Nägeln, die Sonne im Gesicht und eine große Schale mit übel sauren Schrebergartenkirschen von Nuris Opa hin und her gereicht: Diese Ferien werden anders, Ri, hatte Mavis verkündet, sich auf ihrem Stuhl vorgebeugt und einen Kirschkern über die Fensterbank in den Hof gespuckt. Nicht so belanglos. Sie hatte ihm weder verraten, was anders, noch, was belanglos bedeuten sollte. Belanglos fühlte sich für ihn damals nichts an. Alles war groß, war leuchtend, war bunt, war viel und dabei so leicht, fast schwebend. Damals war alles ganz und gar und grundsätzlich einfach gut. Nur Mavis schien das plötzlich alles schrecklich langweilig und banal zu finden: Ich will mehr, Ri! Du nicht auch?

Er hatte nicht verstanden, was sie damit meinte, und irgendwie klang es auch ein bisschen arrogant: Ich finds gut, hatte Rio gesagt. So, wie es ist. Wir haben Ferien, die Sonne scheint und nachher treffen wir die Anderen im Wunder!

Mavis hatte die Augen gerollt und ihm eine Zwillingskirsche übers Ohr gehängt: Du bist eben nicht nur so ein gnadenlos süßer Rio-Bär, du bist halt ein ganz oberspezielles Grinsebärchen!

Er hatte nicht anders gekonnt, als zu lachen: Was, bitte, soll das denn sein?

Mavis hatte die Schultern gezuckt und ihm auch über das andere Ohr ein Kirschenpärchen gehängt: Na, du bist halt so ein rundherum positiver Typ. Jemand, dem es immer gut geht, egal, was in der Welt so passiert …

Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er sie angesehen: Das klingt krass oberflächlich!

Ich weiß nicht, Mavis hatte ihm ihr Ohr hingehalten und er hatte es mit Kirschen geschmückt: Ist halt eine Art, damit umzugehen, damit, wie die Welt so ist. Und wenn du das kannst, ist doch super! Ich kann das halt nicht.

Und was machst du jetzt?

Mavis hatte eine Weile nachdenklich aus dem Fenster geguckt und dann die Schultern gezuckt: Mal sehen, ich … Heute bin ich jedenfalls nicht dabei.

Oh nee, komm doch mit!!, hatte Rio gebettelt. Wir wollen danach doch auch noch feiern!

Mal sehen, hatte Mavis erneut gesagt und den nächsten Kirschkern gespuckt.

Hey da oben, hört auf mit dem Scheiß!

Tschuldigung!, hatte Rio runtergerufen.

Als er sich zurück auf seinen Stuhl setzen wollte, hatte Mavis ihn mit beiden Armen um den Bauch gepackt, zu sich gezogen, auf ihren Schoß, und natürlich ging das so was von gar nicht, er hatte lautstark protestiert, hatte versucht, sich zu befreien, wieder aufzustehen: Alter, Mavis, lass mich sofort los! Sie waren ungefähr gleich stark, aber Mavis beherrschte alle möglichen Kampfsporttricks, und so hatte er keine Chance, auch wenn Mavis sich und ihn vor Lachen kaum noch halten konnte: Grinsebärchen, sag ich doch, mein süßes, süßes, grinse, grinse, Grinsebruderbärchen!

Sag das noch mal!

Soll ich? Grinse-

Mavis! Stopp jetzt! Das ist nicht lustig!, hatte er Tränen lachend zu rufen versucht.

Irgendwann war dann der Stuhl umgekippt, waren sie beide ziemlich unsanft auf dem Boden gelandet und hatten sich unter Rosas und Jaimes ratlosen Blicken minutenlang nicht mehr eingekriegt.

Grinsebärchen, Grinsebärchen, Grinse-

»Aufwachen, Baby! Hilf mir mal mit dem Eis!« Jarek zerrt die riesige Luftmatratze in Softeisform von seinem Gepäckträger. Bevor Rio mit anpacken kann, nimmt Flip ihn zur Seite, zeigt wenig dezent rüber zu der etwa drei Kilometer langen Schlange vor dem kleinen Kassenhäuschen: »Guck mal, da! Da sind Anoush und Coco!«

Seit der Englandfahrt findet Flip Anoush ziemlich toll. Was wiederum Nuri nicht so super findet, weil die Flip ziemlich mag. Flip weiß nichts davon, aber Lale. Und die findet das nervig, weil sie Nuris Liebesleiden langsam nicht mehr aushält. Deswegen will Lale, dass Flip sich jetzt endlich auch in Nuri verliebt oder Nuri sich ganz schnell entliebt. Lale hat Rio verraten, dass sie Lösung zwei favorisiert.

Rio hat keinen Plan, was er von all dem Liebeswirrwarr halten soll und was er darin eigentlich will und zu suchen hat. In diesem Sommer weiß er das noch weniger als im letzten. Wenn er den anderen zuhört, wie sie einander ihr Leid klagen, wenn er sie dabei beobachtet, wie sie ihre Versuche starten und ihr Herz probeweise vor irgendwem auf den Boden schmeißen, nur um es dann still und heimlich und hektisch und traurig und irgendwie verschämt wieder einzusammeln, dann ist das ein bisschen so, wie eine sehr gut gemachte Serie zu glotzen. Eine, die irgendwie was mit einem macht, einen aber am Ende doch nicht wirklich betrifft.

Der Einzige, der wirklich völlig immun zu sein scheint, ist Jarek. Der bekommt von dem ganzen Verliebtheitszeugs nichts mit, weil er voll und ganz mit seinem Kram (Partyplanung, Playlists, Pommesversorgung) beschäftigt ist und außerdem als Einziger schon ein bisschen Ahnung in Liebesdingen hat. Behauptet er zumindest. Keiner von ihnen hat die mysteriöse Person gesehen, mit der Jarek von Anfang Februar bis irgendwann im Sommer letzten Jahres angeblich alles Mögliche getrieben hat und eine ganz, ganz supertolle Zeit hatte. Jarek, der ansonsten alles andere als diskret ist, hat aus dem was und dem mit wem ein riesiges Geheimnis gemacht.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es diesen Sommer was wird mit Anoush und mir«, sagt Flip zuversichtlich. »Hast du gesehen, wie sie mich nach der Zeugnisvergabe angesehen hat?«

Rio nickt, obwohl er natürlich nichts gesehen, nichts bemerkt hat von irgendwelchen Blicken am Zeugnistag.

Er hatte auf das Blatt vor sich gestarrt, auf dem wie vereinbart drei Mal »nicht bewertbar« stand. Neben ihm hockte Herr Horvath auf der Suche nach Blickkontakt: Und nach den Ferien startest du neu! Du kannst das ja eigentlich alles. Das wird, Rio, du wirst wieder, da bin ich mir ganz, ganz sicher!

Eins von den wenigen Dingen, die Rio im letzten Jahr gelernt hat: Wenn Menschen sich unsicher sind, dann wiederholen sie Worte. Als ob es dann wahrer würde: Ganz, ganz. Sehr, sehr. Gut, gut.

Und noch was hatte Herr Horvath gesagt: Der Sommer wird helfen! Als ob der Sommer irgendwelche speziellen Kräfte hätte.

Flip stupst Rio an: »Weißt du, eigentlich könnte ich einfach nachher hingehen und es ihr sagen. Ich meine, wann, wenn nicht jetzt? Echt jetzt, Riolo, das ist der Sommer, ich spüre es!« Flip sieht zum Himmel hinauf, als erwarte er, dass ihm die Sonne höchstpersönlich eine begeisterte Bestätigung für seine Theorie funkt. Was erwarten sie eigentlich alle? Sommer ist auch nur eine Jahreszeit. Mehr nicht.

»Voll«, sagt Rio matt. Das ist der Sommer. Der erste danach. Der Neustart. Ab jetzt gibt es keine Entschuldigungen mehr. Ab jetzt muss es wieder laufen, muss er wieder funktionieren.

Als ob es mich nie gegeben hätte!

Rio ist schwindelig. Es könnte die Sonne sein, die ihnen durch die kranken Tannen ungebremst auf den Kopf knallt. Oder es liegt daran, dass er noch so gut wie nichts gegessen hat, nichts, bis auf die zweieinhalb winzigen Bissen Melone, die er heute Mittag heruntergewürgt hat, um seine Eltern zu beruhigen. Und dass er, seit die schlimmen Träume vor ein paar Tagen begonnen haben, viel zu wenig schläft. Und vielleicht ist es auch einfach die Mischung aus allem und andererseits vollkommen egal. Ab jetzt zählt das nicht mehr.

Flip wedelt mit der Hand vor seinem Gesicht: »Hey, Rio-Mio, ich rede mit dir!«

»Sorry!«

Flip mustert ihn prüfend: »Du bist krass blass!«

»Ich hab vorhin ’ne Kamera gefunden.«

Flip sieht Rio verständnislos an. Der zieht die Filmrolle aus der Jeanstasche.

»Das ist keine Kamera«, stellt Flip fest.

»Nee, das ist der Film. Den hab ich aus der Kamera genommen.«

Flip wirft einen mitleidigen Blick auf die kleine Rolle in Rios Hand: »Krasser Shit, oder? Wie die früher gelebt haben!«

»Die Kamera lag unter Mavis’ Bett und jetzt frage ich mich, ob –«

Rio verstummt, als Flips Gesichtsausdruck finster wird: »Nein. Einfach nein!«

»Ich hab mich nur gefragt, ob auf den Bildern vielleicht irgendwas ist, was … was mir weiterhilft?«

Flip greift Rio an den Oberarmen, sieht ihn eindringlich an: »Gib mir den Film!«

Rio macht einen Schritt zurück, befreit sich aus Flips Griff. Der streckt die Hand aus: »Her damit, ich meins ernst!«

Rio schließt seine Hand fest um die Filmrolle: »Vergiss es, Flip! Vergiss es einfach!«

»Was soll er vergessen?« Nuri hat das große Talent, kurz vor High Noon aufzutauchen und Konflikte in harmlose Tumbleweeds zu verwandeln.

»Den ganzen Traurigkeitsscheiß!«, sagt Flip entschieden. »Und zwar sofort!«

»Find ich gut!«, sagt Nuri. »Lasst uns das abmachen, okay? Jetzt sind Sommerferien und die genießen wir!«

Sie sieht Jarek an: »Und von dir keine Arschloch-Aktionen mehr!«

Jarek grinst: »Okay, okay, aber beim Genießen bin ich voll und ganz dabei!«, ruft er und hält seine Luftmatratze als Sonnensegel in den Himmel. Sie sind gebadet in rosafarbenes Licht. Lale legt ihren Arm um Rio: »Komm schon, gib dir ’nen Ruck! Man lebt nur einmal!« Sie merkt selbst, was sie da gerade gesagt hat: »Oh Mist. Sorry!«

»Alles gut«, beeilt Rio sich zu sagen. Das passiert ständig: Leute kommen auf ihn zu und stürzen dann kurz vor ihm in weltentiefe Fallgruben. Er gräbt die. Er ist schuld, dass sich alle das Genick brechen. Flip hat recht, Nuri hat recht, alle haben recht: es reicht!

Rio steckt den Film zurück in die Hosentasche, kramt sein Portemonnaie aus der Bauchtasche: »Na dann los, würd ich sagen – Sommer, wir kommen!«

»Sommer, wir kommen!«, grinst Lale.

»Sommer, wir kommen!«, ruft Flip.

»Sommer, wir kommen!«, wiederholt Nuri und strahlt Flip an.

»Sommer, blabla!«, ruft Jarek. »Ich brauch jetzt dringend Pommes!«

SALTI

Das mit dem Fünfer ist Rios Idee. Alles ist besser, als hier in Pommesduft, Chlorgestank und Halbschatten zu liegen und Angst davor zu haben, dass die Mattigkeit ihn einschläfert. Unter Sommer genießen stellen die anderen sich sicherlich nicht vor, Rio dabei zuzusehen, wie er im Traum um Hilfe fleht oder sogar zu schreien oder zu heulen anfängt. Und: Turmspringen kann er, und im Wasser fühlt er sich wohl, da kennt er sich aus, da ist alles noch so, wie es immer war, und nach dem Sprung kann er einfach drinbleiben und ein paar Bahnen machen, kann normal sein, wenigstens von außen betrachtet.

»Also, wer hat Lust?«

Flip ist sofort auf den Beinen. Auch Nuri rappelt sich hoch, verstaut ihre Kopfhörer sorgfältig in ihrer riesigen Tasche: »Los gehts! Lale?«

Aber die schüttelt nur träge den Kopf: »Sorry, ohne mich, Leute, die Nacht war lang. Fragt Jarek!«

»Lieber nicht«, murmelt Flip mit Blick zu Jarek, der schon seit Ewigkeiten rücklings auf seiner Matte liegt, der schläft oder so tut als ob, das ist nicht zu erkennen, wegen der Sonnenbrille.

»Na dann: Viel Spaß euch!« Lale zwinkert Nuri wenig unauffällig und gleich dreifach zu. Anscheinend hat nicht nur Flip einen Plan, was die Verbesserung seiner Liebeslebenslage in diesem Sommer betrifft.

Die Schlange am Sprungturm ist extrem lang, sie sind kurz davor, die Aktion abzubrechen, aber da tauchen Anoush und Coco auf und stellen sich direkt hinter ihnen an.

»Neuer Bikini?« Coco mustert Nuri genau.

»Geht so«, Nuri zupft an dem Bikinihosengebimsel, als würde sie das Teil jetzt erst bemerken. Der knallrote Bikini ist so was von neu. Der Bikini ist ein großes Ding, der Bikini war eine schwierige Entscheidung, war ein etwa dreistündiger Prozess, in den Rio und Lale per Handy beratend eingebunden waren.

»Supersüß!«, flötet Coco.

»Dankeee. Und, hey, ich glaub, du musst mal in den Schatten«, gibt Nuri zurück. »Du bist hier vorne schon krass rot!«

Manchmal versteht Rio ansatzweise, warum Mavis oft keinen Bock auf andere Leute und schon gar nicht auf größere Gruppen hat. Hatte.

»Hey Rio! Du hast doch heute Geburtstag, oder?«

Bevor Coco Rio umarmen kann, steht Flip zwischen ihnen.

»Nein«, sagt er. »Hat er nicht.«

Coco sieht Flip irritiert an: »Aber –«

»Nein«, wiederholt Flip ruhig.

Coco runzelt die Stirn.

»Wie auch immer!«, mischt Anoush sich ein. »Auf jeden Fall, voll super, dass du auch hier bist, Rio!« Sie sieht ihn so anerkennend an, als wäre das sonst was für eine Leistung, und nichts, was heute ja offensichtlich die ganze Stadt hinbekommen hat.

Rio weiß wirklich nicht, was er dazu sagen soll, ruft aber aus irgendwelchen Gründen: »Das war Flips Idee!«

Anoush und Coco nicken wenig beeindruckt.

Trotzdem nutzt Flip die Chance: »Blöd, dass der Zehner gesperrt ist!«

Sie machen einen Schritt in Richtung Treppe.

Die nächste halbe Stunde verbringen sie damit, abwechselnd zum Becken zu laufen, um sich die Füße abzukühlen. Beim etwa hundertsten Mal wird Flip mutig und bietet Anoush an, sie zu tragen. Rio weiß nicht, wer entsetzter guckt: Anoush oder Nuri.

»Köpper oder Füße?«, fragt Rio schnell.

»Definitiv Füße«, sagt Nuri. »Ich brauche mein Hirn noch!« Auch Anoush und Coco halten nichts von Köppern.

»Ich mach halt immer einfach ’nen Salto!«, verkündet Flip.

»Na, den will ich sehen!«, ruft Anoush und funkelt ihn herausfordernd an. Okay, vielleicht stehen Flips Chancen doch nicht so schlecht.

»Kannste haben!«

Stufe um Stufe, Stockwerk für Stockwerk klettern sie den Turm hinauf. Netterweise haben sich mittlerweile ein paar Wolken vor die Sonne gehängt.

»Wie Ameisen«, stellt Nuri fest und beugt sich weit über die Brüstung. »Stimmt. Und da unten kommt einem alles immer so groß und wichtig vor!«, sagt Anoush.

»Quatscht nicht, springt endlich!«, ruft Coco.

Nuri geht gar nicht drauf ein, läuft einfach los, springt dann mit Anlauf und ohne zu zögern profimäßig gestreckt hinab. Seit sie fünf ist, macht sie Ballett und Hochseilakrobatik, es sieht ziemlich toll aus.

Flip ist als Nächstes dran.

»Und denk an den Salto«, ruft Anoush ihm hinterher.

Ein richtiger Salto wird es zwar nicht, aber ganz unelegant springt auch Flip nicht.

»Dann mach ich jetzt, okay?«

Rio tritt auf das Sprungbrett, einen Schritt, zwei, er sackt auf die Knie.

ATMEN

Sein Herz dröhnt, er kriegt keine Luft, das Schwimmbecken stürzt auf ihn zu, schwarze Punkte rasen vor seinen Augen, er würgt. Manstirbtwennmanfälltmanstirbtwennmanfälltmanstirbtwennmanfälltmanstirbtwennmanfälltman-

»Rio! Rio!«

Manstirbtwennmanfälltmanstirbtwenn-

»So ein Shit!«

Manstirbtwennmanfälltmanstirbt-

»Was hat er denn?«

Manstirbtwenn-

Er krallt die Finger fest in etwas Hartes.

Sie fällt.

»Atme. Ganz ruhig. Ganz ruhig atmen.«

Wie geht das? Wie atmet man?

»Holt doch mal jemanden!«

Wie geht das? Bitte! Wie geht das?

»Jetzt holt doch mal jemanden!«

»Alter, wie übel, gleich kotzt er!«

»Nee, der heult voll!«

»Warum weint der denn?«

»Musst ja nicht springen –«

Nuri. Flip. Bitte.

»Nur atmen.«

Wie atmet man?

»Durch die Nase ein –«

Anoush!

»1, 2, 3, 4 –«

»Alter, was, wenn er stirbt?«

Sterbe ich?

»Komm, Rio. Atmen. Einfach nur durch die Nase ein, 1, 2, 3, 4 – halten, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 –«

Du stirbst, Ri. Jetzt stirbst du.

Ich sterbe.

»Ausatmen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, durch die Nase ein, 1, 2, 3, 4 – halten, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 –«

»Super! Super! Gut machst du das, sehr, sehr gut!«

Es kann immer, es kann jederzeit passieren.

ABSTIEG

So, Leute, alle mal zurücktreten, hier gibts nichts zu sehen.«

Neben Rios Kopf tauchen riesige Badelatschen auf. Haarige Beine, signalrote Schwimmshorts, ein orangefarbenes T-Shirt, eine Trillerpfeife baumelt vor seinem Gesicht.

Rio wischt sich mit dem Arm über die Augen, zieht die Nase hoch. Vielleicht hat es keiner gesehen? Vielleicht hat niemand was mitbekommen? Er versucht, sich aufzurichten, aber das Zittern, das eigentlich eher ein Ganzkörperbeben ist, hört nicht auf, und bevor er auf die Beine kommen kann, hockt der Bademeister neben ihm, legt Rio seine Hand auf die Schulter. Die Bademeisterhand wiegt dreitausend Tonnen. Scheiße. Warum kann er nicht mit dem Scheißzittern aufhören?

»Langsam, langsam, immer gemach, Kleener.«

»Er heißt Rio, er war eben noch ganz okay, aber plötzlich ist er –«

»Okay, okay, Rio«, unterbricht der Bademeister Anoush. »Alles halb so schlimm. Du lässt dich jetzt nicht aus der Ruhe bringen, okay?«

Halb so schlimm, das klingt gut. In seinen Ohren rauscht das Blut. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 –

»Und, kleiner Tipp: Man muss nicht immer den Helden spielen.« Der Bademeister zwinkert Rio verschwörerisch zu: »Das kann ganz schön nach hinten losgehen, haste gerade gemerkt, wa?«

Für einen Moment verschwimmt wieder alles.

»Na dann, Kumpel, dann wollen wir mal –« Der Bademeister winkt Anoush zu sich, die neben Coco steht. Sie sehen beide ziemlich mitgenommen aus. Kein Wunder. Scheiße. Scheiße, wie peinlich!

»Und du nimmst ihn auf der anderen Seite.«

Der Bademeister greift Rio fest unter der linken Schulter, Anoushs Finger sind eiskalt. Gemeinsam ziehen sie Rio auf die Beine. Die sind wie Gummi. Unter seinen Füßen ist kein Boden mehr. Eigentlich müsste er fallen.

»Los gehts, Rio!«

Rio würde ihnen gerne sagen, dass sie ihn loslassen sollen, dass er das alleine schafft. Aber sein Hals ist zu eng, die Zunge liegt viel zu schwer in seinem Mund. Er hat Angst, dass er lallt, dass er es noch schlimmer macht. Im Schneckentempo schlurfen sie los. Alle gucken, alle starren ihm entgegen. Jemand lacht.

»Los, los! Einmal Platz machen!« Der Bademeister fuchtelt energisch mit seiner freien Hand herum, nur kaugummizäh teilt sich die Menge. Der Weg nach unten über die enge Treppe dauert zwei Millionen Stunden, die ganze Stadt ist da, alle, alle, alle sehen zu, alle sehen ihn, alle, alle wissen Bescheid: dass er es nicht hinbekommt, dass er es einfach nicht schafft, wieder normal zu sein. Rio möchte unsichtbar sein und nirgendwo und einfach nur weg.

IN DEN SCHATTEN

Die anderen kommen ihnen schon am Fuß der Treppe entgegen, ganz vorne Flip: »Junge!«

»Oh, Mensch, Rio!«, Nuri sieht ihn besorgt an: »Was war denn da los?« Aber Rio weiß ja auch nicht, er kann nicht erklären, was das da eben genau war und warum er immer noch zittert, als stünde er in Badeshorts im Schneesturm.

»Alter, Bärchi! Was machst du nur für einen Scheiß?« Jarek knufft Rio fest gegen die Schulter.

1, 2, 3, 4 –

»Das war so krass! Rio ist voll zusammengeklappt!«, berichtet Coco aufgeregt. »Ey, ich dachte, der stürzt gleich vom Turm. Ich hab mich so krass erschreckt!«

»Coco!«, ruft Nuri, ein bisschen zu laut.

»Was? Was ist denn? Stimmt doch! Das war voll krank! Und ausgerechnet an seinem Geburtstag! Mann, so ein Scheiß!«

»Coco!«, rufen Nuri und Lale und Anoush und Flip gleichzeitig, aber nur Flip und Anoush grinsen sich danach kurz an.

»Na ja, nu mal halblang, ist ja alles gut jetzt.« Der Bademeister lässt Rio los. Sofort schiebt Flip sich an seinen Platz, zieht Rios Arm über seine Schulter, legt den anderen Arm über seinen Rücken: »Ich mach das!«

Rio sieht ihn irritiert an: Was ist das jetzt für eine Nummer? Doch Flip erwidert seinen Blick nicht.

Der Bademeister nickt zufrieden: »Ab jetzt nur noch Schatten, viel trinken und Ruhe, mindestens ein Stündchen Pause. Und wenn du dir einen Gefallen tun willst, Kleener, dann bleibst du heute ganz raus aus dem Wasser!« Er sieht streng in die Runde: »Also, ich warne euch: Wenn ich die olle Flitzpiepe hier heute noch mal in der Nähe des Sprungturms sehe, dann fliegt ihr alle raus, verstanden?«

»Verstanden«, murmeln Flip und Anoush neben Rio brav, und der Bademeister stratzt über die Liegewiese davon.

Nuri seufzt: »Puh, so ein Schreck! Kommt, wir gehen lieber rüber in den Schatten!«

Flip und Anoush setzen sich in Gang, aber Rio bleibt stehen, stemmt seine Füße ins Gras: »Ihr könnt mich jetzt loslassen, echt!«

»Das passt schon!«, sagt Flip.

»Aber ich –«

»Wir bringen dich noch bis zur Decke, ja?«, schlägt Anoush sanft vor. Den Ton kennt Rio noch aus dem letzten Jahr, vor allem aus der Zeit rund um die Beerdigung. Ihn hat er nicht getröstet, im Gegenteil: er hat gemacht, dass Rio sich winzig und schutzlos gefühlt hat. Die Leute wollen nur helfen, hatte Jaime ihm damals erklärt. Es ist lieb gemeint. Und wie schon damals sagt Rio nichts, will niemanden vor den Kopf stoßen oder gar verletzen, und lässt sich von Anoush und Flip über die stachelig-trockene Wiese führen, als hätte er keine eigene Kraft mehr und keinen eigenen Willen.

LEGENDÄR

Bleib doch noch!«, bittet Nuri. Und leiser, sodass nur Rio es hören kann: »Ich will nicht, dass du allein bist! Erst recht nicht heute.«

»Wir holen noch mal Pommes, okay?«, schlägt Jarek vor.

Rio schüttelt den Kopf, befreit sich aus dem riesigen Frotteetuch, in das ihn Lale gleich nach Ankunft bei ihrer Decke ungefragt eingewickelt hat, und schlüpft in seine Jeans. Nichts kann er sich weniger vorstellen, als etwas zu essen.

Seit dem letzten Sommer ist Rios Mund kleiner geworden. Er kriegt ihn nicht mehr richtig weit auf. Seit dem letzten Sommer hat Rio das Gefühl, dass nur noch seine Vorderzähne funktionieren. Er kann kleine Bissen abbeißen, aber mit dem Kauen ist es schwierig. Schlucken ist zu Würgen geworden. Und wenn jemand zuguckt, geht das gar nicht, das mit dem Essen.

»Ich hab versprochen, dass ich zum Abendessen zurück bin«, lügt er.

»Aber dann morgen wieder hier, ja?«, fragt Nuri. Rio zwingt sich zu einem extrabreiten Lächeln. Sie soll nicht so traurig gucken: »Klar!«

Nuri lächelt erleichtert zurück. Sie und Lale umarmen ihn kurz, Jarek boxt ihn zum Abschied aus dem Liegen gegen das Schienbein, Flip legt sein zerlesenes Taschenbuch weg und rappelt sich auf: »Ich bring dich noch bis zum Ausgang!«

»Aber ich laufe selbst«, sagt Rio und gibt sich Mühe, es wie einen Witz klingen zu lassen und nicht wie eine Drohung. Er hofft, dass Flip das versteht.

Eigentlich ist es, war es nämlich so: Flip weiß alles, Flip weiß Bescheid. Flip ist Rios allerbester Freund. Seit fast schon immer, seit dem Tag, als der gerade dreijährige Rio den fast vierjährigen Flip vor der Kita vor einem sehr lauten, sehr kleinen Hund gerettet hat. Flips Papa liebt es, davon zu erzählen, die Geschichte vom überängstlichen Flip und Klein-Rio, dem hyperaktiven Helden: Der beißt nur, wenn du Angst hast! Du musst keine Angst haben. Warte, ich lenk den ab! Ich kann supergut Hunde streicheln! Guck mal, jetzt ist er ganz lieb! Oh, guck mal, wie niedlich der ist! Ich liebe Hunde! So sehr! Komm mal, Flip, ich schwör dir, der tut nichts! Siehst du? Der ist doch süß oder? Sooo süß! Tschüss, Hund! TschüssTschüssTschüss! So. Jetzt brauchst du keine Angst mehr haben, nie wieder! Ich bin Rio, das heißt Fluss, aber ich kann noch nicht schwimmen, und dass du Flip heißt, weiß ich schon lange, weil ja immer alle nach dir rufen und weil Flip so ein toller Name ist. Komm, Flip, wir klettern da rauf! Ganz hoch! Oh! Guck mal! Maaavis! Hallooo! Hier sind wir! Hier oben! Guck mal, Flip! Komm, Mavis, komm hoch! Guck mal, Mavis, hier ist Flip. Er kann superschnell klettern und ist schon bei den Dinos und wir sind Freunde!

Bäm!

Damit war alles klar und abgemacht und beschlossen: Freunde für immer! Egal, was kam und was ist und was kommt: fiese Brüder, falsches Faschingskostüm, geheimes Heimweh, Blinddarmentzündung, feste Zahnspange, all diese heftigen Körpermorphsachen, streitende Eltern, wahrscheinlich Legasthenie, Klamottenratlosigkeit, definitiv Legasthenie, Saufwette, Gehirnerschütterung, Bänderriss, der weltkrasseste Liebeskummer, die Scheißscheidung, der Umzug, der Knutschversuch, eine geheimnisvolle, eine fremder werdende Zwillingsschwester,

der Tod.

BÄM.

Sosehr sie sich auch bemühen und anstrengen und unbedingt, unbedingt wollen: gegen den Scheißtod kommen sie nicht so richtig gut an. Seit der Sache mit dem Tod, seit der Sache im letzten Sommer ist Flip irgendwie ein bisschen mehr so was wie Rios selbst ernannter Bodyguard und ein bisschen weniger sein allerengster Freund. Und warum ist Flip eigentlich gerade so ungewohnt schweigsam und dazu so untypisch nervös? Als sie auf dem Weg zum Ausgang auf Höhe der klapprigen Schaukeln ankommen, hält Rio es nicht mehr aus: »Werden wir verfolgt?«

»Hä?«

»Na, weil du dich ständig umdrehst.«

Flip lacht: »Nee, ich wollte nur sichergehen, dass wir außer Hörweite sind. Also, wegen vorhin –«

Rio stöhnt: »Alter, nein! Nicht wieder das! Ich hab doch schon tausend Mal gesagt, dass ich okay bin. Das war nur so ein Schwindelscheiß … keine Ahnung, die Hitze oder so …«

Rio zögert. Ach verdammt, es ist Flip!

»Ich weiß nicht … also … manchmal … in letzter Zeit … ich schlaf nicht so und ich träume so krasses –«

Flip bleibt abrupt stehen, hält Rio am Ellenbogen fest: »Sie hat meinen Arm berührt!«

Rio kapiert nicht, wovon Flip spricht.

»Als wir dich gestützt haben, vorhin, wegen deiner seltsamen Aktion, da hat sie meinen Arm berührt! Ich dachte erst, das ist Zufall, aber nee, das war extra! Erst, als wir fast bei den Decken waren, hat sie ihre Hand weggenommen!« Flip strahlt: »Alter, ich spürs, echt jetzt, das wird was!«

Rio weiß nicht, was er sagen soll. Flip ist Hals über Kopf verliebt, so viel immerhin ist offensichtlich.

»Das war heftig!«

»Kann ich mir vorstellen.« Rio kriegt irgendwie kein Lächeln zustande. Seine Lippen fühlen sich an wie mumifiziert. »Voll krass! Voll gut!«, fügt er eilig hinzu. Er will sich freuen für Flip, wirklich!

Flip nickt: »Wir sorgen dafür, dass dieser Sommer legendär wird, ja?«

»Okay«, sagt Rio mit seinem Mumienmund.

»Legendär!«, wiederholt Flip und weil direkt hinter ihm genau in diesem Moment die Sonne in den Pool fällt, orangeleuchtendgelb, und weil Flip so richtig wichtig guckt, fühlt sich das plötzlich an wie irgend so ein verrutschter Hollywoodschinken. Das ist besser, entscheidet Rio. Dieser Film. Besser als die scharfkantigen Reste der Realität, über die er Tag für Tag stolpert.

»Legendär«, wiederholt Rio im Filmbro-Style.

Dann klopfen sie einander kurz irgendwo auf dem Oberkörper rum, und dann geht Flip zurück zu den anderen, verschwindet hoffnungsvoll im Sonnenuntergang. Rio trottet durch das Drehkreuz, schlurft an seinem Pferd vorbei, das eigentlich ein leicht eierndes Singlespeed ist und leider zusammen mit den Rädern der anderen abgeschlossen, umgekippt und verknotet zu einer unlösbaren Aufgabe.

BLUT

Rio steht vor der Haustür, hat die Schlüssel in der Hand. Aber schon die Vorstellung, sie ins Schloss zu stecken, zu drehen, die Tür zu öffnen, macht ihn bleischwer. Erschöpft lehnt er sich neben der Tür an die Wand. Die Dämmerung lässt sich Zeit, frisst erst die Farben, dann die Umrisse, verschluckt die Geräusche. Sie verschlingt den Tag, bis nur Dunkelblau bleibt und Stille und das gelbwarme Licht der Straßenlaternen. La hora azul, die blaue Stunde. Seine Eltern haben mal versucht, einen Song draus zu machen, vor Ewigkeiten. Früher, als es noch lief mit den Buchungen und Auftritten und Solo el sol noch auf allen Radiosendern gespielt wurde, als es aussah, als wäre das jetzt der Durchbruch, als hätten sie es ein für alle Mal geschafft, als dürfte die Musik jetzt ihr Leben sein. War nicht so, so einfach war es nicht, ein Sommerhit bedeutet nichts, genauso wenig wie ein Sommer. Rosa und Jaime suchen seit Langem, brauchen für den Neustart aber dringend etwas, das sich verkaufen lässt. Alles, was ihnen zur blauen Stunde einfiel, war zu melancholisch, zu sperrig, zu traurig, untanzbar und nicht massentauglich, und am Ende haben sie es dann wieder verworfen.

Wie sich alles auflöst im Zwielicht, das gefällt Rio. Der gleißende Sonnenscheinwerfer geht aus, man kann sich verstecken in so einem sehr späten Sommerabend, man kann sich verlieren, man kann sich vorstellen, dass Unmögliches möglich, dass das alles aushaltbar ist, oder sogar, dass das Allerschlimmste nie passiert.

Ein lautes Brüllen zerreißt die Stille, darauf ein unmenschliches Kreischen. Rio stellen sich die Nackenhaare auf. Die schrecklichen Geräusche kommen aus ihrem Haus! Er will die Tür aufschließen, aber vor Nervosität rutscht ihm das Schlüsselbund aus den Händen. Fahrig hebt er es auf, öffnet die Haustür. Was, wenn etwas mit seinen Eltern ist? Er rechnet immer mit allem.

Setzen Sie sich.

Jederzeit können Meteoriten einschlagen, können Welten explodieren.

Wir haben sie gefunden.

Die allererste Trauer war so still, war dumpf.

Rio steht im dunklen Hausflur, horcht. Das Kreischen, das Brüllen ist verstummt, aber da ist so was wie ein Kratzen. Es kommt aus dem Hinterhof. Mit beiden Händen zerrt Rio die schwere Tür auf. Blitzschnell huscht etwas an ihm vorbei. Er fährt herum, sieht gerade noch, wie die einäugige Katze durch die sich langsam schließende Haustür hinaus auf die Straße rast. Es ist gut gegangen! Es ist gut gegangen! Sie lebt! Sie hat den Sturz überlebt! Sie –

Rio stockt.

Da ist Dracula.

Bleich und düster, beflackert vom defekten Licht, steht der schon wieder mitten im Hof. Rio denkt an das ängstliche Kreischen der Katze. An das Brüllen. War … war das Dracula? Ist der etwa auf die Katze losgegangen?

Unwillkürlich stolpert Rio rückwärts über die niedrige Schwelle zurück, hält sich im Türrahmen fest. Vielleicht ist das heute alles irgendwie ein bisschen zu viel?

Dracula macht einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu: »Bist du okay?«

Rio nickt. Sein Blick fällt auf das lederne Band in Draculas rechter Hand. Daran baumelt die Kamera.

Mavis’ Kamera.

In Rios Kopf knallt etwas durch. Mit einem Satz stürzt er sich auf Dracula, trommelt mit beiden Fäusten auf ihn ein, er brüllt und brüllt und brüllt. Dann ist die Kraft weg und die Wut, stattdessen bleibt da nur so etwas wie Verzweiflung.

»Gib sie mir!«, stößt Rio hervor. »Sofort!«

Ohne Rio anzusehen, reicht Dracula ihm den schweren Apparat:

»Lag neben der Mülltonne«, murmelt er. »Und ich … ich dachte …«

Rio presst die Kamera an sich.

Dracula starrt auf den Boden, pfriemelt an einem schmalen roten Gummiband an seinem Handgelenk herum: »Also, falls … falls du einen Film dazu hast«, murmelt er, als ob nichts gewesen, als ob Rio nicht gerade auf ihn losgegangen wäre, »falls du ’nen Film hast, bring ihn zum Ortmann, weißt du, diese Drogerie? Die entwickeln dir das, einigermaßen günstig … in … in sieben bis zehn Tagen machen die das.«

Rio starrt Dracula perplex an. Gehts noch?

»Fick dich!«, stößt er hervor.