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»Glück ist gar nicht das, was ich anstrebe« Martina Voß kennt sich aus mit den nicht so schlimmen Kleinigkeiten, die einer Frau zustoßen können. Deshalb nimmt sie ohne lange nachzudenken Kasia und ihre Tochter auf. Platz hat sie in ihrem großen Haus, nachdem sie sich ohne lange nachzudenken von ihrem Mann getrennt hat. Außerdem ist Sommer, und die Welt verliert ihre Ecken und Kanten, wenn die beiden Frauen Apfelsaft mit Wodka trinken. Aber lange kann das nicht gutgehen. Denn im Dorf wissen immer alle alles. Zielstrebig und intelligent, ohnmächtig und töricht: Als unzuverlässige Erzählerin bietet diese Heldin keine einfachen Wahrheiten an.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover & Impressum
Zitat
I
II
III
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Why do men feel threatened by women?« I asked a male friend of mine. So this male friend of mine, who does by the way exist, conveniently entered into the following dialogue. »I mean«, I said, »men are bigger, most of the time, they can run faster, strangle better, and they have on the average a lot more money and power.« – »They’re afraid women will laugh at them«, he said. »Undercut their world view.« Then I asked some women students in a quickie poetry seminar I was giving, »Why do women feel threatened by men?« – »They’re afraid of being killed«, they said.
Margaret Atwood
Als ich Kasia zum ersten Mal rettete, war ich spät dran. Carsten hatte immer geschimpft, dass ich zu lange duschte, aber was wusste er schon. Er benutzte ein Deodorant, auf dem stand, es würde achtundvierzig Stunden halten. Und dann hatte ich ja auch noch Annalena davon überzeugen müssen, sich Schuhe anzuziehen, die sie bereits im Kindergarten wieder ausziehen würde.
Das letzte Stück rannten wir. Trotzdem war die Garderobe leer, und Annalenas Unterlippe begann zu beben. Sie hasste es, den Gruppenraum zu betreten, wenn die Tür schon geschlossen war. Ich redete ununterbrochen, um sie bei Laune zu halten, reimte und witzelte. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihre Schuhe, ihre Tasche, ihre Stimmung, und so registrierte ich zwar, dass noch eine Mutter mit ihrem Kind in die Garderobe kam, und natürlich grüßte ich, wie es sich gehörte, aber ich schaute kaum auf. Annalena ging es schlagartig wieder gut, sie würde nicht die Einzige sein, die zu spät kam und den heiligen Morgenkreis störte, und tatsächlich nahm sie Danuta sogar bei der Hand, um dem Feind als geschlossene Reihe zu begegnen.
Ich hörte die Stimmen von drinnen, bevor die Tür sich hinter den Mädchen schloss, und während ich selbst tief durchatmete, hörte ich noch einen anderen Laut. Es klang wie ein Igel, der sich bedroht fühlte. Ein Schnaufen und Aufseufzen zugleich, wahrlich kein menschlicher Laut. Ich musste erst den Mittelpfeiler umrunden, um Danutas Mutter sehen zu können. Da saß sie, unter dem Garderobenhaken von Terror-Benni, auf dem viel zu kurzen, viel zu niedrigen Bänkchen und hielt sich ein Taschentuch an die Stirn.
»Was ist dir denn passiert?«, fragte ich. Sie ließ das Taschentuch sinken, und der Anblick des hühnereigroßen Blutergusses mit dem aufgeplatzten Riss in der Mitte ließ mich zusammenzucken.
»Bin gegen einen Schrank gelaufen, ich Dussel.«
Ihr Akzent war nur ganz leicht zu hören, ich konnte ihn nach diesem kurzen Satz keiner bestimmten Muttersprache zuordnen.
Es war nicht so, dass ich ihr grundsätzlich nicht glaubte. Ich lief selbst gelegentlich gegen Türen, stieß mir die Zehen an Schwellen blau, goss mir gedankenlos kochendes Wasser über die Hand. Niemand, der kleine Kinder hatte, wunderte sich über diese Art von Haushaltsunfall aus Mangel an Konzentration und Selbstfürsorge. Aber die Verletzung sah aus wie etwas, das ich kannte, obwohl ich es in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Sie sah nicht aus wie ein Missgeschick, sondern als hätte jemand dieser Frau eins übergebraten. Und das wusste ich: Wenn mir morgens mein Mann ein solches Ei verpasst hätte, würde ich einer vollkommen unbekannten Kindergartenmutti in der Garderobe unter Terror-Bennis Haken ganz sicher auch etwas von einem Schrank erzählen. Alles andere war zu kompliziert, zu demütigend, zu intim. Wer wollte so etwas hören? Man wäre gezwungen zu handeln. So eine Geschichte war im Grunde eine Nötigung zur Hilfeleistung.
»Da sollte ein Arzt draufgucken«, sagte ich sanft. »Könnte sein, dass es genäht werden muss.«
»Ich muss nicht zum Arzt.«
»Es gibt eine Narbe, wenn das nicht ordentlich versorgt wird.«
»Ich hab kein Auto.«
»Ich kann dich hinfahren.« Ich wusste nicht, was ungewöhnlicher war: die Tatsache, dass irgendein Mensch in Niewohld kein Auto zur Verfügung hatte, oder mein Angebot, das mir eigentlich überhaupt nicht ähnlichsah. Ich mischte mich üblicherweise nicht ein.
»Danke. Aber ich brauche keinen Arzt.«
Und damit war die Sache für mich klar. Welchen Grund gab es, eine Narbe in Kauf zu nehmen, wenn es wirklich ein Schrank gewesen war?
»Alle Männer sind krank«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Das war ein Zitat.« Ich hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie und erhob sich stöhnend. Der Schrank schien noch mehr Unheil angerichtet zu haben. Ich hörte mich selbst sagen: »Und jetzt gehen wir zu mir.«
Kasia kam mit mir, und ich war nicht sicher, warum. Sie wirkte selbst mit einem Hühnerei am Kopf nicht wie jemand, der einfach folgte wie ein braves Schaf. Und wenn meine Erfahrungen mit Annalena irgendein Maßstab waren, hatte ich keinen Grund anzunehmen, dass klare Ansagen meinerseits Auswirkungen auf andere Menschen hatten. Es musste so etwas wie einen Überlebensinstinkt geben, auch wenn ich ihn selbst nicht kannte – ich war vertrauter mit dem Gegenteil –, und womöglich hatten gerade Frauen, die in gewaltvollen Beziehungen lebten, besonders viel davon. Womöglich war Überlebensinstinkt die Antwort auf all ihre Entscheidungen.
Im Haus meiner Großmutter, das inzwischen mein Haus war, würde sie jedenfalls sicher sein, das war die Hauptsache. Denn in Sicherheit musste ich sie bringen. Dieser Igellaut, den ich vorhin gehört hatte, war mir tief in die Knochen gefahren.
Ein netter Nebeneffekt war, dass ich mit Kasia im Schlepptau die Leere nicht spüren musste, die mich nach dem Abgeben meiner Tochter im Kindergarten stets überfiel und dazu brachte, wie ein Kind auf der dunklen Kellertreppe vor mich hin zu summen. Ich hatte gelesen, dass Singen auf irgendeine Weise das Gehirn daran hinderte, Angst zu signalisieren. Offenbar funktionierte es auch bei mütterlichen Verwaisungsgefühlen. Natürlich ging es Annalena im Kindergarten sehr gut, das Abholen konnte sich sogar manchmal zum reinsten Drama entwickeln, und natürlich musste ich arbeiten und brauchte auch Zeit ohne sie, aber den Schmerz interessierte nicht, ob es für alle Beteiligten gut war, was passierte. Er behauptete unbeirrbar, dass man mir mein Kind entrissen hatte und mir fortan ein entscheidender Teil meines Organismus fehlte.
Auf dem Weg, den wir langsam, beinahe schlendernd, zurücklegten, sagten wir uns unsere Vornamen. Ich brauchte ein paar Anläufe, bis ich ihren richtig aussprach, den Zischlaut, der irgendwo zwischen ch und sch angesiedelt war – »Kaschcha« –, die polnische Koseform von Katarzyna, wie sie mir erklärte. Wir redeten belangloses Zeug über den Kindergarten und das ungewöhnliche Wetter, über Sommerferienpläne und unsere derzeitigen Lebenssituationen. Sie wirkte erleichtert, als ich ihr sagte, ich sei alleinerziehend. Aber womöglich interpretierte ich ihren Gesichtsausdruck falsch.
Im Übrigen war es wahrscheinlich nicht korrekt, wenn ich behauptete, ich sei alleinerziehend. Carsten hätte sich aufgeregt, wenn er mich das hätte sagen hören. Er erzog schließlich mit, und bis heute hatte er nicht verstanden, warum ich ihn weggeschickt hatte. Es war vielleicht auch nicht zu verstehen. Aber wenn ich eins begriffen hatte in meinem noch nicht allzu langen Leben, dann, dass es einem sowieso nichts nützte, etwas zu verstehen, wenn man nicht wusste, wie man es ändern konnte.
»Warum hast du kein Auto?«, fragte ich.
»Mein Mann hat den Landmaschinenhandel im Gewerbegebiet. Wenn ich vorher weiß, dass ich unser Auto brauche, fahre ich ihn hin. Sonst nehme ich den Bus und hole es mir da ab.«
»Das ist ja grausam.«
»So selten fährt der Bus gar nicht.«
Zu Hause, in meinem großen, kühlen Steinhaus, schloss ich die Tür hinter uns und führte Kasia direkt zum Sofa. Ich desinfizierte die Wunde. Dann schnitt ich vom Rand eines sterilen Haftverbands schmale Streifen, die ich als Klammerpflaster über den Riss legte, bevor ich den Verband aufklebte, damit das Ganze nicht so gruselig aussah und die Kinder erschreckte. Ich gab Kasia ein Kühlkissen gegen das Dröhnen im Kopf, legte ihr eine Wolldecke über, zog die Vorhänge vor die Terrassentür und sah zu, wie ihr die Lider schwer wurden.
»Schlaf ruhig ein bisschen«, sagte ich. »Ich bin in spätestens drei Stunden wieder da. Ruf den Notdienst, wenn dir plötzlich übel wird oder du doppelt siehst oder so was.«
Für einen Moment blickte ich auf Kasia hinab, die auf dem Sofa bereits döste, und sie sah so schön aus, trotz des Verbands über der Schläfe, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Ein schlafendes Dornröschen in meinem Wohnzimmer. Eines mit kurzen, wasserstoffblonden Haaren, hager und so lang, dass die Knie eingeknickt werden mussten, damit die Füße nicht über die Seitenlehnen ragten – das genaue Gegenteil von mir: klein, pummelig und dunkelhaarig. Was, wenn sie nicht mehr hier sein würde, wenn ich zurückkam? Vielleicht sollte ich die Haustür abschließen. Von außen. Aber erstens war das lächerlich, es gab schließlich noch andere Ausgänge, und zweitens hätte ich erst mal den Haustürschlüssel suchen müssen.
*
Vor dem Haus des Bürgermeisters stellte ich mein Rad ab und nahm die Putztasche aus dem Korb. Wie immer, wenn ich mich in ein fremdes Haus einließ, rief ich laut »Hallo«, damit niemand, der vielleicht unerwartet da war, sich erschreckte. Es kam keine Antwort.
Es war die Bürgermeisterfrau, die mich eingestellt hatte. Sie war es auch, die mir Bargeld und Zettel mit höflich formulierten Anweisungen auf der Anrichte hinterließ. Heute stand dort: Bitte nehmen Sie sich doch des Gästezimmers an. Bettwäsche habe ich bereitgelegt.
Ich hatte zwei Stunden, von denen anderthalb fest verplant waren, sodass eine halbe Stunde für Verschiedenes blieb. Das Geld lag neben dem Zettel. Am Anfang noch hatte es immer in einem sauberen Umschlag gesteckt, aber irgendwann war wohl auch der Bürgermeisterfrau klar geworden, dass sie damit einen Umschlag pro Woche verschenkte.
Ich hatte sie noch nicht oft getroffen. Bei der Anstellung und Einweisung natürlich, manchmal hatte ich sie auf einem Dorffest gesehen, beim Osterfeuer oder bei der Einweihung des neuen Feuerwehrgerätehauses. Sie arbeitete auswärts – wo auch sonst. Wer nicht gerade Kinder betreute oder Kühe versorgte, fand keinen Job in einem Dorf wie diesem. Auch Putzhilfen wurden nur von sehr wenigen Menschen benötigt. Die Leute machten hier traditionell ihren Dreck selbst weg.
Ich zog meine Putzschuhe an, richtete mich auf und ließ meinen Blick durch den Raum wandern. Suchte die Decke nach Spinnweben ab, den Spiegel nach Fingerabdrücken – mein eigenes Abbild darin wurde zum unscharfen Fleck, eine verformte, weiche Masse, ich wollte es gar nicht sehen –, die ausgestopften Vögel an der Wand nach Staub auf den Schnäbeln. Von der Decke hing eine laternenartige schmiedeeiserne Lampe, die so schwer sein musste, dass für sie ein daumendicker Haken eingeschraubt worden war. Hervorragend geeignet, um sich daran zu erhängen. Das gab es selten in Innenräumen. Das Körpergewicht, der Ruck, der nötig war, damit man nicht noch ewig herumzappelte, musste ja nicht nur vom Strick ausgehalten werden. In einem der Tagebücher von Max Frisch hatte ich gelesen, dass wir die Eigenart, jeden Ort auf seine Suizidmöglichkeiten hin zu überprüfen, teilten. Es hatte mich beruhigt, schließlich war er ziemlich alt geworden. Und letztlich war es nichts anderes, als auf Notausgänge zu achten.
Als das Gästezimmer dran war, musste ich an Kasia denken, die zu Hause auf dem Sofa lag und sich ausruhte. Sie würde da sein, wenn ich zurückkam, später könnten wir zusammen mittagessen, am Nachmittag ein paar ihrer Sachen holen, ein Zimmer für sie herrichten, uns in Ruhe überlegen, wie wir weiter vorgehen wollten. Danuta könnte bei Annalena schlafen. Ich spürte ein Kribbeln in mir, Freude oder Aufregung oder Sorge.
Obwohl ich inzwischen ordentlich ins Schwitzen gekommen war, widmete ich mich dem Gästezimmer mit neuer Energie. Es gab Fußleisten zu wischen und Steckdosen zu entstauben, und ich liebte kleinteilige Reinigungsvorgänge. Mein favorisiertes Putzutensil war eine alte Zahnbürste, mit der ich Fugen säuberte, Kalkränder um Armaturen beseitigen und sogar Haare und Seifenreste aus Abflussrosetten heraufholen konnte. Mit einem Mikrofasertuch machte ich mich mit Eifer an die Rillen und Vorsprünge von Kommode und Wäscheschrank. Bald wischte ich mich in eine Art Trance hinein, in der ich nichts mehr denken musste, nur wischen. Mein Kopf spuckte unaufgefordert eine Gedichtzeile aus, und ich wischte im Rhythmus: »Ihr Herren, gebt mir das Schwert in die Hand, und Jeanne d’Arc rettet das Vaterland.«
Gelernt hatte ich das Putzen nach der Schulzeit von der Pike auf in der Kolonne von Frau Klünder im Bürogebäude einer Tiefbaufirma. Frau Klünder hatte mir gezeigt, wie man den Marmorboden eines Foyers so feudelte, dass keine Streifen zurückblieben. Als Annalena drei Jahre alt war und in den örtlichen Kindergarten durfte, fing ich wieder an zu putzen, privat diesmal, ich hatte fast jeden Tag in der Woche ein Haus, samstags Ferienwohnungen, wenn Saison war. Das klappte auch mit Kind einigermaßen.
Während ich das Laken vom Gästebett abzog, hielt ich die Luft an. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass die Eier der Madenwürmer, die nachts auf die Bettwäsche gerieten, über die Atemwege in den Körper gelangen konnten, wenn man die Decken aufschüttelte.
Als ich aufsah, stand der Bürgermeister in der Tür. Ich hatte ihn weder ins Haus noch die Treppe heraufkommen hören. Das war der Nachteil, wenn ich in Putztrance geriet und Gedichtzeilen vor mich hin murmelte. Tatsächlich quiekte ich ein bisschen, als ich ihn im Türrahmen bemerkte. Das gefiel ihm.
»Frau Voß«, sagte er. »Quieken wir neuerdings zur Begrüßung?«
»Entschuldigen Sie, Herr Bürgermeister.« Ich deutete einen Knicks an. »Sie haben mich erschreckt.«
»Das war nicht meine Absicht.«
»Ich muss das Bett hier noch fertig machen.«
»Erwarten wir denn Besuch?«
»Offenbar ja. Ihre Frau hat mir einen Zettel geschrieben.«
»So, so«, sagte er. Und dann wartete er und sah mir dabei zu, wie ich zwei Bettdecken und zwei Kissen bezog.
»Schön alle Knöpfe zumachen«, sagte er.
»Aber das ist doch Ehrensache, Herr Bürgermeister.«
»Können wir das Bett denn jetzt auch benutzen?«
»Lieber nicht. Sonst zerknittert alles.«
»Schade.«
Ich trug die abgezogene Wäsche zur Tür, um sie in den Flur zu werfen. Ich würde sie später in den Wäschepuff stecken. Der Bürgermeister fing mich ein, als ich an ihm vorbeiwollte. Er zog mich an sich und küsste mich nass und lange. Er rauchte Pfeife, und das schmeckte man. Als er begann, meinen Hals zu küssen und an meinem T-Shirt-Saum zu zerren, fiel mir ein, dass es heute besser war, die Hose anzubehalten. Seit ich mir eine Kupferspirale hatte einsetzen lassen, um kein weiteres Kind bekommen zu müssen, war irgendetwas an meiner Intimflora durcheinandergeraten, und es kam vor, dass sich irritierende Gerüche entfalteten, wenn ich mich auszog. Ich benutzte mehr oder weniger regelmäßig ein teures Gel, um dem entgegenzuwirken.
Natürlich war ich ein bisschen verliebt in den Bürgermeister. In seine Selbstsicherheit und seinen völlig unangemessenen Optimismus, in sein teures Aftershave und den norddeutschen Einschlag in seiner Sprache. Wir spielten ein Spiel zusammen, das Spiel Bürgermeister-und-Putzfrau, und es war einfach, klar und altbekannt – genau das, was ich suchte.
Am Ende kniete ich auf dem zusammengeknüllten Haufen aus alten Laken und Bezügen, um es bequemer zu haben, und auch damit der Bürgermeister nicht einknicken musste, denn ich war fast dreißig Zentimeter kleiner als er. Die Bettwäsche würde außerdem ein Schutz für den Teppich sein, falls er am Ende nicht gut genug zielte. Sein Penis ekelte und rührte mich gleichermaßen. Während ich ihn im Mund hatte, überkam mich eine wilde Lust, hineinzubeißen, ich musste alle Kraft aufbringen, den Kiefer nicht zuschnappen zu lassen, und wenn ich mit den Schneidezähnen zart kratzte und biss, machte ihn das offenbar so an, dass in mir ein Hochgefühl aufstieg, das meinen Kopf wie einen Ballon aufzublasen schien. Ich kniete vor ihm in der schlichtesten Geste der Demut und Unterwürfigkeit und hatte ihn komplett in der Hand. Konnte ihn vor Leidenschaft zum Schreien bringen oder vor Schmerz, je nachdem. Er zog mir am Haar, sagte Sätze zu mir, die ich mir selbst nicht besser hätte ausdenken können, und ich schämte mich – für mich und meine überwältigende Freude an der Erniedrigung, was alles nur noch köstlicher machte. Ich war das Allerletzte, die Putzfrau, die sich im Vorbeigehen ficken ließ und hinterher auch noch alles aufwischen würde, und zugleich entwaffnete ich diesen Mann mit einer Macht, der er nichts entgegenzusetzen hatte, raubte ihm seinen Willen und behielt das Heft komplett in der Hand. Ich genoss es. Und ich pfiff auf Emanzipation und Unterdrückung gleichermaßen, indem ich freiwillig tat, was objektiv schlecht für mich war. Ich hatte gelesen, dass Prostituierte oft unbewusst ein Trauma reinszenierten, eine Situation wieder und wieder nachstellten, in der sie sich einmal hilflos gefühlt hatten, um sie fortan nur noch in kontrollierter Weise erleben zu können. Ich fand das vollkommen plausibel, und manchmal fragte ich mich, auf wie viele Frauen in deutschen Schlafzimmern das ebenfalls zutraf.
Mein Körper ließ grundsätzlich alles über sich ergehen. Er war ein alter Recke, obwohl er erst dreißig Jahre alt war. In ihm war gelebt und gestorben worden, alle Eingänge waren zu Ausgängen geworden und umgekehrt, er war aufgeschnitten und wieder zugenäht, zerkratzt, zerbissen, zerfetzt, gesalbt und gestreichelt worden, er war vernarbt und verziert, mit Gegenständen penetriert, überprüft, gewartet und vernachlässigt worden, von mir und von anderen, verwöhnt und geschunden und immer und immer wieder missverstanden, sodass er irgendwann aufgegeben hatte, überhaupt irgendwelche interessanten Botschaften auszusenden.
Der Bürgermeister versuchte, mir seinen Penis tief in den Hals zu treiben, ich gab einen Würgelaut von mir, die Tränen schossen mir in die Augen, und ich sah zu ihm auf, blickte ihn direkt an, weil ich wusste, dass ihm das den Rest geben würde. Und genau so war es auch. Er konnte sein Glück kaum fassen, zog sich zurück und kam mir in die Haare. Ich würde zu Hause noch einmal duschen müssen, bevor ich Annalena vom Kindergarten abholte. Um seinen Geruch abzuwaschen und mich von meiner eigenen schmutzigen Schäbigkeit zu reinigen.
*
Während meiner Abwesenheit hatte Carsten einen Fisch vorbeigebracht. Kasia erzählte die Geschichte beim Mittagessen, das sie für uns alle aus dem Fisch gekocht hatte, mit leiser, rauer Stimme. Sie musste einen ganz schönen Schreck bekommen haben, aber die Mädchen lachten sich kaputt über ihrem Reis ohne alles – sie hatten vor einer halben Stunde einhellig beschlossen, nie wieder tote Tiere zu essen, es sei denn in Form von panierten Stäbchen. Der arme Carsten hatte offenbar auf dem Weg von einem Kunden einen Fischwagen entdeckt, frischen Seelachs gekauft und Annalena und mich mit einer selbst gekochten Mahlzeit überraschen wollen. Stattdessen hatte er Kasia vom Sofa aufgescheucht und nach einem kurzen Gespräch, das sie wortgetreu wiedergab – was Annalena vor Lachen nach Luft schnappen ließ –, das Haus ohne den Fisch fluchtartig wieder verlassen. Angeblich hatte er vor sich hin gepfiffen, als er durch die Tür gekommen war.
»Warum schließt du die Haustür nicht ab?«, fragte Kasia.
»Wozu? Wer einbrechen will, schafft es auch so. Und alle anderen können ja klingeln.«
»Kommt dein Ex-Mann oft und bringt Essen?«
»So ganz hat er das mit dem Ex-Mann-Sein noch nicht akzeptiert, fürchte ich.«
Tatsächlich war ausgemacht, dass Carsten zweimal die Woche kam. Aber manchmal ergab sich in seinem Job irgendeine Lücke, und dann schaute er eben bei uns nach dem Rechten.
Nach dem Essen richtete ich die Kammer neben der Küche her, dort stand eine Klappliege, die noch von meiner Großmutter stammte. Eine überzählige Matratze lag unter Annalenas Bett. Als sie drei Jahre alt wurde, fand Carsten, sie solle üben, in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen, und so verbrachte jeweils einer von uns viele, viele Nächte neben ihrem Bett auf der überzähligen Matratze und hielt ihre Hand, bis sie erschlaffte. Ich vermisste die Nähe ihres kleinen, warmen Körpers bis heute jedes einzelne Mal, wenn ich ins Bett ging, aber ich verstand, dass es nützlich für sie war, alleine schlafen zu können. Jetzt zum Beispiel konnte sie gemeinsam mit ihrer neuen besten Freundin im eigenen Zimmer übernachten.
Ich schlug vor, Danutas vertrautes Bettzeug aus ihrem Haus zu holen, aber das wollte Kasia nicht. Auf meinem riesigen Dachboden fanden sich noch von meiner Großmutter ein paar Bettdecken, die nach all den Jahren vermutlich mehr Milbenkot als Daunen enthielten. Ich hatte Zahnbürsten vor Kurzem in einer Dreierpackung gekauft, Danuta konnte sich sogar eine Farbe aussuchen.
Als die Kinder im Garten auf den beiden Schaukeln saßen und laut sangen, setzten Kasia und ich uns auf die Terrasse und tranken Kaffee. Seit einer Stunde piepte Kasias Telefon immer wieder, es hatte auch geklingelt, aber sie hatte den Anruf nicht angenommen. Jetzt, da wir saßen, schaltete sie es auf stumm.
»Dein Mann weiß nicht, wo du bist?«
Kasia knurrte und schüttelte dann kaum sichtbar den Kopf. »Aber immerhin interessiert es ihn offenbar, jetzt, wo er von der Arbeit nach Hause gekommen ist.«
»Rechtlich gesehen ist das schwierig, weißt du.«
»Das ist mir egal.«
»Du könntest ihm einfach kurz antworten. Ich verstehe, wenn du ihn schmoren lassen willst, aber du musst jetzt auch strategisch denken. Du kannst dir langfristig keinen Fehler erlauben.«
»Aber was, wenn es der Fehler wäre, ihm zu schreiben?«, sagte Kasia.
Die Haare der schaukelnden Mädchen wehten und fingen das Nachmittagslicht ein, sie sahen aus wie seltsame, deformierte Feen. Ich machte ein paar Fotos.
»In jedem Fall sollten wir nachher deine Verletzung dokumentieren, wenn wir den Verband erneuern«, sagte ich. »Gibt es noch andere Stellen?«
»Du sollst gar nichts dokumentieren.«
»Weil du ihn sowieso nicht anzeigst?«
Sie schwieg.
Und ich schwieg auch. Erbärmlich feige war ich. Denn im Grunde wusste ich genau, was zu tun war, man konnte es überall nachlesen: Daten notieren, Nachrichten speichern, Fotos machen. Und in einem günstigen Moment alle wichtigen Dokumente sichern. Beratungsstellen aufsuchen. Zur Polizei gehen.
Aber all das war wie das Eingeständnis einer Unumkehrbarkeit, es unterstellte Bösartigkeiten, schien die bloße Möglichkeit eines Ausrutschers, einer friedlichen Lösung, ja, vor allem jeder Art von Zukunft nach Plan für undenkbar zu erklären. Das Lachen der Mädchen auf der Schaukel, das Summen der Bienen im Klee, der Kaffeeduft, der aus unseren Tassen aufstieg, all das machte, dass Vernünftiges unvernünftig erschien. Man musste all das schwärzen, um pragmatisch zu werden, musste es als das sehen, was es war: eine Illusion von Frieden. Vielleicht musste man kein so großer Feigling sein, um den Mut dazu nicht aufzubringen.
Sieben Mal gingen Frauen im Schnitt zu ihrem gewalttätigen Mann zurück, bevor sie sich endgültig trennten. Das hatte ich gelesen. Wer wusste schon, ob es bei Kasia ein erstes oder ein siebentes Mal war.
»Du bist also sicher, dass es nichts gibt, was ärztlich untersucht werden müsste?«, fragte ich.
»Das machst du doch sehr schön mit deinen Verbänden. Woher kannst du das?«
»Meine Mutter war Arzthelferin.« Ich trank einen Schluck Kaffee. Und weil meine Mutter Arzthelferin gewesen war, auch noch in einer Praxis für Kinder- und Jugendmedizin, hatte ich auch eine Ahnung davon, warum Kasia sich nicht untersuchen lassen wollte. Bei Verdacht auf häusliche Gewalt konnte es eine Meldung ans Jugendamt geben, wenn Kinder involviert waren. Was dann folgte, war oft kaum noch kontrollierbar.
»Meine Mutter war Zahntechnikerin«, sagte Kasia versonnen. Offenbar waren die Themen Anzeige und Arztbesuch für sie erledigt. Die Erleichterung darüber, dass damit auch mir all das vorerst erspart bleiben würde, machte mich ein wenig schwindelig. Die Mädchen hatten angefangen, vor Entsetzen und Freude kreischend von den Schaukeln abzuspringen. Immerhin hatte ich Kasia angeboten, über Nacht hierzubleiben, und sie hatte eingewilligt. Sprach das für ein erstes oder für ein siebentes Mal?
*
Es war schon Abend, als das Telefon klingelte. Das Festnetztelefon, dessen Nummer online und im guten alten Telefonbuch zu finden war. Kasia war mit den Mädchen im Badezimmer und duschte sie ab nach einem Tag voller Schweiß und Staub und Schokolade, ich hörte sie quietschen und lachen, und Kasias Lachen zwischen den hohen Tönen der Kinder war rau und tief und unglaublich interessant.
»Hier ist Martina Voß«, sagte ich und ärgerte mich im selben Moment. Hatte ich mir nicht vorgenommen, mich nicht mehr mit meinem vollen Namen zu melden? Ich klang wie ein kleines Mädchen.
»Martina?«, sagte eine hohe männliche Stimme am anderen Ende. »Ist meine Frau bei dir?«
»Nein«, sagte ich viel zu schnell.
»Hol sie mal ans Telefon. Ich will mit ihr reden.«
»Sie kann gerade nicht«, sagte ich. »Ich lege jetzt auf.«
»Halt. Martina, warte. Wann kommt sie nach Hause?«
»Heute ganz sicher nicht. Sie muss sich erst mal erholen.«
»Sag ihr, es tut mir leid.«
Ich legte auf. Mein ganzer Körper zitterte. Noch nie hatte ich am eigenen Leib erfahren, was ich früher so oft in Büchern gelesen hatte: Mir schlotterten die Knie. Ich hockte mich direkt vor dem Telefontisch auf den Boden und versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Was, zum Teufel, war an einem Anruf so bedrohlich, dass mein Körper sich benahm, als hätte ein Einbrecher vor mir gestanden? Von einer Stimme aus einem Telefonhörer ging keine Gefahr aus, es war eine kindische, vorauseilende Angst. Hysterisch.
Ich ging in den ersten Stock, um Kasia dabei zu helfen, die Mädchen ins Bett zu bekommen. Wir zogen ihnen Schlafanzüge an, lasen ihnen vor, sangen jede ein Lied – ein deutsches, ein polnisches, weil ich Kasia darum bat –, ließen das Fenster gekippt stehen, damit frische Luft hereinkam, ließen das Rollo offen, damit es nicht dunkel wurde, küssten unsere Kinder, gingen wieder nach unten.
»Übrigens hat vorhin dein Schrank angerufen«, sagte ich, als wir in der Küche standen, unschlüssig, was jetzt passieren sollte. Für einen Moment begriff Kasia nicht, was ich meinte. Dann sagte sie: »Was wollte er?«
»Er hat sich entschuldigt.«
»Hast du was zu trinken da?«, fragte Kasia. »Was Richtiges?«
Ich verwies sie auf die Speisekammer, in der sich womöglich noch Spirituosen aus grauer Vorzeit befanden, hoch oben im Regal und versteckt in einem Pappkarton, damit eine reine Kinderseele nicht einmal durch den Anblick von Alkohol befleckt werden konnte. Ich selbst hatte seit Jahren nichts getrunken, Carsten hatte sich auf Bier beschränkt und das vor allem außer Haus nach den Übungen der Freiwilligen Feuerwehr. Ich hörte Kasia kramen und wühlen, dann rief sie: »Na, sieh mal einer an.«
Heraus kam sie mit triumphierendem Gesichtsausdruck und einer Flasche, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte. Hochprozentiges hielt sich ja ewig. Die Flasche enthielt eine urinfarbene Flüssigkeit und einen Halm, auf dem Etikett war ein Bison oder Büffel abgebildet, insgesamt sah das weder schmackhaft noch vertrauenerweckend aus.
»Żubrówka«, sagte Kasia. »Jetzt brauchen wir nur noch Apfelsaft.«
Den hatten wir kistenweise. Der Apfelbaum im Garten hatte im letzten Herbst so viele Früchte auf den Boden fallen lassen, dass mir nichts anderes eingefallen war, als sie alle zu sammeln und zur Mosterei zu bringen. Dort hatte ich im Gegenzug Gutscheine für Apfelsaftrabatt bekommen.
Wir zogen um auf die Terrasse, ich brachte zwei Gläser, Kasia die Büffelflasche und Apfelsaft. Es war warm, die Sonne zerschmolz über dem Feld, das im Westen an den Garten grenzte. Das Haus meiner Großmutter stand an einer kurzen Stichstraße, die zwei Grundstücke mit der Dorfstraße verband. Mein Nachbar machte die allabendliche Kontrollrunde um sein Haus. Danach würde er auf den Stufen vor der Tür eine Zigarette rauchen und schließlich gegen den kleinen Mandelbaum pinkeln, bevor er mit überraschend zartem Tonfall die Katze hereinlockte und verschwand. Ich grüßte, und er hob lässig eine Hand. Er war ein lonesome Cowboy, der die Zigarette beim Sprechen im Mundwinkel behielt und wortlos seinen Akkuschrauber über den Zaun reichte, wenn ich ihn leihen wollte.
Kasia goss uns beiden Büffelwodka ins Glas und füllte ihn mit Apfelsaft auf. »Das nennt man Apfelkuchen«, sagte sie.
Es war frappierend, wie sehr das Getränk nach Kuchen schmeckte. Nach Mürbeteig und Äpfeln. Der Alkohol war überhaupt nicht zu bemerken, nichts brannte in der Kehle, nichts wärmte in der Brust. Man brauchte zwischen den Schlucken keine Pausen zu machen.
»Wenn du ihm nichts gesagt hast, woher weiß dein Mann, dass du hier bist?«, fragte ich. »Hat uns irgendwer gesehen? Oder haben die im Kindergarten vielleicht erzählt, dass ich heute Danuta mit abgeholt habe?«
»Buschfunk«, sagte Kasia.
»Meinst du, der hat alle angerufen und sich durchgefragt, bis er jemanden finden konnte, der heute Morgen aus dem Fenster gesehen hat? Oder hat ihm jemand Bescheid gesagt, hat uns gesehen, sich gedacht: Nanu, das ist doch die Alte vom Schrank, weiß der, wo die sich rumtreibt? Das ist doch pures Dorfklischee.«
Kasia lachte rau und ein bisschen unsicher. »Buschfunk heißt die Gruppe der Feuerwehr. Der braucht da nur zu schreiben, dass seine Frau weg ist. Dann dauert es keine fünf Minuten. Die haben ihre Agenten überall.«
»Hinter den Gardinen an der Dorfstraße, oder was?«
»Was ist mit deinem Nachbarn da drüben? Ist der in der Feuerwehr?«
»Na sicher.«
»Eben. Und dann war heute dein Ex hier und hat mich gesehen. Ist der in der Feuerwehr?«
»Nicht als aktives Mitglied, er wohnt jetzt in einer anderen Gemeinde, in einer Art Junggesellenbude. Aber er macht bei den Übungen noch mit.«