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Die beiden Schwestern Nick und Dara sind grundverschieden und doch unzertrennlich. Bis Dara Nicks besten Freund Parker küsst. Bis zu dem Autounfall, bei dem Dara im Gesicht verletzt wird. Seitdem sprechen die Schwestern nicht mehr miteinander. Als Dara an ihrem Geburtstag spurlos verschwindet, glaubt Nick zuerst an einen dummen Scherz. Doch Dara ist schon das zweite Mädchen, das in der Gegend verschwunden ist. Nick spürt, dass ihre Schwester in großer Gefahr ist und dass sie sie finden muss – bevor es zu spät ist.
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Bisher von Lauren Oliver im Carlsen Verlag erschienen:
Delirium, Amor-Trilogie Band 1
Pandemonium, Amor-Trilogie Band 2
Requiem, Amor-Trilogie Band 3
Annabel / Hana / Raven, Geschichten aus der Welt der Amor-Trilogie
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
Panic – Wer Angst hat, ist raus
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
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Originalcopyright © 2015 by Laura Schechter
Originalverlag: HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, New York
Originaltitel: Vanishing Girls
Umschlagbild: Trevillion Images © Mark Owen / shutterstock © Kichigin / Barbol / sumroeng chinnapan / PremiumVector
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
Lektorat: Dennis Wohlfeil
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92794-8
Für den echten John Parker aus Dank für seine Unterstützung und Inspiration – und für Schwestern auf der ganzen Welt, inklusive meiner eigenen
Das Komische daran, beinahe gestorben zu sein, ist, dass anschließend alle meinen, du müsstest ununterbrochen auf dem Glückstrip sein, Schmetterlingen im grünen Gras nachjagen oder in jeder Ölpfütze auf dem Highway einen Regenbogen entdecken. Es ist ein Wunder, sagen sie dann mit erwartungsvollem Blick, als hättest du ein großes altes Geschenk erhalten, und wehe, du enttäuschst Oma und schneidest eine Grimasse, wenn du das Paket auspackst und einen unförmigen, ausgeleierten Pullover darin findest.
So ähnlich ist das ganze Leben: voller Löcher, ausgefranster Stellen, Möglichkeiten, hängenzubleiben. Unbequem und kratzig. Ein Geschenk, um das du nie gebeten hast, das du dir nie gewünscht hast, nie haben wolltest. Ein Geschenk, von dem alle erwarten, du müsstest es gerne tragen, Tag für Tag, selbst wenn du lieber im Bett bleiben und nichts tun würdest.
Die Wahrheit ist: Man braucht keinerlei Talent dafür, beinahe zu sterben, genauso wenig wie dafür, beinahe zu leben.
»Spielen wir was?«
Das sind die drei Worte, die ich im Laufe meines Lebens am häufigsten gehört habe. Spielen wir was? Als die vierjährige Dara mit ausgebreiteten Armen durch die Fliegengittertür stürmt und ins Grün unseres Vorgartens fliegt, ohne meine Antwort abzuwarten. Spielen wir was? Als die sechsjährige Dara mitten in der Nacht in mein Bett kriecht, die Augen weit aufgerissen und vom Mondlicht angestrahlt, den Geruch nach Erdbeershampoo im feuchten Haar. Spielen wir was? Die achtjährige Dara, die mit ihrer Fahrradklingel klingelt; die zehnjährige Dara, die Karten auf der feuchten Swimmingpool-Umrandung austeilt; die zwölfjährige Dara, die eine leere Limoflasche auf dem Boden kreisen lässt.
Auch die sechzehnjährige Dara wartet meine Antwort nicht ab. »Rutsch rüber.« Sie stößt ihre beste Freundin Ariana mit dem Knie gegen den Oberschenkel. »Meine Schwester will mitspielen.«
»Es ist kein Platz«, sagt Ariana und kreischt auf, als sich Dara gegen sie lehnt. »Tut mir leid, Nick.« Sie sitzen dicht gedrängt mit einem halben Dutzend anderer Leute in einer ungenutzten Pferdebox der Scheune von Arianas Eltern. Es riecht nach Sägemehl und ganz schwach nach Mist. Auf dem festgestampften Boden steht eine halb leere Wodkaflasche neben ein paar Sixpacks Bier und einem kleinen Haufen bunt zusammengewürfelter Kleidungsstücke: ein Schal, zwei verschiedene Fausthandschuhe, eine dicke Jacke und Daras enges rosa Sweatshirt, auf dem mit Strasssteinen Queen B*tch steht. Es wirkt alles wie ein seltsames rituelles Opfer für die Götter des Strippoker.
»Schon okay«, sage ich schnell. »Ich muss nicht mitspielen. Ich wollte sowieso nur kurz Hallo sagen.«
Dara verzieht das Gesicht. »Du bist doch gerade erst gekommen.«
Ariana knallt ihre Karten offen auf den Boden. »Drilling mit Königen.« Sie reißt eine Bierdose auf und Schaum sprudelt an ihren Fingerknöcheln hervor. »Matt, zieh dein T-Shirt aus.«
Matt ist ein dünner Junge mit einer etwas zu großen Nase und dem trüben Blick eines schon ziemlich Betrunkenen. Nachdem er nichts weiter anhat als ein T-Shirt – es ist schwarz, mit einem geheimnisvollen einäugigen Biber vorne drauf –, kann ich nur vermuten, dass die dicke Jacke ihm gehört. »Mir ist kalt«, sagt er wimmernd.
»Entweder dein T-Shirt oder deine Hose. Das kannst du dir aussuchen.«
Matt seufzt und schält sich aus seinem T-Shirt, wobei ein schmaler, mit Akne übersäter Rücken zum Vorschein kommt.
»Wo ist Parker?«, frage ich bemüht beiläufig. Anschließend ärgere ich mich, dass ich mich überhaupt bemühen muss. Aber seit Dara angefangen hat … was auch immer sie mit ihm macht, ist es unmöglich für mich, über meinen ehemals besten Freund zu sprechen, ohne das Gefühl zu haben, mir würde eine Christbaumkugel im Hals stecken.
Dara erstarrt beim Kartenverteilen. Aber nur einen kurzen Augenblick. Sie wirft Ariana eine letzte Karte hin und nimmt dann ihre eigenen auf. »Keine Ahnung.«
»Ich habe ihm eine Nachricht geschickt«, sage ich. »Er hat mir gesagt, er würde kommen.«
»Ja, na ja, vielleicht ist er schon wieder weg.« Dara wirft mir einen flüchtigen Blick aus ihren dunklen Augen zu und die Botschaft ist deutlich: Lass es gut sein. Wahrscheinlich haben sie sich wieder gestritten. Oder vielleicht haben sie sich auch nicht gestritten und genau das ist das Problem. Vielleicht weigert er sich mitzuspielen.
»Dara hat einen neuen Freund«, sagt Ariana in einem Singsang und Dara stößt ihr den Ellbogen in die Seite. »Na ja, stimmt doch, oder? Einen heimlichen Freund.«
»Halt die Klappe«, entgegnet Dara in scharfem Ton. Ich weiß nicht genau, ob sie wirklich sauer ist oder nur so tut.
Ari zieht einen gespielten Schmollmund. »Kenn ich ihn? Sag mir nur, ob ich ihn kenne.«
»Auf keinen Fall«, erwidert Dara. »Keine Hinweise.« Sie wirft ihre Karten hin. Dann steht sie auf und klopft sich die Rückseite ihrer Jeans ab. Sie trägt pelzbesetzte Stiefel mit Keilabsätzen und ein glänzendes T-Shirt, das ich noch nie gesehen habe und das wirkt, als wäre Metall über ihren Körper gegossen worden und dann dort erstarrt. Ihr Haar – vor kurzem schwarz gefärbt und perfekt glatt geföhnt – fließt wie Öl über ihre Schultern. Wie üblich komme ich mir vor wie die Vogelscheuche neben Dorothy. Ich trage eine unförmige Jacke, die Mom mir vor vier Jahren für eine Skitour in Vermont gekauft hat, und meine langweiligen mäusekackbraunen Haare sind zu ihrem üblichen Pferdeschwanz zurückgebunden.
»Ich hole mir was zu trinken«, sagt Dara, obwohl sie eben ein Bier in der Hand hatte. »Will noch jemand was?«
»Bring ein paar Mixgetränke mit«, sagt Ariana.
Dara lässt nicht erkennen, ob sie sie gehört hat. Sie packt mich am Handgelenk und zieht mich aus der Pferdebox in den Vorraum der Scheune, wo Ariana – oder ihre Mutter? – ein paar Klapptische aufgebaut hat, die mit Schüsseln voller Chips, Brezeln, Guacamole und abgepackten Keksen beladen sind. In einer Schale mit Guacamole steckt eine Zigarettenkippe und in einer riesigen Bowle voller halb geschmolzener Eiswürfel treiben Bierdosen wie Schiffe beim Versuch, die Arktis zu durchqueren.
Offenbar ist ein Großteil von Daras Stufe hier und ungefähr die Hälfte von meiner – auch wenn Zwölftklässler sich normalerweise nicht dazu herablassen, bei einer Elftklässlerparty aufzulaufen, verpassen sie im zweiten Halbjahr allerdings auch keine Gelegenheit zum Feiern. Zwischen den Boxen sind Lichterketten gespannt, nur in dreien stehen wirklich Pferde: Misty, Luciana und Mr Ed. Ich frage mich, ob eins der Tiere sich an dem hämmernden Bass der Musik stört oder daran, dass alle fünf Sekunden ein betrunkener Elftklässler seine Hand durchs Tor schiebt und das Pferd mit Käseflips zu füttern versucht.
In den anderen Boxen, die nicht mit alten Sätteln, Mistgabeln und verrosteten landwirtschaftlichen Geräten vollgestopft sind – denn das Einzige, was Arianas Mutter bewirtschaftet, ist das Geld ihrer drei Exmänner –, spielen Jugendliche Trinkspiele, tanzen aufreizend miteinander oder machen wie Jake Harris und Aubrey O’Brien gleich volle Kanne rum. Die Sattelkammer ist inoffiziell von den Kiffern in Beschlag genommen worden, hat man mir gesagt.
Die großen Schiebetüren der Scheune stehen offen und eisige Nachtluft dringt von draußen herein. Etwas weiter bergab versucht jemand auf der Reitbahn ein Lagerfeuer anzuzünden, aber es regnet leicht und das Holz brennt nicht.
Wenigstens ist Aaron nicht hier. Ich weiß nicht, ob ich eine Begegnung mit ihm heute ertragen hätte – nicht nach dem letzten Wochenende. Es wäre besser, wenn er wütend geworden wäre – wenn er ausgerastet wäre und herumgeschrien hätte oder Gerüchte in der Schule streuen würde, dass ich Chlamydien hätte oder so. Dann könnte ich ihn hassen. Dann würde das alles Sinn ergeben.
Aber seit ich mit ihm Schluss gemacht habe, ist er immer ausgesucht höflich wie der Türsteher bei Gap. Als hoffte er wirklich, ich würde etwas kaufen, wolle mich aber nicht drängen.
»Ich glaube immer noch, dass wir gut zusammenpassen«, hatte er aus heiterem Himmel gesagt, als er mir mein Sweatshirt zurückgab (natürlich gewaschen und ordentlich zusammengelegt) sowie eine Ansammlung von Kleinkram, den ich in seinem Auto gelassen hatte: Stifte, ein Handyladegerät und eine komische Schneekugel, die ich im Drogeriemarkt im Schlussverkauf entdeckt hatte. In der Schulmensa hatte es zum Mittagessen Spaghetti alla Marinara gegeben und in seinem Mundwinkel klebte noch ein winziger Rest neonfarbener Soße. »Vielleicht überlegst du es dir ja noch mal.«
»Vielleicht«, hatte ich gesagt. Und ich hoffte wirklich, mehr als alles andere auf der Welt, dass ich das tun würde.
Dara nimmt sich eine Flasche Southern Comfort und schüttet drei Fingerbreit in einen Plastikbecher, den sie mit Coca-Cola auffüllt. Ich beiße mir von innen auf die Lippe, als könnte ich so die Worte zurückhalten, die ich eigentlich sagen will: Das muss mindestens ihr dritter Becher sein; sie hat deswegen bereits Ärger mit Mom und Dad; warum reißt sie sich nicht mal zusammen? Ihretwegen sind wir beide jetzt in Therapie, verdammt noch mal.
Stattdessen sage ich: »Soso. Ein neuer Freund, hm?« Ich versuche meine Stimme unbeschwert klingen zu lassen.
Daras Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. »Du kennst doch Ariana. Sie übertreibt mal wieder.« Sie mixt noch einen Drink und drückt ihn mir in die Hand, dann stößt sie unsere Plastikbecher gegeneinander. »Prost«, sagt sie und trinkt ihren Becher in einem Zug halb leer.
Die Flüssigkeit riecht verdächtig nach Hustensaft. Ich stelle den Becher neben einer Platte kalter Würstchen im Schlafrock ab, die aussehen wie in Gaze gewickelte verschrumpelte Daumen. »Es gibt also keinen geheimnisvollen Typen?«
Dara hebt eine Schulter. »Was soll ich sagen?« Sie hat heute goldenen Lidschatten aufgelegt und ein Hauch davon bedeckt ihre Wangen; sie wirkt wie jemand, der aus Versehen das Feenland durchquert hat. »Ich bin eben unwiderstehlich.«
»Was ist mit Parker?«, frage ich. »Gab’s mal wieder Ärger im Paradies?«
Ich bereue die Frage sofort. Daras Lächeln verschwindet. »Warum?« Ihr Blick ist jetzt trüb, hart. »Damit du wieder sagen kannst: ›Hab ich dir doch gleich gesagt‹?«
»Vergiss es.« Ich wende mich ab, plötzlich erschöpft. »Gute Nacht, Dara.«
»Warte.« Sie fasst mich am Handgelenk. Und schon ist der angespannte Moment verstrichen und sie lächelt wieder. »Bleib doch noch. Bitte bleib, Ninpin«, wiederholt sie, als ich zögere.
Wenn Dara so ist, süß und flehend wie früher, wie die Schwester, die auf meine Brust kletterte und mich mit großen Augen anbettelte endlich aufzuwachen, ist es fast unmöglich, ihr zu widerstehen. Fast. »Ich muss morgen um sieben raus«, sage ich noch, als sie mich schon nach draußen ins Rauschen und Plätschern des Regens begleitet. »Ich habe Mom versprochen, ihr beim Aufräumen zu helfen, bevor Tante Jackie kommt.«
Etwa einen Monat lang, nachdem Dad verkündet hatte, dass er ausziehen würde, verhielt sich Mom so, als hätte sich nichts verändert. Aber in letzter Zeit vergaß sie Dinge: die Spülmaschine anzumachen, ihren Wecker zu stellen, ihre Arbeitsblusen zu bügeln, staubzusaugen. So, als würde jedes Mal, wenn er wieder was von zu Hause mitnimmt – seinen Lieblingssessel, das Schachspiel, das er von seinem Vater geerbt hat, die Golfschläger, die er nie benutzt –, auch ein Stück ihres Gehirns verschwinden.
»Warum?« Dara verdreht die Augen. »Sie bringt einfach ihre komischen Reinigungskristalle mit, die die Arbeit erledigen. Bitte«, fügt sie hinzu. Sie muss die Stimme heben, damit ich sie über die Musik hinweg hören kann, die irgendjemand gerade lauter gestellt hat. »Du gehst nie mit aus.«
»Das stimmt nicht«, sage ich. »Es ist nur so, dass du dauernd ausgehst.« Die Worte klingen schärfer als beabsichtigt. Aber Dara lacht bloß.
»Lass uns heute Abend nicht streiten, okay?« Sie beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. Ihre Lippen sind zuckerklebrig. »Lass uns einfach happy sein.«
Eine Gruppe Jungen – Elftklässler, nehme ich an –, die im Halbdunkel der Scheune zusammenstehen, grölen und klatschen. »Cool!«, ruft einer von ihnen und hebt eine Bierdose. »Lesbensex!«
»Halt’s Maul, du Vollpfosten!«, entgegnet Dara. Aber sie lacht. »Das ist meine Schwester.«
»Das ist jetzt echt mein Stichwort«, sage ich.
Aber Dara hört nicht zu. Ihr Gesicht ist gerötet, ihre Augen glänzen vom Alkohol. »Sie ist meine Schwester«, wiederholt sie, an niemand Speziellen und gleichzeitig an alle gerichtet, denn Dara ist die Art Person, auf die andere schauen, die sie mögen, der sie folgen. »Und meine beste Freundin.«
Weiteres Gegröle; vereinzelter Applaus. Ein anderer Junge ruft: »Los, macht schon!«
Dara legt mir einen Arm um die Schulter, beugt sich vor, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. Ihr Atem riecht süßlich, penetrant nach Schnaps. »Beste Freundinnen«, sagt sie und ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie mich umarmt oder sich an mich hängt. »Stimmt’s, Nick? Nichts – gar nichts – kann daran etwas ändern.«
Um 23:55 Uhr traf die Polizei bei einem Unfall auf der Route 101, direkt südlich des Shady Palms Motels, ein. Die Fahrerin, Nicole Warren, 17, kam mit leichten Verletzungen ins Eastern Memorial Hospital. Die Beifahrerin, Dara Warren, 16, die nicht angeschnallt war, wurde im Rettungswagen auf die Intensivstation gebracht. Ihr Zustand ist zum Zeitpunkt dieser Meldung noch immer kritisch. Wir beten alle für dich, Dara.
Unglaublich traurig. Hoffe, sie kommt durch!
mamabear27 um 6:04 Uhr
wohne direkt an der straße, hab den unfall aus 800 metern entfernung gehört!!!
qTpie27 um 8:04 Uhr
Diese Jugendlichen halten sich für unverwundbar. Warum war sie nicht angeschnallt?? Sie ist ganz allein dafür verantwortlich.
markhhammond um 8:05 Uhr
Gute Besserung!
Dara,
es tut mir so leid. Bitte wach auf.
Ich will es wiedergutmachen.
Parker
Es war eine ereignisreiche Nacht für die Polizei von Main Heights. Zwischen Mitternacht und ein Uhr am Mittwochmorgen verübten drei ortsansässige Jugendliche eine beträchtliche Anzahl kleinerer Diebstähle im Gebiet südlich der Route 23. Die Polizei wurde zunächst zum 7-Eleven am Richmond Place gerufen, wo Mark Haas, 17, Daniel Ripp, 16, und Jacob Ripp, 19, einen ortsansässigen Angestellten bedroht und belästigt hatten, bevor sie mit zwei Sechserpacks Bier, vier Packungen Eier, drei Schachteln Twinkies und drei BiFis entkamen. Die Polizei verfolgte die drei Jugendlichen zur Sutter Street, wo sie ein halbes Dutzend Briefkästen zerstört und das Haus von Mr Walter Middleton mit Eiern beworfen hatten. Letzterer ist Lehrer für Mathematik an der Highschool der Jugendlichen und hatte, wie der Reporter erfuhr, in diesem Schuljahr damit gedroht, Haas durchfallen zu lassen, weil er ihn des Abschreibens verdächtigte. Schließlich fasste die Polizei die Jugendlichen im Carren Park und nahm sie fest, nachdem die drei Jungen noch einen Rucksack, zwei Paar Jeans und ein Paar Sneakers aus der Nähe des öffentlichen Freibads gestohlen hatten. Polizeiberichten zufolge gehörten die Kleider zwei jugendlichen Nacktbadenden, die beide zur Polizeiwache von Main Heights gebracht wurden … hoffentlich erst, nachdem sie ihre Kleider wiederbekommen hatten.
dannnnnnny … du held!
grandtheftotto um 12:01 Uhr
Habt ihr nichts Besseres zu tun?
dreifachmom um 12:35 Uhr
Das Ironische an der Geschichte ist, dass diese Jungen wahrscheinlich bald selbst im 7-Eleven arbeiten werden. Irgendwie kann ich mir die drei nicht als Hirnchirurgen vorstellen.
hal.m.woodward um 14:56 Uhr
Nacktbaden? Sind sie nicht erfroren?? :P
prettymaddie um 19:22 Uhr
Wieso nennt der Bericht nicht die Namen der »zwei jugendlichen Nacktbadenden«? Hausfriedensbruch ist schließlich ein Straftatbestand, oder?
vigilantescience01 um 21:01 Uhr
Danke für Ihren Kommentar. Das ist richtig, aber gegen keinen der beiden Jugendlichen wurde Anklage erhoben.
admin um 21:15 Uhr
Mr Middleton isn Arsch.
hellicat15 um 23:01 Uhr
»Nacktbaden, Nicole?«
Es gibt viele Wörter, die man seinen Vater nie sagen hören will. Darmspülung. Orgasmus. Enttäuscht.
Nacktbaden steht ziemlich weit oben auf der Liste, vor allem wenn man gerade um drei Uhr morgens von der Polizeiwache abgeholt wurde und nichts weiter anhat als von der Polizei zur Verfügung gestellte Hosen und ein Sweatshirt, das wahrscheinlich vorher irgendeinem Obdachlosen oder mutmaßlichen Serienmörder gehört hat, weil Kleider, Tasche, Ausweis und Geld vor dem Freibad geklaut worden sind.
»Es war bloß ein Spaß«, sage ich, was dämlich ist; es ist überhaupt nicht spaßig, mitten in der Nacht beinahe splitternackt verhaftet zu werden, während man eigentlich schlafen sollte.
Die Scheinwerfer teilen die Schnellstraße in helle und dunkle Flecken. Ich bin froh, dass ich wenigstens das Gesicht meines Vaters nicht sehen kann.
»Was hast du dir nur dabei gedacht? Das hätte ich nie erwartet. Von dir nicht. Und dieser Junge, Mike …«
»Mark.«
»Wie auch immer er heißt. Wie alt ist er?«
Darauf schweige ich. Zwanzig wäre die richtige Antwort, aber ich bin schlau genug, das nicht laut zu sagen. Dad sucht nur nach jemandem, dem er die Schuld zuschieben kann. Soll er doch denken, dass ich dazu gedrängt wurde, dass irgendein Typ – ein schlechter Einfluss – mich dazu gebracht hat, im Carren Park über den Zaun zu klettern, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und einen fetten Bauchklatscher ins Schwimmerbecken zu machen, das so kalt war, dass es mir den Atem verschlug und ich lachend und nach Luft schnappend auftauchte und dabei an Dara dachte, daran, dass sie eigentlich dabei sein sollte, dass sie es verstehen würde.
Ich stelle mir vor, wie ein riesiger Felsbrocken aus der Dunkelheit auftaucht, ein Fächer aus massivem Stein, und ich muss die Augen schließen und wieder öffnen. Da ist nichts außer dem Highway, lang und glatt, und den beiden Trichtern aus Scheinwerferlicht.
»Hör zu, Nick«, sagt Dad. »Deine Mutter und ich machen uns Sorgen um dich.«
»Ich dachte, Mom und du redet nicht miteinander.« Ich öffne das Fenster einen Spaltbreit, zum einen, weil die Klimaanlage kaum kalte Luft ausspuckt, und zum anderen, damit das Rauschen des Fahrtwindes Dads Stimme übertönt.
Das ignoriert er. »Ich meine es ernst. Seit dem Unfall …«
»Bitte«, sage ich schnell, bevor er seinen Satz beenden kann. »Nicht.«
Dad seufzt und reibt sich die Augen hinter der Brille. Er riecht leicht nach den Mentholpflastern, die er sich nachts auf die Nase klebt, um nicht zu schnarchen, und er hat noch seine uralte ausgeleierte Schlafanzughose an, die mit den Rentieren. Einen Moment lang fühle ich mich wirklich richtig mies.
Dann fällt mir Dads neue Freundin wieder ein und Moms wortloser, verkniffener Blick wie bei einer Marionette mit viel zu straff gespannten Fäden.
»Du musst darüber reden, Nick«, sagt Dad. Diesmal ist seine Stimme leise, besorgt. »Wenn nicht mit mir, dann mit Dr. Lechmi. Oder mit Tante Jackie. Oder mit irgendjemandem.«
»Nein«, sage ich und lasse das Fenster ganz herunter, so dass der Wind dröhnt und den Klang meiner Stimme verweht. »Muss ich nicht.«
Dr. Leckmich – Pardon, Lechmi – sagt, ich solle jeden Tag fünf Minuten was über meine Gefühle schreiben.
Also gut:
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Mir geht’s schon besser.
Seit DEM KUSS sind bereits fünf Tage vergangen und heute Morgen in der Schule hat er noch nicht mal in meine Richtung GEATMET. Als hätte er Angst, ich könne seinen Sauerstoffkreislauf kontaminieren oder so.
Mom und Dad stehen diese Woche auch auf der Scheißliste. Dad, weil er wegen der Scheidung so ernst und besorgt tut, obwohl klar ist, dass er innerlich Rückwärtssaltos macht und Purzelbäume schlägt. Es zwingt ihn schließlich keiner dazu, uns zu verlassen. Und Mom, weil sie sich nicht durchsetzt und kein einziges Mal wegen Paw-Paw geweint hat, noch nicht mal bei der Beerdigung. Sie macht nur mechanisch immer weiter, geht zu SoulCycle und sucht nach verdammten Quinoarezepten, als könnte sie die ganze Welt zusammenhalten, indem sie für genug Ballaststoffe sorgt. Als wäre sie irgendein komischer computeranimierter Roboter in Yogahosen und Vassar-Sweatshirt.
Nick ist auch so. Es macht mich wahnsinnig. Früher war sie nicht so, glaube ich. Oder vielleicht weiß ich es nur nicht mehr. Aber seit sie auf der Highschool ist, verteilt sie dauernd gute Ratschläge, als wäre sie schon fünfundvierzig und nicht genau elf Monate und drei Tage älter als ich.
Ich weiß noch, als Mom und Dad sich letzten Monat mit uns zusammengesetzt haben, um uns das mit der Scheidung zu sagen, da hat sie noch nicht mal geblinzelt. »Okay«, hat sie nur gesagt.
Oh-scheiß-kay. Echt?
Paw-Paw ist tot, Mom und Dad hassen sich und Nick guckt mich die Hälfte der Zeit an, als wäre ich ein Alien.
Hören Sie, Dr. Leckmich, alles, was ich zu sagen habe, ist: Nichts ist okay.
Gar nichts.
Somerville und Main Heights sind keine zwanzig Kilometer voneinander entfernt, aber sie könnten genauso gut in verschiedenen Welten liegen. Main Heights ist ganz neu: Neue Häuser, neue Geschäfte, neuer Kram, frisch geschiedene Väter mit ihren frisch gekauften Eigentumswohnungen, eine kleine Ansammlung von Gipswänden, Sperrholz und frischer Farbe, wie eine Bühnenkulisse, die zu schnell aufgebaut wurde, um realistisch zu sein. Dads Wohnung geht auf einen Parkplatz und auf eine Reihe dürrer Ulmen, die die Wohnanlage vom Highway trennen, raus. Sie ist mit Teppichboden ausgelegt und die Klimaanlage macht überhaupt keine Geräusche, spuckt nur lautlos eisige, frisch aufbereitete Luft aus, so dass man das Gefühl hat, in einem Kühlschrank zu wohnen.
Trotzdem mag ich Main Heights. Ich mag mein komplett weißes Zimmer, den Geruch nach frischem Asphalt und die ganzen Billigbauten, die sich an den Himmel klammern. Main Heights ist ein Ort, wo Leute hinziehen, die vergessen wollen.
Aber zwei Tage nach dem Nacktbadevorfall bin ich auf dem Weg zurück nach Somerville.
»Ein Tapetenwechsel wird dir guttun«, sagt Dad zum zwölften Mal, was total bescheuert ist, denn genau dasselbe hat er gesagt, bevor ich nach Main Heights gezogen bin. »Und deiner Mutter wird es guttun, dich zu Hause zu haben. Sie wird sich freuen.«
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