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Ein neuer Fall für die Animal Agents: Tiere, die sich für den Umweltschutz einsetzen Die junge Labradorhündin Berry, die Khao-Manee-Katze Yoko, der Straßenhund Doozer und der Papagei Quiri gehören zu den Agenten, die für die Geheime Gesellschaft der Tiere unermüdlich im Einsatz sind, um die Welt vor den Fehlern der Menschen zu bewahren. Ihr neuer Auftrag führt sie in den hohen Norden, wo im Meer zwischen Eis und Schnee ein riesiges rätselhaftes Wesen um Hilfe gerufen hat. Während sie der Spur nachgehen, erfährt Berry etwas Neues über ihre verschollen geglaubte Familie ... Atemberaubend abenteuerliche Tierfantasy à la »Woodwalkers« und »Animox« – spannend ab der ersten Seite!
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Seitenzahl: 352
Die junge Labradorhündin Berry, die Khao-Manee-Katze Yoko, der Straßenhund Doozer und der Papagei Quiri gehören zu den Agenten, die für die Geheime Gesellschaft der Tiere unermüdlich im Einsatz sind, um die Welt vor den Fehlern der Menschen zu bewahren. Ihr neuer Auftrag führt sie in den hohen Norden, wo im Meer zwischen Eis und Schnee ein riesiges rätselhaftes Wesen sein Unwesen treibt. Während sie zu helfen versuchen, erfährt Berry etwas Neues über ihre verschollen geglaubte Familie …
Atemberaubend abenteuerliche Tierfantasy!
Was bisher geschah
Die Geheime Gesellschaft der Tiere
Die wichtigsten Figuren
Prolog: Eine tödliche Umarmung
1. Sag niemals niemals nie
2. Es sind eisige Zeiten
3. Die Nacht der geheimen Orte
4. Magische Begegnungen
5. Erst bist du hier, dann bist du weg
6. Das Herz der Finsternis
7. Wer sucht, findet die Quelle
8. Ans Eiskalte Ufer
9. Gerüchte, Lügen und Schlimmeres
10. Die Tiere der Wasser
11. Mut ist gut
12. Eins und eins ist noch keins
Epilog: Alarm!
Plastik in den Weltmeeren
Glossar
Dank
Hätte Berry ahnen können, was geschehen würde, als sie zum ersten Mal ihr Zuhause in Hamburg verließ? Nein. Dass sie mit ihrer Lehrerin Yoko und dem Straßenhund Doozer den überintelligenten Laboraffen Zash befreien würde? Gefährlichen Roboterbienen der fiesen Firma Black-X bis ans Glorreiche Ufer nachreisen? Und auf Haunting Heart, der berühmten Schule für tierische Agentinnen und Agenten, etwas über ihre verschollenen Eltern erfahren? Ganz bestimmt nicht. Doch genauso war es.
Denn es gibt eine Welt im Verborgenen. Tiere, die sich zusammengetan haben, um die Erde und all ihre Lebewesen zu beschützen. Intelligenter, als wir Menschen es uns je vorstellen könnten. In ihrem ersten Abenteuer lernte Berry nicht nur die Geheime Gesellschaft der Tiere kennen. Ihre Gegner verwickelten sie in einen Machtkampf, der die Tierwelt entzweit und womöglich über die Zukunft des gesamten Planeten entscheidet …
… ist eine im Verborgenen arbeitende Tierorganisation mit einer Trillion Mitgliedern. Dazu da, die Welt vor den Fehlern der Menschen zu bewahren.
Ihr Motto: »Alles ist verflochten!« Denn alle Lebewesen, Tiere und Pflanzen sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Nur die zweibeinigen »Fellwechsler« scheinen das noch nicht begriffen zu haben.
Die Geheime Gesellschaft besteht aus sechs gleichberechtigten Tierkreisen, die von Sprecherinnen und Sprechern vertreten werden:
Wasserkreis (alle Tiere in oder unter Wasser)
Landkreis (Tiere, die sich auf dem weiten Land oder unter der Erde befinden)
Bergkreis (Tiere in den Gebirgen)
Waldkreis (Tiere, die sich in den Wäldern aufhalten)
Luftkreis (alle fliegenden Tiere)
Stadtkreis (Tiere in den Städten der Fellwechsler)
Der Hohe Rat ist das höchste Gremium der Tierheit. Er sitzt am Glorreichen Ufer, von wo aus er Operationen und Manöver lenkt und Versammlungen abhält.
Die Geheime Gesellschaft der Tiere kämpft nicht, sondern sucht stets friedliche Wege, um ihre Ziele zu erreichen.
Labrador-Retriever-Hündin Berry will Agentin werden. Doch weil ihre Familie eine wichtige Rolle in der Geheimen Gesellschaft der Tiere spielt, bekommt sie es mit gefährlichen Feinden zu tun.
Die weiße Khao-Manee-Katze Yoko ist schon älter, unabhängig und sehr erfahren. Sie hat Berry von klein auf in Hamburg ausgebildet, aber so manches Geheimnis vor ihr verborgen.
Deutsch Drahthaar Doozer ist am Hamburger Hafen aufgewachsen und scherte sich nicht viel um andere. Seit er die Geheime Gesellschaft der Tiere kennengelernt hat, hat sich das geändert.
Der wunderschöne Papagei Quiri lebte im Regenwald des Amazonas. Nun hilft er Achilles, dem Direktor der Agentenschule Haunting Heart, als Sprachwandler und strategischer Berater.
Der überintelligente Schimpanse ist aus einem Labor von Black-X ausgebrochen. Er versteht viel von der Welt der Fellwechsler und wünscht sich, dass die Tiere die Macht von ihnen übernehmen.
Die schwarze Perserkatze Shalima war früher ein Star auf den Katzenshows der Fellwechsler. Nach ihrer Flucht wurde sie Agentin der Geheimen Gesellschaft, obwohl sie von Trickserei gar nichts hält.
Die mutige Ratte Sun ist stets an der Seite von Shalima. Sie macht nicht viele Worte, weiß aber ganz genau, wo es langgeht, und hat ihren Freunden schon manches Mal aus der Klemme geholfen.
Der alte Labrador-Retriever ist der Onkel von Berry und Direktor von Haunting Heart. Er ist streng zu allen und besonders zu sich selbst. Denn er hat eine große Verantwortung, die ihn fast erdrückt.
Das dunkelgraue Kaninchen Urma ist Berrys größte Rivalin und tut alles, um ihre Pläne zu durchkreuzen.
Es war einer dieser fürchterlich langweiligen Winternachmittage, an denen rein gar nichts passiert. Nemo saß wie immer in der Nähe der Heizung und kämpfte mit dem Schlaf. Kein Wunder. Er hatte seinen Posten den ganzen Tag nicht verlassen. Hatte angestrengt durch die großen Scheiben auf die weiten Wasser hinausgestarrt. Den Horizont beobachtet und auf jede noch so kleine Regung mit einem lauten Warnruf reagiert. »Captain!«, hatte er gekreischt und: »Alarm!« Manchmal sogar beides. So wie es sich für einen pflichtbewussten Ausguck-Molukken-Kakadu auf der Brücke eines Forschungsschiffes nun mal gehört.
Na ja, vielleicht hatte er dabei ein kleines bisschen übertrieben und ein oder zwei Mal zu viel geschrien. Denn Kapitän Pettersen reagierte nicht mehr auf ihn. Er hatte sich in seinen Stuhl gesetzt und die Augen geschlossen. Davor hatte er noch einmal lange und genussvoll an seiner Pfeife gezogen. Auf einen Knopf gedrückt und an einem anderen gedreht. Worauf laute Musik den Raum erfüllte. Nemo kannte die Melodie schon. So gut, dass er sie hätte mitsummen können, hätte er das gewollt.
›Warum macht der Captain das?‹, wunderte Nemo sich. So konnte er ihn doch viel schlechter hören! ›Wirklich seltsam, diese Fellwechsler‹, dachte er, flog zur Mitte der Fensterreihe und inspizierte gewissenhaft das Meer.
Die Schwimmschale bewegte sich langsam durch die frostklirrenden Wasser. Nemo konnte das vertraute Brummen aus dem Innern hören. Das Klatschen und Brausen der Wellen draußen. Das knirschende Krachen brechenden Eises am Schiffsrumpf.
In weiter Ferne war die blauweiße Kontur der Gletscher und Eiskappen zu sehen, die sich in ein orangefarbenes Dämmerlicht zurückzuziehen begannen. Alles war in Bewegung, lebendig und wirkte doch unwirklich. Und kalt. Entsetzlich kalt. Viel zu kalt für einen Vogel aus warmen Gefilden. Doch seit der Kapitän ihn aus dem hölzernen Käfig eines unfreundlichen Fellwechslers befreit und zu sich an Bord genommen hatte, hatte Nemo ihn nicht mehr verlassen. Er genoss jeden einzelnen Tag seines neuen Lebens. Und schließlich gab es ja noch die Heizung. Die war schön warm, sogar wenn ihre Reisen sie bis ans Eiskalte Ufer führten. Eine Region, die die Fellwechsler »Arktis« nannten und in der Nemo als Späher und Sprachwandler für die Geheime Gesellschaft der Tiere tätig war.
Hätte ihn allerdings jemand darauf angesprochen, so hätte er zugegeben, dass die Wintertage hier für seinen Geschmack viel zu kurz waren. Aber ihn fragte ja niemand. Und so beobachtete er einfach nur, wie sich die Farben über den Wassern veränderten, milder wurden und es schwierig machten, noch etwas zu erkennen.
Nemo reckte den Kopf. Da war doch was? Eben gerade. Einen kurzen Augenblick hatte es aus dem Wasser geragt. Etwas Langes, Dunkles. Und war sofort wieder abgetaucht. Nemos grellrote Kopfhaube stellte sich auf. Er flatterte mit den schneeweißen Flügeln und schaute angestrengt zu dem fernen Punkt auf der Wasseroberfläche. Da! Noch mal.
›Was ist das nur?‹, überlegte er. Ein Schwimmschalenwrack? Ein Wal? Ein Eisbär? Ein großes, sehr großes Walross? Nein, das da war viel zu lang und zu dünn dafür. Es hatte eher ausgesehen wie eine … Schlange. Eine Wasserschlange? Hier? Am Eisigen Ufer? Nemo war mit einem Schlag hellwach, wippte hin und her, um sich besser konzentrieren zu können.
»Es schwimmt auf uns zu!« Mit dem einen Auge schaute er ratlos zum Kapitän rüber, der dasaß, der Musik lauschte und ganz offensichtlich nichts bemerkte. Mit dem anderen sah Nemo nochmals hinaus. Es gab keinerlei Zweifel. Etwas tauchte immer wieder aus dem Wasser auf. Näherte sich ihnen.
Nemo räusperte sich.
»Captain?«, kam es zögerlich krächzend aus seinem großen schwarzen Schnabel. Er lauschte und schluckte, sah zu ihm hinüber und wieder auf die Wasser. Dann noch mal, so laut er konnte: »Alarm!«
Doch der Kapitän sang nun auch noch mit. Ganz in seine Welt versunken. Nemo überlegte, ob er zu ihm hinfliegen und ihn kurz anstupsen sollte. Wenn es um halbreife Maiskolben ging, klappte das ganz gut. Während er noch grübelte, wie er es am besten anstellen sollte, riss jemand die Tür auf. Es war Mimi, die nette Wachoffizierin, die sonst immer eine schmackhafte Kleinigkeit für ihn dabeihatte.
Ohne Umschweife lief sie zu Kapitän Pettersen und zerrte ihn am Ärmel: »Norman! Da ist was. Es ist gewaltig. Norman!! Das musst du dir ansehen. Direkt vor uns. Und es scheint uns anzugreifen …«
Der Kapitän fuhr aus seinem Stuhl hoch, drückte hastig den Knopf und die Musik verstummte.
»Was? Wo?« Er rieb sich die Augen und schaute hinaus. »Was meinst du mit gewaltig? Etwa da draußen, im …«
In diesem Augenblick prallte etwas so heftig an die Außenwand der Schwimmschale, dass es nur so krachte. Alles erbebte und Nemo wäre fast heruntergeplumpst. Dann war es, als würde irgendjemand die gesamte Schwimmschale anheben. Der blasse Horizont draußen senkte sich erst, dann kippte er zur Seite und schoss wieder nach oben.
»Alarm!«, kreischte Nemo. Und noch mal: »Alarm!! Alarm!!!«
Nun wurde es hektisch auf der Brücke und voll. Immer mehr Fellwechsler stürmten herein und drängten sich um den Kapitän, der sich an den Geräten vor ihm zu schaffen machte und Kommandos erteilte:
»Unterwasserkamera einschalten!«
»Fünf Wachoffiziere sofort raus und die Lage sondieren!«
»Jawohl, Captain!«, rief einer.
»Wird gemacht, Captain!«, sagte ein anderer und stürmte davon.
Nemo flatterte umher. Egal, wo er sich niederließ, überall schien er nur zu stören. Er versuchte, bei all der Hektik draußen etwas zu erkennen. Doch es war mittlerweile zu dunkel.
»Scheinwerfer an, alle!«, rief Pettersen und sofort wurde es rings um die Schwimmschale hell. Wieder krachte es und alles wackelte. Nemo verlor das Gleichgewicht und stürzte. Irgendjemand gab ihm versehentlich einen Tritt. Er schrie auf und flog schlingernd gegen die Scheibe. Ausgerechnet jetzt neigte sich wieder alles zur Seite. Nemo rutschte das Glas hinunter und dabei sah er ihn: den kräftigen, beschuppten Arm. Fledderig, voller Fetzen, behängt mit Seetang, Muscheln und Dingen, die er nicht genau erkennen konnte. Bunt und doch zugleich verwaschen dunkel.
Der Arm hatte die Schwimmschale gepackt und zerrte an ihr. Zwei Fellwechsler versuchten, ihn abzulösen. Rissen und zogen mit aller Kraft daran. Da erhob sich über die Reling so etwas wie ein Kopf. Eine riesenhafte unförmige Masse, die das Deck weit überragte. Die Fellwechsler sprangen davon.
Nemo schüttelte sich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das dort war kein Tier, das er kannte. Womöglich war es nicht einmal entfernt etwas, was den Namen verdiente. Geschweige denn hierhergehörte. Und doch hatte er das Gefühl, dass es dem Wesen nicht darum ging, die Schwimmschale zu zerstören oder sie zu versenken.
›Ich muss zu ihm‹, dachte der Kakadu. Er wusste genau: An Deck wäre es so bitterkalt, dass er nicht lange dort bleiben konnte, ohne zu erfrieren. Und doch drängte es ihn hinaus zu dieser großen, furchterregenden Kreatur. Nemo sah sich um. Niemand nahm Notiz von ihm. Also flatterte er einfach über die Köpfe der Fellwechsler hinweg und geradewegs zur offenen Tür der Brücke hinaus.
Sofort schlug ihm ein eisiger Wind entgegen. Die Luft hatte etwas scharf Schneidendes, als wolle sie nicht, dass ein Kakadu sie einatmet. Kurz zögerte er, dann stürzte sich Nemo nach draußen.
Der Wind an Deck der Schwimmschale war kräftiger, als Nemo erwartet hatte. Immer wieder musste er seine Flugbahn korrigieren, um dagegenzuhalten. Es war frostig kalt unter den Flügeln. Fellwechsler liefen hektisch umher. Suchten alles ab.
Nemo verlegte sich darauf, vorsichtige kleine Kreise zu ziehen, um alles im Blick zu behalten. Er flog bis zu dem Punkt, wo er zuvor den Arm und so etwas wie den Kopf des Angreifers beobachtet hatte. Doch es war nichts zu sehen. Er stieg höher, um eine bessere Sicht zu bekommen. Der Wind nahm zu. Noch weiter hinauf, und es würde ihn einfach davonwehen. Er schaute nach unten, an der Außenwand der Schwimmschale herab. Und da sah er ihn: den Arm. Nur die Spitze schaute aus dem Wasser.
»Hallo?«, rief Nemo.
Der Arm wippte. Es schien, als würde er sich ihm zum Gruß entgegenstrecken.
»Wer bist du? Ist alles in Ordnung?«, kreischte er gegen das Tosen der Wellen und Pfeifen des Windes an. Eine Windböe schob ihn so harsch beiseite, dass er sich mühsam zurückkämpfen musste. Als er wieder hinabsah, hatte sich der Arm weiter aus dem Wasser gestreckt. Er begann die Schwimmschale heraufzukrabbeln. Anders konnte man es nicht nennen. Nemo schaute hinter sich. Mehrere Fellwechsler sahen zu ihm herüber. Einer fuchtelte und rief ihm etwas zu, aber bei dem Krach hier draußen war nichts zu verstehen.
Mutig wartete er, während die Spitze des Arms immer näher kam. Vielleicht war es doch eine Seeschlange, die sich mit der Schwanzspitze voran nach oben hangelte …? Ach, Unsinn. Keine Schlange der weiten Welt würde es sich nehmen lassen, mit dem Kopf voran zu kriechen. Selbst wenn sie aus den Wassern kam. Nemo zitterte am ganzen Leib. Nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Doch er wich nicht zurück, sondern verharrte in der Luft, bis sich das schlangenförmige Ding zu ihm hinaufgezogen hatte. Es wurde größer und größer, je näher es kam. Jetzt erst merkte Nemo, dass ihm ein Fellwechsler eine von diesen kleinen schwarzen Platten entgegenhielt, auf die sie immerzu schauten, herumtippten und -wischten und seltsame Gesichter dazu machten. Nemo wusste nicht warum und er hatte auch keine Zeit, es herauszufinden, denn die Kreatur war bei ihm angekommen.
Es war unmöglich, eine genaue Form zu erkennen. Ein großer Teil schien noch unter Wasser zu sein. Der massige Kopf – oder was auch immer das war – kam ganz dicht an Nemo heran. Er hörte ein Keuchen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Fellwechsler zurückwichen. Doch er blieb wacker zitternd, wo er war. Und dann geschah etwas absolut Erstaunliches. Es kam Bewegung in die schwarze Masse, einige Brocken lösten sich von ihr ab, fielen ins Meer und zwei Löcher taten sich auf. Nein, keine Löcher. Riesige Augen. Tränende, runde Augen schauten ihn hinter schmalen Schlitzen verzweifelt an. Und an der Unterseite der Masse, dort, wo der Arm entsprang, öffnete sich eine Art Schnabel. Ein Mund ohne Zähne.
»Bitte … hilf mir! Ich kann … nicht mehr«, stöhnte es.
Nemo stockte der Atem. Als er endlich seine Sprache wiederfand, brachte er nicht mehr heraus als ein kratziges: »Ich?«
Der Molukken-Kakadu brauchte etwas, bis er sich gesammelt hatte. Und dann verstand er es. Diese eigenartige Kreatur war keine Gefahr. Sie war in Not. Und sie schien trotzdem geduldig auszuharren. So, als wüsste sie, dass sie ihm mit jeder weiteren Bewegung Angst machte. Nemos Gedanken rasten. Was wollte das Wesen? Was konnte er tun? Er spürte, dass ihm nicht viel Zeit blieb, das herauszufinden.
»Was bist du?«, fragte er den Kopf.
Die Kreatur verdrehte die Augen, aber es kam keine Antwort. Vielleicht konnte sie nicht hören? Dann wären Fragen ziemlich aussichtslos. Auch ein GESICHTSRÄTSELEI-Manöver brachte hier gar nichts. Sie hatte kein Gesicht, das sich enträtseln ließ. Doch irgendetwas schien sich in ihrem Innern abzuspielen. Der Arm, der eben noch die Reling der Schwimmschale umschlungen hatte, löste sich und zeigte in die Ferne. Dann griff er wieder so stark zu, dass es nur so knirschte. Während der wuchtige Kopf gegen die Schwimmschale krachte.
»Wie kann ich dir denn helfen?«, versuchte es Nemo. Diesmal laut und langsam. Von einem wilden Flügelschlagen begleitet, das einerseits die Eiseskälte irgendwie erträglicher machen, andererseits seine Ungeduld zum Ausdruck bringen sollte.
Und dann endlich kam so etwas wie eine Antwort: »Ru…«, blies die Kreatur ihm entgegen. Die Stimme gurgelte kraftlos und die Augen starrten ihn eindringlich an.
»Ru?« Nemo sah, dass sich einige Fellwechsler von der Seite näherten. Sie hielten lange Stäbe mit spitzen Haken in den Händen. ›Langsam musst du zur Sache kommen‹, dachte er, ›sonst wird es gefährlich.‹
Und dieses Etwas schien dasselbe zu denken.
»Ruf den … Hohen Rat. Alarmiere … die Fellwechsler. Gefahr … da unten. Im Nachtwasser. Große Gefahr … für alle!«, ächzte es und wollte sich gerade in die Tiefen der eisigen Wasser sinken lassen, als es geschah: Eine Windböe erfasste Nemo und schleuderte ihn gegen den Kopf der Kreatur. Ihm wurde schwarz vor Augen, fast wäre er abgestürzt. Doch das seltsame Wesen schaffte es irgendwie, ihn mit Schwung zurückzuwerfen. Das Ganze dauerte nur wenige Atemzüge. Nemo erschien es wie eine kleine Ewigkeit. Sein Kopf brummte und als er wieder klar denken konnte, fand er sich rücklings auf den Brettern des Decks wieder. Etwas zerzaust, aber unverletzt. Er sah noch, wie der große Kopf hinter der Reling verschwand, gefolgt von dem Arm und einem heftigen Platschen. Dann erreichten die Fellwechsler die Stelle. Die Stangen in den erhobenen Händen starrten sie in die Tiefe. Bereit zum Kampf.
Es gab nichts mehr zu kämpfen. Das seltsame Wesen war verschwunden.
Kurze Zeit später saß Nemo wieder auf seinem Platz an der Heizung auf der Brücke. Irgendjemand hatte ihn, wie es schien, draußen aufgelesen und ins Warme gebracht. Er konnte sich nicht erinnern, wer das gewesen war, tippte aber auf Mimi. Er schlotterte fürchterlich. Doch viel mehr als die Kälte in seinen Gliedern beschäftigten ihn die Worte des Wasserwesens. Niemand außer ihm hatte es verstanden. Kein Fellwechsler sprach die Sprache des Wasserkreises, die Nemo wie seine eigene beherrschte. Er war der Einzige an Bord, der um die Not der Kreatur wusste. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten. Sie hatte irgendetwas entdeckt. Es gab eine Gefahr dort unten in der Tiefe. Eine Gefahr am Eiskalten Ufer. Sie hatte den Hohen Rat erwähnt, den wichtigsten Ausschuss der Geheimen Gesellschaft der Tiere. Der weit entfernt – am Glorreichen Ufer – die Geschicke der sechs Tierkreise organisierte. Nemo wusste, was zu tun war. Er würde eine Botschaft durch die Wasser schicken und von dem merkwürdigen Vorfall berichten.
Nachdenklich schaute er noch eine ganze Weile in die Dunkelheit hinaus. Er würde auch dem Kapitän berichten müssen. Und hoffen, dass der ihm glaubte. Denn Pettersen hatte das Licht ausschalten lassen. Alles war wieder ruhig. So ruhig, als wäre nichts Bedeutendes geschehen. Rein gar nichts.
»Und was ist, wenn wieder alles schiefgeht?« Berry schaute fragend zu Yoko. Sie saßen nun schon eine ganze Weile an der Glastür in der Küche und sahen in den winterlichen Hinterhofgarten der kleinen Hamburger Wohnung hinaus. Die Tür war nur angelehnt und kalte Abendluft kam ihnen entgegen. Die weiße Khao-Manee-Katze schnupperte ausgiebig in Richtung Spalt. ›Als ob sie mich absichtlich warten lässt‹, dachte die junge Labrador-Retriever-Hündin.
»Es wird regnen«, sagte ihre alte Lehrerin, mehr zu sich selbst als zu Berry. Das Nackenfell der Katze stellte sich auf. Wahrscheinlich dachte sie daran, dass sie nachher durch den Regen laufen und klitschnass werden würde. Yoko verabscheute Wasser aus ganzem Herzen.
»Na und, dann regnet es eben.« Berry schüttelte ihr fuchsrotes Fell. Ein Knurren mischte sich in ihre Worte: »Yoko, du hörst mir überhaupt nicht zu.«
»Was soll denn bitte schiefgehen?« Die Katze schaute Berry mit ihrem blauen Auge streng an. Das andere, das bernsteingelbe, hatte sie geschlossen. Wer sie kannte, wusste, dass man sie jetzt nicht weiter reizen durfte.
»Na, alles. Wie beim letzten Mal. Das mit den Funkelbienen war doch eine einzige Katastrophe«, flüsterte Berry.
»Der Fall wurde gelöst.«
»Gelöst? Die halbe Schule hasst mich.«
»Also, wenn dich halb Haunting Heart hasst, dann heißt das immerhin, dass die andere Hälfte das nicht tut. Oder?«
Berry grummelte etwas in sich hinein, was nicht für Yokos Ohren bestimmt war.
Schweigend schauten sie wieder raus. Die Silhouette der großen Stieleiche in der Mitte des Hofes hob sich vom grauen Himmel ab. Ihre blattlosen Äste zeigten in alle Richtungen. Der Duft von Schneeregen lag in der Luft. Erste Tropfen trafen die Scheibe und perlten langsam an ihr herunter.
»Du bist jetzt Agentin auf Probe, Berry. Ist dir klar, was das bedeutet?« Yoko öffnete das andere Auge. Ihr Blick wurde etwas milder.
Berry legte den Kopf zur Seite: »Nun ja. Nein. Ich …«
»Es bedeutet, dass du dazu beigetragen hast, einen Fall zu lösen. Dass du nun fast wie eine echte Agentin behandelt wirst. Obwohl deine Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen ist. Und das ist eine Ehre.«
Berry kratzte sich am Ohr. Es war noch nicht lange her seit ihrem ersten Abenteuer. Doch es kam ihr vor wie ein halbes Leben. So viel war geschehen. Sie hatte erfahren, dass es eine geheime Tierallianz gab, die auf der ganzen weiten Welt ständig damit beschäftigt war, die Fehler der Fellwechsler auszugleichen. Berry hatte mit Tieren aus allen sechs Tierkreisen gesprochen. Sie hatte vor dem Hohen Rat gestanden und ihren Onkel, den Direktor von Haunting Heart, kennengelernt. Sie hatte neue Freundinnen und Freunde gefunden. Tiere, die am Glorreichen Ufer auf sie warteten. Warum also hatte sie so ein schlechtes Gefühl, wenn sie auch nur daran dachte, der Einladung ihres Onkels zu folgen? Sie wollte doch so gern zurück nach Haunting Heart. Die Ausbildung fortsetzen. Eine richtige Agentin werden. Am Geheime-Orte-Turnier teilnehmen, von dem Yoko ihr so viel erzählt hatte. Lag es daran, dass sie Ina und Mark, ihr Frauchen und Herrchen, erneut verlassen musste? Oder war es die Angst zu versagen?
»Woran denkst du?«, fragte Yoko und berührte sie sanft mit ihrem Kopf.
»Ach nichts. Schon gut.« Berry sah zum Wohnzimmer rüber, wo Ina und Mark gerade auf dem Sofa herumlümmelten. Sie schauten auf diese große Fläche, die an der Wand hing und abends wundersame Dinge zeigte und Geräusche wie im echten Leben machte. Berry wusste natürlich, dass das nicht das echte Leben war. Aber die Fellwechsler verbrachten viel Zeit mit ihr. Im Moment war dort das weite Wasser zu sehen. Es rauschte und toste. Ein Fellwechsler erzählte etwas.
Auf einer Holzstange, direkt neben dem Sofa, stand der einbeinige Quiri und beobachtete voller Interesse, was auf der Fläche geschah. Er machte mal wieder alles nach, was er dort sah. Diesmal das Rauschen der Wellen. Im Nachahmen von Sprachen und Geräuschen hatte der grellgrüne Amazonenpapagei unglaubliches Talent.
Berry sah zu ihrem Körbchen hinüber, in dem eine flauschige Decke lag. Darauf einer von den leckeren Keksen, den Ina ihr wohl heimlich hineingelegt hatte. Was würden die beiden wohl machen, wenn sie sie erneut verließ? Einfach davonlief und auf unbestimmte Zeit nicht wiederkäme? Sie wären bestimmt traurig und hätten große Angst um sie. Doch wenn Berry bleiben würde, würde sie nie eine echte Agentin werden. Ohne richtige Ausbildung an der Schule. Es war wirklich verzwickt und das gefiel Berry gar nicht.
Auch als die Nacht hereingebrochen war und es draußen längst dunkel war, wurde Berry das seltsame Gefühl im Bauch nicht los. Yoko schlief an ihrem Platz auf der Sofalehne und Quiri auf seiner Stange, den Kopf im Gefieder verborgen. Berry lag in ihrem Körbchen und seufzte. Den Keks hatte sie nicht angerührt. Sie konnte jetzt weder essen noch schlafen. Wollte jeden Moment auskosten. In ihrem Zuhause. Bei ihren Fellwechslern. Sie erhob sich, trottete schweren Herzens zum Sofa, auf dem die beiden noch immer saßen, und sprang hinauf. Sofort machten sie ihr Platz und nahmen sie zwischen sich. Mark kraulte sie hinter dem Ohr und Ina ihren Rücken. »Du bist unser größter Schatz!«, sagte sie und Berry brauchte niemanden, der diese Worte für sie sprachwandelte. Sie kamen direkt in ihrem Herzen an.
›Ich werde zurückkommen. Immer, immer wieder!‹, dachte sie, schleckte noch einmal über Marks Hand und schlief ein.
Berry erwachte, weil sie jemand sanft anstieß.
»Wir müssen los«, flüsterte Quiri ihr ins Ohr.
Sie sah sich um. Ina und Mark waren nicht mehr da. Sie hatten sich zum Schlafen zurückgezogen. Yoko stand bereits an der Küchentür.
»Augenblick, ich weiß, wie das geht.« Quiri hob ab und segelte hinüber zur Tür. Mithilfe seines Schnabels schafften sie es, sie zu öffnen.
Bald würde es schneien, das konnte man riechen. Sie hatten sich nicht unbedingt den besten Tag ausgesucht für ihre Reise. Aber genau genommen war kein Tag ideal dafür.
Kurz darauf standen sie am Hoftor und schauten auf die Straße. Es waren keine Fellwechsler zu sehen und auch keiner der Rollkästen, mit denen sie herumfuhren. Die meisten waren in ihren Behausungen und schliefen.
»Ähm … wo müssen wir eigentlich hin?«, fragte Quiri, der neben ihnen flatterte.
»Zum Hafen. Die Schwimmschale legt ab, sobald die Sonne aufgeht. Vorher holen wir noch den Hund«, sagte Yoko.
Berry wedelte vor Vorfreude mit dem Schwanz. Der Streuner Doozer war beim letzten Abenteuer eher unfreiwillig mitgekommen. Dann hatte es ihm auf Haunting Heart so gut gefallen, dass er sich ihnen erneut anschließen wollte.
»Wo genau lebt eigentlich Doozer?«, hakte der Papagei nach.
Berry versuchte, sich zu erinnern. Hatte er das jemals erwähnt?
»Irgendwo am Hafen«, sagte sie.
»Der Hafen ist riesig.« Yokos Stimme klang so spitz und vorwurfsvoll wie eh und je. Aber es stimmte, was sie sagte. Es waren nicht gerade ideale Voraussetzungen für eine Verabredung.
»Achtung. Zwei Fellwechsler. Mit Hund!«, kreischte Quiri und flog in den Schatten der Hauswand hinein. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gingen zwei Fellwechsler entlang. An einer Leine ein Dackel. Der schaute zu ihnen herüber. Die beiden Fellwechsler achteten nicht auf sie. Nach einigen Momenten waren sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden.
»Und nun?«, wollte Berry wissen.
»Überlasst das mir. Wir machen ein KREISE-FÜHREN-ZUM-ZIEL-Manöver«, erwiderte Yoko und huschte davon.
»Wie meint sie das?« Berry sah zu Quiri hinüber, der aus dem Schatten hervorgeflogen kam.
»Wart’s ab«, erwiderte er und folgte der Lehrerin.
Berry staunte nicht schlecht, als sie an der ersten Straßenecke hielten. Sie hatte nie so genau darauf geachtet, aber jetzt fiel ihr auf, dass sich dort auf einer Straßenlaterne zwei Vögel postiert hatten. Zwei Elstern, die die Gegend beobachteten. Yoko sprach sich kurz mit Quiri ab und der flog zu ihnen hinauf.
»Kennt ihr die?«, fragte Berry.
»Nein, aber das ist auch nicht nötig. Es gibt ein System, um jemanden in den Gebieten der Fellwechsler zu finden«, erklärte Yoko.
»Es ist also kein Zufall, dass die Vögel dort oben sitzen?«
»Nein. Achte mal darauf, wenn wir weitergehen. Du wirst an jeder Ecke Späher entdecken. Mal sind es Vögel und mal andere Tiere.«
»Und warum machen die das?«
»Zum einen vielleicht, weil sie gerne Fellwechsler und andere Tiere beobachten. Aber eben auch für das KREISE-FÜHREN-ZUM-ZIEL-Manöver. Pass auf!«, sagte Yoko.
Berry schaute nach oben, wo Quiri noch immer mit den Vögeln sprach. Als er fertig war, begannen die Elstern zu rufen. Es klang wie ein: »RATTA RATTA RAT!« Augenblicklich kam von irgendwo anders her ein Echo: »RATTA RAT RATTA RAT!« Und von noch weiter weg das nächste. Als es eine Weile so gegangen war, sprachen die Elstern wieder mit Quiri und dann kam er zu ihnen nach unten geflogen.
»Sie kennen Doozer nicht. Aber sie haben auf Elsterisch eine Botschaft an andere Elstern gesendet und die haben weitere Vögel gefragt. Darunter auch eine Sprachwandlerin vom Hafen. Wir sollen zu ihr kommen. Die Vögel werden uns leiten«, krächzte Quiri und flog voraus.
»Verstehst du jetzt, wie es geht?«, fragte Yoko, während sie hinter dem Papagei hertrotteten.
»Nein, noch nicht ganz«, gab Berry zu.
»Dann beobachte mal genau.«
Sie bogen um die nächste Ecke, an der sie von weiteren Vögeln begrüßt und geleitet wurden. Und so folgten sie, Station für Station, den Spähern, bis sie an einen Tunnel gelangten. Einige Rollkästen kamen gerade heraus.
»Äh … da müssen wir rein!«, rief Quiri.
Mit einem Mal sprang ein Eichhörnchen vor sie. »Halt, wer da?«, fiepste es. Es war ganz offensichtlich eine Art Torwache.
»Wir sind Yoko, Quiri und Berry. Wir wollen zum Hafen, um dort einen Hund zu suchen. Danach bringt uns eine Schwimmschale ans Glorreiche Ufer«, erklärte Yoko.
Das Eichhörnchen ging auf sie zu und schnupperte an ihr.
»Ich weiß. Man hat mir von euch berichtet. Ihr habt ein Suchmanöver gestartet, um euren Freund zu finden.«
»Freund wäre zu viel gesagt, aber im Grunde stimmt das so«, wollte Yoko korrigieren.
»Nein, es stimmt sogar genau«, fiel Berry ihr ins Wort. »Doozer heißt er und er ist wirklich unser Freund. Weißt du, wo wir ihn finden können? Oder die Sprachwandlerin vom Hafen?«
»Wenn ihr durch den Tunnel geht und auf der anderen Seite noch mal nachfragt, wird man euch weiterhelfen«, ermunterte sie das Eichhörnchen. »Aber gebt auf euch acht. Es ist nicht ungefährlich!«
Berry war noch nie in einem Rollkastentunnel gewesen. Durch das trübe weiße Licht brausten die Rollkästen in atemberaubender Geschwindigkeit hindurch. Links und rechts von der Fahrbahn waren schmale Wege. Es blieb ihnen nicht viel Platz. Laut und angsteinflößend rauschten die Rollkästen dicht an ihnen vorbei. In den Lichtkegeln, die ihre Augen warfen, war Quiri gut zu sehen. Berry hoffte, dass ihnen das nicht zum Verhängnis wurde.
Sie liefen und liefen. Es war, als würde der Tunnel niemals enden. Doch als sie schon die Hoffnung verlieren wollte, erreichten sie endlich die andere Seite, den Ausgang. Berry atmete auf.
Wieder kam ein Eichhörnchen angesprungen. Es war bereits informiert. Berry begriff, dass die Tiere über ein feinmaschiges Netz ständig miteinander verbunden waren. Ein Netz aus Informationen, das die gesamte Fellwechslerstadt durchzog. Ein Netz, dem nichts entging.
Das Eichhörnchen wies ihnen den Weg und bald kamen sie zu einem eingezäunten Gelände.
»Das ist der Hafen. Im Zaun muss es irgendwo ein Loch geben«, sagte Quiri.
Sie suchten und fanden es. Auf der anderen Seite wartete eine schwarze Katze.
»Ich soll euch abholen«, sagte sie und die drei schlossen sich ihr an. Das Hafengelände war unübersichtlich. Es gab mehrere Bauwerke, große Kräne und man konnte schon das Wasser riechen und hören. In einiger Entfernung war eine riesige Schwimmschale zu sehen, die gerade von Fellwechslern beladen wurde.
»Da müssen wir später hin«, sagte Yoko.
Doch erst mal brachte sie die Katze zu einer Gruppe Möwen, die sich am Rande eines Bauwerks versammelt hatte. Eine von ihnen flog direkt auf sie zu.
»Ahoi! Hab gehört, ihr sucht’n Doozer?«, fragte sie.
»Du kennst ihn?«, rief Berry freudig.
»Doozer? Klar. Den kenn’ hier alle. Hängt meist mitt’m Rudel Fellwechsler ’rum«, sagte die Möwe.
»Dann bist du die Sprachwandlerin?«, wollte Yoko wissen.
»Geb’ mein Bestes«, antwortete sie.
»Wie können wir ihn finden?« Berry sah sich um.
»Kein Ding.« Die Möwe kreischte die anderen Möwen herbei. Erst ein paar. Dann wurden es immer mehr. Lärmend verständigten sie sich untereinander auf Möwisch. Wieder verstand Berry rein gar nichts. Aber ihr war klar, dass die Suche nun den nächsten Kreis erreicht hatte.
»Augenblick. Wir finden ihn. Dauert nich’ lang«, krächzte die Möwe. Sie hoben ab und verteilten sich in alle Richtungen. Was für Berry bisher nur wie ein Gekreische aufgebrachter Vögel gewirkt hatte, bekam nun einen Sinn.
»Jetzt habe ich verstanden«, bellte sie aufgeregt und wedelte mit dem Schwanz.
»Was verstanden?«, fragte Quiri.
»Das KREISE-FÜHREN-ZUM-ZIEL-Manöver. Es geht um die Tierkreise und darum, das Gesuchte gemeinsam einzukreisen. Immer enger, bis man am Ziel ist.«
»Ja, das stimmt. Wie du weißt, ist die gesamte Gesellschaft der Tiere in sechs Kreisen organisiert. Aber jede Tierart ist zugleich ein eigener kleiner Kreis. Und jede Tiergruppe an einem Ort ein noch kleinerer. Und jeder dieser Kreise, jeder Ort, jedes Tier steht mit den anderen in Kontakt. Wenn es will«, erklärte Yoko.
»Wir alle sind verflochten!«, fasste Berry zusammen. Sie hüpfte mit allen Pfoten gleichzeitig in die Luft.
»Ist es nicht … faszinierend?«, ließ sich Quiri von ihrer Begeisterung anstecken. Er flatterte auf und ab und drehte sich dabei wie ein kleiner bunter Wirbelwind.
Unbeeindruckt starrte Yoko auf ihre nassen Pfoten.
Doozer war genervt. Richtig genervt. Er hätte so gern geschlafen. Er war entsetzlich müde. Es reichte wohl nicht, dass es bitterkalt war. Nein, überall war auch noch Hektik. Die Möwen am Hafenbecken plapperten, schrien und kreischten ohne Unterlass. Was sollte das? Sonst hatten sie sich um diese Zeit schon längst zum Schlafen zurückgezogen. Wollten sie ihn etwa ärgern? In der Nähe machte eine Schwimmschale tuckernde Geräusche, die einfach nicht aufhören wollten: »Tuckertuckertuckertuckertucker…« Es war zum Wahnsinnigwerden. Dazu krachte es andauernd irgendwo und Fellwechsler riefen sich was zu. Selbst das Wasser plätscherte heute nerviger als sonst.
Der graubraune Drahthaar zog missmutig die buschigen Augenbrauen hoch. Er gähnte ausgiebig und wollte sich die Pfoten auf die Ohren legen, doch die waren eiskalt. Er sprang auf die Beine. »So geht das nicht«, knurrte er und schüttelte seinen struppigen Kopf, dass die langen Schlappohren nur so schlackerten.
»Was ist denn mit dir los? Kannst du nicht schlafen, Doozer?«, sagte eine raue alte Fellwechslerstimme direkt neben ihm. Er spürte zwei Hände, die sich auf seine verspannten Schultern legten und ihn sanft zu massieren begannen. Sein Knurren und Murren machte einem wohligen Brummen Platz.
»Schon besser, oder?«, fragte der Fellwechsler.
Es gab viele Nächte wie diese. Nächte, in denen sich Doozer überhaupt nicht gut fühlte. In denen er bereute, nicht auf Berrys Angebot eingegangen zu sein, mit ihr zu kommen. Zu dem schönen Hinterhof, den netten Fellwechslern und in ihre warme, trockene Behausung. Stattdessen lag er hier in der Kälte, ungeschützt vor Nässe und fast immer hungrig. Selbst Yoko, die unverbesserliche Einzelgängerin, wohnte jetzt bei Berry. Bestimmt saßen die beiden gerade zusammen mit dem plappernden Papagei gemütlich im Trocknen und ließen sich von ihren Fellwechslern verwöhnen. Und er?
Doozer schaute sich um. Sein Fellwechsler hatte es sich in dem bescheidenen Verschlag aus Brettern gemütlich gemacht. Er streckte die Hände dem wärmenden Feuer entgegen, das in einer Feuerschale loderte. Unterhielt sich eifrig mit den anderen Fellwechslern, die wie er ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie lachten und rieben sich immer wieder die klammen Finger. Hier draußen am Hafen war das Leben nicht einfach. Wenn die Fellwechsler ihn damals nicht so freundlich aufgenommen hätten, wäre Doozers Schicksal ganz bestimmt anders verlaufen. Das wusste er. Die Fellwechsler, sein kleines Rudel, besaßen so gut wie nichts. Aber was sie hatten, teilten sie mit ihm.
Der Wind war unerbittlich. Er brachte einen kalten Schneeregen mit, der nicht nur von oben, sondern von allen Seiten auf ihn prasselte. Kleine Inseln aus Schneematsch bildeten sich überall. Das erinnerte ihn an den Tag, als der alte Fellwechsler ihn aufgenommen hatte. Damals war es genauso gewesen wie heute: ungemütlich und trostlos. Doozer war nicht weit von hier angeleint mutterseelenallein stehen gelassen worden. Einfach so. Neben ihm nur eine Schale pitschnasses Futter. Die war schnell alle und er hatte sich lange die Beine in den leeren Bauch gestanden. Er würde niemandem verraten, wie laut er gejault hatte. Das war zu peinlich. Aber schließlich war jemand gekommen und hatte ihn aus der misslichen Lage befreit.
Dieser jemand war ein alter Fellwechsler gewesen, der so gut wie nie sein Fell wechselte. Was ihn ungewöhnlich machte in Doozers Augen. Er hatte ihn einfach losgebunden und mitgenommen. Hatte ihn gesäubert, abgetrocknet, versorgt, gefüttert und ihm einen Namen gegeben. Erst nannte er ihn immer »Doozy«, warum auch immer, woraus dann irgendwann »Doozer« wurde. Ihm gefiel der Name. Er hatte was Besonderes und bisher hatte er keinen Hund getroffen, der genauso so hieß wie er.
Sie wurden unzertrennlich. Am Anfang blieb Doozer ständig in Sichtnähe. Doch dann wurde er mutiger und erkundete nach und nach die Welt. Sein Fellwechsler war niemals laut oder wütend oder gemein zu ihm, so wie Doozer es von anderen gehört hatte. Er konnte kommen und gehen, wie er wollte. Stets wurde er von ihm und seinen Freunden herzlich aufgenommen. Manchmal gingen sein Fellwechsler und Doozer auf eine kleine Reise. Sie marschierten durch die Straßen, sahen sich um, betrachteten dieses oder jenes und setzten sich dann einfach irgendwo hin. Und während sie da saßen und sich umschauten, gingen unzählige andere Fellwechsler an ihnen vorüber. Die meisten würdigten sie keines Blickes. Doch manchmal kam es vor, dass einer von ihnen stehen blieb und den beiden etwas zuwarf. Doozer merkte, wie sehr sich sein Fellwechsler darüber freute. Und er freute sich mit.
Doozer zitterte. Es war zwar nicht mehr so windig, doch aus dem leichten Schneeregen war schnell ein richtiges Gestöber geworden. Die kleine Gruppe der Fellwechsler hatte sich weiter in ihre Verschläge zurückgezogen. Gleich würde der Schnee das Feuer löschen und alles noch kälter machen.
»Doozer, komm her!« Sein Fellwechsler hatte ihm etwas Platz gemacht und winkte ihn eifrig herbei. Oft war das der einzige Weg gewesen, sich warm zu halten. Der Fellwechsler hatte eine dicke Decke über seinen Körper gelegt, die er hochhob, um anzudeuten, dass dort noch genug Platz für einen Hund sei. Doozer kroch zu ihm, rollte sich zusammen, bis nur die Nasenspitze heraussteckte, und seufzte. So ließ es sich aushalten. Er wusste, dass es viele Tiere hier draußen gab, die es bei Weitem nicht so gut hatten wie er. Die sehen mussten, wo sie einen warmen und sicheren Platz zum Schlafen fanden. Er war dankbar. Und deswegen schmerzte es ihn auch ungemein, dass er seinen Fellwechsler bald verlassen musste.
Doozer träumte. Es war ein kurzer Traum, aber es geschahen wundervolle Dinge. Er träumte von einem Fellwechslerbett, in dem er sich gemütlich ausstreckte. Voller flauschiger Decken und weicher Kissen, die herrlich rochen. Ein Bett, so groß, dass er niemandem Platz machen musste. Kurz darauf war er im Wald. Wie war er hierhingekommen? Er lief, so schnell er konnte. Sein Herz pochte vor Freude und seine Knie taten auch nicht mehr weh. Er sauste und jagte zwischen den Bäumen hindurch, verfolgte bald hier, bald dort eine Fährte und blieb schließlich an einem Bach stehen. Hier ließ er sich auf den Hintern fallen. Es war warm und gemütlich. Er schnüffelte. So viele geheimnisvolle Gerüche. Er war frei und genoss einfach nur den Moment.
Doch wurde er aus weiter Ferne gerufen. »Doozer!«, kam es ganz leise von irgendwoher. Er wälzte sich genüsslich im Gras. Aber da hörte er es wieder: »Doozer!« Er sah sich um, horchte, schnüffelte. Da war niemand. Wie konnte dann …
»Doozer!!«
Da erwachte er. Als er die Augen öffnete, war alles um ihn herum schwarz. Wo war die Wiese hin?
»Doozer!!!«, hörte er nun ganz deutlich. Das war kein Traum, sondern kam von dort drüben. Er war verwirrt und wollte knurren. Doch damit hätte er seinen Fellwechsler geweckt. Also schnupperte er leise aus dem Verschlag heraus. Dann horchte er: Wer rief ihn denn da? Auf jeden Fall jemand, der seinen Namen kannte. Ganz vorsichtig schälte er sich aus der Decke. Der Fellwechsler bewegte sich, murmelte: »Hast du genug Platz?«
Doozer krabbelte aus dem Verschlag, streckte sich – und platschte bis zu den Knöcheln in Schneematsch. Spätestens jetzt war klar: Sein schöner Traum war vorbei.
»Na prima. Alles wie gehabt«, grummelte er leise.
»Doozer. Komm!«, rief ihn jemand. Und jetzt erinnerte er sich. Berry hatte ihm erzählt, dass Yoko unbedingt ans Glorreiche Ufer zum berühmten Geheime-Orte-Turnier wollte. Berry hatte zwar gezögert, dann aber zugestimmt. So konnte sie auf Haunting Heart ihre Ausbildung zur Agentin fortsetzen. Sie hatte Doozer gefragt, ob er mitkommen würde. Und er wollte. Aber dass es heute war, hatte er ganz vergessen.
»Berry, bist du das?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.
»Ja! Yoko und Quiri sind auch hier«, kam es prompt zurück.
Doozer stakste vorsichtig durch den Schnee auf die Stimme zu. Berry schleckte ihm zur Begrüßung über die verkühlte Nase, was seine Stimmung deutlich aufhellte.
»Da bist du ja endlich. Wir rufen schon eine ganze Weile.«
»Hallo ihr. Ist es nicht ein bisschen spät?« Er war noch immer nicht richtig wach.
»Wir haben ganz schön gebraucht, bis wir dich gefunden haben. Also, was ist? Kommst du mit? Die Schwimmschale legt bald ab.«
Jetzt verstand er, warum es so viel Unruhe am Hafen gegeben hatte. Das waren alles Vorbereitungen für die große Überfahrt gewesen.
»Ich bin mir doch nicht sicher«, druckste Doozer herum. Einerseits freute er sich auf die anderen Hunde auf Haunting Heart, denn sie bewunderten ihn seit ihrem letzten Abenteuer sehr. Andererseits fiel ihm der Abschied von seinem Fellwechsler schwer. »Ich habe ein schlechtes Gewissen«, gab er zu und deutete mit seiner Schnauze zum Verschlag hinüber.
»Also, wenn wir unbemerkt auf die Schwimmschale gelangen wollen, dann sollten wir jetzt gehen. Und zwar sofort«, unterbrach Yoko scharf.
Berry wedelte mit dem Schwanz. »Ich habe Ina und Mark auch zurücklassen müssen, aber ich habe mir geschworen, dass ich wiederkommen werde. Egal, was passiert. Wir beide kommen zurück!«
»Egal, was passiert?«, fragte Doozer.
»Ja, ganz egal. Denn auch wenn ich noch so wichtige Aufgaben hätte, ich würde immer wieder zu ihnen zurückkehren.«
Als sie ihm in die Augen schaute, pochte sein Herz für einen kurzen Moment heftiger.
»Ist es wärmer am Glorreichen Ufer?«, wollte er wissen.
»Bestimmt«, behauptete Berry.
»Zumindest ist es … möglich. Alles ist möglich«, machte Quiri ihm Hoffnung.
»So oder so, wir müssen wirklich los«, mahnte Yoko.
»Na gut, ich komme mit. Aber ich muss mich noch von meinem Fellwechsler verabschieden. Er ist das Beste, was mir im Leben bisher passiert ist. Na ja, das Zweitbeste …«
Zum Glück fragte keiner nach, was genau er damit meinte.
Doozer beugte sich über den schlafenden Körper und schnupperte. Nahm den Geruch ganz tief in sich auf, um ihn für immer in der Nase zu behalten. Dann zog er mit den anderen los in Richtung Hafen. Er würde zurückkehren. Daran hatte er keinen Zweifel.
Es war einer der kältesten und strengsten Winter, den die Stadt New York je erlebt hatte. Tagelang hatte es so heftig geschneit, dass sich der Schnee meterhoch auftürmte. Von den herumschlitternden Menschen waren nur noch die Köpfe zu sehen. Die Autos kämpften sich mühsam durch die Straßen. Viele blieben stecken.
Wer schon mal eine eingeschneite Großstadt erlebt hat, weiß, dass sich alles verändert: Die Geschwindigkeit lässt nach. Die Lautstärke nimmt ab. Und die Sicht verliert sich im gleißenden Weiß.
Für die Tiere war der Kälteeinbruch besonders hart. Wer nicht bei Fellwechslern lebte oder anderswo unterkam, war den Temperaturen ausgeliefert. Am schlimmsten war der eisige Wind. Er war viel gefährlicher als der Schnee. Er schlich unter den Pelz oder das Gefieder und ließ einen frostig erstarren. Und so verkrochen sich die Hunde, Katzen, Ratten, Kojoten, Marder, Waschbären, Stinktiere und all die anderen tierischen Bewohner der Millionenstadt in den zahlreichen Parks und Hinterhöfen, auf Dachböden und in Kellern, hinter Abfalltonnen und in Lüftungsausgängen.