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Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus dem tiefen Süden für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres! Auf der Alm… da lauert der Mörder! Doch nicht nur in den Alpen ist man nicht mehr sicher, auch in Franken und in Wien wird man Opfer von Verbrechen aller Art. Neben Andreas Föhr, Friedrich Ani und Thomas Raab erzählen Christian Limmer, Christine Bendik, Nicola Förg, Sabine Thomas, Sandra Lüpkes, Su Turhan, Wolfgang Burger und Thomas Kastura in ihrem Kurzkrimis von hinterlistigen Zeitgenossen aus Bayern und Österreich. In dieser Reihe sind außerdem erschienen: "Totschlag hinterm Deich", "Mordlust an der Leine", "Mord-Mord-Ost", "Blutiger Rhein" und "Spätzlemorde".
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Seitenzahl: 200
Alpenland in Mörderhand
12 Weihnachtskrimis aus dem tiefen Süden
Andreas Föhr, Christian Limmer, Christine Bendik, Friedrich Ani, Nicole Förg, Sabine Thomas, Sandra Lüpkes, Su Turhan, Thomas Kastura, Wolfgang Burger, Franz Zeller und Thomas Raab
Knaur e-books
Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus dem tiefen Süden für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres!
Auf der Alm … da lauert der Mörder! Doch nicht nur in den Alpen ist man nicht mehr sicher, auch in Franken und in Wien wird man Opfer von Verbrechen aller Art. Neben Andreas Föhr, Friedrich Ani und Thomas Raab erzählen Christian Limmer, Christine Bendik, Nicola Förg, Sabine Thomas, Sandra Lüpkes, Su Turhan, Wolfgang Burger, Franz Zeller und Thomas Kastura in ihren Kurzkrimis von hinterlistigen Zeitgenossen aus Bayern und Österreich.
In dieser Reihe sind außerdem erschienen: »Totschlag hinterm Deich«, »Mordlust an der Leine«, »Mord-Mord-Ost«, »Blutiger Rhein« und »Spätzlemorde«.
Die stille Nacht
Die Limousine fuhr durch die Heilige Nacht und den Föhnsturm, der an diesem Abend durchs Voralpenland fegte. Der Mann am Steuer hieß Holger Wenger. Er war achtunddreißig Jahre alt, seine Züge weich, die Wangen unrasiert, die Augen von dunklen Schatten umrandet. Vor neunundzwanzig Jahren war Holgers Mutter in der Weihnachtsnacht mit ihrem Wagen gegen den zweihundert Jahre alten Ahornbaum gerast, der zwischen Moosrain und Hauserdörfl am Straßenrand stand. Die Polizei ging von Selbstmord aus. Vor neun Jahren erdrosselte Holger seine Freundin Sabine, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie ihn betrog. Nach der Tat fuhr er zu dem Ahornbaum, an dem Holgers Mutter ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte, und vergrub die Leiche dort. Der Hund eines Spaziergängers entdeckte die Tote noch am gleichen Tag. Das psychologische Gutachten bescheinigte Holger eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit. Der durch den frühen Tod der Mutter verursachte Schock habe bleibende Schäden hinterlassen, vor allem psychotisch ausgeprägte Verlassensängste. Holger wurde wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Aufgrund einer günstigen Prognose war er vorgestern entlassen worden.
Das Mädchen auf dem Beifahrersitz war blass und sagte nichts. Ihre Augen blickten zur Wagendecke und blinzelten nicht. Die Würgemale am Hals bewegten sich nicht. Sie war tot. Holger wusste nicht genau, warum er durch die Nacht fuhr. Auch wusste er nicht, wo er hinfuhr, hatte aber ein Gefühl, als gehe es irgendwie in Richtung des alten Ahornbaumes.
Martin Wenger machte noch einen Rundgang durch den Speisesaal und überzeugte sich davon, dass die Tischdekoration stimmungsvoll war. Menschen, die Heiligabend in einem Hotel verbrachten, erwarteten ein angemessen festliches Ambiente. Martin tat alles, um den Wunsch seiner Gäste nach weihnachtlicher Erbauung zu erfüllen. Er selbst freilich hatte einen Beruf gewählt, der ihm das Weihnachtsfest vom Hals hielt.
Martin ging durch die Lobby und begrüßte die Stammgäste, die das Jahresende wie üblich in dem Hotel am Malerwinkel verbrachten. Beim Rezeptionisten erkundigte er sich, ob der BMW gereinigt in der Tiefgarage stehe. Der Rezeptionist sagte, der Wagen sei gereinigt, aber nicht mehr in der Tiefgarage. Martins Bruder sei damit weggefahren, habe der Hausmeister berichtet. Da sich der Bruder im Besitz der Wagenschlüssel befand, sei der Hausmeister davon ausgegangen, dass alles seine Ordnung habe. Ja, das habe es, sagte Martin und ärgerte sich. Denn er hatte Holger eingeschärft, er solle den Wagen nur im Notfall benutzen. Es sei auch noch jemand anders in dem Wagen gesessen, meinte der Portier. Eine Dame, die der Hausmeister aber nicht genau erkennen konnte. Martin bedankte sich und verließ schlechtgelaunt die Rezeption.
Martins Verstimmung rührte daher, dass er seine Freundin Jenny seit zwei Stunden nicht erreichen konnte. Ihr Handy war ausgeschaltet. Er wollte wissen, wie lange sie heute Abend bei ihren Eltern bleiben würde. Das neue Mädchen aus dem Service kreuzte Martins Weg und grüßte ihn lächelnd. Martin lächelte zurück und drehte sich nach ihr um. Sie wusste, wie man einen Hintern bewegt.
Martin ärgerte auch, dass sein Bruder ins Hotel gekommen war. Er war vorgestern aus dem Gefängnis entlassen worden und sollte zunächst bei Martin im Haus bleiben und fernsehen, am Computer spielen oder sonst etwas machen, bei dem er nicht mit anderen Menschen in Berührung kam. Martin wollte seinen Bruder langsam wieder in die normale Welt einführen. Wie genau, wusste er noch nicht. In der vorweihnachtlichen Hektik hatte er keine Zeit gehabt, sich etwas zu überlegen. Bis jetzt hatte er Holger weder ins Hotel mitgenommen, noch hatte er ihm Jenny vorgestellt. Möglicherweise hatte Holger das selbst in die Hand genommen. Und das war Martin aus mehreren Gründen unangenehm.
Er ging in sein Büro und wählte die Nummer des Autotelefons. Es dauerte eine Weile, bis Holger dranging. Er war mit dem Gerät nicht vertraut. »Apparat Martin Wenger.«
»Hier ist Marty. Du – ich sag’s dir! Ein Kratzer wenn an den Wagen kommt. Wo bist du denn?«
Holger musste vor einer kleinen Brücke bremsen, weil ein Wagen entgegenkam. Dem Mädchen neben ihm fiel der Kopf auf die Brust. »Ich seh mir ein bisschen die Gegend an.«
»Welche Gegend?«
»Moosrain …«
»Mann! Lass den Quatsch. Du fährst da heute Abend nicht hin.«
»Mama ist da gestorben. Heute vor neunundzwanzig Jahren. Ich will doch nur ein paar Minuten am Baum stehen.«
Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden gewesen. Aber es war eben nicht nur Holgers und Martins Mutter, mit deren Gedenken der Baum verbunden war. »Hör zu, Holger, ich will nicht drum herumreden. Es geht nicht nur um Mama, okay? Wir beide wissen, dass an diesem Baum noch mehr passiert ist.«
»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
»Keine Ahnung, das weißt du am besten.«
Holger schwieg.
»Ich mach mir einfach Sorgen, dass du das nicht verkraftest. Die Ärzte haben gesagt, du bist psychisch immer noch nicht ganz stabil.«
»Ja, ja. Vielleicht fahr ich auch nicht hin.«
»Lass es, versprochen?«
Holger gab einen unartikulierten Laut von sich, den Martin als Zustimmung deutete.
»Mal was anderes. Du warst im Hotel?«
»Äh …«
»Natürlich warst du im Hotel. Sonst hättest du den Wagen ja nicht.«
»Ja gut. Ich war im Hotel. Ich weiß, du hast gesagt, ich soll den Wagen nur …«
»Es geht nicht um den Wagen. Hast du Jenny getroffen?«
Holger sah zu dem Mädchen, das vor sich hinzudösen schien und langsam auf seine Schulter sackte. Er schob sie behutsam in eine aufrechte Position und überlegte, was er antworten sollte. Offenbar wusste Martin Bescheid. »Ja. Ich hab sie kurz getroffen.«
»Was habt ihr geredet?«
»Nichts Besonderes. Ich hab gesagt, ich bin dein Bruder. Und sie sagt, hi, ich bin die Jenny. Wie geht’s und so solche Sachen. Wieso?«
»Eigentlich wollte ich dir noch was sagen, bevor du sie triffst. Ich hab dich nämlich ein bisschen angeschwindelt.«
»Inwiefern?«
»Als ich gesagt habe, sie hätte mich beschissen … es könnte sein, dass sie dir was anderes erzählt.«
»Ja meinst du, ich glaub der Schlampe mehr wie dir?« Holger wurde laut.
»Holger! Jetzt reg dich doch nicht immer gleich so auf. Außerdem … na ja, wie soll ich sagen … sie hätte nicht ganz unrecht.«
Holger war sichtlich irritiert. »Was heißt das?«
»Es war eigentlich umgekehrt.«
»Wie – umgekehrt?«
»Na, ich hab sie … betrogen. Nicht schlimm. Aber sie hat’s rausgekriegt. Inzwischen hat sie’s mir aber verziehen. Wir haben uns heute ausgesprochen. Ist also alles wieder im Lot, okay?«
Holger lenkte den Wagen an den Straßenrand und betrachtete mit offenem Mund das Mädchen neben sich, dessen lebloser Oberkörper sich wieder auf seine Seite zu neigen begann. Er schob das Mädchen mit einer Hand vorsichtig in Richtung Beifahrertür. Nach ein paar langen Sekunden fand er wieder Worte. »Hey Mann! Wieso? … ich mein, wieso erzählst du mir so einen gottverdammten Mist?! Heißt das, Jenny hat dich gar nicht …?«
»Genau so ist es. Ich bin das Schwein. Hier im Hotel laufen halt jede Menge scharfe Mädels rum. Mein Gott, ich bin auch nur ein Mann.«
Holger war den Tränen nahe. »Ich versteh das nicht. Wieso erzählst du dann … das ist doch … nicht in Ordnung!« Er warf einen kurzen, verzweifelten Blick auf das Mädchen neben sich.
»Das war aus der Situation raus. Du kommst grad aus’m Knast und sagst: Mensch Marty, jetzt lern ich endlich mal Jenny kennen. Hätt ich sagen sollen: Tja, Pech. Die ist grad sauer auf mich, weil ich eine aus dem Service genagelt hab?«
»Aber da muss man doch nicht so eine verfickte Scheiße erzählen!!!«
»Holger! Hör mir mal zu, du warst gerade acht Jahre lang im Knast. Weil … na ja, im Endeffekt, weil deine Freundin dich betrogen hat. Du bist in diesen Dingen eben sehr empfindlich. Ich hab gedacht, wenn ich dir die Wahrheit sage, bin ich das letzte Schwein für dich. Und da hab ich halt irgendeinen Käse erzählt.«
Holger schwitzte und wagte nicht nach rechts zu sehen. Er stellte den Motor ab und sank weinend auf das Lenkrad.
»Holger? Was ist denn los?«
»Nichts«, erwiderte er und versuchte, seine Fassung wiederzufinden.
»Sag mal – du hast Jenny doch nicht blöd angemacht deswegen?«
»Nein. Es ist nur … verstehst du, wenn du’s mir gleich gesagt hättest, ich … ich hätte mich einfach anders verhalten.« Holger atmete schwer aus.
»Geht’s dir nicht gut? Irgendwas ist doch.«
Holger versuchte, nicht zu hyperventilieren, und umklammerte mit zitternden Händen das Lenkrad. »Martin – ich muss dir was sagen …« Holger rang mit sich. Sollte er seinem Bruder die Wahrheit zumuten? Ihn damit zum Mitschuldigen machen, obwohl er doch ihn, Holger, belogen und damit das tragische Missverständnis heraufbeschworen hatte, das wiederum zu der unangenehmen Situation geführt hatte, in der Holger sich jetzt befand.
»Was musst du mir sagen?«, fragte Martin, nachdem von Holger nichts mehr kam.
»Es fällt mir wirklich schwer, es dir zu sagen. Aber es geht nicht anders. Man … man kann die Wahrheit nicht ewig verdrängen.«
»Um was geht es denn, Herrgott noch mal?«
»Ja Martin, ich habe Jennifer getroffen. Und was dabei herausgekommen ist, wird dir nicht gefallen.«
»Nämlich?«
»Bitte versuche jetzt, das einfach mal ganz ruhig aufzunehmen.«
»Spuck’s halt endlich aus!«
»Nun – um es kurz zu machen … Die Frau ist nicht gut für dich.«
Martin war leicht konsterniert. »Wie kommst du dazu, so was zu sagen? Du kennst sie doch überhaupt nicht.«
»Okay. Sie hat dich diesmal nicht beschissen. Wie auch immer, aber das kannst du abwarten. Die … die kann morgen schon weg sein, und du hörst nie wieder was von ihr. Taucht einfach nicht mehr auf.«
»Holger! Bitte!«
»Glaub’s mir. Diese verdammten Blondinen – die sind so.« Holger schluckte und rang mit den Tränen. »Sabine war auch … blond.«
»Was redest du da eigentlich? Jenny ist brünett.«
Holgers Gesicht verzog sich ungläubig. Er blickte vorsichtig zu dem Mädchen und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Die schulterlangen Locken hingen seitlich vom Kopf, der immer noch auf ihrer Brust lag, und verdeckten das Gesicht. Holger streckte seine Hand in Richtung der hellen Haare, wagte aber nicht, sie zu berühren. »Sie ist nicht brünett«, sagte er ins Telefon. »Sie hat lange, aschblonde Locken.«
Martin dachte eine Weile über Holgers letzten Satz nach. Dann lachte er und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Jenny hat kurze, braune Haare. Wen du meinst, das ist die Jenny aus der Buchhaltung. Du … du hast doch nicht geglaubt, dass das meine Freundin ist.«
»Ich hab einfach nach Jenny gefragt. Und die kam aus deinem Büro. Gibt’s da noch eine?« Eine entsetzliche Ahnung war dabei, sich zur Gewissheit zu verfestigen.
»Das glaub ich jetzt nicht! Du musst doch irgendwas gemerkt haben?«
»Die hat natürlich alles abgestritten. Ich denk noch: Klar, das passt. Die kleine Nutte! Bescheißt meinen Bruder und lügt mir ins Gesicht.«
»Was erzählt sie denn?«
»Irgendeinen Quatsch. Du wärst ihr unheimlich und würdest sie immer so komisch ansehen. So’n Zeug. Ich dachte, die Alte tickt nicht richtig …«
Martin spielte gedankenversunken an einem Kugelschreiber herum. »Ja, hab ich schon von anderen Leuten gehört, dass die Geschichten über mich erzählt. Keine Ahnung, warum. Vielleicht will die was von mir, und ich hab’s nicht gecheckt. Weiß man ja nie bei Frauen.«
»Die ist nicht ganz sauber im Kopf, oder? Die ist doch krank!«
»Kann sein. Jetzt bring mal den Wagen zurück.«
Holger blickte zu dem Mädchen. »Du – ich brauch noch ’ne Stunde.«
»Ja, aber gib Gas, okay?«
Nachdem Martin aufgelegt hatte, bemerkte er, dass Jenny auf seiner Mailbox war. Sie war noch bei ihren Eltern, wollte aber in Kürze bei ihm sein. Martin rief sie an. Wie sich herausstellte, war Jenny den ganzen Tag nicht im Hotel gewesen und hatte auch Holger nicht getroffen. Martin atmete durch und freute sich auf einen Abend ohne weitere Komplikationen.
Die junge Frau starrte ihn aus dem Kofferraum an. Holger legte ihre Handtasche neben die Leiche und einen Pullover über ihren Kopf. Dann überlegte er, ob er den Klappspaten schon herausnehmen sollte. Aber das hatte Zeit, bis man am Baum war. Diesmal würde er tiefer graben. So tief, dass kein Hund je irgendetwas finden würde. Holger fragte sich nicht, warum er das Mädchen dort begraben wollte. Der alte Ahornbaum war für ihn der Ort für die Toten. Das war so. Da musste man nicht fragen, warum. Holger drückte auf einen Knopf, und der Kofferraumdeckel schloss sich mit leisem Summen. Der Föhn blies Holger ins Gesicht. Er sog die warme Luft tief ein und stieg wieder in den Wagen.
Die Benzinanzeige hatte schon die ganze Zeit rot aufgeleuchtet. Als Holger den Wagen startete, fiel sie ihm wieder auf, und er kam zu dem Schluss, es sei nicht gut, wenn der Wagen unterwegs stehenblieb. Der Reservekanister lag im Kofferraum hinter der Leiche. Es bereitete Holger einige Mühe, ihn hervorzuziehen, zumal er die Tote nicht ansehen mochte. Während das Benzin langsam aus dem Kanister in den Tank lief, lauschte Holger in die stürmische Nacht. Auf das Rauschen der Bäume und den Klang einer Kirchturmglocke, den der Sturm von irgendwoher mit sich trug. Als der Wind drehte, hörte Holger plötzlich ein anderes Geräusch. Es klang wie das Schließen einer Autotür. Ganz nah schien es zu sein. Holger blickte auf.
Nur wenige Meter entfernt stand ein Streifenwagen, aus dem soeben zwei Polizisten ausgestiegen waren und jetzt auf Holger zukamen. Holger erschrak, ließ den Kanister fallen, eilte zum noch offen stehenden Kofferraum und drückte den Knopf, der den Deckel endlos langsam nach unten fahren ließ. Er schloss gerade noch rechtzeitig, so dass die beiden Polizisten keinen Blick mehr in das Innere des Kofferraums werfen konnten.
»Guten Abend«, sagte der ältere der beiden Polizisten. »Frohe Weihnachten erst amal. Ich bin Polizeiobermeister Leonhart Kreuthner. Das ist mein Kollege Polizeimeister Schartauer.«
»Hallo. Frohe Weihnachten.« Holger lachte hektisch. »Ah je! Sie müssen arbeiten an Weihnachten?«
»Ja, diesmal hat’s uns erwischt. Kann man Ihnen helfen?«
»Wie? Nein. Ich hab grad ein bisschen Benzin nachgefüllt. Kein Problem.«
Kreuthner musterte Holger. Seine billige Jacke, das unrasierte Gesicht, die fettigen Haare – all das passte nicht zu dem Wagen. »Kennen wir uns?«, fragte Kreuthner. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.«
»Nein. Nicht dass ich wüsste.« Doch auch Holger erinnerte sich jetzt an den Polizisten. Kreuthner hatte ihn vor neun Jahren verhaftet. Er sah Holger eine Weile an und sagte nichts. »Ja dann, schöne Weihnachten noch«, sagte Holger und stieg in den Wagen.
»Zeigen S’ uns doch mal Ihre Papiere.« Kreuthner trat einen Schritt zurück, um einen Sicherheitsabstand zwischen sich und Holger zu bringen, und wies Schartauer mit einer Kopfbewegung an, sich so zu stellen, dass er eingreifen konnte, wenn es erforderlich werden sollte. Holger fand die Fahrzeugpapiere unter der Sonnenblende und reichte sie Kreuthner zusammen mit dem Führerschein. Der Polizist warf einen Blick in die Papiere.
»Sie sind nicht der Halter des Wagens?«
»Nein. Der gehört meinem Bruder.«
Kreuthner gab die Papiere an Schartauer weiter, der zum Streifenwagen ging.
»Kann ich mal den Verbandskasten und das Warndreieck sehen?«
Holger überlegte fieberhaft, was er tun konnte, aber es fiel ihm nichts ein. Und so tat er gar nichts.
»Was ist?« fragte Kreuthner.
»Ich? … ich weiß nicht, wo die Sachen sind. Ich fahr den Wagen das erste Mal.«
»Im Kofferraum vielleicht?«
Holger sah Kreuthner mit offenem Mund und immer noch ratlos an. »Im Kofferraum. Na klar.«
Kreuthner deutete auf einen Knopf, auf dem ein Auto mit offenem Kofferraum abgebildet war. Holger trat der Schweiß auf die Stirn, als er den Knopf betätigte. Der Polizist ging ans Wagenende, wo sich der Kofferraumdeckel mit sonorem Summen öffnete.
Kreuthner hielt seine Dienstpistole auf Holger gerichtet. »Steigen Sie aus dem Wagen. Hände aufs Autodach.« Kreuthner trat hinter Holger. Schartauer, der im Streifenwagen saß, bemerkte jetzt, dass etwas passiert war. »Beni! Komm her.«
Schartauer ging unsicher und irritiert zurück zum BMW. Kreuthner wies mit dem Kopf auf den offenen Kofferraum. Schartauer wurde bleich, als er die Leiche sah.
»Schau nach, wer das ist. Da liegt a Handtasch’n.«
Zögernd beugte sich Schartauer in den Kofferraum. Als er wieder auftauchte, hatte er die Handtasche in der Hand und suchte darin nach Papieren. Schließlich förderte er einen Personalausweis zutage und zeigte ihn Kreuthner. »Scheiß, verdammter. Das gibt’s doch net«, murmelte Kreuthner, als er den Namen auf dem Ausweis las.
»Wieso is des jetzt schlecht, dass sie die Leiche is?«, wollte Schartauer wissen.
Kreuthner ging mit Schartauer ein paar Schritte zur Seite, so dass sie Holger noch im Blick hatten, er sie aber nicht mehr gut hören konnte. »Die war vorgestern auf’m Revier«, sagte Kreuthner leise.
»Aha?«
»Die hat ihren Chef angezeigt. Der is Geschäftsführer von irgendeinem Hotel in Egern.«
»Und wegen was hat sie ihn angezeigt?«
»Sie hat behauptet …« Kreuthner stockte und sah unwillkürlich zum Kofferraum des Wagens. »Sie hat behauptet, er will sie umbringen.«
Schartauer musste tief durchatmen. »Ja und?«
»Ich hab natürlich gedacht, die spinnt.« Kreuthner wies auf den Kofferraum. »Wer rechnet denn mit so was!« Er drückte Schartauer die Dienstwaffe in die Hand und trat auf Holger zu.
»Sie sind Hotelgeschäftsführer?«
»Ich? Nein, ich bin arbeitslos. Mein Bruder ist Hotelgeschäftsführer.«
Kreuthner betrachtete Holger eingehend und versuchte, sich zu erinnern, wo er den Mann schon mal gesehen hatte. »Sie fahren den Wagen heute das erste Mal?«
»Das ist richtig.«
»Ihr Bruder hat Ihnen den Wagen einfach so gegeben?«
»Na ja«, Holger wurde etwas verlegen. »Ich sag mal so: Ich weiß, wo der Schlüssel ist.«
»Das heißt, Sie haben sich den Wagen einfach genommen?«
»Ja schon. Aber ich hab inzwischen mit meinem Bruder telefoniert. Er sagt, das ist okay.«
Die Polizisten tauschten einen bedeutungsvollen Blick.
»Ist irgendwas mit dem Warndreieck?«, fragte Holger, der spürte, dass sich die Dinge in eine für ihn günstige Richtung entwickelten, und dieser Entwicklung durch ein hohes Maß an Harmlosigkeit auf die Sprünge helfen wollte.
»Wo ist Ihr Bruder im Augenblick?«
»Im Hotel. Er wartet, dass ich ihm den Wagen bringe.«
Kreuthner trat an Schartauer heran und flüsterte: »Wir brauchen sofort einen Haftbefehl für den Bruder.« Schartauer nickte, gab Kreuthner die Dienstwaffe zurück und entfernte sich in Richtung Streifenwagen.
»Sie können die Hände vom Dach nehmen«, sagte Kreuthner und wies Holger mit einer Geste an, zum Kofferraum zu gehen. Dort angelangt, schreckte Holger beim Anblick der Leiche mit großer Geste zurück und rief aus: »Oh, Scheiße! Wer ist das denn?«
Kreuthner stellte sich neben Holger und betrachtete die Leiche der blonden jungen Frau. »Eine Angestellte von Ihrem Bruder. Die hat gestern Anzeige gegen ihn erstattet.« Er nahm Holger am Arm zur Seite. »Ich fürchte, Ihr Bruder steckt in Schwierigkeiten.«
Holger schüttelte ungläubig den Kopf, holte hektisch eine Zigarettenschachtel aus der Jacke, steckte sich eine Zigarette in den Mund und entzündete mit zitternden Händen ein Streichholz.
»Ich glaub, ich brauch auch eine«, sagte Kreuthner.
Holger gab ihm die Zigaretten und die Streichholzschachtel. »Ist das sicher, dass das mein Bruder war?«
»Sicher is gar nix. Aber das werma schon rausfinden. So wie die Leiche ausschaut, ist die voll mit DNA-Spuren. Wer immer das war, wir kriegen den Täter.«
»Aha«, sagte Holger, und Besorgnis huschte über sein Gesicht.
Nachdem Kreuthner seine Zigarette angezündet hatte, warf er das brennende Streichholz auf den Boden, was unter normalen Umständen zu nichts weiter geführt hätte. Die Brandgefahr war im Winter gering. Was Kreuthner nicht wusste: Als Holger den Reservekanister hatte fallen lassen, war noch Benzin darin gewesen. Dieses Benzin war über die letzten Minuten hinweg ausgelaufen und hatte am hinteren Teil des BMW kleine Rinnsale gebildet. Neben einem solchen Rinnsal landete Kreuthners noch brennendes Streichholz. Die Benzindämpfe entzündeten sich, und in Sekundenschnelle lief das Feuer den kleinen Strom entlang unter dem Wagenboden hindurch auf die andere Seite und kletterte an Benzinresten, die am Autolack hafteten, zum noch offenen Benzintank hinauf. Obwohl sich Kreuthner und Holger schon um einiges vom Wagen entfernt hatten, wurden sie von der Explosion auf die andere Straßenseite geschleudert, wo sie in einem großen Schneehaufen landeten und bis auf leichte Verbrennungen unverletzt blieben.
Der Wagen mit der Leiche brannte infolge der Explosion vollständig aus. DNA-Spuren konnten daher nicht mehr gesichert werden. Dennoch wurde der Hotelgeschäftsführer Martin Wenger noch in der gleichen Nacht verhaftet. Im Keller seines Hauses fand man die Leichen von vier weiteren jungen Frauen, die in den letzten Jahren auf ungeklärte Weise verschwunden waren. Martin Wenger wurde wegen fünffachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Bruder Holger Wenger lebt heute als Barkeeper in München und hat seine unglaubliche Geschichte an einen Verlag verkauft.
Fest der Liebe
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