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Hochspannung pur! Nachdem Simon Thorn und seine Freunde die Abenteuer in Afrika gemeistert haben, wartet schon die nächste Aufgabe auf die Helden: Diesmal geht es nach Südamerika, wo sie sich in den Tiefen des Regenwaldes im Amazonasgebiet den unterschiedlichsten Gefahren stellen müssen. Dort treffen sie auch auf den nächsten Erben, der ihnen zunächst feindlich gegenübersteht. Wird es Simon gelingen, ihn freundlich zu stimmen? Und wird er seinem großen Ziel einen Schritt näherkommen?
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»Wenn er einen Kampf will, soll er ihn kriegen“, knurrte ein Erbe, und die anderen johlten zustimmend. Simon schnitt eine Grimasse. Es gab keine Möglichkeit die Erben zu retten, bevor Wadim erneut zuschlug. Aber wenn er sie so vor sich sah, bereit, ihr Leben zu riskieren, um den Regenwald und die Tiere zu beschützen, sah er nur einen Weg, ihnen zu helfen: an ihrer Seite zu kämpfen.
Noch erschöpft von den Erlebnissen in der Serengeti, fliegen Simon Thorn und seine Freunde in den brasilianischen Regenwald, um die dortigen Erben vor Wadim in Sicherheit zu bringen. Doch erneut ist ihnen der europäische Hüter des Imperiums einen Schritt voraus: Nolans Täuschung ist aufgeflogen! Ist nun Simons Familie in Gefahr? Als es Giftpfeile regnet und die Verletzungen sich mehren, weiß Simon nicht mehr, wie er die Erben der Animox beschützen soll …
Der atemberaubende vierte Band der neuen ANIMOX-Bestseller-Serie
Für Pippa
Nolan Thorn war schon immer überzeugt gewesen, dass aus ihm einmal eine wichtige Persönlichkeit werden würde.
Schließlich war er etwas Besonderes. Als Erbe des berüchtigten Bestienkönigs besaß er die Macht, sich in fast jedes Tier der Welt verwandeln zu können – eine Macht, von der er bis vor Kurzem angenommen hatte, dass nur sein Zwillingsbruder und er sie besaßen. Mit dieser Fähigkeit konnte er alles sein – was auch immer er wollte.
Eine Fähigkeit, die durchaus beängstigend war, vor allem, da sein Vorfahre seine Macht dazu missbraucht hatte, die Welt der Animox zu unterwerfen. Doch trotz seiner zweifelhaften Abstammung hatte sich Nolan immer für jemanden gehalten, den die anderen bewunderten und respektierten. Einen Helden, einen Anführer oder – mit etwas Glück und der richtigen Gelegenheit – vielleicht sogar eine Legende.
Aber niemand hatte sich je die Mühe gemacht, ihm zu sagen, dass Heldentum nicht nur Spaß und Vorteile mit sich brachte. Sondern dass er auch tödliche Risiken eingehen müsste und für zahllose Leben verantwortlich sein würde – und, was das Schlimmste war, dass er das alles im Geheimen tun musste.
Jetzt, wenige Wochen vor seinem vierzehnten Geburtstag, in einem stickigen Transporter ohne Klimaanlage und mit vom Regen beschlagenen Fenstern, die sich nicht herunterkurbeln ließen, hätte Nolan alles dafür gegeben, in die Zeit zurückzukehren, in der das Schicksal der Animox noch nicht auf seinen Schultern geruht hatte. Damals hatte er gar nicht gewusst, wie gut er es hatte, als er mit seinen Freunden abhängen konnte und sich höchstens um seine Hausaufgaben kümmern musste oder um die Herausforderung, in seiner Schuluniform cooler auszusehen als die anderen. Vor allem aber vermisste er die Zeit, in der er noch durch die Nase atmen konnte, ohne das Gefühl zu haben, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
»Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal geduscht?«, schnauzte er den muskulösen Mann an, der auf dem Platz neben ihm saß. Sergei Wadim mochte ursprünglich ein eher durchschnittlicher Typ gewesen sein, der trotz seiner stechenden Augen und seines Stiernackens in einer Menschenmenge nicht weiter aufgefallen wäre. Jetzt aber, nach drei Nahtoderfahrungen – für die Nolan bedauerlicherweise nicht verantwortlich war –, sah der europäische Hüter aus, als stünde er mit einem Bein im Grab. Und zu Nolans Pech roch er auch so.
Wadim gab keine Antwort. Er machte sich nicht einmal die Mühe, von dem Tablet auf seinem Schoß aufzublicken. Seine Augen waren lila unterlaufen und beinahe komplett zugeschwollen, und hätte er nicht das Gerät gehalten, hätte Nolan angenommen, dass er eingeschlafen war – oder wieder das Bewusstsein verloren hatte. Das wäre ihm lieber gewesen, als mit Wadim zu sprechen, selbst wenn es bedeutete, dass er ihm beim Schnarchen zuhören musste.
Seit fast zwei Wochen saßen sie nun schon zusammen fest, und in dieser Zeit hatte keiner der beiden eine Gelegenheit ausgelassen, den anderen zu beleidigen. Es war vielleicht nicht die spannendste Unterhaltung, aber immerhin besser als die Langeweile, die diese endlose Reise mit sich brachte. Und da sie gerade die vermutlich längste unbefestigte Straße der Welt hinunterfuhren und auf einen Regenwald zusteuerten, in dem es von mörderischen Viechern nur so wimmelte, war Nolan dankbar für jedes bisschen Spaß, das er kriegen konnte. Doch die Sekunden vergingen, und Wadim schwieg. Nolan kniff die Augen zusammen. Na schön. Wenn der Hüter Spielchen spielen wollte – bitte sehr.
»Warum sind Sie eigentlich nicht am Flughafen geblieben, um auf Simon zu warten?«, fragte er beiläufig, als wäre sein Zwillingsbruder ein unverfängliches Gesprächsthema. »Okay, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Wenn mich jemand gleich zweimal in einer Woche so übel zugerichtet hätte, würde ich ihn auch meiden wie die Pest.«
Fehlanzeige. Wadims Blick löste sich nicht vom Bildschirm, und Nolan unterdrückte ein Stöhnen. Bis sie in dieses Fahrzeug gestiegen waren, war Wadim so reizbar wie üblich gewesen, also was war passiert? Warum biss er nicht an? Kein Film und keine Serie konnten so fesselnd sein, dass Wadim plötzlich die Fähigkeit entwickelt hatte, Nolan auszublenden.
Obwohl er wusste, dass es ein Risiko war, wagte Nolan einen Blick über Wadims Kopf, wo eine Spinne an der Autodecke saß. Sie hatte nichts Bemerkenswertes an sich, eine gewöhnliche braune Hausspinne, die niemand fürchten musste, allerhöchstens jemand mit Spinnenphobie, und genau das war ja auch der Sinn der Sache. Obwohl Nolan wusste, dass die Spinne da war, fügte sie sich so gut in den Hintergrund ein, dass er sie nur sah, wenn er gezielt nach ihr suchte. Zugegeben, Wadim war wachsamer als Nolan, aber solange die Spinne nicht in das Blickfeld des europäischen Hüters krabbelte, hatte sie nichts zu befürchten. Jedenfalls nicht in dieser Hinsicht.
Dafür schien ihr etwas anderes Sorgen zu machen. Ihre acht Augen konnte Nolan zwar nicht sehen, aber ihr winziger Körper war in Wadims Richtung gedreht. Auch die Spinne schien wie gebannt auf das Tablet zu starren. Und das – mehr als alles andere, mehr als die lange Fahrt, das Schaukeln des Wagens und Wadims Gestank – machte Nolan Bauchschmerzen.
Er widerstand dem Drang, sich die Nase zuzuhalten, und rückte näher an Wadim heran. »Was gucken Sie denn da?«
Wadim blickte auch jetzt nicht auf, aber zu Nolans Überraschung drehte er den Bildschirm leicht zu ihm. »Einen Einsatz meiner Elite-Einheit«, erwiderte er mit seiner rauen Stimme.
Nolan runzelte die Stirn, und obwohl er entschlossen war, sich so desinteressiert wie möglich zu geben, beugte er sich automatisch vor. Nicht mehr als einen oder zwei Zentimeter, aber so, wie Wadims aufgeplatzte Lippe zuckte, war es dem europäischen Hüter nicht entgangen.
»Wo sind die? Schon am Amazonas?«, fragte er, und sein Herz begann zu rasen. Statt des dichten grünen Blattwerks, das er erwartet hatte, zeigte der Livestream ein verschwommenes Bild aus dem Inneren eines Gebäudes. Hatten Wadims Soldaten es also doch auf seinen Bruder abgesehen? Simon konnte auf sich selbst aufpassen, aber wenn man die Anzahl der Truppen zusammenzählte, die Nolan wenige Stunden zuvor am Flughafen gesehen hatte, kam eine beträchtliche Summe zusammen. Der südamerikanische Zweig des Imperiums schien keine Kosten und Mühen zu scheuen, um ihn zu finden und festzunehmen. Und Simon reiste nicht allein.
Nolan schluckte seine Beklemmung hinunter und konzentrierte sich auf das Video. Was hatte das zu bedeuten? Momentan sah er nur einen Parkettboden, der durch die ruckelnden Bewegungen des Kameramanns etwas unscharf war, aber die Farbe und das Muster kamen ihm erschreckend vertraut vor. Wo hatte er dieses Muster schon einmal …
Nolan stockte der Atem, seine gelangweilte Fassade brach zusammen, und er riss Wadim das Tablet aus der Hand. Es ging ganz leicht, fast so, als wollte Wadim, dass er es nahm, und Nolan umklammerte es so fest, dass das Display nur durch ein Wunder nicht zerbrach.
Das konnte nicht sein. Nach dem langen Reisetag spielte seine Fantasie verrückt, oder vielleicht hatte Wadims Gestank ihn benebelt, und er sah Dinge, die nicht da waren. Aber als ein Haufen Federn und der Stamm eines hohen Baums inmitten einer sonnendurchfluteten Wohnung ins Bild kamen, wusste Nolan, dass er sich nicht täuschte.
Der Sky Tower. Das Penthouse-Apartment, in dem seine Familie und er zu Hause in New York lebten – irgendwie war es Wadims Soldaten gelungen, dort einzudringen.
»Was soll das?«, fragte Nolan, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. »Was machen die da?«
»Ich löse mein Versprechen an deinen Bruder ein«, erwiderte Wadim.
»Welches Versprechen?« Nolans Mutter war immer noch in New York, zusammen mit seiner hochschwangeren Tante Zia. Waren sie in Sicherheit? Bestimmt. Nolans Onkel Malcolm, der Alpha des Säugerreichs und der stärkste Mensch, den Nolan kannte, würde niemals zulassen, dass ihnen etwas zustieß. Es spielte keine Rolle, wie viele Soldaten Wadim geschickt hatte – Malcolm war praktisch unbesiegbar.
»Mein Versprechen, dass seine Familie, sollte er sich in unsere Mission einmischen, dafür bezahlen wird«, sagte Wadim mit aufreizender Gelassenheit. »Hast du gedacht, ich hätte es vergessen?«
Natürlich nicht. Es war jetzt zwei Wochen her – zwei ganze Wochen, seit Soldaten des Imperiums Nolan unweit von seinem Zuhause entführt und wie im Film in ein Auto gezerrt hatten. Zwei Wochen, seit Nolan in der Zitadelle des Imperiums aufgewacht war, mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Zwei Wochen, seit sein Leben auf den Kopf gestellt worden war. Und jetzt musste Nolan auch noch hilflos mitansehen, wie Wadims Schläger den einzigen sicheren Ort zerstörten, den er noch hatte.
»Es ist auch meine Familie«, fauchte er, und seine Hände zitterten vor Wut. Wadims Grinsen wurde nur noch breiter.
»Ich weiß.«
Nolan öffnete den Mund – um zu knurren, zu fluchen oder Wadim aufzufordern, seine Truppen abzuziehen, vielleicht auch alles zusammen. Doch bevor er sich für eine Option entscheiden konnte, sah er etwas, das ihm den Atem nahm und es ihm unmöglich machte, auch nur ein Wort zu sagen.
Blut.
Anfangs war es nicht mehr als ein schmales Rinnsal, kaum sichtbar zwischen den Federn. Dann jedoch schwenkte die Kamera auf das andere Ende des weitläufigen Raums, und bei diesem Anblick schnürte sich Nolans Kehle zu.
Der einst makellose Essbereich neben der Küche war blutrot gesprenkelt. Schlieren auf den weißen Schränken, Lachen neben dem umgestürzten Tisch – und unter Nolans entsetztem Blick spritzten Tropfen auf das Objektiv der Kamera und verdeckten den Großteil des Bildes. Zwischen den roten Rinnsalen konnte er jetzt die kastanienbraun gekleideten Soldaten sehen, die einander Befehle zuriefen und tiefer ins Innere der Wohnung eindrangen.
»Eine Hinrichtung braucht Zeit«, sagte Wadim ungerührt, während Nolans Herz so heftig pochte, dass er glaubte, es würde demnächst explodieren. »Ich muss allerdings gestehen, dass ich etwas mehr Widerstand erwartet hatte. Eigentlich dürfte es nicht so einfach sein, in das Haus zweier mächtiger Anführer einzudringen. Vielleicht haben sie sich schon viel zu lange darauf verlassen, dass ihre jungen Erben sie beschützen.«
Nolan konnte nichts sagen. Eine Hinrichtung. Seine Familie. Seine Mutter. Und er war hier, Tausende Meilen weit weg, und konnte nichts tun. Außer …
Im Bruchteil einer Sekunde sprang er Wadim an die Kehle, seine Fingernägel verwandelten sich in Krallen. Die messerscharfen Spitzen bohrten sich in die empfindliche Haut von Wadims unrasiertem Hals, und kleine Blutperlen quollen hervor und tropften auf seinen Kragen.
»Blasen Sie den Einsatz ab!«, knurrte Nolan. »Sofort. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich zurückziehen.«
Der Wagen wurde langsamer, und der Fahrer brüllte etwas in einer Sprache, die Nolan nicht verstand, aber er ließ nicht von Wadim ab. Der Fahrer konnte ihn nicht aufhalten, ganz gleich, in welches Tier er sich verwandelte. Es gab nichts, was Nolan stoppen konnte, wenn er etwas wollte, und in diesem Moment wollte er nichts mehr, als über Wadims Leiche zu stehen und zu wissen, dass er endlich gewonnen hatte.
Doch obwohl Wadim nur Millimeter vom sicheren Tod entfernt war, rief er nicht um Hilfe. Er erteilte nur einen scharfen Befehl in der Sprache des Fahrers, bevor er sich wieder auf Nolan konzentrierte. Sein Grinsen nahm unmenschliche Züge an. »Das würde ich gerne«, sagte er heiser, »aber ich halte nun mal mein Wort.«
»Das tue ich auch.« Nolan grub seine Krallen noch tiefer, und Wadim stieß einen erstickten, gurgelnden Laut aus. »Und ich schwöre Ihnen, wenn Sie die Sache nicht sofort abbrechen, werden Sie an Ort und Stelle sterben.«
Er meinte es ernst. Er meinte es mit jeder Faser seines Körpers, und es kostete ihn all seine Willenskraft, Wadim nicht in Stücke zu reißen. Doch der Hüter blickte ihn nur unbewegt an, während die Blutstropfen an seinem Hals hinunterliefen.
»Na, los doch.« Er presste die Worte durch Nolans Umklammerung. »Mach schon. Wenn ich tot bin, wirst du die übrigen Erben nicht finden. Du wirst keine Chance haben, sie zu retten, so wie du die anderen gerettet hast.«
Nolan biss die Zähne zusammen und schwieg. Wadim durfte nicht erfahren, was er auf ihrer Weltreise wirklich getrieben hatte, solange die Erben nicht in Sicherheit waren. Andererseits spielte dieses Geheimnis jetzt keine Rolle mehr – nicht, nachdem Soldaten des Imperiums in sein Zuhause eingedrungen waren.
»Versuch nicht, es zu leugnen«, keuchte Wadim, obwohl Nolan kein Wort gesagt hatte. »Dein Bruder und du, ihr arbeitet zusammen, oder etwa nicht? Du hältst dich für besonders clever, weil du deinesgleichen zur Flucht verhilfst, aber ich weiß, was du tust. Ich weiß alles, und diesmal brauchen meine Männer mich nicht, um ihre Mission zu vollenden. Sie werden jeden einzelnen widerwärtigen Erben auch ohne mich aufstöbern und abschlachten, und du und dein Bruder werdet nie eine Spur von ihnen finden. Ihr Blut wird den Fluss rot färben und …«
Nolan unterbrach ihn mit einem Druck seiner Klaue, und Wadim stieß einen erstickten Schrei aus, wehrte sich aber noch immer nicht. Vielleicht wusste er, dass er nicht gewinnen konnte, oder vielleicht war er zu erschöpft, um es zu versuchen. »Sie irren sich«, sagte Nolan mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie wissen längst nicht alles. Wenn Sie es wüssten …«
Etwas leuchtete auf dem Tablet auf, das nun unbeachtet zwischen ihnen lag, und Nolan warf einen Blick darauf. Das gesamte Bild wurde von grauem, blutverfilztem Fell eingenommen, und die Kamera bewegte sich, als hätte die Kreatur die Kontrolle übernommen. Nach quälenden Sekunden wich das Tier zurück. Seine Schnauze war scharlachrot gefärbt, und Nolan holte tief Luft.
Es war ein Wolf.
Sein Onkel Malcolm war am Leben. Das viele Blut – von wem auch immer es stammte – war nicht sein eigenes. Und wenn Malcolm noch am Leben war, dann hoffentlich auch Nolans Mutter.
»Du bringst ihn um.«
Die winzige Stimme ertönte direkt in Nolans Ohr, und er zuckte zusammen, halb in der Erwartung, der Fahrer wäre irgendwie über die Sitze geklettert, ohne den Wagen anzuhalten. Es war jedoch niemand da, und als er sich schließlich wieder auf Wadim konzentrierte, bemerkte er, dass seine Lippen blau angelaufen waren.
»Wir brauchen ihn«, sagte die Stimme, und als Nolan diesmal zur Decke schielte, war die Spinne nicht mehr da. »Er wird für seine Taten büßen, das verspreche ich dir. Aber es stehen noch zu viele Leben auf dem Spiel.«
»Was ist mit meiner Familie?«, fragte Nolan, und seine Stimme brach. Seine Mutter, sein Onkel und seine Tante durften nicht sterben. Nach allem, was Nolan getan hatte, nach allem, was er geopfert hatte, mussten sie einfach durchkommen. Sie sollten nicht in diese ganze Sache hineingezogen werden – sie sollten in Sicherheit sein. Das war der Deal, ganz gleich, was sein Bruder getan hatte.
»Wir brauchen ihn«, wiederholte die Spinne noch eindringlicher. »Wenn wir die Erben nicht finden, werden sie sterben.«
Die Spinne hatte recht, und Nolan wusste es. Aber Wadims geschwollene Augen schlossen sich, und das Blut lief ungehindert seinen Hals hinunter. Er war nur noch Sekunden vom Tod entfernt. Nolan müsste nichts weiter tun.
»Nolan.« Die Spinne krabbelte über die Knorpel seines Ohrs, und Nolan spürte, wie ihre spindeldürren Beinchen seine Haut kitzelten. »Tu es nicht. Noch nicht.«
Nolans Hände zitterten. Die heiße, feuchte Luft im Wagen schien knapp zu werden, und seine Lunge schmerzte. Malcolm war noch am Leben. Seine Mutter, seine Tante – vielleicht auch sie. Aber selbst wenn sie alle auf wundersame Weise überlebt hatten, wusste Nolan ohne jeden Zweifel, dass das Imperium nicht aufgeben würde, bis sie tot waren.
Er schaute wieder auf das Tablet, in der Hoffnung, noch einen Blick auf den Wolf zu erhaschen – einen weiteren Hoffnungsschimmer. Aber die Kamera bewegte sich nicht mehr, und alles, was Nolan sehen konnte, war Rot.
Mit einem wilden Schrei zog Nolan die Krallen ein und stieß Wadim von sich. Der europäische Hüter sackte in sich zusammen und schnappte nach Luft, während seine Gesichtsfarbe von Blau zu Lila wechselte, und Nolan schlug sich gegen das Ohr, um die Spinne loszuwerden. Er hatte sich bereit erklärt, alles zu tun, um die Erben zu retten, und er hatte sein Versprechen gehalten. Aber er wollte nicht mitansehen müssen, wie seine Familie ermordet wurde.
Und so verwandelte er sich mit einem weiteren wütenden Schrei in einen Grizzlybären und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die verschlossene Tür. Das Fahrzeug begann gefährlich zu schlingern, aber das war Nolan egal. Mit seiner Bärenkraft schlug er das Fenster ein, sodass nur ein paar scharfe Splitter zurückblieben.
Er würdigte Wadim keines weiteren Blickes. Ebenso schnell, wie er sich in einen Grizzly verwandelt hatte, animagierte er in einen Wanderfalken und stürzte sich durch das zerbrochene Fenster hinaus in den Regen.
Niemand rief ihm nach, während er sich höher und höher schraubte, bis der Transporter nur noch ein kleiner dunkler Punkt in der sattgrünen Landschaft war. Nolan hatte beim Fliegen immer noch nicht so richtig den Dreh raus, und er würde wohl nie so sicher in der Luft unterwegs sein wie sein Bruder, aber alle Unsicherheit fiel von ihm ab, als er nun nach Norden flog, über die endlosen Weiten des Regenwalds, der die letzten vermissten Erben der Welt barg. Simon würde auch ohne ihn zurechtkommen. So wie immer.
Im Moment hatte Nolan Wichtigeres zu tun, als die Welt zu retten.
Das Gesetz des Dschungels
Als das Flugzeug in Manaus aufsetzte, wusste Simon Thorn sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er hockte neben dem Fenster und klammerte sich mit seinen sechs haarigen Beinchen an der Wand fest, während er seine durchsichtigen Flügel dicht an den Körper presste. Fast vierundzwanzig Stunden als Stubenfliege zu verbringen, war kein Spaß – so lange war er noch nie ein einziges Tier gewesen, und es machte ihm langsam Sorgen, wie verlockend er die Gerüche aus der Flugzeugtoilette fand. Aber es hatte auch Vorteile. Zum Beispiel konnte er dank seiner Facettenaugen alles um sich herum sehen, ohne sich bewegen zu müssen. Und obwohl seine Sicht nicht so scharf war wie die eines Falken oder einer Katze, entdeckte er doch sofort die Arbeiter in den orangefarbenen Westen, die das Flugzeug auf der Landebahn des geschäftigen brasilianischen Flughafens mitten im Amazonasgebiet erwarteten.
Und die Arbeiter waren nicht allein – ein halbes Dutzend waldgrün gekleideter Männer war bei ihnen. Simon war zu weit entfernt, um die Abzeichen auf ihren Schultern zu sehen, aber er hätte ihre Uniformen überall erkannt.
Soldaten des Imperiums.
»Ich weiß wirklich nicht, wie wir deiner Meinung nach die südamerikanischen Erben aufspüren sollen«, sagte seine Adoptivschwester Winter, die auf dem Fensterplatz saß und einen Reiseführer auf den Knien balancierte, während sie mit flinken Bewegungen ihre dunklen Haare zum Zopf flocht. »Das Amazonasgebiet ist fast so groß wie Australien. Wir könnten den Regenwald für den Rest unseres Lebens durchkämmen, ohne auch nur in ihre Nähe zu kommen.«
»Wir haben die australischen und afrikanischen Erben doch auch gefunden«, entgegnete Jam, Simons bester Freund, der neben Winter auf dem mittleren Sitz saß. Da er die meiste Zeit des Fluges von São Paulo auf seinem Reisekissen geschlafen hatte, hatte er einen rosafarbenen Abdruck auf der Wange, und seine blonden Haare standen schräg vom Kopf ab. »Wir werden auch diese finden.«
Winter schüttelte den Kopf. »In Australien hatten wir einfach Glück, und die afrikanischen Erben hatten sich schon zusammengetan, bevor wir ankamen. Wir haben niemanden gefunden, allerhöchstens Suki und Kai. Und hast du eine Ahnung, wie viele giftige Viecher es im Amazonasgebiet gibt? Keiner von uns würde dort eine Woche überleben.«
Ein anderes Mädchen streckte den Kopf über die mittlere Rückenlehne in der Reihe vor ihnen. Ihr lockigen dunklen Haare waren fast so zerzaust wie die von Jam. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt in den Regenwald müssen«, sagte Charlotte mit ihrem starken europäischen Akzent. Er war weder spanisch noch britisch oder französisch, sondern eine einzigartige Mischung, die Simon nie einordnen konnte. »Keiner der möglichen Erben auf unserer Liste lebt dort. Sie kommen meist aus den Küstenregionen. Rio, Santiago, Buenos Aires, Lima, Caracas …«
»Aber in dem Brief von X wurde ausdrücklich der Amazonas erwähnt«, erwiderte Jam, während er seine Brille abnahm, um sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Und möglicherweise auch, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, mit denen Simon ebenfalls seit ihrer Abreise aus Tansania zu kämpfen hatte. »X hat bis jetzt immer recht gehabt …«
»Die Liste muss aber stimmen«, beharrte Charlotte, und wie aus dem Nichts zauberte sie eine abgewetzte Mappe hervor und schob sie Jam hin. »Hier, schau doch selbst.«
Während die beiden diskutierten, seufzte Simon innerlich. Die Chancen standen gut, dass sie beide recht hatten. Denn die Liste, die Charlotte und er aus der Zitadelle des Imperiums gestohlen hatten, enthielt zwar die genauen Adressen aller Kinder, die die Hüter der einzelnen Kontinente verdächtigten, Erben zu sein. Das bedeutete aber nicht, dass sie noch dort waren. Immerhin waren fast zwei Wochen vergangen, seit Simon und seine Freunde in Anistadt gewesen waren – genug Zeit für die Erben, um Wind von den Plänen des Imperiums zu bekommen und die Flucht zu ergreifen.
Außerdem stimmte Jams Bemerkung über den mysteriösen X. Seine Identität war nach wie vor ein großes Fragezeichen. Er hatte Simon von Anfang an begleitet, erst mit SMS auf sein Handy und dann mit einer unerwarteten handgeschriebenen Nachricht in Afrika:
Hüte dich vor deinen Verbündeten und vertraue deinen Feinden, Simon. Vielleicht treffen wir uns endlich am Amazonas.
Simon hatte die fein säuberlich geschriebenen Worte so oft gelesen, dass sich das Bild praktisch in sein Gehirn eingebrannt hatte. Er wusste nicht, was der erste Teil bedeutete, und er hatte keine große Lust darauf, sich von X sagen zu lassen, wem er vertrauen konnte und wem nicht. Aber auch wenn er X, der ihn und seine Freunde von Anfang an manipuliert und ihnen die Erben vor der Nase weggeschnappt hatte, ganz sicher nicht vertraute, war er sich einer Sache sicher: X brauchte ihn, um die Erben aufzuspüren. Und obwohl er es nur ungern zugab, konnte er sich keinen guten Grund vorstellen, warum X ihn über ihren Aufenthaltsort anlügen sollte.
Das bedeutete, dass, genau wie bei den afrikanischen Erben, jemand die südamerikanischen Erben bereits eingesammelt und an einen sicheren Ort gebracht haben musste – einen Ort, an dem unzählige giftige Tiere bereit waren, sie zu verteidigen. So gefährlich der Amazonas zweifellos war, Simon machte sich vielmehr Sorgen darüber, wer dieser Jemand sein könnte und was er mit einem Haufen Zwölf- und Dreizehnjähriger wollte, die wie Simon die Fähigkeit hatten, sich in jedes beliebige Tier der Welt zu verwandeln. Und die das Imperium um jeden Preis töten wollte.
»Wir haben Besuch.«
Eine glänzende Schwarze Witwe saß auf der Außenseite der Jalousie über ihm, wo kein Passagier sie sehen konnte, und Simons Flügel zuckten nervös. Auch wenn Ariana beteuert hatte, dass sie dort sicher war, würde er die schrecklichen Minuten in der Serengeti, in denen er sie für tot gehalten hatte, nicht so schnell vergessen.
»Ich weiß«, erwiderte er leise, während er beobachtete, wie die Arbeiter die Gangway an der Seite des Flugzeugs positionierten. Sobald sie fertig waren, verschwand das halbe Dutzend grün gekleideter Soldaten die Treppe hinauf, zweifellos in Richtung Flugzeugtür. »Was machen wir?«
»Die anderen warnen und hoffen, dass die Soldaten nur nach dir Ausschau halten«, sagte sie, und er schnitt eine Grimasse. Oder zumindest das, was man als Fliege für eine Grimasse hielt.
»Vielleicht sind sie ja gar nicht wegen mir hier.« Das Imperium hatte bisher auf jedem Kontinent, den sie besucht hatten, auf sie gewartet, aber diesmal hatten seine Freunde und er sich die größte Mühe gegeben, ihre Spuren zu verwischen – schließlich hatte Simon die letzten vierundzwanzig Stunden als Fliege verbracht, nur damit sein Name nicht auf der Passagierliste des Flugzeugs stand. Sie hatten sogar darauf geachtet, für die letzte Etappe ihrer Reise einen Inlandsflug zu nehmen, in der Hoffnung, dass das Imperium seine Aufmerksamkeit vor allem auf internationale Flüge richtete.
Aber sein Name war nicht der einzige, der dem Imperium bekannt war. Bevor Charlottes Vater zwei Wochen zuvor gestorben war, war er der europäische Hüter gewesen. Charlotte war in der Zitadelle aufgewachsen, inmitten der Soldaten des Imperiums und der fünf Hüter, die über sie herrschten. Es war sehr wahrscheinlich, dass Sergei Wadim, der die europäische Hüterschaft an sich gerissen hatte und nun für die Jagd auf die möglichen Erben zuständig war, dafür gesorgt hatte, dass jedes Mitglied des Imperiums südlich von Panama ihren Namen kannte.
Anders als Simon und Ariana konnte Charlotte jedoch nicht animagieren. Und obwohl es ein Risiko war, sie auf der Flugliste zu haben, war es eines, das sie eingehen mussten. Sie zurückzulassen war keine Option gewesen – sie war es, die Simon überhaupt erst in dieses Abenteuer hineingezogen hatte, nachdem sie bei ihm zu Hause in New York aufgetaucht war und ihn um Hilfe bei der Suche nach ihrer vermissten Schwester gebeten hatte. Emilia Roth war ebenfalls eine Erbin, und zu dem Zeitpunkt hatte keiner von ihnen geahnt, dass ihre Entführung von ihrem eigenen Vater vorgetäuscht worden war, um sie vor Wadim zu schützen.
Doch irgendjemand hatte den sorgfältig ausgearbeiteten Plan ihres Vaters durchkreuzt, und nun, anderthalb Monate nach ihrer ursprünglich vorgetäuschten Entführung, war Emilia immer noch verschwunden – zusammen mit über fünfzig anderen Erben aus Afrika und Australien. Charlotte glaubte nicht mehr daran, ihre Schwester lebend wiederzusehen, doch Simon weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben. Emilia musste irgendwo da draußen sein, und er war fest entschlossen, sie zu finden.
»Vielleicht sollten wir die anderen vorwarnen, bevor die Soldaten bei uns ankommen«, flüsterte Ariana, und Simon breitete die Flügel aus und surrte in Charlottes Locken. Es war sicher nicht die vornehmste Art, seine Freundin zu warnen, aber er hatte keine Zeit, um ihre Aufmerksamkeit aus der Ferne zu erregen.
»Sechs Soldaten des Imperiums sind an Bord des Flugzeugs«, sagte er dicht an ihrem Ohr. Mit seiner zarten Fliegenstimme konnte ihn sonst niemand hören. »Ich habe keine Waffen gesehen, aber …«
Charlotte wirbelte so schnell herum, dass Simon fast aus ihren Locken geschleudert wurde. In dem Moment kamen die grün gekleideten Männer auch schon durch die Tür im vorderen Teil des Flugzeugs. Zwei von ihnen wandten sich der ersten Klasse zu, die anderen vier gingen den Mittelgang entlang und musterten jedes Gesicht, an dem sie vorüberkamen, mit neutraler Miene. Doch ihre Blicke waren nicht die von Beamten auf einem Routinegang – sie bewegten sich mit der Zielstrebigkeit von Jägern, die wussten, dass ihre Beute ganz nah war. Und dass sie in der Falle saß.
Charlotte, die das ebenfalls zu spüren schien, fluchte und zog den Kopf ein. »Soldaten des Imperiums«, zischte sie Jam und Winter zu. »Sie kommen hierher.«
»Schon wieder?«, murrte Winter, aber trotz ihrer scheinbar genervten Sorglosigkeit packte sie hastig ihre Sachen zusammen, als wollte sie fliehen. Unter normalen Umständen hätte Simon sie auch genau dazu ermutigt, aber das Flugzeug war voll besetzt, und die Tür im vorderen Teil war der einzige Ausgang.
Leo, Simons Großvater, der auf der anderen Seite von Jam saß, lehnte sich in den Gang, um besser sehen zu können. Trotz der unerwarteten Sicherheitskontrolle waren die meisten Passagiere dabei, sich abzuschnallen und ihr Handgepäck aus den Gepäckfächern zu holen. Sie versperrten seinem Großvater die Sicht, was Simon auf eine Idee brachte.
»Geh nach hinten«, raunte er Charlotte zu. »Such dir eine passende Familie und tu so, als würdest du dazugehören.« Das hatte bereits auf dem Flughafen von Nairobi funktioniert, wo die afrikanischen Vertreter des Imperiums auf seine Freunde und ihn gewartet hatten. In einer geschlossenen Metallröhre war dieses Täuschungsmanöver sicherlich schwieriger zu bewerkstelligen, aber vielleicht ihre einzige Chance.
»In der Reihe neben der Toilette sitzt eine Familie mit blonden Haaren«, flüsterte Jam, der ebenfalls seine Sachen zusammensuchte. »Ich werde versuchen, mich an sie zu hängen.«
Simon wollte widersprechen – je mehr sie sich aufteilten, desto schwieriger würde es für ihn werden, sie alle im Auge zu behalten. Aber es bestand die sehr reale Möglichkeit, dass der südamerikanische Zweig des Imperiums auch über Jam Bescheid wusste. Er hatte sich in Australien als einer der Erben ausgegeben, und der afrikanische Hüter hatte genügend Informationen gehabt, um ihn gezielt herauszugreifen. Das bedeutete, dass auch der südamerikanische Hüter ihn im Visier haben konnte.
»Wir treffen uns bei der Gepäckausgabe«, sagte Ariana, während sie über Winters Schulter huschte. »Ich bleibe bei Jam, und Simon bleibt bei Charlotte. Winter, du gehst mit Leo und Eloise, in Ordnung?«
»Ich will aber auch bei Simon bleiben!«, ertönte ein winziges Stimmchen aus Simons Kapuzenpulli, den Winter gerade trug. Normalerweise hätte sie sich nie in so einem Schlabber-Look blicken lassen, aber die Kängurutasche war der perfekte Ort, um einen blinden Passagier zu verstecken – ein Flughörnchen, dessen winziges rosa Näschen gerade so hervorschaute.
»Das geht leider nicht«, sagte Winter ungewohnt sanft. »Wir treffen ihn beim Auto wieder.«
Eloise gab ein leises Wimmern von sich, aber sie widersprach nicht und ließ ihre Nase wieder in der Tasche verschwinden. Simon bekam kurz ein schlechtes Gewissen. Sie hatten das kleine Flughörnchen in Australien kennengelernt, in einer Auffangstation für Beuteltiere, die Suki, eine australische Erbin, mit ihrer Familie betrieb. Eloise war nur bei ihnen, weil Simon es nicht geschafft hatte, Suki und die anderen Erben vor X zu verstecken, dem es irgendwie gelungen war, sie zu verschleppen. Nun war es Simons Aufgabe, Eloise zu beschützen – eigentlich war es seine Aufgabe, sie alle zu beschützen, und sie war eine ständige Erinnerung, dass er versagt hatte.
Aber jetzt war nicht der richtige Moment, um in Schuldgefühlen zu baden. Die Soldaten des Imperiums kamen direkt auf sie zu, und als ein paar Meter vor ihnen ein großer Mann aufstand, um sein Gepäck herunterzuholen, nutzten Jam und Charlotte die Gelegenheit und huschten in den hinteren Teil des Flugzeugs.
Simon klammerte sich an Charlottes Kragen, während sie sich zwischen den abgelenkten Passagieren hindurchschlängelte. Etwa fünfzehn Reihen weiter hinten entdeckte er eine Familie mit denselben dunklen Haaren und demselben goldenen Teint wie Charlottes, und auch sie schien sie bemerkt zu haben, denn sie steuerte direkt auf sie zu.
Während sie sie mit einer Herzlichkeit ansprach, die den Anschein erweckte, sie würde die Familie schon ihr Leben lang kennen, spähte Simon durch ihre Locken den Gang hinauf. Die Soldaten waren nur noch wenige Meter von Leo und Winter entfernt, und Simon konnte vor Anspannung kaum noch atmen. Eigentlich war es unmöglich, dass das Imperium die beiden erkannte. Leo hatte sich nie in die Pläne von Simon und seinen Freunden eingemischt – er hatte sie höchstens herumgefahren und dafür gesorgt, dass Simons Mutter und Onkel ihnen nicht um die halbe Welt folgten, wie sie es in den letzten zwei Wochen mehr als einmal angedroht hatten. Und Winter …
Winter hatte ihre Fähigkeit, in eine Wassermokassinotter zu animagieren, in Anistadt verloren, als Simon und seine Freunde die Zitadelle des Imperiums überfallen hatten, um Simons Zwillingsbruder Nolan zu retten. In den Tiefen des Thronsaals waren sie auf den Raubstein gestoßen – einen uralten Obsidianstein, der einst der königlichen Familie gehört hatte, zusammen mit seinem Geschwisterstein, dem Kristall des Greifstabs, bei dessen Zerstörung vor einem Jahr Simon beinahe gestorben wäre.
Bis dahin hatte Simon den Greifstab für den gefährlichsten Gegenstand der Animox-Welt gehalten, doch auch der Raubstein besaß eine zerstörerische Macht: Er konnte einem Animox ein für alle Mal seine Wandlungsfähigkeit nehmen und seine Tiergestalt auslöschen. Infolge einer Reihe von Ereignissen, die Simon noch immer nicht ganz verstand, hatte er den Raubstein berührt und dabei versehentlich die Animagierfähigkeit aller im Thronsaal verbliebenen Personen zerstört – sein Bruder und er selbst ausgenommen, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass sie beide Nachkommen der königlichen Familie waren. Vier der fünf derzeitigen Hüter hatten dabei ihre Kräfte verloren, was Simon nicht sonderlich bedauerte. Aber auch Winter war mit im Raum gewesen, und dass sie im Anschluss nicht mehr animagieren konnte, war der erste Hinweis darauf gewesen, dass etwas ganz furchtbar schiefgelaufen war.
Wegen dieses unerwarteten Verlusts hatte Winter keine aktive Rolle bei der Jagd auf die Erben übernehmen können. Obwohl sie ihnen eine große Hilfe war und Simon darauf achtete, ihr das immer wieder zu sagen, hatte sie sich in erster Linie damit befasst, Fakten aus Reiseführern zu studieren und sich mit den Erben anzufreunden, anstatt sich mit Sergei Wadim und der von ihm befehligten Armee des Imperiums anzulegen. Aber es bestand die Möglichkeit, dass der südamerikanische Hüter sie vor der Schlacht in der Zitadelle gesehen hatte, und Simon konnte nur hoffen, dass ihn der Verlust seiner Fähigkeiten zu sehr beschäftigt hatte, um sich zu merken, wie Winter aussah.
Schließlich erreichten die Soldaten die Reihe von Leo und Winter. Der Anführer beäugte die beiden misstrauisch, Leo und Winter hingegen beachteten ihn kaum. Sie waren vollauf damit beschäftigt, ihre Sachen zusammenzupacken, und zwar in einem viel gemächlicheren Tempo als zuvor. Als machten sie sich überhaupt keine Gedanken darüber, was ein halbes Dutzend Soldaten an Bord ihres Flugzeugs trieb. Und als hätten sie sich nicht das Geringste zuschulden kommen lassen und könnten daher unmöglich unter irgendeinem Verdacht stehen.
Die Sekunden, die verstrichen, fühlten sich wie kleine Ewigkeiten an, aber schließlich richtete sich der Blick des vorderen Soldaten auf die Passagiere, die hinter Leo und Winter saßen, und Simon erlaubte sich einen winzigen Seufzer der Erleichterung. Wenn Leo, Winter und Eloise unbehelligt aus dem Flugzeug kamen, konnten Ariana und er dafür sorgen, dass auch Jam und Charlotte nicht aufgehalten wurden.
Die anderen Soldaten rückten ohne Zwischenfälle vor, doch dann näherte sich der Anführer mit größerer Geschwindigkeit, als Simon erwartet hatte, der Reihe, in der Charlotte jetzt stand. Sie hatte das Gesicht vom Gang abgewandt, während sie sich fröhlich mit der Teenagertochter der Familie unterhielt, und beugte sich vor, sodass ihre Locken wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fielen. Das war gut. Wenn die Soldaten sie nicht richtig sehen konnten, würden sie sie vielleicht auch nicht identifizieren.
Doch bevor Simon aufatmen konnte, blieb der Anführer neben Charlotte stehen und musterte die Familie mit demselben ausdruckslosen Blick, den er bei der bisherigen Inspektion zur Schau gestellt hatte. Simon konnte die Augen nicht von ihm abwenden, sein ganzer Körper war angespannt und bereit, jede Sekunde in Aktion zu treten. Charlotte würde sich nicht widerstandslos abführen lassen, aber bei so vielen Menschen konnte Simon nicht viel tun, um ihr zu helfen. Er konnte sich nicht in ein furchterregenderes Tier verwandeln. Dafür war nicht genug Platz, und wenn er es trotzdem versuchte, würden es die anderen Passagiere zweifellos mitkriegen. Da es Animox streng verboten war, ihre Kräfte gewöhnlichen Menschen zu offenbaren, war das Risiko einfach zu groß. Aber wenn die Soldaten Charlotte aus dem Flugzeug zerrten, würde Simon sie dafür büßen lassen, sobald sie außer Sichtweite waren. Vor den anderen Fluggästen konnten sie ihr nichts tun, und dieser Umstand würde Simon die Zeit verschaffen, die er brauchte.
Eine Sekunde verging, und noch eine. Charlotte unterhielt sich in einer Sprache, die Simon nicht verstand, und er hätte schwören können, dass der Soldat viel länger bei ihr verweilte als bei Leo, Winter und den anderen Passagieren. Jeden Moment würde er Charlotte ergreifen und eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die in einem Blutbad enden konnten. Und Simon würde alles tun, um sie zu beschützen.
Doch dann ging der Soldat ohne ein Wort an Charlotte und der dunkelhaarigen Familie vorbei, genau wie an Leo und Winter. Und seine Kollegen folgten ihm, einer nach dem anderen, bis sie den hinteren Teil des Flugzeugs erreicht hatten. Simon sah wachsam zu, wie sich die vier kurz leise beratschlagten und dann den Gang wieder hinaufgingen.
War das möglich? Hatte Charlottes List wirklich funktioniert? Er blickte ihnen nach, bis sich alle sechs Soldaten wieder vor der Tür versammelt hatten, und flüsterte Charlotte ins Ohr: »Sie gehen.«
Charlotte wagte einen kurzen Blick den Gang hinauf, ohne ihr Gespräch mit dem Mädchen zu unterbrechen. Während Simon sich in ihren Locken verborgen hielt, blieb Charlotte dicht bei der Familie, als die Passagiere endlich von Bord gingen. Selbst als Jam an ihr vorbeikam, der sich mit zwei blonden britischen Teenagern über die gefährlichsten Tier- und Pflanzenarten des Amazonas unterhielt, ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Unterhaltung mit dem Mädchen und seinen Eltern war leicht und fröhlich, ohne jeden Anflug von Aufdringlichkeit oder Unbehagen, und falls sie danach gefragt hatten, wo Charlottes Familie war, musste sie, ohne mit der Wimper zu zucken, gelogen haben. Das konnte sie gut. Vielleicht sogar so gut wie Ariana, die von klein auf ein Spionagetraining absolviert hatte – aber Simon wusste, dass er solche Gedanken niemals laut aussprechen durfte, schon gar nicht dort, wo Ariana sie hören konnte.
Auf dem Weg zur Tür zog Charlotte ihren abgewetzten roten Rucksack unter ihrem Sitz hervor und redete weiter mit der Familie. Simon blieb in ihren Haaren versteckt, als sie ausstiegen, und er war noch immer in höchster Alarmbereitschaft, als sie endlich das Flughafenterminal erreichten. Wenn Manaus mit Nairobi vergleichbar war, würde der Flughafen voller Soldaten des Imperiums sein, die nur darauf warteten, sie festzunehmen. Aber nachdem die Soldaten im Flugzeug Charlotte nicht bemerkt hatten, hatte sie vielleicht eine Chance, ohne Probleme zur Gepäckausgabe zu kommen. Und wenn sie erst Leo und Winter gefunden hatten …
»He!«
Charlotte schrie auf und zuckte zurück, als wäre sie an irgendetwas hängen geblieben. Während Simon sich bemühte, nicht von ihrem Kragen zu rutschen, fuhr sie wütend herum, und ihre Locken flogen zur Seite, sodass er freie Sicht auf das Geschehen hatte.
Der Soldat, der im Flugzeug die Führung übernommen hatte, stand direkt hinter ihr und hatte die Faust um den Riemen ihres Rucksacks geschlossen. Und hinter ihm, links und rechts von Soldaten flankiert, stand Jam.
Verhaftet
»Lassen Sie mich los!«
Charlottes Stimme schallte durch das Terminal und klang bestimmter, als Simon sie je gehört hatte – und da sie mit ihrer Meinung nie hinterm Berg hielt, wollte das schon etwas heißen. Die umstehenden Reisenden versuchten gar nicht erst, ihre neugierigen Blicke zu verbergen, als die Wachen Charlotte und Jam am Arm packten, doch niemand griff ein. Nicht einmal die Familie, mit der sich Charlotte im Flugzeug angefreundet hatte. Stattdessen schoben die Eltern ihre Tochter hastig weiter, sichtlich darauf bedacht, nicht in irgendeinen Ärger hineingezogen zu werden.
»Ich meine es ernst«, knurrte Charlotte und versuchte, sich loszureißen. »Wenn Sie uns nicht sofort loslassen …«
Der Anführer bellte ein paar scharfe Worte, die Simon nicht verstand, und Charlottes Gesicht wurde kreidebleich. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er hatte den Eindruck, dass der zweite Soldat seinen Griff um Jams Arm fester werden ließ. Und das Zusammenzucken seines besten Freundes bildete er sich ganz bestimmt nicht ein.
Charlotte erwiderte etwas, gerade laut genug, dass der Soldat es hören konnte. Simon hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatte, aber nach ihrem Tonfall zu urteilen war es alles andere als höflich. Der Soldat grinste nur, was Charlotte noch wütender machte, doch sie wehrte sich nicht, als er sie von der Menge der Fluggäste weg zu einer unscheinbaren Tür schob.
»Was soll das?«, fragte Jam, und die Panik in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Wohin bringen die uns?«