10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €
Man kann ja nicht einfach sterben, wenn die Dinge noch ungeklärt sind. Das denkt Katharina, seit sie vor kurzem das Etwas in ihrer Brust entdeckt hat. Niemand weiß davon, und das ist auch gut so. Denn an diesem Wochenende soll ein letztes Mal alles ganz normal sein. Und so entrollt sich das Chaos eines ganz normalen Freitags vor ihr. Während sie aber einen abgetrennten Daumen versorgt, ihren brennenden Trockner löscht und sich auf den emotional nicht unbedenklichen Besuch eines Studienfreundes vorbereitet, beginnt ihr Vorsatz zu bröckeln, und sie stellt sich große Fragen: Ist alles so geworden, wie sie wollte? Ihre Musik, ihre Kinder, die Ehe mit dem in letzter Zeit viel zu abwesenden Costas? Als der Tag fast zu Ende ist, beschließt sie, endlich ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen, den sie liebt.- Die Heldin in Mareike Krügels rasantem, klugen Roman gehört ganz sicher zu den einnehmendsten Frauengestalten in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2017
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de/literatur
ISBN 978-3-492-96574-3
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Zero Media
Covermotiv: Moore, Megan/Private Collection/Bridgeman Images
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Zitat
Ich will nicht ...
Drinnen empfängt mich ...
Ich stelle mich ...
Welches Lied singe ...
Es ist Viertel ...
Das Reiterstübchen ist ...
Im Auto klingelt ...
Und Heinz hat ...
»Theo kann hier ...
Die Straßenlaternen beleuchten ...
Das Haus ist ...
Wieder zu Hause, ...
Als ich zurückkomme, ...
Ich raffe Mantel, ...
Mir ist nicht ...
Am Ende läuft’s auf eins hinaus, ob du erstickst oder verhungerst, einmal muss es doch gestorben sein.
J. K. A. Musäus, Volksmärchen der Deutschen
Ich will nicht sterben, und ich will auch nicht durch diese Tür gehen. Schultüren sind der Eingang zur Hölle. Aber es hilft nichts, meine Tochter braucht mich.
Die Tür ist schwer und öffnet sich nach außen. Sofort schlägt mir der Geruch entgegen, den diese Schule wie alle anderen hat, die ich kenne, abgesehen von der Musikschule, in der ich arbeite, dort riecht es nach Staub und Kolophonium. Von Schulgeruch wird mir übel. Das ist eine psychosomatische Reaktion, die sich mit den Jahren einfach nicht abnutzt. Ich habe Helli bereits unzählige Male abgeholt, und immer noch rebelliert mein Magen.
Der Gang, dekoriert mit den Werken eines Kunstkurses, geht geradeaus, dann um eine Ecke und um noch eine, schon steht man vor der Glastür, die den Teil mit Schulgeruch und Linoleumboden vom behaglichen Teil mit Kaffeeduft und Teppich trennt. Ich sehe Helli sofort. Sie sitzt auf einem Stuhl vor dem Sekretariat und hat eigenartige Hörnchen in der Nase. Sie still sitzen zu sehen ist ungewohnt. Ich beschleunige meine Schritte.
In der Zeit meiner Vorpubertät, als ich etwa so alt war wie Helli jetzt, litt ich an einem Syndrom, für das niemand eine Ursache finden konnte, es gab nur vage Vermutungen wie Hormonumstellungen und Wachstum: Alle paar Wochen, ohne Vorankündigung und erkennbare Regelmäßigkeit, wurde ich in der Schule von einem Kotzanfall heimgesucht. Nach ein paar schlimmen Szenen während des Unterrichts und in der Pause lernte ich, so intensiv in mich hineinzuhorchen, dass ich die subtilen Vorzeichen, die mein Körper sandte, zu lesen verstand und es fortan immer rechtzeitig zum Klo schaffte. Dort übergab ich mich geräuschlos in mehreren Schwallen, wie ich es in meinem späteren Leben erst wieder während der Schwangerschaften erlebt habe. Trotzdem fühlte es sich in diesen Momenten so an, als würde ich sterben. Auch wenn der Verstand mir sagte, dass das nicht sein konnte, war das Gefühl eindeutig und verlor niemals seinen Schrecken. Noch Stunden oder auch Tage danach war ich zittrig und schwach, meine Sinne waren überfordert von den einfachsten Eindrücken – das Licht zu hell, die Stimmen zu laut. In dieser Zeit fühlte ich mich wie ein Zombie, nicht zu Ende gestorben, und das Leben, das weiterging, erschien mir unmöglich zu bewältigen. Als wäre mit jedem Anfall ein Versprechen nicht eingelöst worden, als hätte ich nur überlebt zu einem Preis, den ich eigentlich nicht zu zahlen bereit war.
Beim Näherkommen entpuppen sich die Hörnchen in Hellis Nase als zusammengedrehte Taschentuchfetzen, die als Tampons in den Nasenlöchern stecken. Sie sind bereits durch und durch hellrot und fallen heraus, als sie aufspringt, um mich zu begrüßen.
»Na endlich«, sagt sie.
»Ich war gerade einkaufen. Schneller ging nicht.«
Hellis Nase tropft, sie beugt sich vor und trifft zielsicher den Teppich.
Sie ist anders als ich, sie hat nichts dagegen zu kotzen, zu bluten oder auf andere Art Dreck und Unannehmlichkeiten zu verursachen.
Ich reiche ihr eine Packung Taschentücher, die ich aus dem Auto mitgenommen habe, sie reißt daran herum und drückt sich schließlich einige zerknüllte Tücher unter die Nase. Langsam richte ich den Blick nach unten, um die Bescherung abzuschätzen. Hellis Schuhe haben etwas abbekommen, auf dem Teppich führt eine regelrechte Blutspur von der Glastür zum Sekretariat. Ich folge ihr, klopfe und stecke den Kopf in das Büro, um Bescheid zu sagen, dass ich nun da bin und meine Tochter entferne.
»Frau Theodoroulakis«, ruft mir die Sekretärin zu, deren Name so banal ist, dass ich ihn jedes Mal sofort wieder vergesse: Lehmann? Kaufmann? Neumann?
»Ja?«
»Kommen Sie bitte mal hier rein, und schauen Sie sich das an.«
Das habe ich befürchtet. Während Helli auf dem Flur wartet, betrete ich das Sekretariat, in dem Frau Neumann am Boden hockt und wischt.
»Das geht so nicht, Frau Theodoroulakis, dass Ihre Tochter hier alles vollblutet. Ich habe für so was keine Zeit. Jetzt muss ich den ganzen Vormittag schrubben, und das Zeug geht einfach nicht raus. Ich sehe nicht ein, dass ich das machen muss. Ich bin doch keine Putzfrau.«
Helli muss eine längere Zeit vor Frau Neumanns Schreibtisch gestanden haben, dort ist ein dekoratives Tropfenmuster auf dem Teppich zu sehen. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie Helli vorgebeugt dastand und schadenfroh tropfte, während Frau Neumann fieberhaft meine Nummer wählte und gleichzeitig mit der anderen Hand in ihren Schubladen nach Taschentüchern wühlte. An einer Stelle auf dem Boden entdecke ich ein weißes Häufchen. Offenbar hat Frau Neumann es mit Salz versucht, so wie man es bei Rotwein macht.
»Blut geht nur mit kaltem Wasser raus«, sage ich.
Ich bin Expertin für Flecken, seit Helli auf der Welt ist. Frau Neumann richtet sich auf und hält mir den Lappen hin.
»Dann machen Sie mal, wenn Sie wissen, wie das geht. Solche Leute habe ich ja gefressen. Gute Ratschläge, aber immer nur danebenstehen.«
Etwas überrumpelt nehme ich den Putzlappen entgegen, der warm ist und damit nutzlos. Frau Neumann hat die Arme verschränkt und guckt streng. Obwohl sie klein und rund ist, wirkt sie bedrohlich.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nur, dass draußen auf dem Flur Helli wartet und ungeduldig weitertropft. Ich weiß, dass es eine ganze Spur wegzureiben gilt, die nicht an der Glastür endet, sondern bis in einen der Klassenräume tief in den Schuleingeweiden führt, wo es nach Kotzanfällen riecht. Ich weiß, dass es gleich klingelt und die Lehrer von allen Seiten herbeiströmen werden, und auf keinen Fall möchte ich vor ihren Füßen herumwischen müssen. Etwas Schlimmeres kann ich mir gerade kaum vorstellen.
Vor mir steht Frau Neumann und schnalzt gereizt mit der Zunge, weil ich noch immer nicht angefangen habe. Sie hat natürlich recht. Sie ist keine Putzfrau, und möglicherweise gibt es auch für sie wenig Schlimmeres, als vor den versammelten Lehrkräften auf dem Boden herumzukriechen. Sie tut mir leid, aber es ist auch nicht meine Aufgabe, den Schulteppich zu reinigen. Meine Aufgabe ist, mich um mein Kind zu kümmern. Ich drücke ihr den Lappen zurück in die Hand und verlasse flink den Raum. Draußen greife ich Hellis Schultasche und Jacke, schnappe nach ihrem Arm und ziehe sie hinter mir her.
»Na, hören Sie mal«, ruft uns Frau Neumann nach. »Das glaub ich jetzt nicht. Bleiben Sie gefälligst hier. Machen Sie die Sauerei weg. Ich bin doch keine Putzfrau.«
Helli und ich beginnen zu rennen, um die Ecken, den langen Gang entlang und durch die schwere Tür, bis wir das Auto erreicht haben, das ich allen Verboten zum Trotz direkt vor dem Schulgebäude geparkt habe. Hastig steigen wir ein.
»Fahr los, schnell«, ruft Helli lachend. »Sonst bewirft uns die alte Hexe durchs Fenster mit Putzlappen.«
Sie hat sich auf den Beifahrersitz gesetzt, ich schaue sie mit hochgezogenen Brauen an. Ihre Nase hat aufgehört zu bluten, vermutlich in dem Moment, als wir das Schulgebäude verließen.
»Ab nach hinten«, sage ich.
»Nö.«
Ich bin nicht sicher, ob die Bewegung in meinem Augenwinkel tatsächlich von der Schulsekretariatshexe kommt, die gerade aus dem Fenster klettert, um mir noch einmal nachdrücklich zu versichern, dass sie keine Putzfrau sei, aber ich entscheide, keine Zeit für Diskussionen mit meiner Tochter zu haben, und gebe Gas.
Obwohl die Frontscheibe beschlägt und ich bald kaum noch etwas sehen kann, fahre ich zügig vom Schulgelände und fühle mich erst in Sicherheit, als wir die Dreißigerzone vor der Bushaltestelle erreicht haben. Ich steuere in die Haltebucht und lasse den Motor wegen der Heizung laufen. Das Gebläse steht auf volle Kraft, es sieht nach einem aussichtslosen Kampf aus, aber ich weiß, dass am Ende immer die heiße Luft gewinnt.
»Was war denn los, mit Frau Neumann eben?«, frage ich. »So ist die doch sonst nicht.«
»Ihr Mann ist weg, da ist die etwas neben der Spur«, sagt Helli.
»Was heißt ›weg‹?«
»Abgehauen oder gestorben, eins von beidem.«
»Das ist aber nicht ganz das Gleiche.«
»Jedenfalls ist er weg, und seitdem ist die komisch. Sie heißt übrigens Kaufmann.«
»Vermutlich macht es für die Psyche wenig Unterschied, ob gestorben oder abgehauen«, sage ich, doch im selben Moment denke ich, dass die Psyche sich irrt. Der Unterschied ist enorm, und leben ist meistens die bessere Variante.
Helli nickt, als verstünde sie, was ich sage. Womöglich tut sie das sogar.
Ich hole mein Mobiltelefon hervor und suche nach der Nummer des Kindergartens. Mein Musikkurs, der sowieso nur eine halbe Stunde dauert, soll in drei Minuten beginnen. Es lohnt sich nicht, überhaupt noch dort hinzufahren.
Kirsten nimmt ab.
»Hier ist Katharina«, sage ich. »Ich kann heute nicht kommen. Meine Tochter ist verletzt, ich muss sie aus der Schule abholen. Ein Notfall.«
»Ein bisschen kurzfristig, nicht?«
»Wir müssen vielleicht ins Krankenhaus. Ich hole die Stunde nach, wenn die Eltern das wollen. Aber erst nach Weihnachten.«
»Gebe ich so weiter«, sagt Kirsten und legt einfach auf. Sie ist nur freundlich zu Kindergarteneltern und Vorgesetzten.
Auf der Frontscheibe haben sich zwei durchsichtige Inseln gebildet, groß genug, dass ich die Straße sehen kann, wenn ich mich vorbeuge. Ich blinke und fahre los. Helli hat den Eiskratzer gefunden, den ich heute Morgen in den Beifahrerfußraum geworfen habe. Er steckt in einer Art Handschuh mit der Form eines Bibers, der die Hände beim Kratzen warm halten soll. Helli schiebt die Hand in den Biber, lässt ihn wie eine Puppe tanzen und mit näselnder Stimme sprechen: »Wir müssen leider total schnell ins Krankenhaus, Frau Kindergarten. Bei meiner Tochter blutet das Gehirn aus der Nase, und sie wird mit jeder Minute dümmer. Tut mir sehr leid. Ehrlich.«
Dabei sieht Helli aus wie einem billigen Horrorfilm entstiegen. Sie hat getrocknetes Blut an Kinn und Nase ihres blassen, runden Gesichts. Auf ihrem Oberteil, dessen genaue Bezeichnung ich nicht kenne, weil heute alles anders heißt als früher, sind münzgroße Blutflecken, genau dort, wo sich hügelige kleine Brüste abzeichnen, von denen ich nicht genau sagen kann, ob sie schon frühpubertär oder noch vom Babyspeck übrig sind. Blutspritzer sind auch auf ihrer Hose, die vermutlich ebenfalls einen eigenen Namen hat – Chino oder Cargo oder Wurstpelle. Ihr Haar ist strähnig und bedürfte dringend einer Wäsche, es wirkt noch farbloser als gewöhnlich.
Es wäre sicher leichter für Helli, unattraktiv zu sein, wenn wir sie nicht Helena genannt hätten. Aber wer konnte das ahnen. Costas ist ein olivhäutiger, schwarzhaariger Grieche. Alex kommt immerhin nach ihm, auch charakterlich. Er jedenfalls wäre viel zu stolz, so einen Blutsturz zu veranstalten, nur um ein paar Stunden früher nach Hause zu kommen.
Helli dagegen hat irgendein magisches Blutgefäß in ihrer Nase, das auf kräftiges Anstupsen reagiert. Wenn sie sich in der Schule langweilt, drückt sie dort herum, bis das Blut strömt. Und es strömt tatsächlich, es quillt hervor, es tropft und läuft und verwandelt ihr Gesicht innerhalb von Minuten in etwas, dessen Anblick jeden in ihrer Nähe in Aktionismus verfallen lässt.
Es ist das vierte Mal, dass ich sie in den letzten zwei Wochen wegen Nasenbluten abholen musste. Schwindel und Kopfschmerz dichtet sie inzwischen dazu, um die Sekretärin so zu beunruhigen, dass die mich am Telefon zu mehr Eile antreibt. Ich könnte jetzt einfach umdrehen und Helli zur Schule zurückfahren, damit sie auch die letzten Schulstunden absitzt, aber vermutlich würde ihre Nase sofort wieder losbluten. Außerdem fürchte ich mich vor Frau Kaufmann und ihrer Psyche.
Vielleicht sollte ich mit Helli jetzt gleich in die Notaufnahme fahren, einfach um ihr das Szenario, mit dem sie spielt, einmal vorzuführen. Ich könnte Nägel mit Köpfen machen und das abgerichtete Blutgefäß veröden lassen, um dem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Aber ich brauche mir nur Hellis Geschrei vorzustellen, wenn sich ihr ein Arzt mit Lötkolben nähert, um diesen Plan zu verwerfen. Helli und Ärzte sind eine Geschichte für sich und ein Grund, weshalb ich selber nie zum Arzt gehe; Helli hat meinen Bedarf an Arztbegegnungen seit elf Jahren mehr als gedeckt. Trotzdem kann ich es nicht lassen, mich für den blöden Kommentar des Eiskratz-Bibers ein bisschen zu rächen.
»Wir fahren wirklich ins Krankenhaus«, verkünde ich. »Wir sollten das mit deiner Nase endlich abklären lassen. Kann doch sein, dass da was ist mit deinen Adern oder den Nebenhöhlen.«
Sie fängt sofort an zu weinen. Das wollte ich natürlich nicht. Ich versuche, sie während der Fahrt zu streicheln, doch sie weicht aus, schluchzt dramatisch auf und schlägt nach mir.
»Schon gut, kein Krankenhaus«, murmele ich.
Sie schluchzt noch ein paarmal, dann ruft sie plötzlich: »Guck mal, was für eine blöde Mütze der Typ da aufhat«, und ich weiß, die Krise ist vorbei. Hellis Stimmungen sind wie das Wetter in Irland, sagt Costas immer. Wenn es dir gerade nicht passt, warte einfach ein paar Minuten.
Wir arbeiten uns durch die Vorstadt und den Streckenabschnitt, der über Land führt, vorbei an den Windrädern, den Höfen, durch Dörfer und Alleen. Ich nehme absichtlich den längeren Weg, weil dort weniger Verkehr ist, dann erreichen wir den Ortsrand, Einfamilienhäuser aus rotem Klinker, hier wie überall. Der Himmel, den ich durch die inzwischen freie Frontscheibe sehen kann, ist hell und weit. Ich weiß, dass da, wo er am Rand fahler wirkt, das Meer liegt. Dort endet das Land.
Mein Telefon klingelt. Es ist Costas, also spare ich mir das Anhalten und reiche das Telefon an Helli weiter. Sie freut sich. Sie mag Telefonieren.
»Hallo, Papa«, ruft sie. Dann lauscht sie eine Weile. Dann: »Nee, wir sitzen im Auto, sie hat mich gerade abgeholt. Nasenbluten.« Dann: »Ja, schon wieder. Ist aber jetzt vorbei.« Dann: »Ja klar, alles ganz normal. Und bei dir?« Dann: »Alles klar. Bis dann.«
Sie fängt an, auf den Tasten meines Telefons herumzudrücken, und scheint mich völlig vergessen zu haben.
»Helli?«, frage ich. »Was wollte er?«
»Er hat sich irgendwie Sorgen gemacht. Weil du dich nicht gemeldet hast oder was weiß ich. Jedenfalls habe ich ihm gesagt, dass hier alles ganz normal ist.«
Und es rührt mich beinahe, dass sie es normal findet, wenn ich meinen Musikkurs absage, weil ihre Nase einen Teppich ruiniert hat und wir vor einer aus Trauer irren Schulsekretärin fliehen müssen.
Wenn alles normal sein soll, ist es nicht gut, einen Ehemann zu haben, der für seine Familie fast nur noch telefonisch zur Verfügung steht. Seit Costas den Job in Berlin hat, streiten wir viel. Streitereien sind der Preis, den man für eine Wochenendbeziehung zahlt. Es macht die Abschiede leichter, und selbst nach einem einigermaßen harmonischen Wochenende kramen er und ich in letzter Minute ein paar Themen hervor, über die wir uns verlässlich in die Wolle kriegen. Dann verzeihen wir einander im Laufe der Woche per SMS, E-Mail, Skype oder Telefon, lassen die Sehnsucht wachsen und wirken, bis das Wiedersehen am Freitagabend unter Garantie eine Enttäuschung werden muss. Dann kracht es einmal heftig, beruhigt sich über Nacht und beschert uns einen friedlichen Samstag. Erst am Sonntagabend, bevor Costas wieder in den Zug steigt, geraten wir aneinander, damit wir für die kommenden Tage etwas haben, das wir uns gegenseitig verzeihen können.
Diesmal aber haben wir mehr Zeit als sonst, bis zum übernächsten Wochenende, und deshalb dauert auch das Versöhnen länger als gewöhnlich. Wir sind irgendwo in der Mitte des Prozesses, und das bedeutet, ich beantworte seine SMS nicht sofort und halte die Telefonate kurz und informativ. Dabei gäbe es viel zu besprechen bezüglich Hellis Testungen, außerdem habe ich ihm mehrere Listen durchgegeben mit Ideen für Weihnachtsgeschenke, von denen ich annehme, dass sie in Berlin leichter zu bekommen sind.
Immerhin fällt Costas meine Einsilbigkeit auf und bringt ihn zum Grübeln, sonst hätte er nicht mitten am Vormittag angerufen. Dabei möchte ich doch nur, dass er meinen Unmut spürt, nicht, dass er sich Sorgen macht. Um mich muss man sich keine Sorgen machen.
Das Telefon ist für Helli mittlerweile uninteressant geworden. Es landet in meinem Schoß und rutscht von da aus in den Fußraum. Ihre Finger sind unermüdlich. Sie verstellen die Temperatur der Heizung, ändern die Richtung des Gebläses, betätigen den Warnblinker, dabei schaut sie ihren Fingern beim Herumfummeln zu wie eine Mutter Kindern beim Wuseln im Sandkasten. Schließlich stellt sie die Musikanlage an. Die CD, die anspringt, ist eine Aufnahme der Dichterliebe von Schumann, in der Einspielung von Josef Protschka und Helmut Deutsch. Ich habe sie heute Morgen eingeschoben. Die Musik beginnt, und ich muss aufpassen, dass ich die Augen offen halte. Beim ersten Takt schließe ich sie sonst immer und ziehe hörbar zischend Luft ein. Protschka singt gerade das dritte Lied: »Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne …«
Der Bezug, den dieses Lied zu Dantes Göttlicher Komödie hat, war mir damals wie Schuppen von den Augen gefallen, als ich während des Studiums anfing, jedes Wort, jeden Akkord auf die Goldwaage zu legen. Anders als mir die gängige Sekundärliteratur weismachen wollte, erzählte dieses kleine Gedicht offenbar nicht von Blumen und Vögelchen, sondern von christlichen Symbolen und davon, dass es möglich ist, jemanden so sehr zu lieben, dass man bereit ist, sich von allem abzuwenden, was einem bis dahin Halt gegeben hat. Ich hatte Dante gelesen, weil ich seinerzeit ganz einfach die Muße hatte für schwierige Texte, während ich mich heute meist damit begnügen muss, die Tageszeitung zu überfliegen und abends über einem mittelmäßigen Buch einzuschlafen.
Damals, als ich anfing, wirklich zuzuhören, sodass ich die Verbindung zwischen Heine, Schumann und Dante entdeckte, konnte mich die simple Erkenntnis, dass Dinge zusammenhängen, die zuvor in meinem Gehirn ohne Beziehung zueinander umhergeschwebt waren, tagelang in Aufregung versetzen. Inzwischen kann ich nicht mehr unterscheiden, ob alles mit allem zusammenhängt oder im Gegenteil alle Verbindungen eine reine Illusion meines Bewusstseins sind, das sich sehnlichst wünscht, es möge so etwas wie Logik oder wenigstens Wahlverwandtschaften bei den Dingen und Ereignissen geben. Schumann jedenfalls hat immer versucht, Leben und Werk so miteinander zu verweben, dass das eine ohne das andere undenkbar wird. Es wird sich schwerlich um einen Zufall handeln, wenn die Motive sich ähneln. Mir hat das immer sehr imponiert, und ich hätte es gerne genauso gehalten, aber ich fürchte, es gibt bei mir nichts zu verknüpfen. Es gibt kein Werk, es gibt nur Leben. Schon beginnt das fünfte Lied, das mit dem Lilienkelch, es hat einen wunderbaren Anfang. Zart, dicht und intensiv. Costas findet, ich rede über Musik wie andere über Essen.
»Scheiße, Mama«, brüllt Helli.
Es gibt einen Knall und ein hässliches Knirschen auf ihrer Seite, ich bremse und öffne die Augen. Der Wagen steht halb auf dem Bürgersteig, und Helli schreit mich an:
»Was machst du denn? Wir hätten tot sein können.«
Sie zeigt vorwurfsvoll auf den Laternenpfahl, den wir mit dem Seitenspiegel gestreift haben müssen.
Ich habe immer gedacht, es wäre praktisch, wenn jeder seine eigene Todesursache kennen würde. Es wäre ein unschlagbares Mittel in der Therapie von Angstpatienten. Zum Beispiel weiß ich, dass ich in diesem Augenblick aufgebracht sein sollte und zugleich abgrundtief erleichtert, schließlich hätte sonst was passieren können, tatsächlich aber sitze ich einfach da und fühle ein inneres Achselzucken, denn ich weiß, wie mein eigenes Ende aussehen wird, und es hat nichts mit einem Autounfall zu tun. Seit zwei Wochen weiß ich es. Da habe ich das Etwas entdeckt. Seitdem ist die Sache klar. Das Etwas sitzt in meiner linken Brust und tut alles, was es nicht tun soll: Es wird nicht kleiner, ist nicht beweglich und schmerzt nicht. Es ist, was es ist. Aber es ist schließlich auch nicht seine Aufgabe, mir Hoffnung zu machen.
Die normale Frau Anfang vierzig hat eine Gynäkologin ihres Vertrauens, nehme ich an. Ich habe so etwas nicht, wie gesagt, ich gehe nicht zu Ärzten. Das wird sich nun ändern, und ich werde lernen müssen, wie Helli zu werden, denn ich werde Dreck machen und Unannehmlichkeiten bereiten. Ich werde nach und nach weniger werden, mich immer mehr von der Person entfernen, die ich jetzt bin. Und irgendwann werden auch die anderen einsehen und begreifen, was mir jetzt schon klar ist, weil es verborgen in meinem Inneren längst begonnen hat: dass es ans Sterben geht.
Ich weiß das alles. Aber Verdrängen hat seine Zeit, und Handeln hat seine Zeit, wie die Bibel so ungefähr sagt, und diese Zeit ist nicht jetzt. Vielleicht beginnt sie am Montag. Dann werde ich vernünftig sein und bei einer der Gynäkologinnen anrufen, deren Adresse ich mir vor ein paar Tagen aus dem Telefonbuch besorgt habe. Es gibt eine Gemeinschaftspraxis, in der zwei Ärztinnen arbeiten, die beide Birte mit Vornamen heißen, eine mit th und eine ohne. Ich stelle mir vor, dass die beiden sich im Studium kennengelernt haben und zufällig aus derselben Gegend kamen, dieser Gegend hier oben an der Ostsee, wo die Eltern ihre Kinder seit Ewigkeiten Birte nennen, ohne sich von irgendwelchen Moden beirren zu lassen, sodass sich eine Freundschaft entwickelt hat, die am Ende dazu führte, dass sie eine gemeinsame Praxis in ihrer Heimatstadt eröffneten. Zu so jemandem möchte ich, wenn es denn schon sein muss. Ich werde vermutlich die Birte ohne th auswählen, denn ich habe selber zu viel davon in meinem Namen.
Am Montag also werde ich die Maschinerie in Gang setzen, mich fügen und den vorgegebenen Weg gehen. Von Montag an darf alles anders werden. Montage sind Schwellentage. Jetzt ist Freitag, und die Aufgabe von Freitagen ist es, die Woche sanft ausklingen zu lassen. Man muss sie frei halten von allem Unbill. Man muss die Gedanken stoppen, bevor sie wie Flöhe zu hüpfen beginnen und von Untersuchungen zu Diagnosen springen, zu Operationen, Chemotherapien, Bestrahlungen und anderen Ideen, die wochenenduntauglich sind und die friedliche Stimmung verderben.
Immerhin kann Helli der Situation eine angemessene Dramatik abgewinnen. Sie steigt aus und brüllt auf dem Bürgersteig herum, dass wir hätten tot sein oder mindestens ein Schleudertrauma oder einen Totalschaden haben können, sodass sie heute Nachmittag nicht zum Reiten gekommen wäre, und dass ich verantwortungslos sei und nicht halb so gut führe wie Papa, dass wir womöglich den Laternenpfahl bezahlen müssten und dass sie nie wieder zu mir ins Auto steige, nie wieder. Ihr Mund stößt in der Kälte Wölkchen aus: ein kleiner, pummeliger, pfannkuchengesichtiger Feuerdrache.
Hinter uns hält ein SUV mit Bamberger Kennzeichen, dem eine ganze Familie entsteigt. Urlauber vermutlich, die entweder die Ostsee im Winter besichtigen oder später mit einem der Riesendampfer weiter nach Skandinavien reisen wollen. Bald ist Helli umringt von einer fränkischen Kinderschar, ein zotteliger Hund bellt aufgebracht. Die junge Mutter dazu, mit einem überdimensionalen Schal um den Hals, ringt ihre Hände und versucht dann, Helli mit einem Taschentuch das blutige Gesicht sauber zu wischen. Es gelingt ihr nicht, denn meine Tochter ist mit dem Toben noch nicht fertig und hält nicht still. Der Vater, der viel zu jung aussieht, um so viele Kinder zu haben, schaut zu mir ins Auto und fragt:
»Alles in Ordnung bei Ihnen? Wie ist das denn passiert?«
»Schumann«, sage ich. »Und vielleicht ein bisschen Glatteis.«
»Jaja.« Er lacht. »Die Norddeutschen und das kalte Wetter.«
Endlich steige auch ich aus. Ich bahne mir einen Weg durch die Kindermenge, bis ich vor Helli stehe, die zappelt und einen puterroten Kopf hat. Ich nehme sie in den Arm. Sie windet sich und kämpft, dann wird sie ruhig. Die Bamberger Mutter hält ihr noch immer das Taschentuch hin, ich nehme es und lächle dankbar.
»Sie hatte Nasenbluten vorhin«, sage ich zur Erklärung, aber die Frau wirft mir nur einen skeptischen Blick zu.
Ihr Mann begutachtet inzwischen den Schaden. Er bückt sich und reicht mir den Seitenspiegel, den der Laternenpfahl weggehobelt hat.
»Bei den neueren Modellen klappen die Spiegel einfach zur Seite«, sagt er. »Sie fahren einen der letzten Jahrgänge, von denen noch Sachen abbrechen.«
Während seine Frau ihre Kinder und den Hund zurück in den SUV treibt, tritt er zu Helli und mir und umarmt uns beide. Vielleicht macht man das so in Bayern.
»Am besten gleich nach Hause fahren und erst mal entspannen«, sagt er in mein Haar hinein. »Autounfall ist wie Zahnarzt, das geht aufs Immunsystem. Nicht wundern, wenn Sie sich morgen erkältet fühlen.«
»Vielen Dank«, sage ich schwach. Umarmungen machen etwas mit meiner Stimme, sie entziehen ihr die Energie.
Die Kinder winken aus den Fenstern, als der SUV weiterfährt. Helli winkt ebenfalls fröhlich und lacht.
Zurück im Auto reiche ich ihr den abgebrochenen Spiegel. Sie runzelt die Stirn und dreht ihn herum, dann betrachtet sie sich ausgiebig darin, und halb erwarte ich, dass sie ihn gleich fragen wird, wer die Schönste im ganzen Land sei.
»Kann man mit nur einem Seitenspiegel überhaupt fahren?«, fragt sie.
»Ja klar«, sage ich, als ich wieder starte.
Man kann alles Mögliche, wenn man muss.
Als Helli genug von ihrem Spiegelbild hat, fällt ihr plötzlich die Musik auf.
»Was hörst du eigentlich für einen Schrott?«, sagt sie, drückt ein Knöpfchen und beendet gnadenlos das Stück. Mein Herz macht einen kleinen Satz, wie es das immer tut in diesen Fällen – es hat sich noch nicht daran gewöhnt, nach all diesen Jahren, dass Vorgänge unterbrochen werden, dass Situationen zu keinem Ende kommen, sondern immer nur in andere Situationen übergehen. Mein Herz liebt Schlussakkorde.
Hellis Finger finden den Radioregler, suchen einen Sender, dann einen anderen, erhöhen die Lautstärke. Ich starre auf die Straße und fahre, tue nichts als fahren, lasse mich nicht ablenken von diesen wuselnden Fingern und schon gar nicht von der Musik, die aus den Lautsprechern dröhnt und die Helli offenbar für so gut befindet, dass ihre Finger zur Fensterkurbel wandern.
»Gebt uns ruhig die Schuld dafür, den ganzen Rest könnt ihr behalten«, singen Die Fantastischen Vier, die ich sogar kenne, und Hellis Körper ruckt dazu kaum merklich im Takt.
In meinem Notizbuch habe ich eine Liste, die ich jetzt gern ergänzen würde. Sie heißt Grammatikfehler in deutschen Liedtexten, die sich vermeiden ließen, wenn irgendjemand im Studio genug davon verstünde, um die Künstler darauf hinzuweisen.
Die Liste ist eine ganze Seite lang.
Die letzten Takte des Sprechgesangs gehen direkt über in »Last Christmas«. Ich bin froh, als kurz darauf unser Haus in Sicht kommt.
Helli rüttelt am Handschuhfach, dann beugt sie sich zu mir herüber und verstellt die digitalen Anzeigen hinter dem Lenkrad. Ich blicke auf die Uhr, als ich in unsere Einfahrt einbiege: zehn Uhr zweiunddreißig. Ich bekomme noch mit, wie die Zeitanzeige verschwindet und stattdessen eine Temperaturangabe erscheint, weil Helli den entsprechenden Knopf gefunden hat. Minus drei Grad. Danach werde ich darüber informiert, dass ich im Schnitt fünf Komma vier Liter verbrauche. Dann kann ich endlich den Motor ausstellen und die Stimme von George Michael zum Schweigen bringen. Ich klaube das Mobiltelefon unter dem Sitz hervor und stecke es in die Manteltasche. Helli steigt aus und hinterlässt auf dem Beifahrersitz einen Eiskratz-Biber, ein blutiges zerknülltes Taschentuch und einen Außenspiegel.
Drinnen empfängt mich neben einer Tasse kalten Kaffees auf dem Küchentisch meine To-do-Liste für heute. Dort steht:
Was ich heute erledigen muss, bevor Kilian kommt:
Staubsaugen (auch im 1. Stock, unbedingt)Wäsche machen (Maschine ausräumen, neu beladen, Trockner)Gästebett beziehen (Bettwäsche bügeln – spießig oder gastfreundlich?)Einkaufen (siehe separate Liste)Das sollte leicht zu schaffen sein, sogar mit Helli und Alex im Haus, der heute früher Schulschluss hat.
Ich schaue nach den Ratten und öffne ihre Luke, damit sie nach draußen können. Sie leben in dieser Hinsicht selbstbestimmt und entscheiden allein, wann es ihnen zu kalt ist. Danach räume ich die Einkäufe aus dem Auto. Helli läuft neben mir her und guckt, was ich besorgt habe. Ich trage die Tiefkühllasagne in Richtung Gefrierschrank.
Helli nimmt den Martini aus dem Korb und fragt:
»Willst du dich besaufen, weil Papa nicht da ist und ohne dich feiert?«
Costas trinkt wenig Alkohol, kein Wunder, dass es ihr auffällt. Es ist lustig, dass sie beim Anblick einer Flasche Martini sofort an ein Besäufnis denken muss. Sie hat noch keine Erfahrung mit den sozialen Funktionen verschiedener Alkoholsorten.
»Heute Abend kommt doch Kilian«, sage ich. »Und dein Vater kann gern allein feiern, ohne dass ich mir die Einsamkeit schönsaufen muss.«
Mein Plan für den Abend ist, Helli mit oder ohne Alex vor dem Fernseher zu parken, damit ich Zeit für Kilian habe, der mich seit unserer Studienzeit vor gut fünfzehn Jahren zum ersten Mal hier besucht. Ich habe noch keine Strategie für den Moment, in dem ich den Fernseher ausschalten werde. Normalerweise bewirkt das nämlich einen Anfall der größeren Art, von Costas liebevoll »Grand mal« genannt, und die einzige Möglichkeit, diesen zu vermeiden, besteht darin, Helli so lange fernsehen zu lassen, bis sie auf dem Sofa einschläft. Das könnte heute sogar klappen, weil sie nachher Reitunterricht hat. Mit etwas Glück reitet sie sich müde.
Irgendwann verliert sie das Interesse an den Einkäufen und verschwindet in ihrem Zimmer, um ihre Schulkameradinnen während des Unterrichts mit dem Smartphone anzufunken. In ihrer Schule sind private elektronische Geräte verboten, aber sie wird es trotzdem probieren. Denn etwas anderes fällt ihr nicht ein, jede Wette. Mit Wehmut denke ich an die Vormittage meiner Kindheit, in denen ich, krank auf dem Sofa liegend, zu Hause bleiben durfte. Ich hatte eine Art Krankheits-Bibliothek, die aus Büchern bestand, die ich kannte und die mich so fesselten und erfreuten, dass ich sie sogar mit Kopfweh lesen mochte. Helli liest Bücher nur dann, wenn sie sicher ist, dass es eine gleichnamige Fernsehserie gibt, durch die sie hinterher oder währenddessen nacharbeiten kann, was ihr Gehirn beim Lesen übersprungen hat.
Ich streiche Einkaufen von der To-do-Liste. Es ist ein gutes Gefühl, etwas durchzustreichen, weil es erledigt ist, und es ist in diesen Tagen ein ebenso gutes Gefühl, sich sofort einer neuen Aufgabe zuzuwenden, etwas Normalem und Alltäglichem. Wer behauptet, normal sei langweilig, ist vermutlich sehr jung oder in der Midlife-Crisis.
To-do- und Einkaufslisten sind die einzigen Listen, die ich offen herumliegen lasse. Alle anderen kommen in mein Notizbuch, und ich bin ziemlich sicher, dass meine Kinder keine Ahnung von dessen Existenz haben. Ich schreibe nur heimlich. Kann ich gerade nichts notieren, weil ich beobachtet werde, nutze ich ein Merksystem, für das ich in Gedanken das Haus meiner Kindheit Zimmer für Zimmer abgehe und in jedem Raum einen Stichpunkt meiner Liste ablege. Wenn ich dann später Zeit finde, schreibe ich alles auf, indem ich wieder durch das Haus gehe und die Stichpunkte nach und nach aus den Zimmern hole. Wir wohnten in einem Reihenhaus im Kieler Stadtteil Projensdorf. In meiner Fantasie muss ich viele Treppen steigen.
Ich stelle den Martini in den Kühlschrank, weil ich annehme, dass man ihn kühlen muss. Vielleicht stimmt es nicht, was ich zu Helli gesagt habe. Vielleicht muss ich mir den Abend ohne Costas doch ein bisschen schöntrinken.
»Ich muss mich da sehen lassen«, hatte er wörtlich am Wochenende gesagt, als ich seine dämliche Feier in der letzten Minute aufs Tapet brachte, um einen ordentlichen Abschiedsstreit zu provozieren.
»Ich muss mich da sehen lassen.« Ein Satz, über den ich einfach nicht hinwegkomme. In ihm scheint die gesamte Oberflächlichkeit und Fremdbestimmung einer ganzen Gesellschaft zusammengefasst zu sein. Dass ausgerechnet Costas diesen Satz geäußert hat, tut mir beinah körperlich weh. Oberflächlichkeit und Fremdbestimmtheit sind zwei Eigenschaften, die er mehr verachtet als alles andere.
»Das ist nicht nur eine Adventsfeier, sondern auch eine innerbetriebliche Verpflichtung. Alle, die für die Firma wichtig sind, müssen da rumstehen.«
Er sagt stets »die Firma«, wie in einem Thriller.
»Du bist aber nicht wichtig für die Firma. Das sagst du selber bei jeder Gelegenheit. Du bist ein austauschbarer Sklave, oder wie nennst du das?«
»Hure«, sagte Costas düster.
»Stimmt, schließlich wirst du von denen ja bezahlt. Da gehört Rumstehen und Sich-sehen-Lassen eben einfach dazu, nicht? Zu was macht mich das dann? Zu deinem Zuhälter, der dich jede Woche losschickt, dir den Rücken frei hält und dafür einen Teil deines Einkommens kassiert?«
»Lass den Quatsch. Ich will nicht streiten. Nicht wegen so was.«
»Gibt es überhaupt eine Bezeichnung für jemanden, der mit einer Hure verheiratet ist und ihr den Haushalt führt, ihre Kinder in der Gegend herumfährt und insgesamt zu Hause den Laden am Laufen hält, während sie auf Partys herumsteht und Networking betreibt?«
Immerhin wurde er wütend.
»Erstens habe ich dich gebeten mitzukommen. Ehefrauen sind ausdrücklich erwünscht …«
Ich schnaufte nur.
»… Ehepartner sind ausdrücklich erwünscht. Niemand zwingt dich also, den Laden hier am Laufen zu halten. Aber das kannst du dir einfach nicht vorstellen, dass es ohne dich geht, oder? Dass hier irgendetwas klappen könnte, wenn du nicht alle Stunde patrouillierst?«
»Und zweitens?«
»Zweitens?«
»Das war erstens. Was ist zweitens?«
Costas starrte mich an, und ich genoss den Moment. Er ist so viel größer als ich, so breitschultrig und dunkelhaarig und überhaupt so imposant, jedenfalls aus meiner Perspektive, dass es mir jedes Mal Freude bereitet, wenn ich ihn entwaffnen kann. Ich wusste allerdings auch, was kommen würde. Alles hat seinen Preis. Wenn ich mich entschließe, die sachliche Ebene zu verlassen und Costas in die Enge zu treiben, wird es laut.
»Zweitens ist mir völlig egal. Aber wenn du glaubst, es macht Spaß, auf so eine Scheißfeier von dieser Scheißfirma zu gehen, hast du dich geschnitten.«
»Dann bleib doch einfach weg. Wir können dich hier gut gebrauchen. Oder komm wenigstens Samstagmorgen nach Hause. So weit ist es ja nicht.«
»Am Samstag ist die Begehung, und ich habe noch einen Haufen Arbeit auf dem Tisch. Die gucken sowieso schon komisch, weil ich am Wochenende immer weg bin. Ich kann es mir nicht leisten, den Job zu verlieren. Einer von uns muss Geld verdienen, Kath. Oder willst du uns mit deinem Job durchbringen? Zwei- oder dreimal die Woche mit Kindergartenkindern Triangel spielen. Davon könnten wir noch nicht mal das Essen bezahlen.«
Er hatte sich gerade seinen Mantel mit den Schulterpolstern angezogen, draußen wartete das Taxi, das ihn zum Bahnhof bringen sollte. Im Halbdunkel des Flurs wirkte er wie ein angeschossener Bär, leicht wankend vor Schmerz und vor Wut. Er liebt Harmonie über alles und meint, wenn Eheleute sich anbrüllen, haben sie bereits die rote Alarmzone erreicht – die letzte Station vor der Paartherapie. In dieser Hinsicht ist das zurückliegende Jahr schlimm für ihn gewesen. Ich hingegen fürchte mich nicht, wenn Costas zum wankenden Bären wird, im Gegenteil. Aber vielleicht sind das die traurigen kleinen Freuden der Hausfrau, deren täglicher Einsatz nichts Sichtbares hervorbringt, keinen Profit abwirft, niemals ein Ende findet und ganz sicher keine Anerkennung – immerhin kann sie ihren Ehemann so provozieren, dass man eine Wirkung sieht.
Mich selbst trifft er selten, wenn er in meine Richtung schießt. Wenn er versucht, gemein zu sein, macht er das so ungeschickt, dass es fast zum Lachen ist. Womöglich liegt es daran, dass er – anders als ich – nicht wirklich gemein ist. Er imitiert nur das Gemeinsein, versucht zu verletzen, weil er glaubt, das werde von ihm erwartet, aber er zielt daneben. Meine Kindergartenkinder und mein verschwindend geringer Beitrag zum Familieneinkommen taugen jedenfalls nicht dazu, mich wütend zu machen. Es gibt Wahrheiten, die sind so offensichtlich, dass es nicht wehtut, sie auszusprechen.
»Ich greife nur auf, was du selber sagst. Du bist derjenige, der sich als Hure bezeichnet. Du bist derjenige, der jeden Samstag stöhnt, dass er morgen wieder losziehen und seine Seele verkaufen muss. Mag sein, dass ich mit meinen Triangeln nicht toll dastehe, aber wenigstens weiß ich, dass es sinnvoll ist, was ich tue.«
»Und was ich tue, ist sinnlos? Willst du das damit sagen? Ich arbeite, ich ernähre meine Familie. Nebenbei erschaffe ich Wohnraum …«
»Büroraum, nicht Wohnraum. Du machst hässliche Sachen für hässliche Menschen und wirkst daran mit, dass unsere Städte immer hässlicher werden. Deine eigenen Worte sind das.«
»Was ist die Alternative? Kündigen? In deiner Welt möchte ich leben, Kath. Muss schön sein, sich einfach alles zurechtdenken zu dürfen, wie es einem gerade passt.«