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Die drei Kinder Janner, Tink und Leeli Igiby leben in einer Welt namens Aerwiar, die genau wie unsere Welt ist - nur dass es dort weder Elektrizität noch Schießpulver gibt. Die Igiby-Kinder entdecken, dass ihre kleine Stadt Glipwood, abgesehen von der ständigen Bedrohung durch die grausamen Fangs, alles andere als gewöhnlich ist. Die Familie steht im Mittelpunkt eines großen Geheimnisses, das die Aufmerksamkeit der Fangs auf sie lenkt und ihr Leben - ja, ihre Welt - für immer verändern wird. "Am Rand des Dunklen Meeres der Finsternis" ist eine Geschichte voller liebenswerter, gewitzter und mutiger Charaktere, die Kinder jeden Alters begeistern wird, die in der Familie vorgelesen werden kann und über deren vielschichtige Bedeutung sicher gerne diskutiert wird.
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Seitenzahl: 435
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© 2024 Jotam Verlagein Imprint vonPermission Verlag GmbH, D-32791 Lage
ISBN: 978-3-911407-00-7 (Hardcover)
ISBN: 978-3-911407-01-4 (E-Book)
ISBN: 978-3-911407-02-1 (Hörbuch)
Titel des englischen Originals:
On the Edge of the Dark Sea of Darkness
Copyright © 2008 by Andrew Peterson
This edition is published by arrangement with WaterBrook, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
Übersetzung: Jessica Wollbach
Lektorat: Nadine Weihe, www.weihe-lektorat.de
Satz und Ebook-Erstellung: Satz & Medien Wieser, Aachen
Druck und Bindung: www.arkadruk.pl
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Für meinen Bruder
Eine kurze Einführung in die Welt von Aerwiar
Eine etwas weniger kurze Einführung in das Land Skree
Eine Einführung zur Igiby-Hütte (sehr kurz)
1. Die Kutsche kommt, und die Kutsche ist schwarz
2. Pferdeäpfel, Hammer und Tomoffeln
3. Thwaps in einem Sack
4. Ein Fremder namens Esben
5. Der Buchhändler, der Sockenmann und die Glipwood-Siedlung
6. Ein Barde auf Dunns Wiese
7. Barfuß und bettelarm
8. Zwei geworfene Steine
9. Der Glipper-Weg
10. Leeli und das Drachenlied
11. Eine Krähe wird nach der Kutsche geschickt
12. Nicht das Gleiche wie Schiffe und Haie
13. Ein Lied für die Leuchtende Insel
14. Geheimnisse und Käsesuppe
15. Zwei Träume und ein Albtraum
16. Die Buchhandlung Bücher und Allerlei
17. Das Tagebuch von Bonifer Sqoon
18. Über ein Geheimnis gestolpert
19. Kummer, Leid und Sorgen
20. Im Herrenhaus
21. Die Gehörnten Hunde
22. Die Katakomben
23. Der lechzende Geist von Brimney Stupe
24. Der Weg nach Hause
25. In der Halle des General Khrak
26. Ärger in der Buchhandlung
27. Eine Falle für die Igibys
28. Im Wald
29. Höhlenratten und Stachel-Diggel
30. Der verfrühte Tod des Vop
31. Khraks Medaillon
32. Die Zubereitung eines Madenhackbratens
33. Brücken und Äste
34. Peets Schloss
35. Feuer und Fangs
36. Mit Schattenpferd und Schattenzügeln, mit Schattenfahrer und Krähenflügeln
37. Krallen und eine Steinschleuder
38. Ein unschöner Plan
39. Das Geschenk von Buzzard Willie
40. Verrat
41. Ein Rumpeln und ein Kreischen
42. Auf Wiedersehen, Iggyfings
43. Ein Geist im Wind
44. Podo hinterher
45. Eine lange Nacht
46. Wasser aus dem Ersten Brunnen
47. Alte Wunden
48. Der Unterschlupf
49. Die Juwelen von Anniera
50. Die Thronwächter
51. Ein Brief aus der Heimat
Anhang
Die Legende der versunkenen Berge
Leseführer
Anmerkungen
Über den Autor
Lob für Die Wingfeather Saga
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die alten Geschichten besagen, dass der erste Mensch, der am ersten Morgen in der Welt, in der diese Geschichte spielt, aufwachte, gähnte und zu dem ersten Ding, was er sah, sagte: „So, da wären wir.“ Der Name des Mannes war Dwayne, und das Erste, was er sah, war ein Felsen. Neben dem Felsen stand eine Frau namens Gladys, mit der er sich sehr gut verstehen würde. In den vielen Zeitaltern, die folgten, wurde dieser erste Satz den Kindern ihrer Kinder und den Cousins der Eltern ihrer Kinder und so weiter beigebracht, bis alle sprechenden Wesen die Welt um sie herum ganz versehentlich als Aerwiar bezeichneten.
Auf Aerwiar gab es zwei Hauptkontinente, die durch einen Ozean mit dem Namen „Das Dunkle Meer der Finsternis“ getrennt waren. In der Vierten Epoche war das raue Land östlich des Meeres unter dem Namen „Dang“ bekannt und hat wenig mit dieser Geschichte zu tun. (Abgesehen von dem großen Übel, das dort entstand, und abgesehen davon, dass das Land einen Krieg gegen so ziemlich jeden führte.)
Dieses Übel war ein namenloses Übel, ein Übel mit dem Namen „Gnag der Namenlose“. Er herrschte hoch oben im Todesgebirge in der Burg Throg, und von allen Dingen, die Gnag in Aerwiar verachtete, hasste er den Hochkönig Wingfeather von der Insel Anniera am meisten. Aus irgendeinem Grund, den niemand erraten konnte, waren Gnag und seine elenden Horden nach Westen marschiert und hatten die Leuchtende Insel Anniera verschlungen, wo der gute König, sein Haus und sein edles Volk fielen.
Unzufrieden baute das namenlose Übel (namens Gnag) eine Flotte, die seine monströse Armee nach Westen über das Dunkle Meer der Finsternis zum Kontinent Skree brachte. Und er verwüstete dieses weite Land neun lange Jahre, bevor unser Abenteuer beginnt.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Das gesamte Land von Skree war grün und flach. Bis auf die Steinigen Berge im Norden, die überhaupt nicht flach waren. Und grün waren sie auch nicht. Sie waren weiß von all dem Schnee, aber wenn der Schnee schmelzen würde, könnte dort vielleicht etwas Grünes wachsen.
Ah, doch weiter südlich bedeckten die Ebenen von Palen Jabh-J den Rest von Skree mit ihrem weiten (und ausgesprochen grünen) Grasland. Natürlich mit der Ausnahme vom Glipwood-Wald. Direkt südlich der Ebenen befand sich das Linnard-Waldland, das auf keiner Karte zu finden war außer auf den Karten der Menschen, die in diesen fernen Ländern lebten.
Die Menschen, die ihr Zuhause in den Ebenen, an den Waldrändern, hoch in den Bergen und entlang des großen Flusses Blapp hatten, lebten in dauerhaftem Frieden. Das heißt, bis auf den bereits erwähnten Großen Krieg, den sie ziemlich kläglich verloren und der das Leben, wie sie es kannten, zerstört hatte.
In den neun Jahren, nachdem der König von Skree und all seine Fürsten – eigentlich alle, die Anspruch auf den Thron hatten – hingerichtet worden waren, hatte das Volk von Skree gelernt, unter der Besatzung der Fangs zu überleben. Die Fangs liefen wie Menschen umher und sahen sogar genauso aus wie Menschen, bis auf die grünlichen Schuppen, die ihren Körper bedeckten, die echsenartige Schnauze und die zwei langen, giftigen Zähne, die aus ihren knurrenden Mäulern nach unten ragten. Außerdem hatten sie Schwänze. Seit Gnag der Namenlose die freien Länder von Skree erobert hatte, besetzten die Fangs alle Städte, verlangten Steuern und waren böse zu den freien Skreeanern. Oh ja, die Menschen in Skree waren ziemlich frei, solange sie um Mitternacht in ihren Häusern waren. Und solange sie keine Waffen bei sich trugen und sich nicht beschwerten, wenn ihre Mitbürger gelegentlich auf Nimmerwiedersehen über das Meer verschleppt wurden. Aber abgesehen von den grausamen Fangs und der ständigen Bedrohung durch Tod und Folter gab es in Skree nicht viel zu befürchten. Außer in den Steinigen Bergen, wo haarige Bomnubbel mit ihren langen Zähnen und hungrigen Bäuchen über das Land stapfen und in den gefrorenen Einöden der Eisprärien, wo die wenigen, die dort ihr Zuhause hatten, täglich gegen Snickbuzzards kämpften. Weiter südlich waren die Ebenen von Palen Jabh-J ebenso sicher wie schön, abgesehen von den Rattenstinktieren, die durch das hohe Gras huschten. (Ein Bauer aus Süd-Torrboro behauptete, eines gesehen zu haben, das so groß war wie ein junger Meep, also etwa so groß wie ein ausgewachsener Chorkney, ein Tier, das in etwa so groß ist wie ein Flabbit.)
Bevor der Fluss Blapp über die Fingap-Fälle rauschte, war er breit und friedlich, klar wie eine Quelle und die Fische, die man dort fangen konnte, waren köstlich und zahm, abgesehen von den vielen Fischen, deren Haut Gift enthielt, und den Dolchfischen, die dafür bekannt waren, dass sie in Boote sprangen und den stärksten Fischer aufspießten.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Etwas außerhalb der Stadt Glipwood, am Rande der Klippen über dem Dunklen Meer, stand eine kleine Hütte, in der die Familie Igiby lebte. Die Hütte war eher schlicht, aber trotzdem gemütlich und schön gebaut und es sah sehr ordentlich dort aus trotz der drei Kinder, die dort lebten, und nachts leuchtete Liebe wie ein Feuerschein aus den Fenstern.
Und was war mit der Familie Igiby?
Abgesehen davon, dass sie immer bis spät in die Nacht am Kamin saßen und Geschichten erzählten, sie im Garten sangen, während sie die Ernte einbrachten, und der Großvater, Podo Helmer, auf der Veranda saß und Rauchringe blies, und abgesehen von all den guten, schönen Dingen, die ihre Tage dort erfüllten wie warmer Apfelwein in einem Becher während einer Winternacht, waren sie ziemlich unglücklich. Sie waren tatsächlich ziemlich unglücklich in dem Land, in dem die Fangs aus Dang lebten.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Janner Igiby lag zitternd in seinem Bett, die Augen fest geschlossen, und lauschte dem furchtbaren Geräusch der Schwarzen Kutsche, die im Mondlicht vorbeiratterte. Sein jüngerer Bruder Tink schnarchte in der Koje über ihm, und am Atem seiner kleinen Schwester Leeli konnte er erkennen, dass auch sie schlief. Janner wagte es, die Augen zu öffnen, und sah, wie der Mond, weiß wie ein Totenkopf, durch das Fenster auf ihn herabgrinste. So sehr er sich bemühte, nicht daran zu denken, ging ihm der Kinderreim, der die Kinder im Land Skree seit Jahren in Angst und Schrecken versetzte, nicht aus dem Kopf. Im fahlen Mondlicht lag er da und bewegte seine Lippen kaum.
Seht, jenseits des großen Flusses BlappKommt die Kutsche und die Kutsche ist schwarz,Mit Schattenpferd und Schattenzügeln,Mit Schattenfahrer und Krähenflügeln.
Kind, bete zum Schöpfer, dass er dich verschont,Wenn die Kutsche den Weg zu dir hinaufkommt,Damit du aus deinem Albtraum erwachst,Während sich die Kutsche auf den Weg zu dir macht.
Um dich aus deiner Koje zu reißenIn tiefster Nacht, wie es ist geheißen,Über das Meer hin zum gefrorenen Turm,Wo der Namenlose dich quält wie einen Wurm.
Auf Schloss Throg, jenseits des Landes,Weit weg von Familie und dem, was du kanntest,Wirst du weinen darüber, wie alles geschahIn der dunklen Nacht mit der Krähenschar.
Weit weg, jenseits des Flusses Blapp,Kam die Kutsche, und die Kutsche ist schwarz.Das Schattenpferd, es rennt im GaloppUnd es nimmt dich mit, für immer fort.
Kein Wunder, dass Janner nur schwer einschlafen konnte, sobald er das dumpfe Geräusch von Hufen und das Klirren von Ketten hörte. Im Geiste sah er die Krähen, die die Kutsche umkreisten und auf ihr hockten, er hörte die Schnäbel krächzen und die schwarzen Flügel schlagen. Er redete sich ein, dass er sich die Geräusche nur einbildete. Doch er wusste, dass die Schwarze Kutsche in dieser Nacht irgendwo auf dem Land vor dem Haus einer armen Seele halten würde und die Kinder dort auf Nimmerwiedersehen verschwinden würden.
Erst letzte Woche hatte er mitbekommen, wie seine Mutter geweint hatte, weil ein Mädchen aus Torrboro verschleppt worden war. Sara Cobbler war im gleichen Alter wie Janner, und er erinnerte sich daran, sie einmal getroffen zu haben, als ihre Familie durch Glipwood gereist war. Aber jetzt war sie für immer weg. Eines Abends hatte sie in ihrem Bett gelegen, genau wie er jetzt. Wahrscheinlich hatte sie ihren Eltern einen Gute-Nacht-Kuss gegeben und ein Gebet gesprochen. Und die Schwarze Kutsche war gekommen, um sie zu holen.
War sie wach gewesen?
Hatte sie das Schnauben der schwarzen Pferde vor ihrem Fenster gehört oder den Dampf aus ihren Nüstern aufsteigen sehen?
Hatten die Fangs aus Dang sie gefesselt?
Hatte sie sich gewehrt, als sie in die Kutsche gebracht wurde, als würde sie in das Maul eines Monsters gesteckt werden?
Wie auch immer sie versucht hatte, sich zu wehren, es war zwecklos. Sie war ihrer Familie entrissen worden, und das war’s. Saras Eltern hatten eine Totenwache für sie gehalten. Von der Schwarzen Kutsche verschleppt zu werden, war wie sterben. Es konnte jeden treffen, jederzeit, und man konnte nichts dagegen tun, außer zu hoffen, dass die Kutsche weiterfuhr, wenn sie durch die eigene Gasse ratterte.
Das Rattern, Klirren und die Hufschläge hallten durch die Nacht. Kam die Schwarze Kutsche näher? Würde sie in die Gasse zum Igiby-Haus abbiegen? Janner betete zu seinem Schöpfer, dass es nicht so wäre.
Nugget, Leelis Hund, hob seinen Kopf am Fußende ihres Bettes und knurrte die Nacht hinter dem Fenster an. Janner sah, wie sich eine Krähe auf einem knochigen Ast niederließ, der vom Mond beschienen wurde. Er zitterte, griff nach seiner Bettdecke und zog sie hoch bis zu seinem Kinn. Die Krähe drehte ihren Kopf und schien in Janners Augen zu blicken. Sie lächelte den Jungen höhnisch an, dessen Augen das Mondlicht reflektierten. Doch der Vogel flatterte davon. Der Mond verdunkelte sich, und das dumpfe Geräusch der Hufschläge und das Rattern der Kutsche verstummten schließlich.
Janner merkte, dass er den Atem angehalten hatte, und atmete langsam wieder aus. Er hörte, wie Nuggets Schwanz gegen die Wand schlug, und fühlte sich viel weniger allein, weil er wusste, dass der kleine Hund auch noch wach war. Bald schon schlief Janner fest, begleitet von unruhigen Träumen.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Am nächsten Morgen waren die Träume verschwunden.
Die Sonne schien, die Kühle des Morgens wich der Hitze der heißen Sommersonne, und Janner stellte sich vor, dass er fliegen könnte. Er beobachtete die Libellen, die über die Wiese schwebten, und versetzte sich gedanklich in eine der Libellen hinein, um zu sehen, was sie sah, und zu fühlen, was sie fühlte. Er stellte sich vor, wie sie mit einer leichten Drehung ihres Flügels über die Wiese schwirrte, nach links und nach rechts peitschte, sich im Wind über die Baumkronen erhob und den zerklüfteten Abhang zum Dunklen Meer herabstieg. Er stellte sich vor, dass er beim Fliegen lächeln würde, wäre er eine Libelle (obwohl er nicht sicher war, ob Libellen lächeln konnten). Er müsste sich dann nämlich keine Sorgen machen, dass der Boden ihn stolpern ließ. Janner hatte den Eindruck, dass er in den letzten Monaten die Kontrolle über seine Gliedmaßen verloren hatte; seine Finger waren länger und seine Füße größer geworden, und seine Mutter hatte kürzlich gesagt, dass er nur noch aus Ellbogen und Knien bestand.
Nachdem Janner sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, griff er in seine Tasche und zog ein gefaltetes Stück Papier heraus. Sein Magen flatterte wie in dem Moment, als er das Papier eine Woche zuvor beim Fegen des Schlafzimmers seiner Mutter entdeckt hatte. Jetzt faltete er es auseinander und betrachtete die Skizze eines Jungen, der am Bug eines kleinen Segelbootes stand. Der Junge hatte dunkles Haar und schlaksige Gliedmaßen und sah Janner unverkennbar ähnlich. Der Himmel auf der Zeichnung war mit dicken, wogenden Wolken bedeckt, und die Gischt der Wellen schien so echt und nass, dass Janner die Befürchtung hatte, er würde das Bild verschmieren, wenn er es berührte. Unter der Zeichnung stand geschrieben: „Mein zwölfter Geburtstag. Zwei Stunden allein auf dem offenen Meer und der beste Tag meines bisherigen Lebens.“
Es stand kein Name auf dem Bild, doch tief in seinem Inneren wusste Janner, dass es sich bei dem Jungen um seinen Vater handelte.
Niemand sprach je über seinen Vater – weder seine Mutter noch sein Großvater; Janner wusste wenig über ihn. Aber dieses Bild zu sehen, war, als würde er eine Tür zu einem dunklen Ort tief in seinem Inneren öffnen. Es bestätigte seinen Verdacht, dass das Leben mehr zu bieten hatte, als in der Glipwood-Siedlung zu leben und zu sterben. Janner hatte noch nie ein Schiff aus der Nähe gesehen. Er hatte sie von den Klippen aus beobachtet, kleine Flecken, die sich langsam wie Bänder durch die fernen Wellen schlängelten, gesteuert von einer Mannschaft, die auf irgendeiner abenteuerlichen Reise unterwegs war. Er stellte sich vor, auf seinem eigenen Schiff zu stehen und den Wind und die Gischt zu spüren, genauso wie der Junge auf dem Bild.
Janner wurde aus seinem Tagtraum gerissen und fand sich auf eine Heugabel gestützt bis zu den Knien in kratzendem Heu wieder. Statt den Wind vom Meer zu spüren, sah er sich einer Wolke aus Spreu und Staub gegenüber, die von ihrem Zugpferd Danny aufgewirbelt wurde. Dieser war an einen Wagen angespannt, der halb voll mit Heu war, und wartete ungeduldig darauf, ihn zur Scheune zu bringen. Janner hatte seit Sonnenaufgang gearbeitet und war bereits dreimal hin- und hergefahren, um seine Arbeit endlich hinter sich zu bringen.
Heute war das Drachentagsfest und der einzige Tag im Jahr, an dem Janner froh war, in der ruhigen Stadt Glipwood zu wohnen.
Das gesamte Dorf wartete das ganze Jahr über auf den Drachentag, an dem ganz Skree nach Glipwood hinabzusteigen schien. Es gab Spiele und Essen, seltsam aussehende Menschen aus fernen Städten und die Drachen selbst, die sich aus dem Dunklen Meer der Finsternis erhoben.
Soweit er wusste, hatte Janner mit seinen zwölf Jahren Glipwood noch nie verlassen. Das Fest war also das, was er am ehesten vom Rest der Welt sehen konnte – und ein guter Grund, sich mit dem Heu zu beeilen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute wehmütig über die Schulter zu einer Libelle, die davonschwirrte. Dann schnappte er sich mit einem Grunzen das Heu und warf es auf den Wagen. Dabei blieb er mit dem Fuß an einem Stein hängen, der unter dem Heu versteckt war, und taumelte mit dem Gesicht voran in einen frischen Haufen Pferdeäpfel von Danny dem Zugpferd.
Janner sprang spuckend auf und wischte sich das Gesicht mit einer Handvoll Heu ab. Danny sah ihn an, schnaubte und biss ein Büschel Gras ab, während Janner schnell wie eine Libelle zum Wassertrog rannte, um sich das Gesicht zu säubern.
Auf der anderen Seite des Feldes, hinter dem Zaun, grätschte Janners Bruder Tink (der eigentlich Kalmar hieß), mit zwei Nägeln zwischen den Lippen und einem Hammer in der Hand, breitbeinig auf dem Dach der Hütte. Tink versuchte, eine lockere Schindel zu befestigen, doch da er so sehr zitterte, war das gar nicht so einfach. Als er noch jünger gewesen war, war er schon nervös geworden, wenn er auf den Schultern seines Großvaters gesessen hatte. Obwohl er dabei immer gelacht hatte, waren seine Augen jedes Mal vor Angst geweitet gewesen, bis er wieder festen Boden unter den Füßen gespürt hatte.
Podo, sein Großvater, beauftragte stets Tink mit der Reparatur des Daches, weil er glaubte, es würde ihm helfen, sich seiner Angst zu stellen. Doch Tink, mittlerweile elf Jahre alt, war immer noch so ängstlich wie eh und je. Zitternd wie Espenlaub zog er einen Nagel zwischen den Lippen hervor und hämmerte ihn so zaghaft in das Dach, als würde er in sein eigenes Gesicht hämmern. Er schaute über das Feld und sah, wie Janner kopfüber in den Wasserkrug stolperte, und wünschte sich, er wäre bereits mit seiner Arbeit fertig, damit er mit seinem großen Bruder bei den Drachentagsspielen eine Partie Zibzy1 spielen könnte.
Auf dem Dach taugte Tink nichts, doch wenn seine Füße auf festem Boden standen, konnte er rennen wie ein Hirsch.
Mit dem ersten Hammerschlag glitt der Nagel aus Tinks Fingern. Er versuchte, ihn zu fangen, griff daneben und beugte sich ihm nach, wobei er sich an beiden Seiten des heißen Dachs festhielt. Nagel und Hammer klapperten in entgegengesetzter Richtung das Dach hinunter und über die Kante. Tink stöhnte auf, denn das bedeutete, dass er sich über die Kante und die Leiter wieder nach unten hangeln musste. Es bedeutete auch, dass es noch viel länger dauern würde, bis sie zum Fest in die Stadt gehen konnten.
„Hast du was verloren?“
Tinks Angst verwandelte sich in Gereiztheit. „Wirf ihn einfach wieder hoch, ja?“
Tink hörte Gelächter, dann flog der Hammer hoch und landete einige Meter vor ihm. Er nahm all seinen Mut zusammen und griff mit zitternder Hand nach dem Hammer, bevor er wieder nach unten rutschte. „Danke, Leeli“, rief er und versuchte, dabei viel netter zu klingen.
Leeli setzte sich wieder auf die Stufen an der Rückseite der Hütte und schälte weiter Tomoffeln, während sie vor sich hin summte. Nugget lag schwanzwedelnd zu ihren Füßen und hechelte im angenehm kühlen Schatten. Schon bald hievte Leeli sich mit einer kleinen Holzkrücke auf die Beine und klopfte sich die Tomoffelschalen von der Vorderseite ihres Kleides. Mit dem Eimer in der Hand humpelte sie ins Haus, dicht gefolgt von Nugget.
Ihr rechtes Bein war unterhalb ihres Knies in einem unnatürlichen Winkel nach innen gebogen, und die Zehen dieses Beines schleiften leicht über den Holzboden. Schon als Kleinkind hatte sie gelernt, mit einer winzigen Krücke unter dem Arm zu gehen, und ihr Großvater hatte ihr jedes Jahr eine größere Krücke gebaut, die noch kunstvoller und stabiler war als die davor. Ihre jetzige war aus Eibenholz gefertigt und hatte kleine violette Blumen von oben bis unten eingraviert.
Leeli ließ den Eimer mit den geschälten Tomoffeln auf den Tisch hinter ihrer Mutter Nia plumpsen, die gerade Zutaten für einen Eintopf in einen großen Topf gab.
„Ah, danke, mein Schatz.“ Nia wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und schob sich dann ein paar lose Haarsträhnen hinter die Ohren. Sie war groß und anmutig, und Leeli fand ihre Mutter so hübsch, dass das schlichte Kleid, das sie trug, an ihr wie eine königliche Robe aussah. Nias Hände waren stark und schwielig von jahrelanger harter Arbeit, jedoch sanft genug, um Leelis Haare zu flechten oder die Gesichter der Jungs zu streicheln, wenn sie ihnen einen Gute-Nacht-Kuss gab.
„Würdest du deinen Großvater für mich holen?“, fragte sie. „Er ist seit mindestens einer Stunde im Garten, um Kräuter zu sammeln, was nur eines bedeuten kann.“
Leeli lachte. „Die Thwaps sind zurück?“
„Ich fürchte, ja.“ Nia wandte sich gerade wieder ihrem Eintopf zu, als über ihnen ein weiteres Klirren ertönte. Ihre Augen folgten dem Geräusch über die Decke bis zum Fenster, wo sie und Leeli sahen, wie Tinks Hammer auf den Rasen fiel. Ein dumpfes Stöhnen kam vom Dach.
„Ich hole ihn.“ Leeli humpelte zur Hintertür und warf Tink den Hammer erneut zu.
Janner trottete zur Hütte, klatschnass von der Hüfte aufwärts, mit einem schrecklichen Geruch und einem Schwarm fetter grüner Fliegen im Schlepptau, die um seinen Kopf schwirrten.
Als Leeli zur Vorderseite der Hütte humpelte, um ihren Großvater zu suchen, hörte sie, wie ihre Mutter kreischte und Janner aus dem Haus scheuchte, wo er prompt von einem herabfallenden Hammer auf den Kopf getroffen wurde.
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Leelis einbeiniger Großvater kniete im Garten und knurrte dort etwas an. Fette rote Tomoffeln hingen von den Rebstöcken, runde Salatköpfe wuchsen friedlich in langen Reihen aus dem Boden; Grünzwiebeln, Möhren und Zuckerbeeren – Leelis Lieblingssorte – waren noch hell und taufrisch.
Wie Leeli kam auch Podo mit nur einem Bein zurecht, doch statt einer Krücke hatte er sich einen Holzstumpf unterhalb des Knies umgeschnallt. Er sprach nie darüber, wie er sein Bein verloren hatte, doch es war kein Geheimnis, dass er in seiner wilden Jugend ein Pirat gewesen war. Er unterhielt seine Enkelkinder jeden Abend mit Geschichten über seine Abenteuer auf See.
Zum Beispiel mit der Geschichte, wie damals alle achtzehn Besatzungsmitglieder krank wurden, weil sie eine Ladung verdorbener Buntbarsche gegessen hatten, die sie von einem Fischerboot in der Nähe der Phoob-Inseln geplündert hatten. Podo war der Einzige, der nicht davon gegessen hatte, und musste das Schiff allein durch einen Sturm steuern, während seine Mannschaft stöhnend im Rumpf von links nach rechts schwappte.
„Und das ist noch nicht mal das Schlimmste“, sagte Podo dann. „Ich sag’s euch! Die skreeanische Marine war mir dicht auf’n Fersen, die Kanonen feuerten und die Pfeile zischten mir nur so durchs Haar. Deswegen teilt es sich auch an drei Stellen, seht ihr? Ich kann Ponkfin heut’ kaum noch riechen, ohne dass ich den Drang hab’, das Segel einzuholen und in Deckung zu gehen …“ Die Igiby-Kinder kreischten dann vor Freude, und der alte Podo war oft so aufgeregt, dass er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn tupfen musste.
Auch jetzt wischte er sich mit dem Taschentuch über die Stirn und schielte durch die grünen Zwiebeltriebe.
„Opa?“, sagte Leeli von hinten.
Podo schwang seinen Kopf herum und wedelte mit seinem knorrigen Holzknüppel nach ihr. Sein langes weißes Haar war zerzaust, und er sah aus wie ein verrückter alter Kauz. „Wat? Pass auf, Mädel. Ich hätt’ dir fast mit meinem Holzknüppel auf’n Kopf geschlagen.“ Seine weißen buschigen Augenbrauen schossen in die Höhe und er hielt einen knorrigen Finger an seine Lippen. „Thwaps!“, zischte er.
Plötzlich sprang eine kleine, haarige Gestalt unter einer Tomoffel-Pflanze hervor und quiekte.
Podo sprang hinterher.
Nugget, der fröhlich gewinselt hatte, verlor jede Zurückhaltung und stürzte sich bellend in den Garten.
Der gemeine Thwap war ein bisschen größer als ein Skonk2 – nicht viel mehr als ein Fellknäuel mit dünnen Armen und Beinen, die so lang waren wie die Hälfte von Podos verbliebenem Schienbein. Der Knüppel des alten Mannes fand sein Ziel und manövrierte das kleine Tierchen durch die Luft, aber nicht, bevor nicht noch ein weiteres aus dem Gras hervorschnellte und Podo mit seinen langen gelben Zähnen kräftig in den Stumpf biss. Der erste Thwap krachte gegen den Stamm eines nahe gelegenen Baumes und fiel zu Boden, wo er sich sofort erhob und einen Kieselstein auf den alten Mann schleuderte. Er traf Podo genau an der Stirn. Dieser taumelte einen Moment lang und schüttelte den Kopf, während er auf den Thwap einschlug, dessen Zähne in seinem Holzbein steckten.
Die Thwaps zischten und huschten zurück in den Garten. Sekunden später tauchten sie wieder auf, einer mit einer Tomoffel in seiner pelzigen Pfote, der andere mit einem Arm voller Möhren. Sie wichen einem weiteren Hieb von Podos Knüppel aus und schossen wieder in den Garten.
Podo brüllte und schwang seinen Holzknüppel über seinen Kopf. „Passt bloß auf, ihr fiesen Nager!“
Ein Windstoß versetzte die Gartenblätter in wellenartige Bewegungen. Podos weißes Haar flog an dessen Hinterkopf hoch, und er lehnte sich mit grimmig hervorgeschobenem Kinn in die Brise. Ein Thwap erschien hinter einer Zuckerbeerenpflanze und warf einen weiteren Stein. Podo schwang den Knüppel und der Stein schoss zurück in den Garten, während die Thwaps in Deckung gingen.
„Ha!“
Einige Augenblicke vergingen, dann quiekten und schnatterten die Thwaps aufgeregt.
Podos Gesicht wurde noch ernster. Er ließ den Knüppel sinken und legte eine Hand über sein Ohr, als ob er sie verstehen könnte.
Plötzlich sauste eine fette rote Tomoffel durch die Luft und platzte auf Podos Gesicht.
„Nicht die Tomoffeln!“ Er blinzelte sich den Saft aus den Augen und schlug eine weitere Tomoffel mit seinem Knüppel weg. „Nicht meine Tomoffeln!“
Gerade als Leeli sich umdrehen wollte, sah sie, wie Podo sich kopfüber und mit Kriegsgeheul in den Garten stürzte. Sie lächelte und humpelte zurück zur Hütte, in der es bereits nach Frühstück duftete.
Nia stapfte wortlos an ihr vorbei in den Garten, schnappte sich zwei Blätter von einer Rosenpfefferpflanze und kehrte in die Küche zurück, ohne Nuggets Bellen, Podos Wutgeheul und den durch die Luft segelnden Thwaps Beachtung zu schenken.
Janner hatte es in der Zwischenzeit endlich geschafft, sich den Mist aus Gesicht und Haaren zu waschen, und ging tropfnass zur Hütte zurück.
Tink, dünn wie eine Harke, saß am Tisch neben Leeli. Sein Blick war auf den großen Haufen Würstchen gerichtet, der auf dem Herd brutzelte, und das Geräusch seines knurrenden Magens erfüllte den Raum.
„Na, schon besser.“ Nia verschränkte die Arme und versuchte, Janner nicht anzulächeln. „Ich dachte, ich würde schon frisches Gras in deinem Gesicht wachsen sehen.“
Janner errötete und schüttelte den Kopf, als er sich hinsetzte.
Leeli und Tink versuchten, ihr Kichern zu verbergen, während Nia einen Stuhl heranzog, mit Ellbogen auf dem Tisch und dem Kinn in den Händen dasaß und ihren Kindern beim Essen zusah. Janner starrte gedankenverloren aus dem Fenster; Tink lauerte wie ein Bussard über seinem Teller und aß die Milchbrötchen und Würstchen, als ob sie auf der Flucht wären; Leeli beobachtete ihre Brüder und fummelte am Saum ihres Kleides herum, summte und wippte mit dem Kopf hin und her, während sie kaute.
„Esst euch satt, meine Lieben. Es wird ein anstrengender Tag“, sagte Nia und lächelte. Die Augen der Kinder weiteten sich. „Die Seedrachen!“, riefen sie alle wie aus einem Mund.
Nia lachte und stemmte sich vom Tisch hoch. „Die Sommerdämmerung hat den goldenen Sommermond entzwei gespalten, und alle, die kommen, werden hören erneut die goldene Melodie der Drachen“, sang sie.3 „Sie kommen, so wie sie es seit tausend Jahren tun. Esst euer Frühstück auf, dann gehen wir in die Stadt. Die Hausarbeit kann warten.“
Mit einem lauten Krachen schwang die Hintertür auf und Podo stand da, schweißgebadet und außer Atem. „Thwaps!“, brüllte er und hielt ihnen einen Sack hin, in dem etwas zappelte und fauchte. Podo schlug mit seinem Holzknüppel darauf und das Quieken erstarb sofort.
Nugget kläffte, tanzte zu Podos Füßen und knabberte an dem Sack.
„Da draußen sind noch zwei von diesen kleinen Stinkern, aber die drei“ – er schüttelte den Sack – „werden nicht mehr an meinem Gemüse knabbern, das versicher’ ich euch. Diese miesen, diebischen kleinen Mistkerle …“ Er bemerkte, dass seine drei Enkelkinder und seine Tochter ihn beobachteten, und räusperte sich. „Mach dir keine Sorgen. Ich werde sie von der Klippe direkt ins Dunkle Meer werfen, nachdem ich ein paar von deinen feinen Milchbrötchen gegessen habe, meine Liebe.“ Er nickte Nia zu und versuchte, weniger schroff zu klingen.
Nia schaute ihn entgeistert an. „Wie kannst du sie nur ins Meer werfen?“
Podo kratzte sich am Kopf. „Ganz einfach. Ich nehm’ diesen Sack hier und … werf’ ihn über die Klippe. So einfach ist das.“
Leeli saß mit ihrer Gabel in der Hand und einem entsetzten Gesichtsausdruck da. „Opa, du kannst sie doch nicht einfach umbringen!“ Sie stieß sich vom Tisch ab, während die Jungen mit ihren Augen rollten. Sie humpelte auf ihrer Krücke zu ihrem hünenhaften Großvater und sah ihn mit einem süßen wehleidigen Blick an.
Podo liebte seine kleine Enkelin wie nichts anderes in Aerwiar, das wusste sie.
„Sie sind so süß, Opa, und sie tun niemandem etwas.“
Podo zischte und zeigte auf die Kratzer an seinen Armen.
Leeli schien es nicht zu bemerken. „Und alles, was sie mitnehmen, sind ein paar unserer Gemüsesorten jedes Jahr, um ihre Thwaplinge zu füttern. Ich kann nicht glauben, dass du so etwas tun würdest. Bitte, Opa, töte die kleinen Fellknäule nicht.“ Sie schnappte sich sein Hemd, zog sein Gesicht zu ihrem und küsste ihn auf seine brummige Wange. „Komm, Nugget“, sagte sie und verließ die Küche.
Der Sack quiekte und Podo schlug erneut zu, diesmal aber mit weniger Nachdruck. Mit einem Grunzen ließ er den Sack auf den Boden neben den Tisch fallen und steckte sich ein Milchbrötchen in den Mund. „Janner, mein Jung“, sagte Podo, ohne von seinem Teller aufzublicken. „Bei den Feierlichkeiten kann es da draußen ganz schön ruppig zugehen, und du weißt ja, dass die Fangs noch gemeiner sind, wenn wir Skreeaner auch nur ’n bisschen Spaß ha’m.“
„Jawohl.“ Janner sah auf seinen Teller hinunter und umklammerte die Armlehnen fest, um sich auf das vorzubereiten, was jetzt kommen würde.
„Und du bist nunmal der Älteste, was eine noble Verantwortung mit sich bringt. Das bedeutet –“
„Das bedeutet, dass ich auf Tink und Leeli aufpassen und dafür sorgen muss, dass sie sicher nach Hause kommen. Ich habe jeden Tag meines Lebens das Gleiche gesagt bekommen und ich bin nicht dumm.“ Janner war von sich selbst überrascht. Seine Wangen röteten sich, als er den schockierten Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter sah. Er wusste, dass er zu weit gegangen war, aber es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Jahre der Frustration hatten entschlossen, sich an diesem Morgen zu entladen. „Es bedeutet, dass ich ein Kindermädchen bin und dass ich nie das tun kann, was ich gerne tun würde.“
Tink prustete und versuchte, sein Lachen zu verbergen, indem er sich einen weiteren großen Bissen in den Mund schob. Janner trat ihn unter dem Tisch, was Tink nur noch mehr zum Prusten verleitete.
„Ich will nicht mein Leben damit verbringen, mich um Tink und Leeli zu sorgen, zwei kleinen Kindern hinterherzulaufen, mich wie eine alte Frau um sie zu kümmern und mein Leben zu verschwenden!“
„Mein Kind …“, begann Podo.
„Ich bin nicht dein Kind! Du bist nicht mein Vater! Und wenn mein Vater noch leben würde, dann würde er mich verstehen.“ Im selben Moment hasste Janner sich für das, was er gerade gesagt hatte. Er atmete schwer, starrte auf den Herd und hatte Angst, in das Gesicht seines Großvaters zu schauen. Seine Brust fühlte sich heiß an, und ihm kamen die Tränen. Er steckte eine Hand in seine Tasche und knüllte die gefaltete Zeichnung seines Vaters zusammen. Wie niemals zuvor wünschte er sich, er wäre auf einem Boot, draußen auf dem Dunklen Meer der Finsternis, weit weg von Glipwood und von dem, was er jetzt fühlte.
Podo kaute und schluckte sein Milchbrötchen langsam herunter, während er seinen Enkel betrachtete. „Tink, iss auf und zieh dich an, mein Jung“, sagte er, ohne seinen Blick von Janner abzuwenden.
Nia stand am Herd und schaute auf den Boden, die Hände in die Hüften gestemmt.
Der griesgrämige alte Mann wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und griff mit seinen großen Händen an die Tischkante.
Janner steckte in Schwierigkeiten. Er wusste es.
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Als die Tür hinter Tink ins Schloss fiel, zog Nia einen Stuhl zwischen Podo und Janner heran.
„Mein Jung, weißt du, dass ich dich liebe?“, fragte Podo.
Janner nickte und fügte dann hinzu: „Ja.“
„Ich weiß, dass ich nicht dein Vater bin. Er war ein guter Mann. Ein tapferer Mann. Er hat ehrenvoll gekämpft und ist im Großen Krieg ehrenhaft gestorben, und es ist meine Pflicht, euch Kinder so zu erziehen, wie es euer Vater gewollt hätte.“
Janner warf einen kurzen Blick auf seine Mutter. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie aufstand und die Teller vom Tisch räumte.
„Also, mein Jung, deine Beine werden lang und deine Stimme wird immer kräftiger. Ich nehm’ an, du denkst, dass du bald ein Mann bist, was?“ Podo sah Janner mit einer hochgezogenen, buschigen weißen Augenbraue an und schielte zu ihm hinüber. „Sprich lauter, mein Jung.“
„Na ja, ich bin zwölf! Ich weiß, dass das nicht alt ist, aber …“ Er brach ab, weil ihm nicht mehr dazu einfiel.
„Manchmal hast du das Gefühl, deine Geschwister würden dich wie ’n Anker beschweren, ist es das? Fühlt es sich manchmal so an, als sei diese kleine Stadt zu klein für die Ideen in deinem Kopf?“
Janner starrte auf seine Hände. Mit einem tiefen Atemzug zog er das Bild aus seiner Tasche. Nia hörte auf zu spülen, als Janner die Zeichnung auffaltete und sie flach auf dem Tisch ausbreitete. Er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten; sie tropften von seiner Nasenspitze auf das Bild und vermischten sich mit der Gischt des Meeres.
Nia drückte Janners Kopf an ihre Brust und strich ihm lange über die Haare. „Ich habe mich schon gefragt, wo das Bild geblieben ist.“
„Ist er es?“
Nia nickte langsam. „Ja.“
„Und hat er es gezeichnet?“
„Ja.“ Nia tupfte die Tränen auf dem Bild mit ihrer Schürze ab. „Das war eine andere Zeit. Eine andere Welt.“ Sie schwieg einen langen Moment. „Vor den Fangs. Dein Vater würde sich nichts sehnlicher wünschen, als dass du auf deinen eigenen Meeren segelst, und das wirst du eines Tages auch. Aber wenn er hier wäre, würde er dir dasselbe sagen, was dein Großvater dir jetzt sagt. Es gibt eine Zeit zum Segeln und eine Zeit, um da zu bleiben, wo man gebraucht wird.“
„Jungchen, ich verstehe mehr, als du denkst.“ Podos Stimme wurde leiser. „Aber hör mir zu: Ich war dabei, als dein Vater starb. Ich habe es zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, aber ich war trotzdem da.“
Janner sog scharf die Luft ein. „Du warst da? Was ist passiert?“
„Aye.“
„Papa, nein …“, sagte Nia.
„Es wird Zeit, dass er was darüber erfährt, wo er herkommt, Mädel.“ Podo zeigte auf die Zeichnung, dann auf Janner. „Sieh ihn dir an. Er ist das Ebenbild …“
„Ich verstehe nicht, welche Rolle das spielt. Esben von den Toten auferstehen zu lassen, wird nichts nützen. Gar nichts.“ Nias Stimme zitterte.
Janner hasste es, seine Mutter so aufgewühlt zu sehen, aber er wollte unbedingt mehr erfahren. „Sein Name war Esben?“ Janner hoffte, Podo zum Reden zu bringen.
Podo und Nia sahen ihn mit traurigen Augen an.
Nia küsste Janners Haar. „Das reicht. Bitte“, sagte sie zu Podo und verließ den Raum.
Janner schwieg.
Podo schwieg.
Die Thwaps im Sack schwiegen.
Schließlich räusperte sich Podo. „Nun, du musst mir vertrauen. Ich seh’ deinen Vater in dir. Er war ein großartiger Mann. Er hat für uns gekämpft. Er ist im Kampf für uns gestorben. Deine kleine Schwester und dein kleiner Bruder sind wertvolle Schätze, genau wie du, und wir würden nicht wollen, dass unsere Schätze verloren gehen.“ Der alte Mann beugte sich vor und senkte seine Stimme. „Blut wurde vergossen, damit ihr drei die gute Luft des Lebens atmen könnt, und wenn das bedeutet, dass du auf ein Zibzy-Spiel verzichten musst, dann ist das halt so. Zum Mannsein gehört, dass man die Bedürfnisse anderer über die eigenen stellt.“
Janner dachte an Tink und Leeli. Die Vorstellung, immer auf sie aufpassen zu müssen, machte ihm noch immer zu schaffen, aber er liebte sie. Er wollte ein guter, tapferer Mann wie sein Vater sein – dessen Name er gerade zum ersten Mal gehört hatte. „Okay, ich werde es versuchen“, sagte er und schaffte es nicht ganz, Podo in die Augen zu sehen. Janner faltete das Bild zusammen und schaute Podo fragend an. Podo nickte zustimmend, und Janner steckte das Bild vorsichtig in seine Tasche zurück.
„Also, mein Jung, wenn du so erwachsen bist, warum gehen du und deine Geschwister nicht ’ne Weile ohne deine Mutter und mich zum Fest? Wir haben noch einige Aufgaben zu erledigen. Du hast das Sagen.“
„Aber Mama hat gesagt, dass Leeli nicht …“
„Ha“, lachte Podo. „Ich werd’ mich um deine Mutter kümmern. Pass nur gut auf deine Schwester auf.“
„In Ordnung“, sagte Janner. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er das konnte.
Podo schlug mit der Hand auf den Tisch. „Na gut. Also, du musst noch was für mich tun, bevor ihr drei zum Fest aufbrecht.“ Er reichte Janner den Sack mit den Thwaps. „Könntest du diese Stinker für deinen lieben Opa Podo über die Klippe werfen?“
Janners Augen weiteten sich. „Was?“
„Ach, ich mach doch nur Spaß“, sagte Podo enttäuscht. „Das könnt’ ich nach Leelis kleiner Aufführung nie tun.“ Podo griff in seine Tasche und reichte Janner drei gräuliche Münzen. Er nahm noch einen Bissen vom Milchbrötchen, schluckte und rülpste. „Kauft euch was zu mampfen.“
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Die Igiby-Kinder rannten über den Rasen vor der Hütte, allerdings nur so schnell, wie Leeli humpeln konnte. Janner widerstand dem Drang, ihr seine Hilfe anzubieten. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass seine kleine Schwester in der Lage war, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, und dass sie, wenn sie Hilfe brauchte, darum bitten würde. Er wusste auch, dass sie zwar sehr unabhängig war, aber gleichzeitig darauf bestand, dass man auf sie wartete.
Selbst mit einem verkrüppelten Bein war Leeli bemerkenswert schnell und ihre Brüder bewegten sich im Trab, als sie den schattigen Weg hinunterliefen, der zur Stadtmitte von Glipwoord führte. Nugget trottete neben Leeli her und wedelte mit dem Schwanz, und wenn die Igiby-Kinder Schwänze gehabt hätten, dann hätten sie auch gewedelt. Aus Richtung der Stadt hörten sie bereits ungewohntes Lachen, und über den Wipfeln der Eichen wehte fröhliche Musik.
Janner war plötzlich froh, dass ihm seine beiden jüngeren Geschwister anvertraut worden waren. Er lachte darüber, wie schnell sich seine Gefühle verändert hatten. Noch vor wenigen Minuten fühlte er sich durch seine Verantwortung eingeengt – jetzt war er stolz darauf. Allein mit Tink und Leeli in die Stadt zu gehen, war zwar nicht ganz so, wie auf dem offenen Meer zu segeln wie sein Vater, aber es musste reichen.
Janner fragte sich, was sein Freund, der alte Oskar N. Reteep aus der Buchhandlung, dazu sagen würde, wenn er den Igibys ohne Erwachsene in Sicht begegnen würde. Würde Oskar ihm mehr Arbeit im Laden geben oder ihn mehr Bücher nach Hause mitnehmen lassen? Vielleicht würde er Janner endlich erlauben, die Bücher zu lesen, die nur den älteren Lesern vorbehalten waren: Die dicken Bücher mit den alten Einbänden, die in den oberen Regalen standen. Er lächelte vor sich hin. Verantwortung ist eigentlich gar nicht so schlecht, dachte er.
„Was ist denn vorhin passiert?“, fragte Tink, als sie den Weg entlangliefen.
„Nichts.“
„Was soll das heißen, nichts?“ Tink klang enttäuscht. „Keine Tracht Prügel?“
„Nein. Keine Prügel.“
„Wenn man zwölf ist, kann man also ein Stinker sein und kommt trotzdem ohne eine Tracht Prügel davon?“
„Es ist nicht so einfach zu erklären“, sagte Janner und dachte wieder an seinen Vater. Er fragte sich, wann er Tink und Leeli das Bild zeigen sollte.
„Ich kann es kaum erwarten, zwölf zu werden.“ Tink grinste verschmitzt und sie bogen um die Ecke in die Hauptstraße ein.
Janner lächelte zurück, doch innerlich war er beunruhigt. Esben. Esben Igiby. Da er den Namen seines Vaters kannte, sah Janner ihn als reale Person, nicht nur als einen glücklichen Schatten aus seinen Träumen. Meistens dachte er nicht viel an ihn, aber immer, wenn die anderen Kinder in Glipwood von ihren Vätern sprachen oder Janner fragten, warum er bei seinem alten Großvater lebte, fühlte er sich wie ein Außenseiter. Er wusste, dass Leeli und Tink dasselbe fühlten. Alle anderen in Glipwood waren dort oder irgendwo in der Nähe aufgewachsen. Doch jedes Mal, wenn Janner Podo oder Nia fragte, woher sie kamen, war die Antwort immer Schweigen. Er wusste nur, dass Podo in der Hütte aufgewachsen war und dass seine Ur-Ur-Ur-Ur-Großeltern (Janners Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großeltern) die Hütte zweihundert Jahre zuvor gebaut hatten, als Glipwood aus nicht mehr als nur einer Handvoll Gebäuden bestanden hatte.4
Jetzt hatte Glipwood eine Hauptstraße mit mehreren Häusern auf beiden Seiten. Shaggy’s Schenke stand auf der linken Seite. Auf den dunkelgrünen Schindeln war ein Schild mit einem Hund mit einer Pfeife im Maul befestigt. Daneben befand sich das größte Gebäude der Stadt, das einzige Gasthaus von Glipwood. Auf dem Schild stand „Das Einzige Gasthaus“ auf dem oberen Teil und auf dem unteren in kleineren Buchstaben „Das einzige Gasthaus in Glipwood“. Die Schusters, ein freundliches altes Ehepaar, hielten das Gasthaus warm und sauber, und die Gerüche, die aus der Küche strömten, ließen den Menschen in der Stadt das Wasser im Munde zusammenlaufen. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Friseursalon namens J. Birds, in dem man Mr. Bird meist schlafend in einem seiner Stühle entdecken konnte. Neben dem Friseursalon lag das Stadtgefängnis, wo Fangs auf der Treppe herumlungerten und Passanten Beschimpfungen an den Kopf warfen.
Breite, moosbewachsene Eichen streckten ihre Äste über die Straßen und boten willkommenen Schatten vor der Sommersonne. Kinder mit klebrigen Gesichtern mampften verschiedene Süßspeisen. Überall, wo Janner hinblickte, sah er Männer und Frauen, die unterschiedlich gekleidet und unterschiedlich groß waren. Die Frauen trugen lange, fließende, farbenfrohe Kleider, und die Männer, die neben ihnen flanierten, pafften Pfeifen und trugen alberne, runde Hüte. Ab und zu fuhr eine Pferdekutsche vorbei, deren Insassen naserümpfend aus dem Fenster spähten.
Janner, Tink und Leeli, mit Nugget an ihrer Seite, machten sich auf den Weg durch die Stadt, vorbei an dem Gasthaus (das zu dieser Jahreszeit als einziges Gasthaus in Glipwood brechend voll war), vorbei an Ferinias Blumenladen und an dem alten, morschen Gebäude, in dem die Buchhandlung Bücher und Allerlei5 untergebracht war. Im Fenster hing ein Schild:
Oskar N. ReteepInhaber/Buchhändler/IntellektuellerLiebhaber des Schönen, Seltsamen und/oder Schmackhaften
Oskar N. Reteep, ein rundlicher Mann mit einem kurzen weißen Bart und sehr lichtem Haar, winkte ihnen von seiner Veranda aus zu, wo er in einem Schaukelstuhl saß und an einer Pfeife zog. Er hatte lange Haarsträhnen über seinen sommersprossigen braunen Eierkopf gekämmt, um zu verbergen, dass er beinahe eine Glatze hatte. Der Wind wirbelte eine der Haarsträhnen umher, als winke sie den Kindern zu.
„Hallo, Janner!“, rief er, lächelte und hob eine Hand.
„Hallo, Mr. Reteep“, brüllte Janner über den Lärm der Menge hinweg. Aus dem Fenster hinter Oskar beobachtete sie ein kleiner Mann mit spitzen Ohren. Zouzab Koit war ein Bergläufer6, den Oskar sechs Jahre zuvor adoptiert hatte. Er hatte ihn in einer Kiste gefunden, die eigentlich mit Büchern aus Torrborro gefüllt gewesen sein sollte. Stattdessen befand sich darin ein ausgehungerter, verängstigter Zouzab, der sich in der Kiste versteckt hatte.
Die Bergläufer waren ein kleines Volk und in Skree kaum bekannt, doch Oskar, ein selbst ernannter Liebhaber des Schönen, Seltsamen und Schmackhaften, fand, dass Zouzab auf jeden Fall zu ihm passte. Zouzabs Beschreibungen seiner Heimat und seines entbehrungsreichen Lebens in dem Todesgebirge waren sehr schön, ebenso wie sein stoppeliges Haar und seine spitzen Gesichtszüge. Allerdings waren seine Bekleidung und sein Verhalten ziemlich seltsam. Er trug Lederhosen und ein buntes Patchworkhemd, das wie hundert kleine Fahnen um ihn herum wehte. Das Seltsamste war, dass er auf alles klettern konnte, was größer war als er selbst, und das waren die meisten Dinge. Darüber, ob er schmackhaft war, wollte Oskar nicht spekulieren.
Janner fand, dass sie zusammen ziemlich albern aussahen – Oskar rund wie ein Kürbis und Zouzab kurz und dünn wie gemähtes Unkraut.
Leeli winkte Zouzab zu. Seine Knopfaugen weiteten sich und er duckte sich außer Sichtweite.
„Wo ist Podo?“, fragte Oskar und wischte seine Brille an seiner Weste ab.
Janner versuchte, lässig zu klingen. „Zu Hause in der Hütte. Er sagte, wir könnten heute allein herkommen.“
„Oha.“ Oskar beäugte Janner durch die Brille, die auf seiner Nase saß. Janner strahlte. „Komm übermorgen in aller Frühe, ja? Auf meiner letzten Reise nach Dugtown habe ich eine wahre Fundgrube an Büchern gefunden. Ich werde Hilfe brauchen, um sie einzuladen.“
„Jawohl, ich werde da sein.“ Janner dachte an all die Bücher, die er als Nächstes lesen würde.
Oskar schielte mit einem Auge zu Tink und musterte ihn von oben bis unten. „Und bring deinen dürren Bruder mit. Wir könnten eine zusätzliche Hand gebrauchen, und so wie es aussieht, er die Muskeln.“
Tinks Augen weiteten sich. „Wirklich, Mr. Reteep?“
„So ist es, Junge.“ Oskar lächelte zu Leeli hinunter. „Was hältst du von dieser ganzen Aufregung, mein Mädchen? Glipwood ist für einen Tag eine ganz andere Stadt, nicht wahr?“
Leeli schaute sich nach den Menschen um, die an ihnen vorbeizogen, und nahm den Anblick, die Geräusche und die Gerüche in sich auf, die der verschlafenen Stadt so fremd waren. Sie lächelte. „Ich mag es. Aber nach einem Tag bin ich froh, wenn alles wieder normal ist.“
Janner rollte mit den Augen. „Ich wünschte, Glipwood wäre jeden Tag so wie heute. Ich wünschte, das Einzige Gasthaus wäre immer voll von Reisenden und Händlern mit Neuigkeiten aus Torrboro und Fort Lamdendron oder Geschichten von Entdeckern, die über den Rand der Landkarten hinausgereist sind. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass es ganze Kontinente geben könnte, die niemand aus Skree je gesehen hat? Die überhauptniemand jemals gesehen hat? Wir waren noch nie in Fort Lamdendron, und Podo sagt, dass es nur einen Tagesritt von hier entfernt sei. All diese reichen Leute aus Dugtown und Torrboro können Aerwiar wirklich sehen und müssen nicht nur den ganzen Tag Heu schaufeln …“
Oskar hob die Augenbrauen und blickte zu Janner, dessen Rede abbrach, als er den verwirrten Ausdruck im Gesicht seines Freundes sah. Oskar wischte sich über die Stirn und drückte die einzelne wehende Haarsträhne von Reteep’schem Haar auf ihren Platz zurück. „Nun, Glipwood ist scheinbar zu klein für Janner. Was sagst du dazu, junger Tink?“
Tink erschnupperte etwas in der Luft. „Ich will ein Stück Zuckerbeerkuchen.“
„Janner“, sagte Oskar, „es gibt mehr auf der Welt, als diese nur zu sehen. Wenn du hier in Glipwood keinen Frieden findest, wirst du ihn nirgendwo finden.“ Oskar deutete auf eine Kutsche, die vorbeifuhr. „Diese Leute mögen wohlhabend erscheinen, aber das ist in Wirklichkeit niemand mehr. Wenn du genau hinsiehst, erkennst du, dass die Anzüge und Kleider dieser sogenannten reichen Leute zerfleddert und geflickt sind. Die Frauen schmücken keine Ohrringe oder Halsketten. An den Fingern der Männer glitzern keine Ringe.“
Janner sah, dass er recht hatte. Warum war ihm das noch nie aufgefallen? Verärgert nickte er Oskar zu und zeichnete mit seinem Fuß Linien in den Staub. Heute mussten ihn wirklich alle Erwachsenen korrigieren, dachte er sich.
„Junge, es ist eine Sache, arm an Geld zu sein – daran ist nichts Falsches. Aber arm im Herzen zu sein – das ist fatal. Sieh dir die reichen Leute an. Ihre Augen sind traurig, und diese Traurigkeit lässt sich mit keinem Geld der Welt beheben. Sie wissen kaum noch, wie es ist, aus vollem Herzen zu lachen.“
„Aber sie scheinen glücklich zu sein, oder, Mr. Reteep? Wir konnten das Lachen und die Musik in den Straßen hören“, sagte Leeli.
„Die Menschen kommen nach Glipwood, um die Drachen zu sehen, weil es eine der einzigen Freiheiten ist, die ihnen noch bleibt. Sicher, sie und ihre Familien schlafen in ihren eigenen Häusern, und auch wenn es verwüstet werden würde, haben sie noch immer ihr eigenes Land. Doch das ist weit entfernt von Freiheit, junge Igibys. Einige von uns können sich noch daran erinnern, wie es war, nach Einbruch der Dunkelheit durch die Stadt zu schlendern oder ohne Angst auf einem Pferd durch den Wald zu reiten.“ Oskars Stimme klang wütend und es schien Janner, als spräche er nicht mehr zu ihnen, sondern zu sich selbst. „Es fühlt sich langsam so
an, als wären die Fangs schon immer hier gewesen, als hätte Gnag der Namenlose schon immer über uns geherrscht, uns ausgebeutet und unsere Kinder gestohlen.“
Janner betrachtete das schiefe Lächeln in den Gesichtern der Leute. Er sah, wie sie vor den höhnischen Fangs auf der Gefängnistreppe zurückschreckten. Hinter all der Fröhlichkeit lag ein Kummer, und zum ersten Mal war Janner alt genug, um ihn zu spüren.
Oskar besann sich und lächelte die Kinder an. „Aber es ist doch ein schöner Tag, nicht wahr, Igiby-Kinder? Es gibt Zeiten, in denen man viel nachdenkt, und Zeiten, in denen man sich entspannt. Und jetzt lauft los. Wie der große Däumling aus Honkmeadow schrieb: ‚Die Spiele beginnen schon sehr bald.‘“ Oskar winkte sie mit einem Augenzwinkern weiter, während er an seiner Pfeife paffte und sich sie Haare auf seiner Glatze zurückstrich.
Mit düsterer Miene machten sich die Kinder auf den Weg durch die belebte Straße. Janner war in Gedanken versunken und starrte auf Kommandant Gnorm, den fettesten und fiesesten Fang in ganz Glipwood. Gnorm hatte seine Füße auf einen alten Baumstumpf gestützt und nagte schmatzend am Fleisch eines Hühnerknochens, wobei man seine violette Zunge sehen konnte. Er schleuderte den Knochen nach einem alten Mann, der vorbeilief, und die Fang-Soldaten zischten und lachten, als der Mann sich verbeugte und das Fett aus seinem Gesicht wischte. Janner fiel es schwer zu glauben, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der niemand in Skree je von den Fangs aus Dang gehört hatte.
Hinter dem Gefängnis, vor dem kleinen Gebäude, in dem die Druckerei untergebracht war, stand eine Gruppe von Menschen im Kreis und lachte über etwas. Über den Köpfen der Schaulustigen ragten zwei zerlumpte Stiefel in die Luft.
Janner und Tink grinsten sich gegenseitig an.
„Peet der Sockenmann!“ Tink zeigte auf ihn und rannte los. „Komm schon, Leeli! Lass uns sehen, was er macht.“
Sie drängten sich durch die Menge und sahen den seltsamen Kerl, der in der Mitte des Kreises auf seinen Händen ging. Er sang immer wieder den Satz „Flügel und Sinne und lila Dinge“ und strampelte mit seinen Füßen im Rhythmus. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen dunkel unterlaufen und die Falten um sie herum ließen ihn aussehen, als hätte er gerade geweint. Er trug zerlumpte Kleidung und war genauso schmutzig wie seine schmuddeligen Strickstrümpfe, die er über die Hände bis zu den Ellbogen trug.
Schaulustige warfen Münzen, doch für die Bewohner von Glipwood war das ein ganz normales Verhalten von Peet. Zu Beginn des Sommers war Peet nämlich in das Straßenschild an der Kreuzung der Hauptstraße und des Wackeligen Weges (das ganz unschuldig, reglos und unübersehbar dastand) gekracht. Nachdem er die Mutter des Schildes beleidigt hatte, forderte er es zu einem Wettkampf heraus, doch das Schild hatte keine Anzeichen von Vergeltung gezeigt. Er schlug nach dem Schild, verfehlte es, drehte sich im Kreis wie ein Akrobat aus Dugtown und fiel in den Dreck, wo er die ganze Nacht über laut schnarchte.
Janner applaudierte mit der Menge, als Peet wieder auf die Beine kam, sein Haar mit einem Schwung aufrichtete, mit einem geschlossenen Auge und einer besockten Hand im Mund davonhüpfte und die Münzen im Staub liegen ließ. Janner grinste Peet hinterher, dessen buschiger Kopf die staubige Steinstraße hinauf und um die Ecke hüpfte.
„Und weg ist er“, sagte Janner.
„Glaubst du, es stimmt, dass er in der Nähe des alten Waldes wohnt?“, fragte Tink.