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Diese Heldinnen möchte man gleich zur Freundin haben. »Es gibt keine langweiligen Lebensgeschichten!« Ein Roman über Altlasten und Neuanfänge, den anrührenden Irrsinn namens Familie, die Kostbarkeit von Freundschaft und darüber, dass es nie zu spät ist, um Spaß zu haben. Ein lebenskluger Roman mit Herz, Humor und einem guten Schuss Selbstironie. Drei Frauen um die 50 mit unterschiedlicher Vergangenheit und ebenso unterschiedlichen Lebenswelten finden heraus, dass sie mehr gemeinsam haben als gedacht. Tille: allein-erziehende Urologin mit eigener Praxis und pubertierendem Sohn. Almut: frisch getrennte Hausfrau und Vierfachmutter. Yeliz: erfolgreiche Werberin mit türkischen Wurzeln und dänischem Lebensgefährten. Die ungleichen Frauen freunden sich miteinander an – und haben eine clevere Idee, um sich an einem Mann zu rächen, der sie gewaltig unterschätzt. Dabei muss ihre Freundschaft einiges aushalten, aber letztlich siegt die Erkenntnis: Mit den richtigen Freundinnen kann die zweite Lebenshälfte kommen! Julia Karnicks Heldinnen sind so lebendig und echt, dass frau sie unbedingt als Freundinnen haben möchte. »Herzenswarm!« DONNA »Ein großes Lesevergnügen.« BRIGITTE WOMAN »Ein Roman wie ein großer Topf Pasta Arrabbiata: warm, beglückend und mit genau der richtigen Schärfe.« ALENA SCHRÖDER
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»Es gibt keine langweiligen Lebensgeschichten!«
Drei ungleiche Frauen um die fünfzig werden Freundinnen. Zufällig finden sie heraus, dass ihnen derselbe Mann das Leben schwer macht. Doch bevor sie sich ihn gemeinsam vorknöpfen, müssen sie sich erst mal ihren eigenen Themen stellen – und auch dem Konflikt, der zwischen ihnen schwelt.
Ein Roman über Altlasten und Neuanfänge, den anrührenden Irrsinn namens Familie, die Kostbarkeit von Freundschaft und darüber, dass es nie zu spät ist, um Spaß zu haben.
Julia Karnick
Roman
Für Christian,
der aus schlechten Zeiten das Beste macht
und aus guten Glück
(und in allen Lebenslagen: die leckerste Lasagne)
Der Notar, ein schmächtiger Mann mit einer randlosen Brille und einer überaus korrekt sitzenden Krawatte, räusperte sich. Dann begann er, das Dokument in der aufgeschlagenen Ledermappe vorzulesen. Die wenigen Dinge, die sich außerdem auf seinem riesigen Schreibtisch befanden, darunter ein Füller, ein Zettelkasten und sonderbarerweise eine Packung Kaugummi, waren in Parallelen und rechten Winkeln zueinander angeordnet.
»Trennungs- und Scheidungsfolgenvereinbarung«, las der Notar.
Seine Stimme war so hoch, dass Almut sich sorgte, nicht lange gefasst bleiben zu können. In Situationen, in denen man große Ernsthaftigkeit von ihr erwartete, überkam sie oft der Drang zu kichern. Das war schon seit ihrer Jugend so. Inzwischen war sie zweiundfünfzig, aber diese kindische Schwäche hatte sie nie ganz überwunden.
»Heute – den fünften Juni – erschienen gleichzeitig vor mir – Doppelpunkt. Erstens«, las der Notar, »Herr Christoph von der Karst, geboren elfter März – Wirtschaftsingenieur und Chief Operating Officer der Saalbaum Trading GmbH und Co. KG –«
Almut fand, er klang fast wie die Synchronstimme von Tony Curtis in ›Manche mögen’s heiß‹.
»Zweitens«, las der Notar weiter, »Almut von der Karst – von Beruf Hausfrau, nach Angabe im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft verheiratet.«
Almut versuchte zu rekapitulieren, wie das Telefonat mit ihrer Mutter gestern Abend geendet hatte. Sie hoffte, die Erinnerung daran würde ihr helfen, angemessen betreten zu gucken.
»Römisch eins. Persönliche Verhältnisse. Unsere Ehe haben wir – am achtundzwanzigsten August – vor dem Standesbeamten in Hamburg-Nord unter der Heiratsregisternummer zweiunddreißig Schrägstrich eins neun zwo geschlossen –«
Eigentlich war das Gespräch ganz friedlich verlaufen. Sie waren schon bei den Abschiedsfloskeln angelangt, aber dann hatte Almut den heutigen Notartermin erwähnt und dass er ihr bevorstand. Daraufhin hatte ihre Mutter mal wieder eine ihrer Predigten gehalten. Was für ein begabtes Mädchen sie, Almut, gewesen sei und dass Großes aus ihr hätte werden können, wenn sie sich nur genug angestrengt hätte.
Stattdessen hatte Almut sich mit einer großen Familie begnügt und damit, ein großes Haus, einen Mann und vier Kinder zu umsorgen.
»Römisch zwo. Scheidungsverfahren. Vor dem Amtsgericht Hamburg ist ein Scheidungsantrag – unter dem Aktenzeichen einundsiebzig eff vierundzwanzig Schrägstrich neunzehn – anhängig. Zur Regelung aller Trennungs- und Scheidungsfolgen und zur Auseinandersetzung unseres beiderseitigen Vermögens –«
Sie hatte Christoph neunzehnhundertachtundachtzig auf einer Party im Café Schöne Aussichten kennengelernt. Da war sie im zweiten Semester, und er saß an seiner Diplomarbeit. Als Christoph ihr den Heiratsantrag machte, hatte er gerade seine erste Beförderung hinter sich, sie war im elften Semester und hatte sich noch nicht mal angemeldet zur Magisterprüfung.
»Die Ehefrau hat vor Eheschließung Germanistik studiert und während des Studiums geheiratet –«
Nach der Verlobung hatte sie sofort die Pille abgesetzt und war noch schneller schwanger geworden als von ihr erhofft. Bei der Hochzeit war sie im siebten Monat. Als ihre Mutter sich in der Kirche schnäuzen musste, war sich Almut keineswegs sicher gewesen, dass das aus Rührung geschah.
»In der Ehezeit hatten sich die Eheleute darauf geeinigt, dass die Ehefrau keine Berufstätigkeit ausübt und ihre Kraft und Kompetenz uneingeschränkt in die Begleitung und Erziehung der gemeinsamen vier Kinder einbringt –«
Almut guckte unauffällig nach rechts.
Christophs Ellbogen ruhten auf den Armlehnen, die Hände hatte er ineinander verschränkt. Er schien dem Vortrag des piepsigen Notars genauso gebannt zu folgen, wie er vor fünfundzwanzig Jahren der Predigt des fusselbärtigen Pastors zugehört hatte, der sie getraut hatte. Sein Auge zuckte tatsächlich, so wie sie es vermutet hatte.
»Der Ehemann verpflichtet sich – zur Zahlung von Kindesunterhalt gemäß nachfolgenden Bestimmungen –«
Wie gut sie ihn kannte.
Sein Auge zuckte immer, wenn ihm irgendwas nicht schnell genug ging. Henriette war noch ganz klein gewesen, als sie es zum ersten Mal bemerkt hatte. Eine Welle aus Wehmut schlug über Almut zusammen, erstickte die Stimme des Notars und zog sie in einen Strudel aus Erinnerungen.
Christoph war dagegen gewesen, ein viertes Kind zu bekommen. Besser gesagt, er war nicht dafür. Aber wie so oft, wenn es nicht um seine Karriere ging, war sein Interesse halbherzig gewesen und damit auch sein Widerstand.
»Meinetwegen könnten wir das Projekt Familienplanung abschließen«, war seine Antwort, als sie sagte, sie wünsche sich noch ein Kind. Er klang, als erörtere er in einem Meeting den mittelmäßigen Vorschlag eines bewährten Mitarbeiters. »Aber wenn du unbedingt willst. Die räumlichen und finanziellen Kapazitäten sind ja vorhanden, und ehrlicherweise muss man sagen, am Ende des Tages ist es so was wie dein Verantwortungsbereich. Wenn du meinst, du hast da noch freie Ressourcen.«
Bei Henriettes Geburt ein gutes Jahr später war Franziska zehn, Johann und Ludwig waren sieben Jahre alt. Almut war sechsunddreißig und hingerissen von ihrem kleinen Mädchen (und davon, dass sie immer noch jung genug war, um Leben zu schenken). Christoph dagegen, damals einundvierzig, war in Sachen Kleinkinder offenbar am Ende seiner Geduld.
Sein Auge zuckte, wenn Hetti erst vor der Haustür einfiel, dass sie doch Pipi musste, wenn sie beim Lesenüben immer wieder an denselben Wörtern hängen blieb oder wenn sie ihm vorführen wollte, wie viele Kunststücke sie auf dem Einrad schon (fast) beherrschte. Nachdem Almut das Zucken das erste Mal wahrgenommen hatte, fiel es ihr immer öfter auf. Sie tröstete sich damit, dass Christoph immerhin nicht aus der Haut fuhr.
Das tat er nie.
Vor fünf oder sechs Jahren – Hetti ging noch in die Grundschule – hatte das Auge angefangen, auch abends zu zucken, wenn Christoph, sofern er überhaupt zu Hause und nicht geschäftlich unterwegs war, auf seine hastige und immer schweigsamere Art schon fertig gegessen hatte, Almut und die Kinder aber noch nicht. Sobald das Auge zuckte, wusste sie, dass er es kaum abwarten konnte, endlich ins Arbeitszimmer oder vor den Fernseher verschwinden zu können. An Tagen, an denen sie besonders dünnhäutig war, fragte sie die Kinder, ob sie zum Nachtisch noch ein Eis wollten.
Dann hatte das Auge auch beim Sex gezuckt.
Es war eines der seltenen Male gewesen, bei denen sie ihn gedrängt hatte, sie mit der Hand zu befriedigen, nachdem er mal wieder sofort gekommen war. Sie lag mit geöffnetem Schoß und geschlossenen Augen auf dem Rücken. Er lag neben ihr und streichelte sie. Das Kinn hatte er in die andere Hand gestützt, um die Erregung in ihrem Gesicht besser lesen zu können. Jedenfalls hatte sie das gedacht, als sie die Augen zugemacht hatte, um sich auf ihre Lust zu konzentrieren. Als sie die Augen kurz öffnete, sah sie, dass Christoph ihr nicht ins Gesicht schaute, sondern auf die Schlafzimmerwand.
»Dein Auge zuckt.«
Es war das einzige Mal gewesen, dass sie es aussprach.
Sie hatte die Beine zusammengeklappt, sich weggedreht und gehofft, er würde sich die Mühe machen, irgendeine lahme Ausrede zu erfinden. Schlechte Zahlen, wichtiger Termin morgen, mit den Gedanken ganz woanders, es tut mir leid. Stattdessen zog er sich erst ein T-Shirt und dann die Unterhose an.
»Möchtest du auch was trinken?«
»Ja, gerne.« Immerhin, dachte Almut, wir gehen höflich miteinander um.
Das war vor drei Jahren gewesen, als nach Franzi auch die Zwillinge ausgezogen und sie zu dritt zurückgeblieben waren in dem Haus mit den vielen Zimmern und dem riesigen Garten. Nach diesem Abend hatte sie so lange immer wieder Nein gesagt oder stumm seine Hand weggeschoben, bis er verstand, dass er es nicht mehr zu versuchen brauchte. Kurz nach ihrem fünfzigsten Geburtstag behauptete sie, er würde so laut schnarchen, dass sie nicht mehr schlafen könne neben ihm.
»Aber ich habe noch nie geschnarcht.«
»Christoph, ich hab es aufgenommen. Mit dem Handy. Soll ich es dir vorspielen?«
»Um Gottes willen, nein.« Er klang fast panisch.
Sie hatte gewusst, dass er sich um keinen Preis würde schnarchen hören wollen. Nichts verletzte ihn mehr als seine eigene Vergänglichkeit.
Almut kaufte ein neues Bett, einen neuen Nachttisch, zwei Kerzenständer und auf Ebay eine schöne, alte Leselampe. Sie strich die Wände in Franzis altem Kinderzimmer in Hague Blue und hängte weiße Vorhänge auf. Als alles an seinem Platz stand, zündete sie die Kerzen an, legte sich aufs Bett und versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie sich zuletzt so zu Hause gefühlt hatte in dem zu großen Haus.
Ob er wohl fremdging?
Im Herbst nach ihrem Auszug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer hatte sie sich das zum ersten Mal ernsthaft gefragt. Sie war aus Südfrankreich zurückgekommen, wo sie mit ihrer Cousine Urlaub gemacht hatte. Er hatte sie vom Flughafen abgeholt, Blumen gekauft und einen Tisch beim Italiener um die Ecke reserviert. So liebevoll benahm er sich nur noch, wenn er außergewöhnlich gut gelaunt war. Außergewöhnlich gute Laune bekam er vor allem aus Begeisterung über sich selbst. Das war schon immer so gewesen. Abends im Restaurant versuchte sie, mehr herauszufinden.
»Wie läuft es in der Firma? Gibt es was zu feiern?«
»Nein, wieso? Aber alles im Lot.«
Sie fischte eine Muschelschale aus den Spaghetti alle vongole. »Und was macht das Laufen? Klappt das mit dem Marathon in Florenz?«
Er spießte ein Stück Kalbsleber mit Salbei auf. »Da bin ich nicht sicher, leider. Ich habe in den letzten Wochen, was das Training angeht, nicht ansatzweise so gut performt, wie ich eigentlich müsste. Zu viel Arbeit.«
Da war sie hellhörig geworden. Wenn es weder ein berufliches noch ein sportliches Erfolgserlebnis war, das ihn in Hochstimmung versetzte, was war es dann?
Eine Frau?
Ich könnte es ihm nicht mal verübeln, hatte Almut gedacht.
Sie begann, Christoph zu beobachten, akribisch und nüchtern wie eine Wissenschaftlerin, die Daten sammelt und zueinander in Beziehung setzt. An welchen Wochentagen arbeitete er noch länger als sonst? Welche Gründe führte er dafür an? Wie reagierte er, wenn sie ihn nach seiner Arbeit ausfragte? Und was sagten seine nonverbalen Reaktionen über die Glaubwürdigkeit seiner Worte aus?
Ihrem Forschungsprojekt gab sie den Titel »Gabi«, nach jener sehr hübschen Gabriele, die erst in der Mittelstufe in ihre Klasse gekommen war und allen Jungs den Kopf verdreht hatte.
»Und wo wart ihr gestern mit den Franzosen?«
»Im Süllberg.«
»Im Deck Seven? Oder im Seven Seas?«
»Im – im Seven Seas.«
»Ach? Ich dachte, das hat montags und dienstags zu?«
Nach ein paar Wochen war Almut sich sicher, ein Muster erkannt zu haben. Falls er eine Gabi hatte, traf er sie fast jeden Montag, manchmal auch donnerstags, aber so gut wie nie am Wochenende. Beweise gab es allerdings nicht, Christoph ließ sein Handy nie lange unbeobachtet liegen. Nur ein einziges Mal vergaß er es zu Hause. Almut fand es unter der Zeitung, neben dem halb leeren Kaffeebecher. Aber sein alter Code zum Entsperren, ihr Geburtstag, funktionierte nicht mehr. Auch mit den Geburtsdaten der Kinder hatte sie kein Glück. Sie gab auf.
Es war zu würdelos.
Und selbst wenn, hatte sie sich eingeredet – es gab schlimmere Schicksale als das, mit einem Topmanager verheiratet zu sein, der selten zu Hause war und mit dem sie zwar nicht mehr das Bett teilte, aber immerhin noch den Freundes- und Bekanntenkreis, eine Mitgliedschaft im Hockey- und Tennisverein und die Vorliebe für badischen Grauburgunder. »Immerhin« wurde zu Almuts Lieblingswort, wenn sie über ihre Ehe nachdachte.
Eines Abends, im Februar vor einem Jahr, als er von einer Konferenz zum Thema »Affirmativ-effektive Führungskultur in Zeiten agil-digitaler Unternehmenstransformation« in Düsseldorf heimkehrte und ihr sechs edle Reisschalen und den kostbarsten grünen Tee mitbrachte, den er im japanischen Viertel hatte finden können, wurde sie ganz heiter, geradezu übermütig vor Erleichterung. Wer so liebevolle Geschenke machte, konnte nicht aufgehört haben zu lieben. Dessen Liebe hatte wahrscheinlich nur eine schwierige Phase durchgemacht, das kam vor in langjährigen Ehen. Auf einmal kam ihr der Gedanke, es könnte eine Gabi geben, wie ein rasend komischer Witz vor. Ein Witz, den sie Christoph unbedingt erzählen musste.
Sie saßen beim Abendessen. Die zuckerwattefarbigen, geschlossenen Tulpen, die sie morgens gekauft hatte, verstärkten ihre Frühlingssehnsucht noch. Sie erhob das Glas Weißwein.
»Ich möchte mit dir auf die Ehrlichkeit anstoßen. Und über Gabi reden.«
Christoph machte keinerlei Anstalten, sein nur wenige Zentimeter über dem Tisch schwebendes Glas in ihre Richtung zu lenken. Stattdessen bewegte sich alles Mögliche an ihm abwärts. Er stellte das Glas wieder hin. Er ließ beide Hände auf die Tischplatte sinken. Seine Gesichtsmuskulatur samt Kinnlade glitt herunter. Der ganze sich sonst so gerade haltende Mann schien in sich zusammenzufallen.
»Woher weißt du es?«
»Was weiß ich?«
Almuts Glas hing immer noch in der Luft. Dort begann es, ganz leicht zu zittern. Christophs rechte Wange sackte noch ein bisschen weiter ab, bis er aussah wie der Basset aus dem Nachbarhaus.
»Das mit Gabi.«
»Welche Gabi?«
»Gabriele. Wie hast du es rausbekommen?«
»Gabriele? Aus meiner Schule?«
»Nein, aus Viersen. Ich wollte es dir schon ganz lange sagen.«
Christoph erzählte nur widerstrebend, wie er Gabriele kennengelernt hatte. Almut brauchte eine Weile, bis sie dieses dunkle Geheimnis aus ihm herausgebohrt hatte. Als sie damit fertig war, saßen sie da, stumm und starr vor Erschöpfung und Ratlosigkeit. Das Einzige, was sich bewegte, war eine Träne, die an Christophs Wange hinunterrann. Die Träne blieb kurz an seinem glatt rasierten Kinn hängen, fiel dann auf sein grasgrünes Hemd und landete genau auf dem Polo-Ralf-Lauren-Logo.
Ein Hauch von Mitleid streifte Almuts Herz.
Dann fiel ihr ein, dass sie das grüne Hemd gestern nach dem Einkaufen gebügelt hatte, zusammen mit fünf oder sechs weiteren Poloshirts, drei Chinos und seinen beigen Shorts. Seine Anzughemden bügelte sie nie, die brachte sie in die Reinigung, auf dem Weg in den Spa- und Fitnessclub, wo dienstags und freitags um zehn der BodyFitIntense-Kurs begann. Almut dachte an die nach Schweiß und teuren Düften stinkenden Räume und die drahtigen, stets grell gut gelaunten Pferdeschwanzträgerinnen, von denen sie sich dort herumkommandieren ließ, weil man, wenn man älter wurde, nun mal etwas tun musste für sich.
Weil sie sich wohlfühlen wollte in ihrem Körper.
Weil ihr Sport so wichtig war.
Weil Christoph Sport so wichtig war.
Weil ihm eine sportliche Figur so wichtig war.
Weil sie das Gefühl gehabt hatte, sie sei ihm als Gegenleistung dafür, dass er ihren Lebensunterhalt bestritt, nicht nur anständig erzogene, erfolgreiche Kinder, einen perfekt geführten Haushalt, gut gepflegte Sozialkontakte und ein repräsentatives Zuhause schuldig, sondern auch optimal gewartete Oberschenkel.
»Ich kann so nicht mehr weitermachen.« Sie tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab.
Christoph richtete sich ein wenig auf aus seiner Zerknirschung. Almut registrierte es und verstand: Mitten in seine Verzweiflung hatte sie unbeabsichtigt einen Hoffnungsfunken geschickt, dessen Potenzial ihr Ehemann blitzschnell durchkalkulieren musste, bevor er entschied, wie in Sachen Reue weiter zu verfahren sei.
»Du willst die Scheidung?«, fragte er.
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Okay?« Er wirkte irritiert.
Ich muss ruhig bleiben und nachdenken, hatte sie sich gesagt.
Sie blieb ruhig und dachte nach, wochenlang.
Sie verlor kein Wort mehr über Gabriele und zwang sich, Christoph so distanziert-freundlich zu begegnen, wie er es seit Jahren gewohnt war. Sie suchte sich eine Anwältin und eine Therapeutin. Sie verließ sich darauf, dass Christophs Angst davor, sie könnte die Kontrolle über den Schmerz verlieren, noch größer war als sein Bedürfnis nach Klarheit. Sie lag richtig, auch er sprach das Thema nicht mehr an.
Nach gut zwei Monaten war sie mit Nachdenken fertig.
Es gab sein Lieblingsessen, Lammrücken mit Kräuterkruste in Rotweinjus mit Kartoffelplätzchen und glasierten, gebutterten Honigmöhrchen. Beim Nachtisch (Erdbeertiramisu) schlug sie ihm vor, sich zu trennen, einvernehmlich, undramatisch und ihrerseits mit dem Versprechen, Gabrieles und seinem Glück nicht im Wege zu stehen.
Unter einer Bedingung.
Bevor sie weitergesprochen hatte, hatte sie ein paarmal tief in den Bauch geatmet und sich dabei einen aufgepumpten Ballon vorgestellt, so wie Frau Sommer, ihre Therapeutin, es ihr geraten hatte.
»Ich will eine angemessene Abfindung.«
»Frau von der Karst, wenn Sie bitte als Erste?« Mit fast schriller Stimme holte der Notar Almut zurück in die Gegenwart. Er hielt ihr den Füllfederhalter entgegen. Die silberne Feder kratzte auf dem Papier, als sie die Scheidungs- und Trennungsfolgevereinbarung unterschrieb.
»Der Ehemann verpflichtet sich zum Ausgleich von Ansprüchen aus Zugewinn, Trennungsunterhalt und nachehelichem Unterhalt sowie unter sonstiger Verrechnung von wechselseitigen Ausgleichsansprüchen jeglicher Art mit Ausnahme aller Ansprüche, die die gemeinsamen Kinder betreffen, einen Gesamtbetrag in Höhe von –«
Almut reichte den Füller an Christoph weiter.
Ihn dazu zu bekommen, ihr auch noch die Wohnung in Eimsbüttel, ein Hochzeitsgeschenk seiner Eltern, zu überlassen, war schwieriger gewesen. Sie hatten sie vor wenigen Jahren saniert und an einen jungen Kollegen von Christoph und dessen Freundin vermietet.
»Die Grundbucheintragung dahin gehend, dass die Ehefrau als neue Alleineigentümerin eingetragen wird, wird hiermit allseits bewilligt und bestätigt.«
Der Notar schlug die Dokumentenmappe zu.
Am Ende hatte auch das geklappt, aber erst, nachdem sie ihm klargemacht hatte, wie perplex, ja vermutlich fassungslos die Kinder, seine Eltern, Kollegen und der gesamte Freundeskreis reagieren würden, wenn sie erführen, was für ein Fortbildungsseminar es gewesen war, auf dem er Gabriele getroffen hatte.
Er hatte die Wohnung gegen ihr Schweigen getauscht.
»Alles Gute!«, piepste der Notar, als er Almut die Hand gab. Ein kleines, schnelles, fast spechtgleiches Nicken unterstrich seine Worte. »Auch Ihnen, alles Gute!«, piepste er nochmals, während er Christophs Hand drückte. Almut fragte sich, wie er sich wohl von nicht getrennten Paaren verabschiedete. Bekam da auch jeder seinen eigenen guten Wunsch? Oder reichte bei den Glücklichen ein guter Wunsch für zwei?
Im Fahrstuhl vertieften sie sich beide in die Betrachtung des Linoleumfußbodens. Als die Tür aufging, ließ Christoph ihr den Vortritt, um in der imposanten Eingangshalle an ihr vorbeizuhasten und vor ihr die schwere Flügeltür zu erreichen, die aus dem Kontorhaus ins Freie führte. Er hielt sie ihr auf, ganz der Mann, dem die Liebe zur Ehefrau, aber nicht die guten Manieren abhandengekommen waren.
»Eine halbe Stunde habe ich noch. Wollen wir einen Kaffee trinken?«, fragte er.
Während sie auf die zwei Doppio Espresso Macchiato warteten, die sie bei einer reizenden, vom Mittagsansturm völlig überforderten Bedienung bestellt hatten, erläuterte er ihr nochmals ausführlich, womit er sie schon neulich gelangweilt hatte. Dass sein junger Kollege, an den sie die Wohnung vermietet hatten, zunächst enttäuscht, aber am Ende doch einsichtig reagiert habe auf die Kündigung wegen Eigenbedarfs, dass der Kollege sich aber eine andere Reaktion als diese auch kaum hätte erlauben können, schließlich sei er ein ehrgeiziger junger Mann, der auf Christophs Förderung angewiesen –
»Es ist also ganz sicher, dass er Ende des Monats raus ist?« Almut nahm die Abkürzung zum einzigen Punkt, der sie an dem ganzen Wohnungsthema interessierte.
»Ja, ja.« Wie immer, wenn man ihn unterbrach, wirkte Christoph gekränkt. Er straffte den Rücken und legte mit einem Ruck des linken Armes den von der Hemdmanschette verdeckten Chronometer frei, den sie ihm zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. »Tut mir leid, ich kann nicht länger warten.«
Der Kaffee kam, als er gerade gegangen war.
Die reizende Bedienung entschuldigte sich und stellte beide Tassen ab. Almut fehlte das passende Vokabular, um dagegen zu protestieren. »Mein Mann musste weg, er braucht den Kaffee nicht mehr« klang plötzlich falsch, obwohl es juristisch korrekt war. Noch waren sie nicht geschieden. Sie wusste nicht genau, warum sie nach dem ersten Espresso auch den zweiten trank, obwohl er nur noch lauwarm war und sie davon schlimmes Herzklopfen bekommen würde.
»Du musst aber zugeben, ich habe dich immer davor gewarnt, alles auf die Familienkarte zu setzen, Liebes«, hatte ihre Mutter gestern Abend am Telefon frohlockt. In zwei Monaten wurde sie dreiundachtzig. Neben Hörbüchern, Nougatpralinen und dem Formulieren von Beschwerdebriefen an die Pflegeheimleitung war Rechtbehalten eine der letzten Freuden, die ihr geblieben waren, und wenn sie die Gelegenheit dazu bekam, kostete sie sie weidlich aus. »Deine Kinder sind groß, dein Mann ist dir leider abhandengekommen, einen Beruf hattest du nie, und jetzt stehst du da. Mit nichts außer einer Wohnung und genug Geld. Gott sei Dank, wenigstens das. Hast du dir inzwischen überlegt, was du mit deinem Leben anfangen willst?«
»Natürlich habe ich das.«
Aber das stimmte nicht.
Almut betrachtete die zwei leeren Espressotassen.
Sie war nicht mal mehr sicher, welche Menschen in Zukunft noch so selbstverständlich dazugehören würden zu ihrem Leben, dass sie sie jederzeit anrufen und fragen könnte, ob sie Lust auf einen Kaffee hätten. Sie wurde weiter ab und zu eingeladen zu den Abendrunden in ihrem Freundeskreis, aber fast jede Einladung wurde mit dem mal flapsigen, mal verlegenen Hinweis versehen, außer Almut seien nur Paare da, das störe sie hoffentlich nicht. Es hätte sie nicht gestört, wenn sie nicht den Verdacht gehabt hätte, dass es (also sie, Almut) die anderen störte.
Ihr Herz pochte.
Sie brauchte Luft.
Almut versuchte erst gar nicht, die Bedienung herbeizuwinken. Sie legte einen Schein auf den Tisch und verließ das Lokal. Der heute früh noch hellblaue Himmel war bedeckt. Es war kühl, obwohl nächste Woche Sommeranfang war. Eine Möwe kreischte höhnisch. Vor ihr lag die von einem leichten Wind blaugrau gekräuselte Alster und eine Zukunft, auf die sie sich umso mehr gefreut hatte, je weiter weg sie gewesen war. Nun war diese Zukunft fast da. In sechs Wochen würde sie ausziehen aus dem zu großen Haus. Sie würde umziehen in die Wohnung, die nun ihr allein gehörte.
In ihr neues Zuhause.
In ihr neues Leben.
Ihr war kein bisschen mehr nach Kichern zumute.
Noch eine einzige Folie, dann würde sie wissen, ob sie die Wette gewonnen oder verloren hatte. Falls sie sie gewann, würden die Kollegen sie morgen, in der Agenturkonferenz, laut bewundern dafür, wie hartnäckig sie auf ihrer Idee bestanden hatte. Falls sie verlor, würde sie als aufmunternden Zuspruch getarntes Mitleid ernten, hier und da wahrscheinlich auch stille Häme. Yeliz drückte die Laptop-Fernbedienung und reichte sie an Konstantin weiter. Er würde die Präsentation beenden.
Auf der Leinwand erschien die Schlussfolie.
Sie zeigte eine blonde, nicht mehr ganz junge Frau mit Dutt und goldener Brille in einem hellen Businesskleid, aus dem so end- wie makellose Beine ragten. Die Frau stieg mit einer Bürotasche über der Schulter und einer Einkaufstasche in der Hand aus einer monströsen champagnerfarbenen Geländelimousine, die Yeliz »Schampuspanzer« getauft hatte.
Der Panzer parkte vor einer prächtigen Jugendstilvilla, die offensichtlich von einer Familie bewohnt wurde. Vor dem Haus stand ein Riesentrampolin. Auf dem Rasen lagen ein Ball und ein Roller. Hinten im Garten erkannte man eine Rutsche. Aus der halb geöffneten Haustür lugten zwei Kinder hervor. Ein etwa dreijähriger Junge, Typ Michel, und ein etwa sechsjähriges Mädchen, Typ Cinderella. Yeliz hatte vorgeschlagen, ein Mädchen Typ Ronja Räubertochter und einen Jungen Typ Emil Tischbein zu nehmen. Aber Konstantin hatte sie nur ausgelacht, und sie hatte ihm recht geben müssen.
Erst auf den zweiten Blick nahm man wahr, dass der knuffige Golden Retriever, der auf dem Treppenabsatz vor der Haustür lag, etwas im Maul hatte, das kein Kauknochen und kein Hundespielzeug war. Im Clip würde an den Hund herangezoomt werden, bis man sah, dass es sich um eine Handtasche handelte, in der Eingeweihte die Tote Marcie von Chloé erkannten. Rechts unten im Bild prangte das Logo des Konzerns, über den die Autofuzzis herrschten. Daneben stand in der Hausschrift:
Perfektion ist unser Job. Ihr Job ist: leben.
»Perfection, that’s our job. Your job is to live«, übersetzte Konstantin, um klarzumachen, wie gut der Slogan auch auf Englisch klang. Vor Jahren hatte er ihr mal erzählt, dass er seinen ersten Kuss in dem neuseeländischen Eliteinternat bekommen hatte, auf das er ein Jahr lang gegangen war. Seitdem wunderte Yeliz sich nicht mehr über seinen affigen Akzent. Sie fremdschämte sich nur noch.
Ihr rechter Fuß schmerzte höllisch, als steckten Reißzwecken darin. Sie verlagerte das Gewicht, um ihn zu entlasten. Leider stand es sich auf dem linken auch nicht besser. Beide Füße steckten in den grauen Stilettos, die sie zum Hosenanzug angezogen hatte, obwohl sie darin keine fünf Minuten schmerzfrei laufen oder stehen konnte. Die Autofuzzis bevorzugten es klassisch, besonders wenn es um das Aussehen von Frauen ging. Zum Glück befand Konstantin sich auf der Zielgeraden.
»International könnten wir kaum benutzte Hashtags wie perfectforyou oder herperfectionist kapern, aber zu Mood und Message passen auch Top-Hashtags wie bestfriend oder mybestfriend, allein über mybestfriend erreicht man Millionen Userinnen und User. Aber gut, wir haben erst mal genug Gesprächsstoff, denke ich.« Er legte die Fernbedienung auf den Konferenztisch und die Hände ineinander. »Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Und nun, Ladies and Gentlemen, sind wir gespannt, was Sie dazu sagen.«
Yeliz fragte sich, welche Ladies Konstantin meinte.
Außer ihr waren nur Männer im Raum. Der Autokonzern, zu dessen Management sie gehörten, war einer ihrer wichtigsten Kunden, er brachte ein neues SUV-Modell auf den Markt. Die Verantwortlichen hatten sich eine »mutige« Kampagne gewünscht, die »für gesellschaftlichen Gesprächsstoff und ein Maximum an medialer Resonanz sorgen« sollte, und Yeliz hatte entschieden: Sie würden die erste Werbekampagne für einen Wagen der Oberklasse entwerfen, die sich gezielt an weibliche Kundinnen richtete.
Wie bei allen Präsentationen, die sie in diesem Unternehmen schon gehalten hatte, hatten sich die Autofuzzis auch diesmal kein bisschen anmerken lassen, wie sie fanden, was sie sahen und hörten.
Waren sie begeistert? Skeptisch? Brüskiert?
Die Autofuzzis waren erheitert.
Der Oberautofuzzi – ein, wie die ganze Branche wusste, kluger, wortgewaltiger, machtgeiler und cholerischer Endfünfziger – sagte erst mal gar nichts. Er wippte auf seinem überdimensionierten Chefsessel hin und her und blickte versonnen aus dem Panoramafenster auf die Stadt, die ihm (dem von ihm geführten Konzern) zu Füßen lag. Im Rhythmus des Wippens schob er einen Montblanc-Kugelschreiber zwischen seinen Zähnen hin und her, als handele es sich um einen Ein-Euro-Bleistift. Schließlich drehte er sich abrupt wieder in Richtung Konstantin und Yeliz. Seine Mitarbeiter schauten erwartungsvoll. Er nahm den Montblanc aus dem Mund.
»Sehr gut. Sehr. Sehr. Gut. Auch der Claim. Perfektion. Stimmt. Riesenthema für Frauen. Weiß ich. Auch für meine. Die Kampagne würde ihr gefallen. Das Auto sowieso. Klar. Nur.« Er streckte den Kugelschreiber wie ein Zeigefingerdouble in die Luft. »Meine Frau bezahlt das Auto ja nicht. Das mache ich. Beziehungsweise, das macht meine Firma für mich. Und ich weiß.« Der Stift zeigte nacheinander auf die Kollegen, die links und rechts von ihm an den langen Seiten des Konferenztisches saßen. »Wir sind kein Einzelfall, meine Gattin und ich. Nicht wahr, meine Herren?«
Seine Herren nickten eifrig und schmunzelten in verschiedenen Härtegraden.
»Und wer zahlt, Frau Bademli, Herr Voss, der entscheidet. So ist das. Und zwar egal, wie sehr die kreative Lebensentwurfs-Avantgarde aus der Großstadt sich wünscht, das wäre anders.«
Yeliz war sehr gut vorbereitet.
Sie hatte alle Fakten und Zahlen im Kopf.
Ihr Team hatte Forscherinnen vom »Wissenschaftszentrum Frau und Auto« befragt. Sie hatten sich mit Studien beschäftigt, die belegten, dass Sports Utility Vehicles hauptsächlich von Männern gekauft, aber vor allem von Frauen gefahren wurden, jedenfalls wenn Kinder im Haushalt lebten. Die Männer, die sich das leisten konnten, gönnten sich einen windschnittigen Zweitwagen. Interviews mit SUV-Fahrerinnen hatten bestätigt: Die Geländelimousine war keineswegs das Männerspielzeug, als das es immer beworben wurde, sondern das Familienauto der Spitzenverdiener. Die Mütter, vorwiegend Akademikerinnen in Eltern- oder Teilzeit, liebten die SUVs, weil sie zwei ihrer wichtigsten Bedürfnisse erfüllten. Das Bedürfnis, Kinderwagen und Großeinkäufe zu verstauen.
Und das Bedürfnis nach Respekt.
Auf Grundlage all dieser Fakten hatte Yeliz zehn Argumente formuliert, an denen sie gestern Abend bis halb zehn gefeilt hatte – so lange, bis sie sie für unschlagbar gehalten hatte. Der Oberautofuzzi ließ sie nicht einmal ausreden.
»Sicher, sicher. Sehr verehrte, liebe Frau Bademli. Das glaube ich Ihnen sofort, dass der SUV in Wahrheit ein Frauenauto ist. Das Problem ist: Mit der Wahrheit können wir auf keinen Fall werben.«
Tamam, dachte Yeliz, mit der Wahrheit habt ihr es ja grundsätzlich nicht so.
Sie hielt dem Blick des Oberautofuzzis stand, während er sich in Fahrt redete. Er lächelte jetzt nicht mehr, sondern zielte mit dem Montblanc auf sie. Die konzentrierte Miene, seine Bewegungen und die angespannte Stille, die sich um ihn herum ausgebreitet hatte, erinnerten sie an einen Messerwerfer, der sich auf den nächsten Wurf vorbereitet.
»Weil, Frau Bademli. Frauen fahren gerne SUVs, können sie sich aber nicht leisten. Männer können sie sich leisten, mögen aber keine Frauenautos fahren. Darum kaufen sie sie nicht. Außer als Geschenk für die werte Gattin. Oder für die hübsche Tochter.«
Der Oberautofuzzi schaltete stimmlich in den vorletzten Gang. Den letzten, so hieß es, verwendete er ausschließlich in seinem Büro, im Vier-Augen-Gespräch hinter geschlossener Schallschutztür. Es hätte Yeliz nicht überrascht, wenn er den Kugelschreiber in ihre Richtung geschleudert hätte.
»Das heißt, Frau Bademli. Die Geländelimousine darf auf gar keinen Fall in den Verdacht geraten, ein Frauenauto zu sein. Haben Sie das verstanden? Es muss! Ein Männerauto bleiben! So wie auch bei allen anderen Oberklassemodellen ganz klar sein muss, wer unsere Zielgruppe ist. Männer! Männer! Männer!«
Als Yeliz sich eine Stunde später die Pumps von den Füßen riss, hätte sie sie am liebsten aus dem Autofenster geworfen.
»Männer, Männer, Männer.« Sie hatte die schuhlosen Füße auf dem Armaturenbrett abgelegt. »Mann, Mann, Mann, du ahnst nicht, wie scheiße ich die alle finde.«
»Stimmt«, sagte Konstantin, ohne den Blick von der Autobahn zu wenden, »ich ahne es nicht. Ich weiß es. Weil man es dir ansieht. Und ich fürchte, die anderen haben es auch gesehen.«
Er beschleunigte, wechselte die Spur und raste mit hundertneunzig an einem alten Käfer vorbei. Wenn sie weiter so gut vorankamen, könnte sie um sieben zu Hause sein. Hoffentlich war Morten da und nicht noch was trinken gegangen. Plötzlich sehnte Yeliz sich so sehr nach ihm und der stoischen Zuversicht, mit der er kleine und große Niederlagen aller Art verdaute, als hätte sie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Dabei hatten sie heute Morgen zusammen gefrühstückt.
»Und dass der schmierige Becker tatsächlich schon wieder von seinem dämlichen Architekten angefangen hat.« Yeliz klang nun wie ein Mafiaboss, der seinem Handlanger betont geduldig erklärt, warum er mit ihm unzufrieden ist, bevor er ihm die Kniescheibe zerschießt. »Frau Bademli, Herr Voss, ich sage doch immer: Stellen Sie sich den erfolgreichen fünfundvierzigjährigen Architekten vor. Wenn Sie es schaffen, den zu begeistern, begeistern Sie alle Männer.«
Den erfolgreichen Architekten mittleren Alters hielten die Autofuzzis für den begehrenswertesten aller begehrenswerten Kunden. Yeliz hatte eine Weile gebraucht, um zu verstehen, warum. Der erfolgreiche mittelalte Architekt war für die Autofuzzis ein Typ, der Stil und guten Geschmack verkörperte, ohne sich dabei der unmännlichen Neigung zum Aufhübschen verdächtig zu machen: ein Kerl, der einer kreativen, trotzdem handfesten Arbeit nachging. Eine Art Luxusklasse-Bauarbeiter, der im schwarzen Rolli vor puristischem Beton im Bauhausstil zum Sinnbild fortschrittlicher Eleganz wurde.
»Konstantin, diese reaktionären Volltrottel sind absolut lächerlich.«
Sie hätte sich zu gerne eine angezündet und tief inhaliert. Aber sie rauchte nicht mehr. Vor sieben Jahren hatte sie aufgehört, kurz nachdem sie die Pille abgesetzt hatte, nach einem Besuch bei ihrer Familie.
Ihr Bruder Aslan war damals gerade zum dritten Mal Vater geworden. Sie hatte auf dem Sofa ihrer Eltern gesessen und das Baby im Arm gehalten, während ihre kleine Schwester Funda, ihre Mutter und ihre Schwägerin Merve das Essen vorbereitet, die größeren Kinder ferngeguckt und die Männer auf dem Balkon geraucht und geredet hatten. Sie hatte den Miniaturmund ihres Neffen und die winzigen Porzellanfinger betrachtet, hatte ihre Nase in sein dichtes Haar gesteckt und die Härchen auf dem Rand der perfekten Ohren gestreichelt, und plötzlich, als hätte jemand in ihr einen Schalter umgelegt, war sie überwältigt worden von einer sehr speziellen, ihr bis dahin völlig fremden Gier.
Das muss ich auch haben, hatte sie gedacht.
»Vielleicht will ich doch ein Kind«, hatte sie auf der Heimfahrt zu Morten gesagt.
Aber erst, als sie zwei Wochen später vor dem Schlafengehen ihre letzte Zigarette zerbrochen und mit der zusammengeknüllten Packung in den Müll geschmissen hatte, hatte er verstanden, dass sie es ernst meinte mit dem Schwangerwerdenwollen. An jenem Abend hatten sie den schönsten Sex seit Langem gehabt. Sex voller Hoffnung, Vorfreude und jener aufgeregten Innigkeit, die entsteht, wenn zwei mit einer langen gemeinsamen Vergangenheit zusammen Zukunftspläne schmieden.
Es hatte nicht geklappt.
Meistens hatte Yeliz das Gefühl, darüber hinweg zu sein. Nur wenn ihr der Job mal wieder so sinnlos vorkam wie heute, war sie sich sicher, dass sie glücklicher wäre, wenn sie ein Kind hätte. Fortpflanzung, der fetteste Auftrag, den das Leben zu vergeben hatte, und sie war daran gescheitert.
Und deshalb muss ich bis zur Rente Vollzeit um Marketing-Etats pitchen, dachte Yeliz.
Immer wenn sie das dachte, wollte sie wieder anfangen zu rauchen, tat es aber nie, weil sie wusste, wie unglücklich sie Morten damit machen würde. Sein Vater war an Lungenkrebs gestorben.
Als sie merkte, dass die Wohnungstür nicht abgeschlossen war, machte ihr Herz einen Hüpfer. Töpfe klapperten, es lief Musik.
»Hej!« Morten rief ihr aus der Küche entgegen. »Rate mal, was es heute zu essen gibt! Gerade noch rechtzeitig, bevor man keinen mehr bekommt.«
Es gab Spargel, von dem Morten jedes Frühjahr aufs Neue sicher war, sie würde ihn genauso gerne mögen wie er. Sie hatte ihm schon mehrmals gestanden, dass sie ihn nur »geht so« mochte, aber bis die nächste Spargelsaison begann, hatte er das jedes Mal wieder vergessen (verdrängt). Sie küsste ihn und setzte sich an den Küchentisch. Morten, in der einen Hand eine halb nackte Kartoffel, in der anderen den Sparschäler, guckte gespannt.
»Und? Los, erzähl!«
»Verkackt.«
Während sie berichtete, schlug ihre Abneigung gegen die Autofuzzis in Ekel um. Diese Verachtung, wenn jemand es wagte, sich eine Welt auszumalen, die anders funktionierte als die, die ihnen vertraut war. Diese Selbstzufriedenheit, mit der sie sich gegenseitig darin bestätigten, dass ein naiver Depp war, wer versuchte, die von ihnen behaupteten Gesetzmäßigkeiten zur Diskussion zu stellen. Diese geistige Beschränktheit bei schier unbeschränkter Macht, die sie ohne zu zögern dazu benutzten, sie zu behandeln wie ein Schulmädchen, das seine Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte. Dabei hatte sie in den letzten Wochen bestimmt mehr nachgedacht als all diese albernen Anzugkasper zusammen im ganzen letzten Jahr. Es kotzte sie so an. Sie musste diesen Kunden abgeben.
Yeliz seufzte.
Morten seufzte auch, auf diese theatralische Art, mit der er gleichzeitig Mitgefühl und ironische Distanz ausdrückte. Nichts tröstete sie besser. Solange Morten ihren Kummer liebevoll veräppelte, war nicht alles verloren. Richtig schlimm stand es erst, wenn auch er traurig wurde, so wie damals, als sie ihm nach der zweiten künstlichen Befruchtung gestanden hatte, dass sie es nicht noch mal versuchen wollte.
Er war versteinert. Dann wollte er sie überreden, nicht aufzugeben.
Dann hatten sie zusammen geweint. Yeliz hatte Morten im Arm gehalten und Morten hatte Bamse gehalten, seinen abgewetzten Teddy, den er dem Kind, das sie nicht haben würden, schon hatte vererben wollen, als sie über das Thema Familie noch gewitzelt hatten wie über eine völlig abwegige Idee.
Morten legte den Schäler aus der Hand, kraulte Yeliz mit beiden Händen in den drahtigen Haaren wie in einem Terrierfell und küsste sie auf den Kopf.
»Bitte, bitte, weitermachen«, bettelte sie, aber er musste weiterkochen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er den dreckigen großen Topf aus dem Geschirrspüler holte und abwusch.
»Und wie war dein Tag?«, fragte sie ihn.
»Ganz okay. Sogar ziemlich gut. Ich habe die Zusage für einen Riesenauftrag bekommen. Ein Privathaus, ganz futuristischer Neubau. Ich soll die Küche und die Bibliothek bauen und wahrscheinlich auch noch so eine Art Indoor-Kletterpodest. Die Familie hat drei kleine Kinder, und die sollen ein eigenes Spielzimmer bekommen. Bisschen dekadent, aber na ja, schönes Projekt und gutes Geld.«
»Toll.« Yeliz hörte selbst, wie wenig überzeugend sie klang. »Nee, echt. Super.«
Wie gerne wäre sie die mit den Erfolgsnachrichten gewesen, dabei war Morten viel dringender darauf angewiesen als sie. Er hatte in den letzten Monaten zu wenig zu tun gehabt, und er hatte sich gegrämt deshalb, auch wenn er behauptet hatte, er sei froh, mal endlich wieder genug Zeit zu haben, um neue Möbel zu entwerfen und die Werkstatt aufzuräumen. Wobei es in dem winzigen Büro, in dem er angeblich seine Buchhaltung erledigte, so unordentlich aussah wie eh und je, als sie ihn neulich abgeholt hatte. Er war ein großartiger Tischler und ein ziemlich schlechter (chaotischer) Geschäftsmann.
»Hast du den Auftrag schon schwarz auf weiß?«
»So gut wie, aber jetzt hör auf, dir über irgendwelchen Jobscheiß den Kopf zu zerbrechen. Deck lieber mal den Tisch.«
Später im Bett schob Morten den dünnen Träger ihres Tops von ihrer Schulter und küsste sie vom Schlüsselbein bis zum Bauchnabel. Sie ließ es sich gefallen. Sie wusste, dass er hoffte, ihren Kopf zu überlisten, wenn er sich ihrem Körper widmete. Sie hoffte, es würde ihm gelingen. Aber der Kopf sprang sofort wieder an, als sie sich danach an ihn ranlöffelte. Sie nuschelte mit geschlossenen Augen in Mortens Nacken.
»Weißt du, was das Schlimmste ist daran, dass ich es versemmelt habe? Ich muss mit Gunther Salsa tanzen gehen. Wir hatten gewettet, er und ich. Er hat behauptet, ich würde nicht durchkommen mit dem Pitch. Und er hat gewonnen. Fuck. Das wurmt mich total. Albern, oder?«
Morten antwortete nicht.
Yeliz belauschte im Dunkeln seine Atemzüge und versuchte zu hören, ob er schon eingeschlafen war oder ob er nur so tat.
In der Agenturkonferenz am nächsten Morgen hielt Gerrit eine seiner typisch verschwurbelten Ansprachen, in der er Yeliz’ sensationellen Riecher für neue Trends lobte und bedauerte, dass es nun mal leider das Schicksal der Besten sei, gelegentlich zu früh dran zu sein mit ihren Ideen. Normalerweise legte sie es ihrem Chef als Führungsschwäche aus, wenn er Fehler schönredete, die mit seinem Segen gemacht worden waren. Diesmal war sie ihm dankbar.
Nach der Konferenz holte sie sich eine Wasserflasche, einen schwarzen Kaffee und eine Banane, die nicht reif genug für ihren Geschmack war. Sie zwang sich, sie trotzdem zu essen, und betrachtete dabei das Familienfoto, das zwischen einem Urlaubsschnappschuss von Morten und ihr und einem Fotostudioporträt ihrer Nichten und Neffen auf ihrem Schreibtisch stand. Gunther lachte sie manchmal aus deshalb. Er fand es spießig, sich Fotos von seinen Liebsten ins Büro zu stellen, aber Yeliz war immun gegen seinen Spott, weil sie ihn für Neid hielt.
Ich muss das Foto endlich mal gegen ein neueres austauschen, dachte sie.
Es war uralt. Sie sah blutjung aus darauf, fast kindlich, dabei war sie schon achtundzwanzig gewesen. Entstanden war es auf der Hochzeit ihrer Cousine Şeker, deshalb waren sie alle festlich gekleidet. Ihr Vater und Aslan im weißen Anzug, Funda mit kunstvoller Hochsteckfrisur in einem schulterfreien Cocktailkleid aus dunkelgrünem Samt, ihre Mutter in einem paillettenbesetzten, auberginefarbenen Kleid mit passendem Seidenhijab. Sie selbst hatte ein schlichtes nachtblaues Kleid getragen und die damals ganz neue Frisur, die zu ihrem Markenzeichen geworden war: ganz kurze Haare. Ihre Mutter war außer sich geraten, als sie sie das erste Mal so gesehen hatte, einen Tag vor Şekers Hochzeit.
Yeliz’ eigener Zorn war aus Eis gemacht. Je wütender sie war, desto kühler wurde sie. Der Zorn ihrer Mutter war aus Feuer. Erst hatte sie die Hand vor den Mund geschlagen, dann war sie explodiert.
»Aman Allahim, sabir ver! Neye benziyorsun böyle? Was hast du getan? Du siehst ja aus wie ein kleiner Junge!«
Ihre Mutter war so laut geworden, dass Funda mit offenem Mund und offenem Lippenstift in der Hand aus dem Bad gestürzt war. Gleich darauf stand auch noch Aslan im engen Flur und starrte seine Schwester an, als würden ihr beide Ohren fehlen, dabei waren es nur ihre schulterlangen schwarzen Haare, die sie sich hatte abschneiden lassen.
Nur ihr Vater hatte es nicht eilig gehabt.
Er pflegte sich aus allen Streitigkeiten rauszuhalten, und wenn das nicht möglich war, flüchtete er sich in blumige Beschwichtigungsformeln, die keinerlei Wirkung hatten außer der, die gesamte im Raum wabernde negative Energie in seine Richtung zu lenken. Er war erst aufgetaucht, als er nachdrücklich gerufen wurde von seiner Frau.
»Osman! Osman? Çabuk gel buraya. Kızıni şımartın. Başımiza ne getirecek daha!«, hatte Hayriye Bademli geschrien. »Komm her und sieh dir an, was deine Tochter schon wieder getan hat!«
Osman Bademli hatte sein Unterhemd sehr gründlich in die Hose gesteckt, dann besänftigend die Hände gehoben und »Çocuk büyütmek taş kemirmek gibidir« gemurmelt, ein Sprichwort, das wörtlich bedeutete: »Ein Kind zu erziehen ist, wie auf Steinen zu kauen.«
Aus Sicht ihrer Eltern hatte sie als junge Frau ständig Mist gebaut. Mist war alles, was ihre Eltern nicht verstanden. Dieser angebliche Mist war Teil eines Weges gewesen, der sie hierher geführt hatte – in dieses Büro, auf einen Vitra-Stuhl, von dem aus sie durch ein breites Fenster auf einen mit Containern legobunt beladenen Frachter schauen konnte, der langsam flussabwärts glitt.
Der Blick auf den Fluss befriedigte Yeliz immer wieder auf eine fast körperlich spürbare Weise, so wie ein gutes, reichliches Essen einen satt und zufrieden machte. Nicht nur seiner weltläufigen Ästhetik wegen, sondern weil er sie daran erinnerte, wer sie war: Yeliz Bademli, Client Service Director bei Kelke & Kraus, die einzige Frau in der Agentur, der ein Einzelbüro mit Hafenblick zustand.
»Darf ich reinkommen?« Gunther wartete ihre Antwort nicht ab. Er trat ein und ging Richtung Fenster. »Oder hast du keine Zeit für mich, weil du gerade den nächsten heißen Trend erschnüffelst, mit dem du deine Kunden überfordern kannst?«
Yeliz fand das nicht lustig, also lachte Gunther selbst über seinen Witz. Er setzte sich mitten auf die tiefe Fensterbank und tat dort für ein paar Augenblicke nichts, außer ihr die schöne Aussicht zu versperren und seinen Beinen beim Baumeln zuzugucken. Dann richtete er sich auf, strich mit dem angefeuchteten linken Ringfinger beide Augenbrauen glatt, führte die Faust vor den Mund wie ein Mikrofon und fing an zu singen. Er konnte sehr gut singen, er klang fast wie Peter Alexander.
»Sag mir quando, sag mir wann. Sag mir quando, quando, quando, ich dich tanzen sehen kann. Sag mir quando, sag mir wann.« Nach dieser Zeile verwandelte er sich zurück in Gunther und verschränkte die Arme. »Ich gehe hier nicht weg ohne einen verbindlichen Termin für den mir zustehenden Salsa-Abend. Wettschulden sind Ehrenschulden.«
Manchmal, jetzt zum Beispiel, war es Yeliz schleierhaft, warum sie jemanden so gerne haben konnte, der imstande war, ihr so gewaltig auf die Nerven zu gehen.
»Gunther, du kriegst deinen Salsa-Abend, versprochen«, sagte sie. »Aber ich habe echt irre viel auf dem Tisch gerade und bin auch sonst ziemlich verplant, und ich habe keine Lust, mich fünf Wochen im Voraus zu verabreden. Können wir das also bitte ein bisschen spontan machen? Und jetzt raus, ich muss was schaffen heute.«
Gunther rutschte von der Fensterbank und tänzelte leise summend Richtung Tür. Er war schon fast dort, als er noch einen überraschenden Abstecher zu ihrem Schreibtisch machte.
»Yeliz, du göttliche Agentur-Amazone, ich verehre dich«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber weißt du, was dir fehlt, um nicht nur eine sehr gute, sondern eine beeindruckende Kämpferin zu sein? Du müsstest auch noch eine gute Verliererin werden. Mach dich mal ein bisschen locker.«
Er tupfte ihr einen Kuss auf die Wange, und Yeliz sah ihm hinterher, wie er die Tür hinter sich zuzog, um den Flur hinunter in sein Büro zu gehen. Wie ihres war es ein Einzelbüro mit Elbblick, nur dass es ein bisschen größer war und ein Eckfenster hatte.
Tilles Tag begann mit einem Albtraum.
Im Traum war sie Pilotin eines großen Flugzeuges, in dessen Passagierraum Menschen saßen, von denen sie viele kannte, manche sehr gut, andere flüchtig. Ihr Praxisteam flog mit und ihre Freundin Clau, die sie endlich mal wieder in Bochum besuchen musste. Jan, ihr Vater, sogar ihre Mutter, die viel jünger aussah, als sie sie in Erinnerung hatte, waren dabei und auch ihre Friseurin, Jans Deutschlehrerin und Dr. Blaszczykowski, der neue Kollege aus der neurologischen Gemeinschaftspraxis gegenüber.
Die Fluggäste waren außerordentlich vergnügt.
Sie riefen und lachten durcheinander, während Tille im Cockpit klar wurde: Sie rasten auf eine Katastrophe zu, denn der Treibstoff ging zu Ende, und sie hatte keine Ahnung, wie man ein Flugzeug landete. Sie hätte gerne um Hilfe gerufen, aber sie tat es nicht. Ihr Hilferuf würde nichts ändern, außer dass die anderen in Panik gerieten, und sie konnte ihnen doch nicht mit ihrer eigenen jämmerlichen Angst die allerletzten glücklichen Sekunden ihres Lebens versauen. Kurz vor dem Aufprall wachte sie auf mit Kopfschmerzen, die von den Schläfen in die Stirn zogen.
Tille nahm eine Ibuprofen, ehe sie sich auf den Weg in ihre Praxis machte. Vor Beginn der Sprechstunde traf sie sich wie jeden Morgen mit Frau Tespe im Personalraum, um mit ihr einen Kaffee zu trinken und den bevorstehenden Arbeitstag durchzusprechen. Heute gab es nicht viel zu bereden, es blieb noch Zeit für andere Themen. Nachdem Frau Tespe berichtet hatte, dass sie endlich die Flüge für ihre Georgienreise gebucht hatte, erzählte Tille ihr von ihrem Traum.
Frau Tespe hörte ihrer Chefin so gewissenhaft zu, wie sie auch alle übrigen Pflichten zu erledigen pflegte, und teilte dabei den restlichen Kaffee zwischen ihnen auf. In Tilles Becher, bedruckt mit Reklame für ein Mittel gegen Harninkontinenz, gab sie einen Schuss Milch und einen halben Teelöffel Zucker, in ihren eigenen, der für ein Testosteronpräparat warb, ein Stück Süßstoff. Obwohl Tille den bösen Traum in eine ziemlich komische Geschichte verwandelte, sah Frau Tespe, die Erstkraft unter ihren Medizinischen Fachangestellten (MFA), von Pointe zu Pointe mitleidiger aus.
»Ach, Frau Seyboldt«, sagte Frau Tespe nach dem letzten Satz und berührte mit den Spitzen ihrer hageren Finger sanft Tilles Handrücken. Tille bereute es umgehend, ihr den Traum erzählt zu haben. »Nur noch zehn Wochen, dann haben Sie auch wieder Urlaub. Vorher müssten wir uns aber auf jeden Fall noch mal wegen der Homepage zusammensetzen, die Datenschutzgrundverordnung, Sie wissen ja. Ich habe Ihnen da neulich was geschickt, haben Sie gesehen?«
Noch endlose zehn Wochen bis zu den Herbstferien.
Sie war gerade erst aus dem Sommerurlaub zurückgekommen. Lesbos, dreiunddreißig Grad im Schatten. Tille hasste es, wenn es so heiß war. Aber die Hitze war ein guter Vorwand für Jan und sie gewesen, ihre Urlaubstage damit zu verbringen, im Schatten vor sich hin zu vegetieren und kaum miteinander zu reden. Tille mit einem Buch in der Hand, Jan mit seinem Handy. Nur während der Mahlzeiten war aufgefallen, dass eine prämenopausale Noch-Sechsundvierzigjährige und ein pubertärer Junge keine ideale Reisegruppe bildeten.
Ob Urlaubmachen mit einer vierzehnjährigen Tochter genauso oder noch anstrengender oder viel leichter wäre? Darüber hatte Tille nachgedacht, während sie im Schummerlicht einer Strandtaverne auch noch nach der allerkleinsten Gräte im weißen Fleisch ihrer gegrillten Dorade fahndete. Weil sie Gräten noch mehr hasste als Hitze. Und weil eine solche Beschäftigung half, den Mangel an Gesprächsstoff zu kaschieren, der zwischen Jan und ihr herrschte.
Zurück im Sprechzimmer setzte Tille sich auf den Rollhocker, der vor dem Ultraschallgerät stand. Sie stieß sich mit den Beinen kräftig vom Boden ab, ließ sich an der Untersuchungsliege vorbei durch den ganzen Raum rollen und bremste gerade noch rechtzeitig, um nicht gegen ihren Schreibtisch zu krachen. Anders als sonst hob das ihre Stimmung nicht. Auf dem Weg ins Wartezimmer, zu den ersten Patienten des Tages, begegnete ihr Frau Kemper, die einen riesigen Karton in den Lagerraum trug und wie immer grundlos gut gelaunt war.
»Einen wunderschönen guten Morgen!«
Tille kannte niemanden, der derart euphoriebegabt war wie Frau Kemper. Frau Kemper jubilierte, weil die Post pünktlich kam, weil die Blumen auf dem Praxistresen dufteten oder weil Frau Okafor sich Cornrows hatte flechten lassen, und sobald sie in irgendwas von dem selbst gebackenen Zeug hineinbiss, das ständig im Personalraum herumstand, schnaufte sie orgiastisch. Vom Ed-Sheeran-Konzert hatte sie tagelang geschwärmt, als sei ihr währenddessen der Heiland erschienen. Wenn Patienten mit sehr guten Nachrichten aus Tilles Sprechzimmer kamen, konnte es vorkommen, dass Frau Kempers Augen feucht schimmerten, während sie ihnen mit beiden Händen beide Hände drückte. Manchmal tat sie das so ausdauernd, dass Frau Tespe, die inoffizielle Hygienebeauftragte der Praxis, die Berührung als »intensiven Hautkontakt« einstufte und eine anschließende Händedesinfektion anmahnte. Frau Kemper hatte die Gabe, das Glück, sei es alltäglich oder außergewöhnlich, mittels ihres Überschwangs auf ein x-Faches seiner ursprünglichen Größe aufzupumpen, dafür wurde sie von allen geliebt. Nur Tille gruselte sich vor so viel hemmungsloser Begeisterungsfähigkeit. Heute wäre sie ihr am liebsten aus dem Weg gegangen (oder vor ihr weggelaufen Richtung Wartezimmer).
Frau Kemper aber jauchzte: »Ah, Frau Seyboldt, übrigens!«, sodass sie im Praxisflur stehen bleiben musste. »Herr Klöppel-Göttler kann heute doch, aber erst um Viertel nach zwölf. Hab’s schon eingetragen.«
Herr Klöppel-Göttler war ein schier unerträglich dröger Pharmareferent, der Tille mehrmals im Jahr mit seinem Vertreterkoffer und einem üblen Mundgeruch heimsuchte.
Er vermieste ihr die erste Hälfte der Mittagspause.
Nach Herrn Klöppel-Göttler musste sie mit Frau Okafor reden, die vor Beginn ihres zweiten Ausbildungsjahrs um ein Feedbackgespräch gebeten hatte.
»Mit Frau Tespe habe ich ja schon gesprochen, aber ich wollte gerne auch noch mal von Ihnen wissen, ob Sie mit meinen Leistungen zufrieden sind.« Ify Okafor saß steif ganz vorne auf der Kante des Stuhls vor Tilles Schreibtisch, auf dem sonst die Patienten Platz nahmen. »Oder kann ich aus Ihrer Sicht irgendwie noch was besser machen?«
Tille unterdrückte ein Gähnen.
Frau Okafor war der beste Azubi, den sie je gehabt hatte, und so zielstrebig, dass man sie auf keinen Fall mit einem müden »Alles super, weiter so!« abspeisen durfte. Sie brauchte eine Entwicklungsaufgabe, um sich ernst genommen zu fühlen. Tille schlug vor, sie solle versuchen, bestimmter als bisher gegenüber schwierigen Patienten aufzutreten.
»Seien Sie höflich, schauen Sie den Leuten freundlich in die Augen und sagen Sie ruhig, klar und deutlich, was geht und was nicht. Aber sonst alles super, weiter so!«
»Okay. Ja stimmt, das muss ich noch üben.« Ify Okafors Augen leuchteten vor Eifer. »Danke, Frau Seyboldt.«
Tille sah der Auszubildenden hinterher, die mit zufriedenem Lächeln, geradem Rücken und forschem Schritt das Sprechzimmer verließ. Sie dachte an Jan. An seine fast zum Buckel hochgezogenen Schultern. An seinen labberigen Händedruck. An sein Desinteresse allem gegenüber, das man weder aufessen noch anschalten konnte. Eigentlich, dachte Tille, konnte es nicht sein, dass zwischen ihrem Sohn und dieser jungen Frau nur drei Lebensjahre lagen. Es mussten ganze Evolutionsstufen sein.
Der Lahmacun, den sie danach im Stehen herunterschlang, lag ihr schwer im Magen. Die ganze Nachmittagssprechstunde über war ihr ein bisschen übel. Ihrem vorletzten Patienten, einem sehr alten Herrn, musste sie die Diagnose Nierenkrebs mitteilen. Als sie sagte, er müsse sich operieren lassen, fing er an zu weinen. »Meine Frau ist dement, wer soll sich denn dann um sie kümmern?« Heute war einer dieser Tage, an denen sie fast mitgeweint hätte. Der letzte Patient war ein Einundsechzigjähriger mit Bauch, Schnauzer und Erektionsstörungen.
Immerhin privat versichert.
Als Erstes fragte Tille ihn, was er beruflich machte. Das tat sie immer, wenn jemand das erste Mal zu ihr kam. Die Antwort tippte sie hinter dem Kürzel SA ins System. SA stand für Sozialanamnese. Das war, fand Tille, ein Fachbegriff, hinter dem sich gut verstecken ließ, dass sie sich vor allem aus Neugierde nach den Berufen ihrer Patientinnen und Patienten erkundigte. Vorher versuchte sie immer, die Antwort zu erraten. Ihre Trefferquote war im Laufe der Jahre erstaunlich gut geworden.
Handwerker. Bäcker oder Konditor. Oder Schlachter? Bestimmt selbstständig.
»Bäckermeister.«
Bei der Untersuchung der Hoden versteifte sich sein Penis. Das kam immer mal wieder vor.
»Na, geht doch.«
Tille sprach in exakt jenem Tonfall, in dem sie vor über vierzig Jahren von ihrer Grundschullehrerin dafür gelobt worden war, dass sie das kleine Einmaleins endlich fehlerfrei konnte. Die Grundschullehrerinnennummer führte bei neunzig Prozent der Erektionen zu umgehender Erschlaffung. Sie wartete darauf, dass der Bäckermeister »Bitte entschuldigen Sie« oder »Ich weiß auch nicht, wie mir das passieren konnte« stottern würde. Das taten sie alle.
Der Bäckermeister sagte: »Holla, altes Freundchen!«
Ein paar Augenblicke lang wussten beide nicht, welche Worte nach diesem Ausruf die passenden waren. Der Bäckermeister entschied sich für die falsche Fortsetzung.
»Das nenne ich mal heilende Hände. Vielleicht sollte ich mir doch eine Jüngere suchen. Sie haben nicht zufällig Bedarf?«
Tille teilte ihm mit, die Sprechstunde sei beendet, er möge sich bitte anziehen und sich um einen Termin bei einem männlichen Kollegen bemühen, sie könne ihm da sehr gerne jemanden empfehlen. Sie kritzelte »Urologische Praxis Dr. Feldmann, Eppendorf« auf einen Notizblock und reichte dem Bäckermeister mit einem Tschüss den Zettel, aber nicht die Hand. Es geschah ein paarmal im Jahr, dass ihr neue Patienten erzählten, sie seien zuvor bei Dr. Feldmann gewesen, aber der habe die rektale Untersuchung so grob durchgeführt, dass sie nie wieder zu ihm wollten. Erst als sie ihren Computer ausschaltete, fiel es ihr wieder ein:
Scheiße. Ich muss ja noch eine Bolo machen heute.
Als sie durchs Treppenhaus ins Erdgeschoss hinunterrannte, weil das viel schneller ging, als auf den lahmarschigsten Aufzug der Welt zu warten, traf sie auf halbem Weg auf Dr. Blaszczykowski, den neuen Neurologen, der in der Nacht aus unerfindlichen Gründen unter ihren todgeweihten Fluggästen gewesen war. Tille kannte ihn nur vom Sehen und Hallo-Sagen.
»Achtung!« Sie hatte es wirklich eilig.
»Zu Befehl!« Dr. Blaszczykowski sprang aus dem Weg, drückte sich mit dem Rücken an die Wand und salutierte. Er holte sie im Erdgeschoss wieder ein, als sie den Schnürsenkel ihres rechten Turnschuhs neu binden musste.
»Anders als Sie habe ich keine Zeit, mich zu beeilen.« Er zwinkerte ihr zu, während er ihr die Tür aufhielt. »Leider nicht von mir. Igor Strawinsky. Was immer Sie so antreibt, Frau Kollegin, ich wünsche Ihnen, es ist was Schönes.«
»Danke, gleichfalls«, sagte Tille und rannte weg.
Im feierabendvollen Rewe stand sie viel zu lange in der Kassenschlange, bis sie endlich bezahlen konnte: Bananen, Mohrrüben, eine Gurke, zwei Liter Milch, Käse, fünfhundert Gramm Salami und Toast. Und die Zutaten für die Spaghetti Bolognese, die sie für Jan kochen musste.
Tille hätten Brot und Käse völlig gereicht. Ihr war immer noch ein bisschen flau von dem Lahmacun, und Jan hatte die Schulkantine. Aber irgendwann in der Achten hatte er plötzlich behauptet, das Essen sei so eklig geworden, dass er davon kotzen müsse. Zu matschig, nicht gar, versalzen, fade, lauwarm, eiskalt. Seitdem nahm er morgens mindestens zwei, manchmal vier Salamistullen mit, und wenn ihm abends schwante, dass er wieder nichts Warmes zu essen bekommen würde, sagte er viel leiser, als er sonst redete: »Gibt’s heute nur Brot?«
Er schaffte es jedes Mal, gleichzeitig so tapfer und so enttäuscht zu klingen, als wäre er Hunger und Elend (Vollkornbrot) von klein auf gewohnt und erlaube sich nur in kurzen Augenblicken der Schwäche, auf das ganz und gar Unwahrscheinliche zu hoffen (Thunfischpizza, Nudeln mit Erbsen-Schinken-Sahne-Soße, Spinatknödel).
Manchmal fand Tille es lustig, wie sehr er sich in Sachen Verpflegung dafür bedauerte, sie zur Mutter zu haben, und wie absurd er es andererseits fand, wenn sie ihm vorschlug, selbst mal einzukaufen und zu kochen. Meistens machte sein verwöhntes, so vorwurfsvolles wie träges Selbstmitleid sie sauer. Viel öfter, als ihr Verstand es erlaubte, machte es ihr ein schlechtes Gewissen. Dann versprach sie, am nächsten Abend etwas zu kochen, obwohl sie wusste, dass sie es bereuen würde.
Als sie endlich mit den Einkäufen vor dem Eingang des Mietshauses stand, in dem sie wohnte, kam es ihr wie Folter vor, gleich Möhren, Knoblauch und Petersilie hacken zu müssen.
Alleinverdienend, alleineinkaufend, alleineinkäufetragend, alleinkochend, alleinaufräumend, alleinschlafend, alleinaufstehend, alleinerziehend, dachte Tille, manchmal hasse, hasse, hasse ich es.
Sie suchte minutenlang nach ihrem Haustürschlüssel. Sie hatte ihn in der Praxis liegen lassen. Sie klingelte. Sie klingelte ein, zwei, drei, vier Mal. Nichts passierte, obwohl sie wusste, dass Jan zu Hause war. Er war immer zu Hause, wenn sie von der Arbeit kam. Leider. Sie rief ihn auf dem Festnetztelefon an, auf seinem Handy, er ging nicht ran. Sie schrieb eine WhatsApp.
»Stehe ohne Schlüssel vor der Tür, bitte aufmachen!«
Aber die beiden Häkchen wurden nicht blau.
Sie kam nur deshalb ins Haus, weil ein Nachbar ihr die Tür öffnete. Die beiden vollen Papiertaschen waren schwer. Als sie im zweiten Stock ankam, rissen die Henkel der einen Tüte. Sie hämmerte gegen die Wohnungstür, bis sie Jan durch die milchigen Türgläser aus dem Klo kommen sah. Er öffnete die Tür. Er guckte auf sie. Er guckte auf die Einkäufe auf dem Boden. Er guckte wieder auf sie.
»Was denn?«, fragte er.
Sie war zu wütend, um etwas sagen zu können.