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Der Kampf um die Welt der Animox geht weiter! Aimée Carter hat mit ihrem Fantasy-Abenteuer rund um die Animox einen Bestseller gelandet. Jetzt wird das super erfolgreiche Fantasy-Abenteuer in einer neuen Buch-Reihe fortgesetzt. Ein Jahr nach der finalen Schlacht der ersten Animox-Bände ist Simon Thorn 13 Jahre alt und leidet noch immer unter den Erinnerungen an den Kampf. Aus Angst, jemanden zu verletzen, schreckt er davor zurück, seine Fähigkeiten einzusetzen. Doch dann braucht ein Mädchen aus Europa dringend seine Hilfe: Ihre Schwester wurde von einer Rebellengruppe entführt. Und sie bleibt nicht die einzige … Hochspannung und packende Wendungen garantiert! Ein Kinderbuch für alle Mädchen und Jungen ab 10 Jahren. Jetzt die anderen Bände der "Animox"-Reihe entdecken: Das Heulen der Wölfe Das Auge der Schlange Die Stadt der Haie Der Biss der Schwarzen Witwe Der Flug des Adlers Alle Bände von "Die Erben der Animox": Die Beute des Fuchses Das Gift des Oktopus Der Kampf des Elefanten Der Verrat des Kaimans (ab April 2023) Die Rache des Tigers (ab Januar 2024)
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Simons Finger schlossen sich fest um den Kristall. Doch kaum berührte er die eiskalte Oberfläche, schoss ein Blitz durch ihn hindurch. Ein ohrenbetäubender Knall ließ den Thronsaal beben, der Stein explodierte. Simon fiel auf die Knie. Um ihn herum knisterte die Luft, dann wurde alles schwarz.
Ein Jahr nach der finalen Schlacht um den Greifstab leidet Simon Thorn noch immer unter den Erinnerungen an den Kampf und schreckt davor zurück, seine Fähigkeiten einzusetzen aus Angst, jemanden zu verletzen. Plötzlich werden jedoch in Europa Erben entführt – Nachfahren der königlichen Familie der Animox, die einmal die Fähigkeit hatten, sich in alle Tierarten verwandeln zu können. Und da muss Simon handeln …
Der packende Auftakt der neuen ANIMOX-Serie!
Für Caitlin
Die Tür quietschte in den Angeln, und Emilia schlug panisch die Augen auf.
Obwohl sie in ihrem dunklen Zimmer nichts sehen konnte, spürte sie deutlich, dass jemand in der Tür stand. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie zwang sich, reglos liegen zu bleiben. Hoffentlich ging dieser Jemand wieder weg. Es musste schon nach Mitternacht sein. Die Wachleute würden sie nur stören, wenn es wirklich dringend war, und dann würden sie bestimmt vorher anklopfen.
Es konnte also keine Wache sein. Und wenn es keine Wache war, musste sich jemand an den Männern vorbeigeschlichen haben.
Sie schloss unauffällig die Finger um den harten Rücken des Buches, über dem sie eingeschlafen war. Hätte sie doch bloß nicht Nein gesagt, als ihre Schwester ihr vor ein paar Tagen ein geklautes Küchenmesser hatte zustecken wollen! Sie hatte sie ausgelacht, doch jetzt kam ihr Charlottes Verfolgungswahn nicht mehr so absurd vor. Hatte sie vorhergesehen, dass so etwas passieren würde? Nach dem, was ihr Emilia anvertraut hatte, musste sie es befürchtet haben. Sie selbst war überzeugt gewesen, es wäre nicht nötig. Hier waren sie doch in Sicherheit.
Irgendwo zwischen der Tür und ihrem Bett knarrte jetzt eine Diele, aber Emilia widerstand dem Drang, aus dem Bett zu springen. Wenn der Eindringling nicht wusste, dass sie wach war, konnte sie ihn zumindest überrumpeln. Wenn sie schrie …
»Emilia?«
Das Licht ging an, und Emilia setzte sich so unvermittelt auf, dass ihr kurz schwindlig wurde. »Charlotte! Was machst du hier?«
»Ich hab ein Geräusch gehört«, flüsterte ihre Schwester. Ihre Hausschuhe glitten fast unhörbar über den Boden. Ohne zu fragen, begann sie in Emilias Sachen zu wühlen, zog die Schubladen auf und spähte in die Lücken zwischen Möbeln und Wänden. »Hast du auch was gehört?«
»Allerdings!«, sagte Emilia spitz. Ihre Angst war in Ärger umgeschlagen. »Ich habe dich gehört. Du hast mich ohne Grund aufgeweckt.«
Statt auf die bissige Bemerkung einzugehen, öffnete Charlotte den Schrank, und die dunklen Locken fielen ihr ins Gesicht, als sie hineinspähte. Obwohl sie nur zwei Jahre älter war als Emilia, war sie fast einen Kopf größer und kam mühelos an die säuberlich gefalteten Pullover auf dem obersten Bord heran. »Bist du ganz sicher, dass du sonst nichts gehört hast? Kein Trippeln oder Schnüffeln?«
»Nur dich. Was machst du da eigentlich?«
Charlotte schloss den Schrank wieder, ließ sich auf die Knie fallen und spähte unters Bett. »Das weißt du genau. Wenn irgendwer an den Wachen vorbeigekommen ist, dann nicht in Menschengestalt.«
»Mit einem Eindringling werde ich selber fertig«, sagte Emilia beleidigt. »Schließlich bin ich ein Abkömmling, nicht du.«
Eisige Stille trat ein. Dann richtete sich Charlotte auf und sah sie beschwörend an. »Wenn ihr deswegen unbesiegbar wärt, wäre Beck noch hier.«
Emilia blieb stumm, zwang sich, dem durchdringenden Blick nicht auszuweichen. Dagegen konnte sie nichts einwenden – Charlotte hatte schlicht und einfach recht.
»Außerdem«, schob ihre Schwester nach, »hast du keine Ahnung vom Kämpfen. Und wenn du nicht an deiner Treffsicherheit gearbeitet hast, hilft dir das da auch nicht weiter.«
Erst da merkte Emilia, dass sie immer noch ihr Buch umklammerte, und ließ es aufs Kopfkissen fallen. Prüfend musterte sie ihre Schwester. Charlotte hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr ganzer Körper war angespannt, als wäre sie auf alles gefasst – als stände ihr der Kampf ihres Lebens bevor.
Rasch beugte sich Emilia vor und nahm ihre Hand. »Mir passiert so etwas nicht, hörst du?«, sagte sie leise. »Wir wissen jetzt, dass wir vorsichtig sein müssen. Dass wir niemandem etwas sagen dürfen. Beck hatte keine Ahnung, wie gefährlich es ist. Er war nicht vorbereitet. Aber mir passiert nichts, solange du bei mir bist.«
Charlotte zögerte, dann drückte sie Emilias Hand. »Ich kann dich nur beschützen, wenn du mich lässt«, entgegnete sie mit belegter Stimme. »Du musst die Sache ernst nehmen. Bitte.«
»Mach ich, versprochen. Ich kann heute Nacht auch bei dir schlafen. Ist dir das lieber?«
Charlotte nickte, und die Anspannung in ihren Schultern löste sich. »Danke.«
Emilia rutschte vom Bett und umarmte ihre Schwester. »Was würde ich bloß ohne dich machen?«, murmelte sie in Charlottes Lockenmähne. »Sagst du den Wachen Bescheid, damit Vater nicht denkt, ich wäre verschwunden, und alles abriegeln lässt?«
Charlotte nickte und drückte sie ganz fest an sich, bevor sie sie losließ. »Bin gleich wieder da. Wehe, du schläfst wieder ein.«
Grinsend sah Emilia ihrer Schwester nach. Doch kaum war Charlotte aus der Tür, machte sie sich mit einem tiefen Seufzer auf die Suche nach ihren Hausschuhen. Charlottes Angst schien sich mit jedem Tag zu steigern. Ja, sie war ein Abkömmling, das bedeutete trotzdem nicht, dass ihr das Gleiche zustoßen musste wie Beck. Und mit dem Kämpfen haperte es noch, aber sie würde es schnell lernen. Das musste sie.
Während sie kniend unter dem Bett nach ihren Hausschuhen tastete, hörte sie wieder die Dielen knarren. Ungeduldig sagte sie: »Ich komme gleich, Char. Du brauchst nicht auf mich aufzupassen, als wäre ich ein kleines –«
Eine trockene Hand legte sich auf ihren Mund und schnitt ihr das Wort ab. Keuchend versuchte sich Emilia zu befreien, bevor sie jedoch schreien konnte, bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte – bevor sie sich das richtige Tier auch nur vorstellen konnte –, spürte sie am Hals den Einstich einer Nadel.
Und während sie in eine weiche, unwiderstehliche Dunkelheit glitt, war ihr letzter Gedanke, dass ihre Schwester wieder mal recht gehabt hatte. Sie hätte das Messer nehmen sollen.
Der Platzhirsch
Als Simon Thorn zum ersten Mal im ganzen Schuljahr die Trainingsgrube betrat, brach ihm der Schweiß aus, und er erwog ernsthaft, auf Nimmerwiedersehen davonzufliegen.
Auf der Zuschauertribüne rings um die Sandarena saßen über hundert Schüler. Ihr Johlen und ihre Buhrufe hallten wie Donner von der gemauerten Überdachung wider. Simon entdeckte seine Freunde. Sie saßen zusammen ein Stück weiter oben und skandierten seinen Namen, doch er konnte sich nur ein flüchtiges Lächeln in ihre Richtung abringen. Dann holte er tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich hatte er schon Schlimmeres durchgestanden. Und eigentlich gab es keinen Grund, in Panik zu geraten.
»Alles in Ordnung, mein Junge?«, ertönte dicht hinter ihm eine tiefe Stimme. Sein Onkel Malcolm – ein großer, kräftiger Mann mit langem dunklem Haar und jeder Menge Narben im Gesicht – klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist ein bisschen grün um die Nase.«
»Ich will das hier nicht«, sagte Simon rasch und mit gedämpfter Stimme, damit es sonst niemand hörte.
»Zu beweisen, dass du dich verteidigen kannst, ist ein wesentlicher Teil deines Trainings«, entgegnete Malcolm. »Du hattest ein ganzes Jahr Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen, Simon. Wenn du jetzt deine Abschlussprüfung im Zweikampf verweigerst …«
»… bleibt dir nichts anderes übrig, als mich durchfallen zu lassen«, beendete Simon den Satz und ballte die Fäuste. Diesmal konnte sein Onkel keine Ausnahme für ihn machen, schon klar, andererseits wusste Malcolm doch, dass er kämpfen konnte. Und auch alle anderen. »Aber muss es ausgerechnet Nolan sein?«
Sein Onkel seufzte. »Ja, das weißt du doch.«
Auf der anderen Seite der Grube, deren Sandboden von den vorangegangenen Kämpfen des Vormittags aufgewühlt war, sprang ein Junge ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, mit einem draufgängerischen Grinsen im Gesicht. Er sah Simon zum Verwechseln ähnlich. Eine Horde Jungs mit Armbändern, auf die verschiedene Landsäuger aufgedruckt waren, feuerte ihn an. Nolan sonnte sich in ihrer Aufmerksamkeit und ließ drohend die Fingerknöchel knacken.
Dies war der Zweikampf, auf den die Schüler der Leitenden Animox-Gesellschaft für Exzellenz und Relevanz, kurz L.A.G.E.R., schon das ganze Jahr warteten. Der Kampf, dem sich Simon immer wieder verweigert hatte, trotz der Proteste seines Bruders und Malcolms sanfter Ermutigung. Ein Kampf zwischen Brüdern, zwischen den Nachfahren des Bestienkönigs – es versprach das größte Spektakel zu werden, das die Schule seit Ewigkeiten erlebt hatte. Vielleicht das größte Spektakel aller Zeiten.
»Ihr kämpft beide mit dem Herzen, aber nur du benutzt auch deinen Kopf«, flüsterte ihm sein Onkel ins Ohr. »Nolan wird schnell nervös. Das musst du dir zunutze machen.«
Nolan mochte schnell nervös werden, ließ sich jedoch auch leicht provozieren, und das war das Gefährlichste an dieser Begegnung. Er würde sich in den Kampf hineinsteigern, bis es kein Training mehr war, sondern blutiger Ernst. Und was dann passieren würde, wusste Simon nur zu gut.
Malcolm schritt in die Mitte des Rings und sah die beiden abwechselnd an. »Ihr kennt die Regeln«, verkündete er so dröhnend, dass ihn sogar die Schüler in den obersten Sitzreihen hörten. »Wer sich als Erster ergibt, hat verloren. Bringt einander nicht um!«
Mit einem letzten warnenden Blick trat ihr Onkel ab. Nun lag nur noch Sand zwischen den Brüdern. Simon konnte kaum schlucken, und sein Mund war so trocken, dass er kein Wort herausbrachte. Zu spät. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Das dumpfe Rauschen in seinen Ohren übertönte das Geschrei der Zuschauer.
Er würde es schaffen. Er musste es schaffen.
Ihr Onkel gab das Startsignal, und Nolan vergeudete keine Zeit. Mit lautem Gebrüll machte er einen Riesensatz auf Simon zu, während er selbst wie angewurzelt dastand. Unzählige Male hatte er sich in den letzten acht Monaten diesen Kampf vorgestellt, aber jetzt, wo es so weit war, hatte er keine Strategie. Er wusste natürlich, was die Zuschauer erwarteten und was sein Onkel wollte. Doch dazu konnte er sich nicht durchringen.
Während Nolan auf ihn zuschoss, verwandelte er sich. Ihm wuchs ein struppiges graues Fell, und sein Mund wurde zur Schnauze. Seine Fingerspitzen liefen in tödlich spitze Krallen aus, und am Ende seiner Wirbelsäule erschien eine lange, buschige Rute. Als seine Vorderpfoten drei Meter vor Simon im Sand aufkamen, hatte er vollständig in einen Wolf animagiert.
»Wehr dich!«, knurrte der Wolf und zog höhnisch grinsend die Lefzen hoch. »Na los – kämpf endlich!«
»Ich will nicht«, sagte Simon leise.
»Kämpfen oder bluten!« Nolan verengte die Augen und duckte sich zum Sprung. »Du hast die Wahl.«
Mit einem Fauchen, das durch die Luft schnitt wie ein Messer, stürzte sich der Wolf auf Simon. Doch obwohl sich Simon das ganze Jahr über um alle Trainingskämpfe gedrückt hatte, obwohl er seit September höchstens mal in einen Vogel animagiert hatte, waren seine Instinkte nicht verkümmert. Schließlich waren diese Instinkte nicht wie die seines Bruders in der Grube geschärft worden, sondern beim Kampf auf Leben und Tod.
Sein Körper wusste, was zu tun war, bevor sein Kopf seine neue Gestalt zur Kenntnis nahm. Simon – der jetzt haargenau wie sein Bruder aussah – holte mit der Pfote aus und hieb Nolan die Krallen in die Schnauze. Der andere Wolf heulte auf, Blut sickerte in sein graues Fell.
Nolan taumelte zurück, aber Simon schnellte schon durch die Luft, landete auf dem Rücken seines Bruders und grub ihm die Zähne ins Genick. Jetzt kämpfte Wolf gegen Wolf. Keiner von beiden war im Vorteil, denn sie hatten die gleiche Gestalt. Das schien auch Nolan zu begreifen, während er Simon abzuschütteln versuchte.
»Runter – mit – dir!«
Plötzlich schrumpfte Nolan zusammen, und Simons Pfoten prallten so hart auf den Boden, dass er sich wankend an den Rand der Arena rettete. Er wusste, was jetzt kam. Im Lauf des Schuljahres hatte er immer wieder beobachtet, wie Nolan in der Grube auf ihre Mitschüler losgegangen war – Schüler, die wie jeder andere Animox der Welt nur in ein einziges Tier animagieren konnten. Es begann zwar immer als fairer Kampf, aber irgendwann konnte sein Bruder der Versuchung nicht widerstehen, mit seinen überlegenen Fähigkeiten anzugeben. Denn in einem Punkt unterschieden sich die Zwillinge von allen anderen Schülern im L.A.G.E.R. – und deswegen waren sogar jene Schüler zu ihrem Kampf erschienen, die wegen der bevorstehenden Abschlussprüfungen freigestellt waren.
Die gesamte Schule sah zu. Nolan würde allen das liefern, was sie erwarteten.
»Na, gibst du schon auf?«, zischte er. Simon drehte sich um. Der Wolf war verschwunden. Eine Diamant-Klapperschlange rollte sich im Sand zusammen, bereit zum Zustoßen.
»Ja, ich gebe auf«, erwiderte Simon. Sollte es so einfach sein, die Sache zu beenden? Tja, leider nicht, denn unter dem Jubel der Zuschauer schnellte die Schlange mit gebleckten Giftzähnen vor.
Wieder übernahm Simons Instinkt. Sein Fell wurde zu verhornten Schuppen, Arme und Beine verschmolzen mit dem Rumpf. Ungeheure Kraft durchströmte ihn – eine Kraft, die für seinen Menschenkörper unvorstellbar war. Zum zweiten Mal animagierte er in das gleiche Tier wie sein Bruder.
Nolan verfehlte ihn nur um Millimeter und landete mit dem Gesicht im Sand. Hustend und geifernd richtete er sich wieder auf. »Hör auf, mich nachzumachen«, fauchte er. »Die ganze Schule sieht zu.«
»Wenn du Angst hast, dass sich die Zuschauer langweilen, kannst du dich gern geschlagen geben«, konterte Simon. Lieber würde sich Nolan den Schlangenschwanz abbeißen, das war klar. Doch auch wenn Simon nicht nach Kämpfen war – er hatte keine moralischen Bedenken, seinen Bruder so weit zu provozieren, dass der den Mut verlor.
Aber sein Zwillingsbruder würde erst Ruhe geben, wenn er ihn triumphal besiegt hatte, da machte sich Simon nichts vor. Die Klapperschlange zischte so laut, dass es durch die ganze Arena hallte, und animagierte erneut. Das Publikum tobte.
Und so ging es gefühlt stundenlang weiter, auch wenn es in Wahrheit wahrscheinlich nur ein paar Minuten waren. Simon ahmte sämtliche Gestalten nach, die Nolan annahm: Alligator, Wespe, Grizzlybär, Berglöwe – sogar eine Schnappschildkröte. Sie gingen eine Tierart nach der anderen durch, doch irgendwann fiel Simon auf, dass es eine Gruppe von Animox gab, die Nolan um jeden Preis mied.
Vögel.
Der Grund war klar. Simon konnte besser fliegen als Nolan, und das wussten alle, auch sein Bruder. Fast ein Jahr lang hatte Simon so getan, als wäre seine Animox-Gestalt – seine einzige Animox-Gestalt – ein Goldadler, und dadurch war das Fliegen für ihn jetzt so selbstverständlich wie das Gehen auf zwei Beinen. Nolan dagegen, der im Säugerreich aufgewachsen war und hatte vorgeben müssen, seine einzige Tiergestalt wäre ein Wolf, war nicht in den Genuss dieses zusätzlichen Trainings gekommen. Simon hatte zwar versucht, ihm das Fliegen beizubringen, aber Nolan hatte es nie richtig gut hinbekommen.
Geduldig wartete Simon mehrere weitere Animox-Gestalten ab. Je frustrierter Nolan war, desto unkonzentrierter wurde er und griff oft nicht mal richtig an, bevor er sich ins nächste Tier verwandelte. Braune Einsiedlerspinne, Vielfraß, Eisbär – er wollte Simon durcheinanderbringen, ihn ablenken. Doch Simon blieb ruhig. Konzentriert. Und während Nolan die ganze Bandbreite an Tieren abspulte, in die er animagieren konnte – Tiere, in die sie beide animagieren konnten –, wartete Simon den richtigen Augenblick ab.
Als Nolan schließlich zur schwarzen Hakennatter wurde, sah Simon seine Chance gekommen. Statt seinen Bruder zu imitieren, wuchsen ihm Federn, wo eben noch Fell gewesen war, und seine ausgebreiteten Arme verwandelten sich in Flügel. Mit einem gellenden Habichtschrei packte er die Natter mit den Krallen und schwang sich in die Luft.
Nolan zappelte wild, während sich Simon immer höher schraubte. Drei Meter, sechs Meter, zehn Meter – erst dicht unter der Decke lockerte er seinen Griff. »Zwing mich nicht dazu«, stieß er hervor. Unter seinen zarten Rippen hämmerte sein Herz. »Gibst du auf?«
»Niemals«, zischte Nolan und bleckte wieder die Giftzähne. Doch statt auf Simon loszugehen, rutschte er aus dessen Krallen und stürzte im freien Fall in die Tiefe.
Entsetzt legte Simon die Habichtflügel an und schoss mit einem Schrei hinterher. Auf halbem Weg zum Boden animagierte Nolan allerdings erneut, und zwar so blitzschnell, dass Simon es erst mitbekam, als er schon fast gegen diese neue, nur allzu bekannte Gestalt prallte.
Gewaltige Schwingen von fast zwei Metern Spannweite. Braunes Gefieder mit weißen Tupfen und goldenen Sprenkeln. Ein krummer Schnabel, der so scharf war, dass er Simon die Augen aushacken konnte, wenn der nicht aufpasste. Und ein herausfordernder Blick, der ihm so vertraut war, dass es ihm den Atem verschlug.
Sein Bruder hatte sich in einen Goldadler verwandelt.
Damit hätte er rechnen sollen. Schließlich war es die Animox-Gestalt ihrer Mutter, und die hatte Nolan fast immer gewählt, wenn ihm Simon Flugunterricht gegeben hatte.
Doch es war auch die Gestalt ihres Großvaters, Orion. Oder war es zumindest gewesen, bevor Simon mit ihm um die Teile des Greifstabs gekämpft hatte und Orion aus Hunderten Metern Höhe zu Tode gestürzt war. Selbst jetzt noch verfolgte ihn dieses Bild, riss ihn im Morgengrauen aus einem Albtraum, der ihn Nacht für Nacht heimsuchte. Noch immer sah Simon das entsetzte Gesicht seines Großvaters vor sich, wie er ins Leere griff, weil er seine Kräfte wegen eines dummen, verzweifelten Fehlers eingebüßt hatte. Noch immer hörte er den grauenhaften Aufprall, mit dem Orion auf die schroffen Felsen aufgeschlagen war. Und ganz gleich, wie lange er im Dunkeln wach lag und in der Stille Trost suchte –, es versetzte ihm immer noch einen eisigen Stich mitten ins Herz, dass er selbst der Grund für den Tod seines Großvaters und den so vieler anderer war.
Dabei waren sie keineswegs alle unschuldig gewesen. Orion war auf der Jagd nach dem Greifstab, einer Waffe, die ihm mörderische Macht über alle fünf Animox-Reiche verliehen hätte, vor nichts zurückgeschreckt. Sein Offizier Perrin und die Mitglieder des Schwarms, die in blinder Ergebenheit an seiner Seite gekämpft hatten, waren auch nicht besser gewesen.
Doch andere, wie etwa Felix, die kleine braune Maus, die für Simon ihr Leben geopfert hatte, hatten den Tod nicht verdient. Ebenso wenig Darryl, der Onkel, der Simon großgezogen hatte und der auf dem Dach des Sky Tower gestorben war, beim Versuch, ihn zu schützen. Und all die anderen Animox, die sich mit ihm auf der Insel des Bestienkönigs versammelt hatten, um Orion daran zu hindern, die fünf Reiche zu zerstören – vielleicht hatten sie gewusst, welches Risiko sie eingingen. Vielleicht hatten sie, anders als Simon, begriffen, welche Bedeutung diese letzte Schlacht haben würde.
Trotzdem waren viel zu viele von ihnen umgekommen, und das nur, weil Simon sie um Hilfe gebeten hatte. Jetzt, da er seinen Bruder in der Gestalt ihres Großvaters sah, der ihn beinahe getötet hätte …
Von der Tribüne brandete Geschrei zu ihnen empor und riss Simon so jäh aus seinen Gedanken, dass ihm die Luft wegblieb. Er war viel zu tief unten! Schon fast am Boden, der eben noch etliche Meter entfernt gewesen war. Laut kreischend, schlug er kräftig mit den Flügeln.
Es klappte, wenn auch nur knapp, denn seine Flügelspitzen streiften schon den Sand. Im Bemühen, in der Luft zu bleiben, wirbelte er herum und raste blindlings auf die Tribüne zu. Doch noch bevor er sich wieder im Griff hatte, sah er vor sich verschwommen braun-weißes Gefieder aufleuchten und begriff, dass er versehentlich auf Kollisionskurs mit dem Goldadler gegangen war.
»Achtung!«, rief er, aber sein Zwilling sah ihn einen Sekundenbruchteil zu spät. Um so schnell die Richtung zu ändern, konnte Nolan nicht gut genug fliegen, und so kam er nun direkt auf ihn zu. Simon konnte den Zusammenstoß nicht mehr verhindern.
Ihre Flügel verhedderten sich, und Federn knickten ab, während sie sich voneinander zu lösen versuchten. Sie waren jetzt beide im freien Fall, und Simon versuchte instinktiv, seinen Bruder wegzustoßen. Doch als er gerade einigermaßen das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, merkte er, dass Nolan sich wie ein Ertrinkender an ihn klammerte und ihn hinunterzog. So konnte keiner von ihnen fliegen.
Sekunden dehnten sich zu Minuten, und Simon konnte sich anstrengen, wie er wollte, Nolan war überall und machte in seiner Panik alles nur noch schlimmer. Zu spät, um ihm gut zuzureden, ihm zu sagen, er solle einfach stillhalten. Ihm zu sagen, dass alles kein Problem war, wenn er nur losließ. Und so rasten sie in die Tiefe, und als der Boden immer näher kam, tat Simon das Einzige, was ihm übrig blieb: Er setzte die Krallen auf Nolans gefiederte Brust und stieß sich ab. Dadurch gewann er kostbare Zentimeter, konnte gerade noch die Flügel ausbreiten und das letzte bisschen Luft nutzen, das ihn vom Aufprall trennte.
Und musste hilflos zusehen, wie sein Bruder mit einem grausigen Geräusch auf dem Sand aufschlug, die Augen blinzelnd schloss und sich dann nicht mehr rührte.
Schluss mit den Extrawürsten
»Es tut mir leid«, sagte Simon gefühlt zum x-ten Mal, während er im Büro ihres Onkels hin- und herlief. »Das wollte ich nicht. Du weißt, dass ich das nicht wollte.«
Sein Bruder lag in dem abgedunkelten Raum auf einem braunen Ledersofa und stöhnte, als ihm Malcolm behutsam einen Eisbeutel auf die Schläfe drückte. »Ich hätte gewinnen müssen!«, ächzte er. »Du hast betrogen.«
»Wie …«, wollte Simon protestieren, aber Malcolm hielt die freie Hand hoch.
»Ihr habt beide die gleichen Verwandlungskräfte«, sagte er mit tiefer, leiser Stimme. »Ob es dir passt oder nicht, Simon hat anständig und ehrlich gewonnen.«
»Ich will eine Revanche«, sagte Nolan bockig, aber kaum hatte er ausgesprochen, krümmte er sich vor Schmerzen. Der Bluterguss, der sich unter dem Eisbeutel abzeichnete, sah übel aus, doch sein Stolz hatte offenbar noch mehr gelitten. »Ich habe mich nicht ergeben, was bedeutet, dass du nicht richtig gewonnen hast.«
»Du warst fünfzehn Sekunden lang bewusstlos«, hielt Simon ihm vor und blieb vor dem Mahagonischreibtisch seines Onkels stehen. »Wenn das nicht eindeutig ist, dann …«
»Schluss jetzt!« Malcolm blickte beide finster an. »Nolan, wenn du eine Revanche willst, musst du bis September warten. Und ja, Simon«, fügte er hinzu, »du wirst nächstes Jahr wie alle anderen Schüler in der Grube kämpfen. Ich war nachsichtig mit dir, und das bereue ich nicht, denn du musstest dich erst erholen. Ab sofort reicht’s allerdings mit den Extrawürsten. Deine Mutter sieht das genauso, du bist also vorgewarnt. Wenn du dich nächstes Jahr immer noch querstellst, muss ich dich von der Schule werfen, so wie ich es mit jedem anderen Schüler auch machen würde.«
Simon traute seinen Ohren nicht. »Aber …«
»Geh jetzt mittagessen«, sagte Malcolm bestimmt. »Meinetwegen reden wir heute Abend weiter. So oder so, mein Entschluss steht fest.«
Simon wollte widersprechen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Auch egal – Malcolm wollte sowieso nichts mehr hören. Und selbst wenn er etwas herausbrächte, wäre die Gefahr groß, wie Nolan zu klingen, wenn der wieder mal jammerte, weil es nicht so lief, wie er wollte. Darum verließ er wortlos den Raum und überließ es Malcolm, sich um seinen Zwillingsbruder zu kümmern.
Das L.A.G.E.R. befand sich tief unter dem Central Park Zoo, und die Backsteinkorridore, durch die sich Simon auf den Weg in den Speisesaal machte, waren warm und vertraut. Sein zweites Schuljahr hier war sehr friedlich und vorhersehbar verlaufen – Nolan hatte es wiederholt langweilig genannt –, und genau das hatte er nach dem Trauma und den Turbulenzen des ersten Jahres gebraucht. Doch trotz all der Zeit, die ihm sein Onkel zugestanden hatte, trotz der Tatsache, dass seit der letzten Schlacht mit Orion fast ein Jahr vergangen war, fühlte er sich noch immer nicht ganz wiederhergestellt. Allmählich machte ihm das Sorgen.
Als er den Speisesaal betrat, verstummte das Stimmengewirr, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Seine Wangen wurden heiß. Mittlerweile hätte er daran gewöhnt sein sollen, dass er Aufsehen erregte – schon seit Beginn seines zweiten Jahres im September tuschelten alle bei seinem Anblick. Einige hatten sogar den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, wie es gewesen war, Orion zu besiegen und den Greifstab zu zerstören. Simon hatte jedes Mal etwas Ausweichendes genuschelt und sich mit einer Entschuldigung davongemacht. Er wollte nicht über jene Nacht sprechen. Zu oft sah er sie noch in seinen Träumen. Die Fragen hatten irgendwann aufgehört, die Blicke nicht. Jedenfalls nicht ganz.
»Na endlich.« Eine helle Stimme durchbrach die Stille um ihn herum, und ein zierliches Mädchen mit einem dunklen Zopf packte ihn am Ellbogen und zerrte ihn mit sich. »Kurz bevor die Essensausgabe geschlossen wurde, hab ich dir noch was besorgt.«
»Danke, Winter.« Simon ließ sich an ihren üblichen Tisch führen. »Aber ich habe keinen …«
»Wenn du behaupten willst, du hättest keinen Hunger, hole ich Ariana. Sie soll deinen Mund offen halten, während ich dich zwangsernähre«, drohte Winter. »Gestern Abend hast du nur zwei Bissen gegessen, und das Frühstück hast du heute Morgen ganz ausfallen lassen. Ein Wunder, dass du nicht mitten im Kampf umgekippt bist.«
»Ausgesehen hast du jedenfalls, als wärst du kurz davor«, warf ein blonder Junge ein, der auch an ihrem Tisch saß, halb versteckt hinter einem Lehrbuch über die moderne Geschichte der Animox-Welt. »Wenn du in Ohnmacht fällst, erlässt dir Malcolm vielleicht die Prüfung.«
»Wohl kaum.« Simon setzte sich vor ein Tablett, auf dem sich Winters Lieblingsspeisen türmten. Das machte ihm nichts aus – zumindest hatte sie ihm kein Sushi besorgt, wobei Jam so aussah, als hätte er seins kaum angerührt. »Warum lernst du eigentlich immer noch? Weißt du nicht schon alles auswendig?«
Mit einem tiefen Seufzer legte Jam das Lehrbuch weg und schob die Brille hoch. »Der General meinte, wenn ich keine Bestnoten nach Hause bringe, muss ich den ganzen Sommer früh aufstehen und Bahnen um Atlantis herumschwimmen. Ich hasse Bahnenschwimmen.« Jetzt klang er ganz jämmerlich. »Vor allem morgens.«
Simon verzog mitfühlend das Gesicht. Der General war Jams Vater und der Anführer des Unterwasserreichs, und obwohl er Jam letztes Jahr nicht mehr ganz so hart rangenommen hatte, hatte er ihn immer noch fest an der Kandare. »So weit kommt es nicht, du hast doch die ganze Woche gelernt …«
»… und für den allerschlimmsten Fall habe ich den Lösungsschlüssel.«
Der Stuhl gegenüber von Simon quietschte über den Boden, als ein Mädchen mit silbernen Haaren Platz nahm. Ariana trug zwar die typische L.A.G.E.R.-Schuluniform samt einem Armband mit dem Umriss einer Schwarzen Witwe, aber in Simons Augen gab es an ihr nichts Typisches. Als sich ihre Blicke trafen, schoss ihm das Blut in die Wangen, was ihr ein Grinsen entlockte.
»Echt?«, fragte Jam mit großen Augen. »Woher?«
»Sie ist die Königin des Insekten- und Arachnidenreichs«, mischte sich Dev ein, ein dunkelhaariger Junge, der sich jetzt neben Ariana setzte. »Hast du nicht aufgepasst?«
Aufgebracht schnappte sich Winter eine Fritte von Simons Tablett. »Jam hat es nicht nötig zu schummeln«, sagte sie energisch. »Und du auch nicht.«
»Nur weil ich die Lösungen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich sie auch benutze«, konterte Ariana achselzuckend. »Ich mache mir keine Sorgen um meine Noten. Was soll der Spionagemeister machen, mir Hausarrest verpassen?«
»Das ist im Lernplan nicht vorgesehen.« Dev griff ebenfalls nach den Fritten. Winter wollte seine Hand wegschlagen, aber er war schneller. »Er hat Arianas gesamten Sommer durchgeplant, bis auf die letzte Minute. Training, Meetings, Hofhalten …«
»Immerhin gewährt er mir zwei Pausen am Tag, jeweils eine Viertelstunde.« Ariana verdrehte die Augen. »Worüber beschwerst du dich eigentlich, Dev? Er hat gesagt, du kannst so viel Freizeit haben, wie du willst, weil du das Schuljahr mit mir verbracht hast.«
»Ein Bodyguard lässt seinen Schützling niemals im Stich«, sagte Dev leicht überheblich. »Und mir gefällt es hier, deswegen will ich dir keine Gelegenheit geben, ihn zu überreden, mich woanders einzusetzen.«
Simon riss ein Stück von seinem Brötchen ab. »Dann sehe ich keinen von euch bis September?« Er gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, doch Arianas besorgter Miene nach zu urteilen scheiterte er kläglich.
»Wenn du möchtest, sage ich dem Spionagemeister, er soll ein paar freie Tage einplanen«, schlug sie vor. »Ich meine … ich möchte dich auf jeden Fall sehen. Vielleicht kannst du mich ja mal besuchen kommen.«
»Mich auch«, sagte Jam hoffnungsvoll. »Der General lässt mich wahrscheinlich nirgends hin, aber er freut sich bestimmt, wenn du vorbeikommst.«
Simon zögerte. Rhode, Jams große Schwester, gehörte zu den Animox, die bei der Schlacht mit Orion und dem Schwarm auf der Insel des Bestienkönigs ihr Leben verloren hatten. Seither war er dem General nicht mehr begegnet, und obwohl Jam steif und fest behauptete, es gebe kein böses Blut zwischen ihnen und der General sei stolz, dass Rhode sich für das Wohl der gesamten Animox-Welt geopfert hatte, wurde Simon die Schuldgefühle nicht los.
»Wir fragen Isabel«, sagte Winter, die offenbar spürte, dass Simon Bedenken hatte. »Sie will, dass wir alle am Hawk Mountain bleiben, aber vielleicht erlaubt sie ja, dass wir uns ein paarmal gegenseitig besuchen.«
Simons Mutter war im vergangenen Jahr, nachdem ihr Vater Orion, der ehemalige Vogelherr, gestorben war, zur Herrscherin über das Vogelreich aufgestiegen. Und obwohl sie an den Wochenenden nach New York City flog, verbrachte sie die meiste Zeit in Pennsylvania, wo sie über die gesamte Vogelpopulation Nordamerikas herrschte. Simon machte das nichts aus. Früher hatte sie ihn meistens nur ein, zwei Mal im Jahr besuchen können, und sie jetzt jede Woche zu sehen, war ein Luxus, den er sehr wohl zu schätzen wusste. Doch Nolan beschwerte sich schon seit September, und er selbst sehnte sich nach einem Tapetenwechsel.
Ariana sah ihn wieder an, als könnte sie Gedanken lesen. »Wie geht’s denn Nolan? Heute Morgen sah er gar nicht gut aus.«
»Das wird schon wieder«, antwortete Simon. »Er ist vor allem sauer, weil Malcolm ihm keine Revanche erlaubt.«
»Eine Revanche?«, fragte Jam überrascht. »Wozu das denn?«
»Er denkt, ich hätte betrogen.«
»Das sagt er nur, weil du gewonnen hast«, meinte Winter bissig. »Wenn er gewinnt, dann natürlich, weil er der Bessere ist. Dieser Idiot.«
Simon zuckte die Achseln. Nolan hatte seine Schwächen, und dies mochte eine davon sein, aber er konnte nachvollziehen, warum seinem Bruder die Niederlage peinlich war. Nolan war von Malcolm und ihrer Großmutter Celeste aufgezogen worden und war im Gegensatz zu ihm selbst in dem Wissen aufgewachsen, dass er höchstwahrscheinlich die Kräfte des Bestienkönigs geerbt hatte – die Fähigkeit, sich in jedes beliebige Tier zu verwandeln. Man hatte ihm immer wieder erzählt, er sei etwas Besonderes. Als Simon ihm eröffnet hatte, dass er genau dieselben Kräfte besaß, war Nolan daher alles andere als begeistert gewesen. Seither schien er immer und überall beweisen zu wollen, dass er der Überlegene war. Dass er tatsächlich etwas Besonderes war und nicht nur einer von zweien.
Doch nun hatte Simon ihn vor dem gesamten L.A.G.E.R. gedemütigt. Kein Wunder, dass er eine Revanche forderte. Er würde sich erst zufriedengeben, wenn er Simon besiegt hatte.
»Malcolm sagt, ich muss nächstes Jahr auch kämpfen.«
»Das ist Schwachsinn«, entgegnete Winter unverblümt. »Du bist der beste Kämpfer der ganzen Schule – vielleicht sogar im ganzen Land.«
»Das heißt, er muss trainieren«, sagte Ariana und funkelte Winter an. Dann griff sie über den Tisch nach Simons Hand. Ihre eigene Hand war warm und trocken. »Du willst nicht, ich weiß, aber je eher du dich deinen Ängsten stellst, desto leichter wird es.«
Alle seine Freunde schauten ihn an. Er kniff die Lippen zusammen und starrte auf Arianas Hand in seiner. »Darum geht es nicht. Ich habe keine Angst davor, zu kämpfen, ich habe bloß Angst, jemanden zu verletzen. So wie heute Nolan.«
»Nolan ist selber schuld«, sagte Dev mit fester Stimme. »Er wollte dich mit in die Tiefe reißen.«