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Die Tierwandler sind zurück mit dem vierten Band der Animox-Serie von Aimée Carter. Der 12-jährige Simon steckt mittendrin im Kampf der Tierreiche. Gemeinsam mit seinen Freunden jagt er der verschollenen Waffe des Bestienkönigs nach. Als sie in eine Sackgasse geraten, müssen sie die gefürchtete Herrscherin des Insketenreichs um Hilfe bitten: die Schwarze Witwenkönigin. Als Gegenleistung fordert sie, ihre entführte Tochter zu retten. Simon willigt ein und erkennt bald, dass Nolan, der Erbe des Bestienkönigs, in höchster Gefahr schwebt. Packende Tierfantasy rund um einen starken Helden, atmosphärisch erzählt von Aimée Carter.
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Noch drei Teile des tödlichen Greifstabs braucht Simon, um die mächtige Waffe zusammenzusetzen und für immer zu vernichten. Seine gefährliche Mission führt ihn ins Insekten- und Arachnidenreich, wo Rebellen Anspruch auf den Thron der Schwarzen Witwenkönigin erheben und seine Freundin Ariana bedrohen. Simon kann sich zwar in alle möglichen Spinnen und Insekten verwandeln, doch es wimmelt überall von Spionen und Verrätern! Wie soll er es schaffen, seine Freunde zu schätzen, das dritte Teil zu finden, den Frieden des Reiches zu bewahren und gleichzeitig seine besondere Fähigkeit geheim zu halten? Simon muss sich entscheiden, wem er vertrauen will …
Für Nigel und Trevor
»Das nennst du einen Sturzflug? Da waren bestimmt noch fünfzehn Zentimeter bis zum Boden. Noch mal!«
Simon biss die Zähne zusammen und warf seiner Freundin Ariana, die auf einem Baumstamm saß und ihn ohne Mitleid beobachtete, einen düsteren Blick zu. »Wenn ich noch später abbremse, bin ich Käferbrei«, schimpfte er, während er zu ihr hinüberflog und um ihren Kopf schwirrte.
»Dann kratze ich dich vom Boden ab und richte dir die Flügel«, erwiderte sie gnadenlos. »Noch mal, hab ich gesagt!«
Dazu hatte Simon zwar nicht die geringste Lust, doch er verkniff sich eine bissige Antwort. Ariana sah so müde aus, wie er sich fühlte, sie hatte Ringe unter den Augen, und ihre frisch mintgrün gefärbten Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Nach einem langen Tag voller Tests und Übungskämpfe hätten sie längst in ihren Betten liegen sollen, doch stattdessen hatten sie sich nach unten geschlichen, in die unterste Ebene des L. A. G. E. R. – der Leitenden Animox-Gesellschaft für Exzellenz und Relevanz. Ariana hatte den ganzen Abend damit zugebracht, den Wald im Übungsraum in ein Labyrinth aus Spinnweben und anderen Hindernissen zu verwandeln. Sie hatte einen Parcours geschaffen, den jedes normale Insekt mit Leichtigkeit bewältigt hätte, der Simon jedoch mächtig ins Schwitzen brachte.
Wie er es auch anging, er schaffte es nicht! Er hatte es wieder und wieder versucht, war in die eine und in die andere Richtung ausgewichen, war so enge Kurven geflogen, dass seine Muskeln schmerzten, doch er kam beim besten Willen nicht durch. Jetzt war es schon eine Stunde nach Mitternacht, und er glaubte nicht, dass er noch lange durchhalten würde. »Ich weiß einfach nicht, was ich falsch mache«, sagte er und zuckte mit seinen schillernden Flügeln.
»Du vertraust nicht auf deinen Instinkt«, sagte Ariana. »Hör auf zu denken und überlass deinem Körper die Arbeit.«
»Du hast gut reden«, grummelte er. »Du bist ja schon dein Leben lang ein Insekt.«
»Und du bist schon dein Leben lang ein … was auch immer du bist«, gab sie zurück. »Es macht also keinen Unterschied.«
Simon runzelte die Stirn. Vermutlich hatte sie recht. Sie waren beide Animox – sie gehörten zu einer geheimen Menschengruppe mit der Fähigkeit, sich in ein bestimmtes Tier zu verwandeln. Ariana, die eine Schwarze Witwe war, gehörte zum Insekten- und Arachnidenreich. Simon dagegen … Simon dagegen nicht. Besser gesagt, höchst selten. Im Augenblick summte er als Wespe um ihren Kopf, er konnte also nicht behaupten, nicht zum Insektenreich zu gehören, doch genau das unterschied ihn von seinen Mitschülern. Während die anderen Animox sich jeweils in ein bestimmtes Tier verwandeln konnten und einem der fünf Tierkönigreiche angehörten, hatte Simon die überaus seltene Gabe, sich in jedes beliebige Tier verwandeln zu können.
Ganz allein war er damit nicht. Sein eineiiger Zwillingsbruder Nolan hatte dieselbe Fähigkeit. Allerdings wusste Nolan nicht, dass auch Simon die Gabe besaß. Da sie ihre Kräfte vom Bestienkönig geerbt hatten, dem tyrannischsten Herrscher, den die Welt der Animox je gesehen hatte, durfte niemand von ihrer Fähigkeit erfahren. Denn sonst würden sein Bruder und er als Nachfolger des bösen Bestienkönigs von allen fünf Reichen gejagt werden.
Aus diesem Grund hatten Simon und Ariana die Tür des Trainingsraums mit mehreren Baumstämmen verbarrikadiert. Es war nicht die beste Sicherheitsmaßnahme der Welt, aber falls jemand versuchte, so spät noch hereinzukommen, würde Simon Zeit haben, sich in menschliche Gestalt zurückzuverwandeln – oder, noch besser, in den Goldadler, für den alle ihn hielten. Im Augenblick aber musste er Ariana seine Flugfähigkeiten als Wespe beweisen.
Simon seufzte tief und begann noch einmal von vorn. Den Großteil des Parcours bewältigte er mittlerweile, doch gegen Ende kam ein steiler Sturzflug zwischen Spinnweben hindurch auf einen winzigen Durchgang zu, der sich kaum einen Zentimeter über dem Boden befand. Bis jetzt war es ihm nicht gelungen, dort hindurchzufliegen, und er glaubte auch nicht, dass es heute Abend noch klappen würde.
»Wenn ich dabei draufgehe, sorg dafür, dass Nolan meine Bücher nicht wegwirft«, murmelte er.
Ariana schnaubte. »Hör auf, so dramatisch zu sein.«
»Wenn du es nicht kannst, dann weiß ich nicht, warum ich es unbedingt können muss«, entgegnete er etwas unfreundlicher als beabsichtigt. Als Schwarze Witwe war Ariana zwar schnell und tödlich, aber Flügel hatte sie nicht.
Mit den großen Augen an beiden Seiten seines Wespenkopfes sah er, wie seine Freundin die Augenbrauen hochzog. »Du glaubst, ich kann das nicht?«
»Ich …«, begann Simon, doch bevor er noch etwas hinzufügen konnte, animagierte sie. Ihr zierlicher Körper schrumpfte, bis sie beinahe unsichtbar war, und aus dem Mädchen mit den grünen Haaren wurde eine kleine schwarze Spinne mit acht Beinen und roter Sanduhrzeichnung auf dem Bauch. Bevor Simon widersprechen konnte, kletterte sie auf den nächsten Baum und schwang sich neben ihn zum Startpunkt des Parcours. Sie hatte keine Flügel, aber sie hatte ihre Spinnenfäden. Und natürlich ihre Entschlossenheit.
»Wir machen ein Wettrennen!«, rief sie. »Wenn ich gewinne, hörst du auf zu meckern und machst den Sturzflug.«
»Und wenn ich gewinne, gehen wir ins Bett und üben morgen weiter«, gab Simon zurück. »Abgemacht?«
»Abgemacht.«
Sie wartete gar nicht erst auf ein Startsignal. Gerade noch stand sie neben ihm, dann sauste sie auch schon durch den Parcours. Ihr kleiner Körper navigierte mithilfe ihrer Fäden mühelos um die Hindernisse herum. Grimmig flog Simon hinterher. Er wusste, dass Ariana gewinnen würde, aber das hieß ja nicht, dass er sich nicht anstrengen konnte. Nach den vielen Wiederholungen beherrschte er den ersten Teil des Parcours sicher. Er flog unter, über und durch verschiedene Äste und Tunnel und dachte sogar an die scharfe Rechtskurve, die nötig war, um einem kaum sichtbaren Netz auszuweichen, in dem er sich schon zweimal verfangen hatte. Vor sich sah er Ariana, die sich durch einen Tunnel aus scharfkantigen Steinen hangelte. Mit neuer Energie schwirrte er los und überholte sie mit Leichtigkeit. Wenn er vor ihr den Durchgang erreichte …
In dem Moment ertönte ein durchdringender Schrei. Verblüfft drehte Simon sich um und sah gerade noch, wie Ariana den Halt verlor und durch ein Loch zwischen den Steinen in die Tiefe fiel.
»Ariana?«, rief er. Das Wettrennen war vergessen. Mit Herzklopfen flog er zu der Stelle, an der sie verschwunden war. Er konnte sie nicht sehen.
»Simon!«, rief sie mit panischer Stimme. »Simon, ich kann nicht … Ich kann mich nicht festhalten …«
Er flog durch das Loch, wobei sich sein Flügel in dem zerrissenen Netz verfing. Er machte sich los und suchte mit seinen Facettenaugen nach ihr. Endlich sah er sie an einem einzigen Bein etwa drei Meter über einem spitzen Felsen hängen. Wenn sie stürzte …
»Halt dich fest!«, rief er und flog auf sie zu. Er war nicht sicher, ob er sie als Wespe tragen konnte, aber er traute sich nicht, im Flug zu animagieren. Er musste es darauf ankommen lassen.
Er war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt, als er das Gefühl hatte, festzustecken. Ein weiteres dieser blöden Netze, die Ariana in die Bäume gewebt hatte. Simon zappelte, um freizukommen, doch vergebens. Je heftiger er strampelte, desto fester schienen die pappigen Fäden an seinem Körper zu kleben.
»Ich muss animagieren«, rief er. »Halt dich fest, ich bin gleich da …«
In dem Augenblick bewegte sich Ariana aufwärts. Erst wollte Simon seinen Augen nicht trauen, doch dann war sie auf einer Höhe mit ihm und krabbelte über einen dünnen Webfaden. Wenn Spinnen grinsen konnten, dann grinste sie jetzt von einem Ohr zum andern.
»Viel Glück!«, rief sie und zwinkerte ihm zu, bevor sie wieder im Labyrinth verschwand. Fluchend kämpfte Simon weiter mit dem Netz, was allerdings nur bewirkte, dass er sich selbst dabei in einen Kokon verwickelte. Na toll. Hilflos und wütend sah er zu, wie Ariana mühelos den Rest des Parcours überwand, an einem Faden steil nach unten sauste und durch die kleine Öffnung zur Ziellinie schlüpfte. Sie landete auf einem Blatt und vollführte mit allen acht Beinen einen Siegestanz.
»Ich hab doch gesagt, ich gewinne!«, sagte sie zufrieden.
»Das war unfair«, protestierte Simon. »Du hast geschummelt!«
»Und du glaubst, die anderen aus dem Insekten- und Arachnidenreich schummeln nicht, wenn sie die Gelegenheit dazu haben?«
»Doch, aber …«
»Ich tue dir einen Gefallen, Simon. Wir sind nicht wie die anderen Reiche – niemand wird dich fair behandeln. Nicht mal ich.« Sie ließ sich ins Gras fallen und verwandelte sich zurück in menschliche Gestalt. »Die üblichen Regeln gelten nicht für mein Reich. Wenn du den Kristall finden willst, musst du lernen, dich anzupassen.«
Der Kristall – er war der Grund, warum sie und Simon so spät noch wach waren. Der Grund, warum Ariana seit Monaten mit Simon übte, sich in jedes erdenkliche Insekt zu verwandeln, und der Grund, warum Simon nie so wie die anderen Schüler im L. A. G. E. R. sein würde. Denn obwohl es nun wirklich genug Menschen auf der Welt gab, war es ausgerechnet der 12-jährige Simon Thorn, der dazu bestimmt war, die verlorenen Teile des Greifstabs zusammenzusetzen, der Waffe, die dem Bestienkönig die Macht gegeben hatte, anderen Animox ihre Kräfte zu rauben.
Es war fast zum Lachen, wenn er es recht bedachte. Bis vor acht Monaten hatte er keinen blassen Schimmer gehabt, dass es Animox überhaupt gab. Er und sein Onkel Darryl hatten auf der Upper West Side von New York gelebt, in einer ganz normalen Wohnung in einer ganz normalen Straße, und die einzigen Tiere, mit denen er Kontakt gehabt hatte, waren die Tauben auf seinem Fensterbrett gewesen. Seine Mutter hatte er kaum gesehen, weil sie viel auf Reisen war, angeblich wegen ihrer Arbeit. Doch jetzt kannte er die Wahrheit: Sie hatte nach den Teilen des Greifstabs gesucht. Nachdem sich die Welt der Animox vor Jahrhunderten verbündet hatte, um den Bestienkönig zu besiegen, war die Waffe mit der fünfzackigen Kristallspitze in fünf Teile zerbrochen worden, und jedes Königreich hatte eines bekommen. Seither hatten die Anführer der Reiche ihr Teil bewacht – bis seine Mutter gekommen war.
Aber natürlich war es nicht ihr Ziel gewesen, die Waffe zu benutzen. Sie wollte den Greifstab ein für alle Mal zerstören, und das war nur möglich, wenn er vollständig zusammengesetzt war. Simon war nicht der Einzige, der vom Plan seiner Mutter wusste. Sein Großvater Orion, der Vater seiner Mutter und Herr des Vogelreichs, wusste es auch. Er hatte seine Mutter im letzten September entführt und nutzte ihr Wissen, um die Teile des Greifstabs selbst zu finden. Zumindest versuchte er das.
Indem Simon den verborgenen Hinweisen auf den Postkarten, die seine Mutter ihm geschickt hatte, gefolgt war und seine eigenen geheimen Verwandlungsfähigkeiten nutzte, war es ihm bereits zweimal gelungen, Orion ein Teil wegzuschnappen. Doch wenn Simon das Werk seiner Mutter vollenden und die Waffe zerstören wollte, musste er alle fünf Kristalle finden. Und das hieß, dass er auch das nächste Teil bekommen musste: das Teil, das von der Schwarzen Witwenkönigin bewacht wurde, der Herrscherin über das Insekten- und Arachnidenreich.
Arianas Mutter.
»In meinem Reich bekommst du nur eine einzige Chance, Simon«, sagte Ariana. Ihre raue Stimme erinnerte ihn daran, dass er nicht der Einzige war, der bis ans Ende seiner Kräfte ging, um die Welt der Animox zu retten.
»Wenn du es verbockst, hast du keinen zweiten Anlauf, und dann war alles umsonst. So, kommst du jetzt aus dem Netz, oder willst du bis zum Frühstück da rumhängen?«
Endlich gelang es Simon, sich aus dem Spinnennetz zu befreien, und er schüttelte die klebrigen Fäden von seinem Wespenkörper. »Na schön, ich versuch’s noch mal«, sagte er lustlos, aber dennoch entschlossen. Sie hatte ja recht. Er musste vorbereitet sein. Gejammer brachte ihm gar nichts. »Aber ich mache den Sturzflug vorsichtig, bis ich ihn wirklich kann.«
»Wenn’s sein muss«, sagte sie. »Aber bleib dran.«
Und das tat Simon. Wieder und wieder flog er durch den Hindernisparcours, bis er ihn so gut kannte wie sein eigenes Zimmer. Erst nach einer weiteren Stunde war Ariana mit der Schnelligkeit und Wendigkeit seines Flugs zufrieden, und endlich konnte er ihr, völlig durchgeschwitzt, helfen, die Netze und Hindernisse zu entfernen. Als keine Spur von ihrem nächtlichen Training mehr zu sehen war, machten sie sich auf den Rückweg in den äußeren Gang des fünfeckigen L. A. G. E. R., wo sich die Schlafräume befanden.
»Danke«, sagte Simon zu Ariana, als sich ihre Wege trennten. »Ich weiß, ich kann manchmal unausstehlich sein …«
»Du bist auch nicht schlimmer, als ich am Anfang meiner Ausbildung war«, sagte sie schulterzuckend.
»Wie alt warst du da? Fünf?«, fragte er halb ernst, halb im Scherz.
»Drei.« Ihre Blicke begegneten sich. »Außerdem brauchst du Hilfe. Und ich selbst hab dabei ja nicht viel zu tun.«
»Na ja, du könntest auch schlafen«, sagte Simon mit einem Lächeln, das sie nicht erwiderte.
»Ich hab seit Januar sowieso nicht mehr als ein paar Stunden am Stück geschlafen.«
Simon zögerte. »Hat deine Mom irgendwelche anderen … Vorkommnisse erwähnt?«, fragte er vorsichtig.
»Sie erzählt mir nichts mehr. Sie will nicht, dass ich mir Sorgen mache«, murmelte Ariana und betrachtete ihre Fingernägel. Sie waren dunkellila lackiert. »Aber Lord Anthony hat erwähnt, dass es letzte Woche einen Anschlagsversuch gab. Sie musste wieder den Aufenthaltsort wechseln.«
Simon schluckte. »Wie geht es ihr?«
Ariana nickte. »Den Umständen entsprechend gut. Ihr ist nichts passiert. Diesmal war es ein Tausendfüßler«, antwortete sie. »Ich verstehe einfach nicht, warum so viele verschiedene Untergruppen unseres Reichs … sie töten wollen. Mit einigen von ihnen bestehen seit Jahrhunderten Friedensabkommen. Und ich verstehe nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe machen. Sie …« Ariana biss sich auf die Lippe. »Sie wird doch sowieso nicht mehr lange leben.«
Simon griff nach ihrer Hand und drückte sie. Kein Wunder, dass Ariana nicht schlafen konnte. Ihre Mutter war krank – so krank, dass sie nie wieder gesund werden würde. Hinzu kam, dass sich die Spannungen in ihrem Reich seit Monaten verstärkten. Wenn ihre Mutter starb, würde es Arianas Aufgabe sein, sie aufzulösen – falls das überhaupt möglich war.
»Vielleicht steckt derjenige hinter den Angriffen, der die Mitglieder des Reptilienrats gegeneinander ausgespielt und Jams Schwester dazu gebracht hat, ihre Familie zu hintergehen«, sagte Simon düster.
Ariana machte große Augen. »Du glaubst, dass Orion etwas damit zu tun hat?«
»Das hat er doch immer!« Simon blieb stehen, als sie an die Tür zum Insektenreich kamen. Der Gang dahinter war voller Spinnweben, und davon hatte er für heute genug. »Es tut mir leid.«
»Es muss dir nicht leidtun«, erwiderte sie. »Wenn dein Großvater die Finger im Spiel hat, ist es nicht deine Schuld.«
Aber irgendwie fühlte es sich doch so an. Schließlich hatte Simon selbst seine Mutter an Orion ausgeliefert, wenn auch, ohne es zu wollen. »Wir sehen uns morgen«, sagte er. »Ich bringe dir dein Frühstück mit in die erste Stunde, damit du ausschlafen kannst.«
Sie nickte, doch ihr Blick sagte Simon, dass sie wie üblich im Speisesaal erscheinen würde. Im Augenblick spürte er nur noch bei ihren geheimen Trainingseinheiten etwas von ihrer früheren Lebhaftigkeit, und selbst da waren die Schatten und scharfen Linien in ihrem Gesicht unübersehbar.
Nachdem sie sich Gute Nacht gesagt hatten, machte Simon sich auf den Weg zu seinem Zimmer im Alpha-Bereich. Sein Onkel Malcolm war der Alpha des Säugerreichs, weshalb dieser Teil des L. A. G. E. R. vom Wolfsrudel bewacht wurde. Mittlerweile war Simon daran gewöhnt, sich hinein- und hinauszuschleichen. Als Insekt bemerkten ihn die Wachen nie – er hatte beinahe ein schlechtes Gewissen deswegen.
Heute Abend war es nicht anders. Am Fuß der Wendeltreppe, die zu den Schlafzimmern führte, stand ein großer grauer Wolf. Malcolm. Er hatte eine Million wichtigere Dinge zu tun, als hier herumzustehen, und ein Bett, das wesentlich bequemer war als die Wiese, und doch war er hier und hielt Wache, um Simon und seinen Bruder zu beschützen. Oder es zumindest zu versuchen. Simon hatte ihn dabei nicht gerade unterstützt – seit Januar war er fast jeden Abend nach draußen geschlichen.
Mit einer stillen Entschuldigung im Kopf schwirrte er in die zweite Etage, wo er durch die Ritze unter seiner Tür hindurchkrabbelte und sich zurück in menschliche Gestalt verwandelte. Aufatmend lehnte er sich an die Wand und genoss die Dunkelheit. Es gab Tage, an denen er nicht sicher war, ob er das alles schaffen konnte – die Teile des Greifstabs zu finden, seine Mutter zu retten, all die schrecklichen Dinge zu verhindern, die sie befürchteten –, und heute war einer dieser Tage.
Er knipste das Licht an und wollte ins Bad gehen, das er sich mit seinem Bruder teilte. Doch bevor er die Tür erreichte, fiel sein Blick auf einen Umschlag auf seinem Kissen, auf dem in steiler Handschrift sein Name stand.
Sein Mund nahm einen bitteren Geschmack an. Neben dem Umschlag schlummerte eine kleine braune Maus, doch Simon machte sich nicht die Mühe, sie zu wecken. Er wusste, dass Felix wie üblich nichts gesehen hatte.
Widerstrebend zog er die Karte heraus.
Du und ich, mein Enkel, wir können die Welt retten.
Ich warte.
In Liebe,
Celeste
Am nächsten Morgen hatte Simon das Gefühl, sich in Zeitlupe zu bewegen. Während der ohnehin schon kurzen Nacht hatten ihn Träume von einem Wolf mit goldenen Augen und boshaftem Grinsen geplagt. Er hätte sich gern eingeredet, dass Celeste es nicht wagen würde, ihn oder seinen Bruder im L. A. G. E. R. anzugreifen, doch er wusste es besser.
Celeste war die ehemalige Alpha des Säugerreichs und Nolans und Simons Großmutter, genauer gesagt die Adoptivmutter ihres Vaters. Sie war hinterhältig und machtgierig und schreckte vor nichts zurück, um zu bekommen, was sie wollte: die Kräfte des Bestienkönigs. Um Neujahr herum hatte sie herausgefunden, dass Simon versuchte, den Greifstab zu zerstören, und seitdem wollte sie ihn überreden, mit ihr zusammenzuarbeiten.
»Ich hab schon wieder eine Nachricht bekommen«, sagte Simon, als er sich auf seinen Stuhl am Frühstückstisch plumpsen ließ, an dem seine Freunde bereits Platz genommen hatten. Obwohl der Speisesaal mit seinem üppigen Büfett eher an ein Restaurant als an eine Schulkantine erinnerte und die Lieblingsgerichte aller fünf Reiche bereithielt, hatte Simon sich nur eine Scheibe Toast geholt.
»Wo war sie diesmal?«, fragte das schmale Mädchen mit dem langen dunklen Zopf, das neben Simon saß. Winter. Sie teilte sich mit der gähnenden Ariana, die wie erwartet gekommen war, einen Teller mit gebratenem Speck und Waffeln mit Erdbeeren.
»Auf meinem Kissen«, murmelte er. »Ich weiß wirklich nicht, wie sie es immer schafft, ins L. A. G. E. R. zu kommen.«
»Vielleicht hat sie einen Komplizen«, sagte sein bester Freund Jam und schob sich die Brille auf der Nase hoch. »Hast du darauf geachtet, welche Rudelmitglieder Dienst hatten, als du die Briefe bekommen hast?«
»Nein«, antwortete Simon. »Aber gestern Abend war es Malcolm, und der würde sie garantiert nicht in unsere Nähe lassen.«
»Wen würde er nicht in unsere Nähe lassen?«
Simon zuckte zusammen, als ein Junge mit hellbraunen Haaren und blauen Augen sein Tablett mit einem Scheppern auf den Tisch fallen ließ und sich ihm gegenübersetzte. Obwohl Simon und Nolan bis hin zur letzten Sommersprosse eineiige Zwillinge waren, hatten sie sich erst im vergangenen September kennengelernt, und auch wenn sie sich in den letzten Monaten nach und nach zusammengerauft hatten, verstanden sie sich noch längst nicht so gut, wie man es von Zwillingen erwartete.
»Meine Mutter«, erwiderte Ariana, ohne zu zögern, und zupfte den Stiel einer Erdbeere ab. »Sie hat sich schon wieder geweigert, Malcolms Schutz anzunehmen.«
»Und wieso will er sie nicht in unsere Nähe lassen?«, fragte Nolan mit gerunzelter Stirn. Simon bekam Gewissensbisse.
Mittlerweile war Nolan in fast alle seine Geheimnisse eingeweiht. Sein Bruder wusste von Simons Mission, den Greifstab zu zerstören, und er wusste, dass sie sich als Nächstes das Insektenreich vornehmen mussten. Er wusste auch, dass Simon bereits zwei der Kristallteile in seinem Zimmer versteckt hatte – das des Reptilien- und das des Unterwasserreichs. Und Nolan hatte ihm geholfen, ein neues Versteck zu finden, nachdem Celeste in den Weihnachtsferien ihre Zimmer auf den Kopf gestellt und das Geheimversteck beinahe gefunden hatte.
Doch Nolan wusste nichts von Celestes Nachrichten, und wenn es nach Simon ging, würde er auch nie davon erfahren. Während Simon bei Onkel Darryl aufgewachsen war, weit entfernt von der Welt der Animox, hatte Nolan mittendrin gelebt. In den langen Monaten, in denen ihre Mutter durchs Land gereist war, war er bei Celeste und Malcolm geblieben. Die beiden waren Nolans Familie gewesen, so wie Darryl Simons Familie gewesen war. Wenn Nolan nun herausfand, dass ihre Großmutter zurückgekehrt war und eine Zusammenarbeit anbot, war das Risiko einfach zu groß, dass er die Gelegenheit ergreifen würde.
»Du kennst doch Malcolm«, sagte Simon in der Hoffnung, sein Bruder würde nicht weiter nachbohren. »Aber die Schwarze Witwenkönigin ist die Einzige, die weiß, wo das nächste Teil versteckt ist, und wenn wir es finden wollen …«
»So genau wissen wir das nicht«, schnitt Nolan ihm das Wort ab. »Es muss noch jemanden geben.«
Alle sahen Ariana an, die mit vollem Mund die Schultern zuckte. »Vielleicht«, brachte sie heraus, bevor sie schluckte. »Glaube ich aber nicht.«
»Es wäre doch auch möglich, dass Simon … es zufällig findet, so wie das Teil der Reptilien«, sagte Jam. »Wir können es doch wenigstens mal versuchen, oder?«
»Aber nicht ohne einen einzigen Anhaltspunkt«, entgegnete Winter gereizt. Sie hatten dieses Gespräch schon unzählige Male geführt und landeten immer wieder am selben Punkt. »Der Kristall könnte überall sein. Ebenso gut könnten wir jeden einzelnen Stein im Central Park umdrehen und aufs Beste hoffen.«
»Wir wissen, dass Ariana ihre Mutter zuletzt in New Orleans getroffen hat«, sagte Simon und starrte auf seinen Toast. »Wenn ich mich da mal umschauen könnte …«
»Wie denn?«, fragte Nolan. »Nach der Sache in Los Angeles erlaubt Malcolm das nie.«
Simon strich sich unwillkürlich über die Rippen. Dort befand sich die halbmondförmige Narbe, die er sich zugezogen hatte, als ein besonders hartnäckiger Hai ihn attackiert hatte. Eine weitere Narbe befand sich an seinem Bein. Um ehrlich zu sein, war Simon überrascht, dass Malcolm ihn überhaupt noch aus den Augen ließ. Nolan hatte recht. Sie hatten unglaubliches Glück gehabt, dass Malcolm sie mit an die Westküste genommen hatte. Dass sie jetzt nach New Orleans reisten, würde er garantiert nicht zulassen.
»Dann … frag ich ihn eben nicht«, sagte er. »Wenn die Osterferien anfangen, fliege ich hin. Ich hab schließlich Flügel. Es könnte allerdings eine Weile dauern«, fügte er hinzu, als sein Bruder protestieren wollte. »Aber ich kann nicht hier rumsitzen und nichts tun.«
»Das wollte ich ja auch gar nicht sagen«, erklärte Nolan. »Ich wollte nur sagen, dass ich mitkomme. Ich hab genug Geld für zwei Zugtickets.«
Jetzt öffnete Simon den Mund, um zu protestieren, doch dann schloss er ihn wieder. Er hatte kein Recht dazu, seinem Bruder die Reise zu verwehren. Nolan wusste selbst, wie gefährlich es sein würde – für Nolan sogar noch gefährlicher, da Orion und Celeste von Nolans Kräften wussten, von Simons hingegen nicht. Beide wollten ihn in ihre Gewalt bekommen, um ihm seine Gabe zu stehlen. Sollte einer von ihnen wirklich die Fähigkeiten des Bestienkönigs erlangen, würde es nicht lange dauern, bis er oder sie alle fünf Reiche unterworfen hätte.
Doch im Grunde suchte Simon nicht nach den Teilen des Greifstabs, um die Welt der Animox zu retten. Er tat es, um seine Mutter zu retten, und sie war eben nicht nur seine Mutter, sondern auch Nolans. Er konnte ihn nicht mehr außen vor lassen.
»Okay«, murmelte er deshalb und zerbröselte den Rest seines Toasts zwischen Daumen und Zeigefinger. »Aber du musst mir versprechen, dass du nichts im Alleingang machst.«
»Und was ist mit uns?«, fragte Winter. »Wie kommen wir nach New Orleans? Nicht jeder hat einen Bruder mit einer vollen Reisekasse.«
Simon schwieg. Mehrere Sekunden lang war es still am Tisch, dann antwortete Ariana an seiner Stelle. »Gar nicht«, sagte sie mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme. »Wir sind in dem Plan nicht vorgesehen.«
»Wir haben zwei –« Lautes Gejohle erklang von der Säugergruppe am Nebentisch, und Simon senkte die Stimme. »Wir haben zwei Teile, weil ihr mir geholfen habt. Aber wir haben alle damit gerechnet, dass ich irgendwann allein weitermachen muss …«
»Nicht allein«, warf Nolan ein, und Simon unterdrückte ein Seufzen. »Ihr wisst, wie ich es meine. Wir müssen das Teil von Arianas Reich finden, und wenn das die einzige Möglichkeit ist …«
»Es ist nicht die einzige Möglichkeit«, fiel Winter ihm ins Wort. »Du willst es doch nur allein finden, damit du den Helden spielen kannst.«
Simon blickte von seinem Teller auf und sah sie verblüfft an. »Glaubst du das wirklich?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Glaubst du, mir macht das Spaß?«
Winter straffte die Schultern und zog die Augenbrauen zusammen. »Nein, aber ich glaube auch nicht, dass du dir Mühe gibst, dir was Besseres einfallen zu lassen. Wenn du allein gehst …«
»Nicht allein«, wiederholte Nolan.
»… kannst du allen beweisen, dass du besser bist als der Rest des Vogelreichs«, fuhr sie fort. »Oder … was weiß ich. Gib es schon zu. Irgendwie willst du doch ein Held sein.«
Simon erhob sich so schnell, dass sein Stuhl laut über den Boden schleifte und die umsitzenden Schüler aufblickten. Doch das war ihm egal. Winter hatte ihm in den wenigen Monaten, die sie sich kannten, bereits eine Menge Gemeinheiten an den Kopf geworfen, aber das war mit Abstand die schlimmste.
»Weißt du, was ich will? Ich will meine Mom zurück. Meinen Onkel. Mein altes Leben«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er fühlte sich plötzlich so erschöpft, dass er fürchtete, im nächsten Moment zusammenzubrechen. »Und weißt du, was ich gerade überhaupt nicht gebrauchen kann? Deine bescheuerte Meinung! Weil du nämlich nicht immer recht hast. Ich hab was Besseres zu tun, als hier zu sitzen und mir diesen Blödsinn anzuhören!«
Er ließ sein vollgekrümeltes Tablett stehen und stürmte aus dem Speisesaal in den Gang, der um den inneren Kreis der Schule herumführte. Hinter sich hörte er Schritte, doch er blieb nicht stehen. Wenn Jam ihn beschwichtigen wollte oder Ariana forderte, dass er sie mitnahm, dann …
»Warte!«
Die Stimme seines Bruders hallte durch den Gang, und Simon wurde langsamer. »Ich werde mich nicht entschuldigen«, sagte er grimmig.
»Bloß nicht. Es war höchste Zeit, dass du Winter mal die Meinung gesagt hast«, erwiderte Nolan. »Du hättest ihr Gesicht sehen sollen.«
Simon konnte es sich vorstellen. Wenn Winter wütend war, war nicht mit ihr zu spaßen. Ihm graute schon beim Gedanken an ihren gemeinsamen Zoologiekurs am Vormittag. »Glauben die anderen das auch?«, fragte er. »Dass … ich unbedingt als Held dastehen will?«
»Wenn sie das glauben, sind sie Idioten«, sagte Nolan. »Dann verstehen sie nicht, was es heißt, einen Teil seiner Familie zu verlieren.«
»Eigentlich wissen sie das alle ziemlich gut«, wandte Simon ein, als sie in den Gang zum Alpha-Bereich bogen. »Orion hat Winter aufgezogen und sie dann verstoßen, weil sie eine Schlange und kein Vogel ist, Jams Vater wurde von Haien lebensgefährlich verletzt, und Arianas Mutter liegt im Sterben.«
»Okay, aber keiner von ihnen wurde entführt«, konterte Nolan. Als Simon ihn anschaute, sah er allerdings etwas nachdenklich aus. »Wann willst du abreisen?«, fragte er.
»So schnell wie möglich«, erwiderte Simon entschlossen. Es hatte keinen Zweck, bis zu den Osterferien zu warten. »Wir können den Tunnel in deinem Zimmer nehmen.«
»Das geht nicht«, widersprach Nolan resigniert. »Dann sieht uns das Rudel.«
»Schon möglich, aber das Rudel kann nicht fliegen.« Das Beste an ihrer unterirdischen Schule waren die vielen Geheimgänge, die nach oben in den Central Park Zoo führten. Simon und Nolan hatten den Tunnel, dessen Einstieg in Nolans Zimmer lag, schon oft genutzt, um ein paar Runden über dem Park zu fliegen. Es war der einfachste Weg nach draußen.
Nolan antwortete nicht, da sie gerade in den Alpha-Bereich kamen und an einer mittelgroßen Wölfin vorbeimussten, die sich am Ohr kratzte und ziemlich gelangweilt aussah. Simon nickte ihr zu und eilte die Wendeltreppe hinauf. Auf halber Höhe sagte Nolan leise:
»Es ist besser, wenn wir erst morgen früh aufbrechen. Sie werden denken, dass wir kurz an die Luft gegangen sind. Wenn sie merken, dass wir nicht zurückkommen, sind wir schon in Philadelphia.«
Das war gar nicht so dumm. »Meinst du, du kannst so weit fliegen?«, fragte Simon.
»Das werden wir ja sehen. Und sonst nehmen wir eben doch den Zug.« Dass Nolan nicht wie sonst protzte, konnte nur heißen, dass er Zweifel hatte.
»Es wird schon klappen«, sagte Simon, bevor sie in ihre Zimmer gingen. »Ich bin ja bei dir.«
»Das ist meine kleinste Sorge«, murmelte Nolan. »Aber was, wenn wir das Teil nicht finden? Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt.«
Simon wusste es selbst nicht. Aber das wollte er seinem Bruder nicht sagen, denn es laut auszusprechen würde es nur noch bedrückender machen. Im Augenblick musste er einfach daran glauben, dass er es schaffen konnte – dass sie es schaffen konnten. Ihre Mutter hatte ihm eine Postkarte unter der Wolfsstatue auf dem Grab seines Onkels oben im Zoo hinterlassen. Darauf war eine Seidenspinne in einem Garten abgebildet, aber es gab keinen Hinweis auf den genauen Ort, anders als auf den anderen Karten, die sie ihm über die Jahre geschickt hatte. Winter hatte recht gehabt, als sie gesagt hatte, sie könnten ebenso gut die Steine im Central Park umdrehen. New Orleans war nur eine Vermutung. Eine äußerst vage Vermutung, die darauf beruhte, dass Ariana in den Weihnachtsferien dorthin gereist war. Sie konnten damit falschliegen, vor allem da die Schwarze Witwenkönigin seither schon mehrmals den Aufenthaltsort hatte wechseln müssen.
Simon war immer noch auf der Suche nach einer Antwort, als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete und beinahe auf Felix getreten wäre. Die Maus stellte sich auf die Hinterbeine, stemmte die Pfoten in die Hüften und sah Simon wütend an. »Du hast noch so eine Nachricht bekommen und mir nichts davon gesagt?«, piepste Felix und schwenkte die Karte, die Simon am Abend zuvor auf seinem Kissen gefunden hatte. »Du kennst die Regeln. Wenn du Malcolm schon nichts sagst, musst du es wenigstens mir sagen …«
»Felix!« Simon riss die Augen auf und warf seinem kleinen Freund einen eindringlichen Blick zu. Dieser verstand die Warnung und warf die Karte beiseite, doch es war zu spät: Nolan stieß die Tür weit auf, ging um Simon herum und griff nach der Karte. »Was ist das?«
»Ich …« Simon zögerte. »Das ist meine. Bitte …«
Doch sein Bruder las bereits. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, und schließlich hob Nolan den Blick und sah ihn verwirrt und enttäuscht an.
Bevor Simon zu einer Erklärung ansetzen konnte, räusperte sich jemand hinter ihnen. »Alles in Ordnung, Jungs?«
Simon wirbelte herum. Als wäre die Situation noch nicht schlimm genug, stand jetzt ein Mann mit breiten Schultern und langen dunklen Haaren in der Tür.
Der Alpha des Säugerreichs – ihr Onkel Malcolm.
Simon war wie versteinert. Was sollte er jetzt sagen? Wenn Malcolm herausfand, dass seine Mutter Celeste Simon Botschaften schickte – und, schlimmer noch, dass sie Zugang zum L. A. G. E. R. hatte, dann …
»Alles in Ordnung«, sagte Nolan mit piepsiger Stimme. Simon warf ihm einen dankbaren Blick zu.
»Ach ja?«, fragte Malcolm und lehnte sich an den Türrahmen. »Kommt mir irgendwie nicht so vor. Was ist das in deiner Hand?«
»Ein, äh … ein Liebesbrief«, stammelte Nolan. »Von …«
»Ich will nicht darüber reden«, unterbrach Simon ihn, schnappte sich die Karte zurück und stopfte sie in die Hosentasche.
Malcolm zog die Augenbrauen hoch. »Verstehe. Bist du sicher, dass du nicht darüber reden willst, Simon? Vielleicht hast du ja … Fragen?«
Simons Wangen wurden heiß. »Nö.« Er packte seinen Rucksack und murmelte: »Ich muss los.«
Er flitzte die Treppe hinunter, so schnell er konnte. Trotz seines Ärgers, dass Nolan so eine peinliche Antwort gegeben hatte – ganz sicher würde Malcolm ihn nun drängen, über Mädchen und Verliebtsein und solchen Kram zu reden –, sorgte er sich vor allem darum, dass Nolan jetzt von Celestes Nachrichten wusste. Obwohl er die ganze Sache am liebsten vergessen hätte, lief er langsamer, als er den Alpha-Bereich verlassen hatte, und wartete im Gang auf seinen Bruder.
Während er dastand und die Träger seines Rucksacks umklammerte, gingen ihm alle möglichen Ausreden durch den Kopf, doch er landete immer wieder bei der Wahrheit. Er musste Nolan die ganze Geschichte erzählen. Es war das einzig Richtige. Mittlerweile hatte Nolan hoffentlich verstanden, dass von Celeste nichts Gutes zu erwarten war. Die Zeit dehnte sich, und er trommelte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Warum brauchte sein Bruder so lange? Was …
Er erstarrte. Was, wenn Nolan es Malcolm doch erzählte? Er betastete die Karte in seiner Tasche. Würde Malcolm Nolan auch ohne Beweis glauben?
Simon musste die Karte loswerden. Er hatte die Hälfte des Gangs zurückgelegt, als er die Tür des Alpha-Bereichs hinter sich hörte und Nolan auftauchte. Seine Miene war unergründlich. Er machte das gleiche Gesicht wie Simon, wenn niemand erfahren sollte, wie er sich fühlte, und als sich ihre Blicke begegneten, lief es Simon kalt den Rücken hinunter.
Nolan sagte nichts, während er auf ihn zukam. Das musste er auch nicht. Simon fühlte eine böse Vorahnung in sich aufsteigen. Erst als sein Bruder direkt vor ihm stand, atmete er wieder aus.
»Du darfst mir so was nie wieder verheimlichen«, sagte Nolan eisig. »Wir stecken da zusammen drin, kapiert?«
Simon nickte stumm. »Ich hatte nur Angst, weil … sie deine, also unsere Großmutter ist und …«
»Ich bin doch nicht blöd. Ich weiß, was auf dem Spiel steht.«
»Du hast recht.« Simon seufzte. »Es tut mir leid.«