Die Erben der Animox 5. Die Rache des Tigers - Aimée Carter - E-Book + Hörbuch

Die Erben der Animox 5. Die Rache des Tigers Hörbuch

Aimée Carter

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Beschreibung

Wieder zurück in der Welt der Tierwandler, bei den Erben der Animox! Das große Abenteuer, das Simon Thorn bestehen muss, nähert sich seinem Ende. Auf vier Kontinente hat es ihn und seine Freund*innen bereits geführt. Und es waren zweifellos schwierige Aufgaben zu lösen in Europa, Australien, Afrika und Südamerika. Im fünften und letzten Band "Die Rache des Tigers" verschlägt es sie ins geheimnisvolle Asien. Wird es Simon Thorn gelingen, die Welt der Animox und ihrer Erben zu retten? Und kann er den gefürchteten Krieg zwischen dem Imperium und den Erben der Animox verhindern? Das grandiose Ende der zweiten Reihe aus dieser einzigartigen Fantasywelt der Gestaltwandler ist ein unvergleichlich spannendes Leseabenteuer. Die Erben der Animox Band 5: Die Rache des Tigers – actionreich und hochspannend. - Der fünfte und letzte Band ist das fulminante Finale der zweiten Reihe aus dem Animox-Kosmos. - Mitreißende Tierwandler-Fantasy, die dich ins faszinierende Asien entführt, wo diesmal der Tiger im Fokus steht. - Atmosphärisch dicht und superspannend erzählter Roman für Kinder ab 10 Jahren.In der zweiten Anomix-Reihe "Die Erben der Animox" sind bisher erschienen: - "Die Beute des Fuchses" (Band 1) - "Das Gift des Oktopus" (Band 2) - "Der Kampf des Elefanten" (Band 3) - "Der Verrat des Kaimans" (Band 4)Entdecke auch die fünf Bände der ersten Animox-Reihe von Aimée Carter: - "Das Heulen der Wölfe" (Band 1) - "Das Auge der Schlange" (Band 2) - "Die Stadt der Haie" (Band 3) - "Der Biss der Schwarzen Witwe" (Band 4) - "Der Flug des Adlers" (Band 5)

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Zeit:12 Std. 14 min

Sprecher:Peter Kaempfe
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Über dieses Buch

Nach all dem Blutvergießen konnte Simon sich nicht vorstellen, in einen weiteren Kampf zu ziehen. Doch angesichts der Armee des Imperiums, und der Tatsache, dass Wadim keine Ruhe geben würde, bis auch der letzte Erbe tot war, gab es vielleicht keinen anderen Ausweg. Vielleicht hatte alles in einem Leben auf diesen Moment hingeführt, und er war so unvermeidlich wie der nächste Sonnenaufgang.

 

Nach der schweren Schlacht im Amazonasgebiet fliegt Simon Thorn, diesmal ohne seine Freunde, nach Asien. Dort erfährt er endlich, wer der mysteriöse X ist – und macht eine unglaubliche Entdeckung.

 

Doch auch in Asien sind die Erben der Animox nicht vor den Angriffen Wadims sicher. Zwischen Rauch und Feuer holen sie zu einem letzten großen Schlag gegen den europäischen Hüter aus. Wird es ihnen gelingen, Wadim und das Imperium endgültig zu Fall zu bringen?

 

Das fulminante Finale der neuen ANIMOX-Bestseller-Serie!

 

 

 

 

 

 

 

Für Dad, immer.

Prolog

Ariana Webster hasste Vögel.

Bis vor drei Tagen, als ihre Freunde und sie gezwungenermaßen nach New York zurückgekehrt waren, hatte sie noch kein Problem mit ihnen gehabt. Als Angehörige des Insekten- und Arachnidenreichs – das sie mittlerweile als Schwarze Witwenkönigin regierte – hatte man ihr natürlich beigebracht, sie zu fürchten und ihnen tunlichst aus dem Weg zu gehen. Schließlich gab es genug Vögel, die achtbeinige Zwischenmahlzeiten liebten, und diejenigen mit einem anspruchsvolleren Gaumen machten sich gerne einen Spaß daraus, Ariana zu ärgern. Trotzdem hatte sie ihr buntes Gefieder und ihren fröhlichen Gesang immer gemocht – auch wenn sie sich gehütet hatte, sie in ihrer Spinnengestalt zu bewundern.

Jetzt jedoch, als sie durch das Fenster der Bibliothek zwei Falken beobachtete, die in der Luft vor dem Sky Tower patrouillierten, empfand Ariana gegenüber dem gefiederten Königreich weniger distanzierte Vorsicht als vielmehr inbrünstige Feindseligkeit. Natürlich waren die Falken und die zahlreichen anderen Raubvögel – allesamt Soldaten des Vogelreichs und Mitglieder des Schwarms – hauptsächlich da, um einen weiteren Angriff auf den Sky Tower zu verhindern, nachdem vor über einer Woche mehrere seiner Bewohner beinahe getötet worden wären. Sie sorgten jedoch auch dafür, dass Ariana und ihre Freunde den Sky Tower nicht verlassen konnten. Und so langsam begann sie, es ihnen übel zu nehmen.

»Majestät«, sagte eine tiefe, hörbar beherrschte Stimme kaum einen Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. »Haben Sie ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?«

Nur lebenslanges Training hielt Ariana davon ab, sich so schnell umzudrehen, dass sie mit dem gefährlich gewöhnlichen Mann neben ihr zusammenstieß. Sie warf dem Spionagemeister einen Blick zu, der alle anderen ihrer zahlreichen Berater verschreckt hätte. Doch abgesehen davon, dass er sich zu seiner vollen – überaus durchschnittlichen – Größe aufrichtete, reagierte er nicht. Als Leiter des Bienenstocks, der Spionageschule ihres Reichs, und als Drahtzieher fast aller Missionen ihrer riesigen Armee hatte Tiberius Siles schon alles gesehen. Und in den letzten zwei Tagen hatte er deutlich gemacht, dass er nicht vorhatte, sich von einer wütenden Königin aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Nein«, sagte Ariana, teils, weil es keinen Sinn hatte zu lügen, aber auch um ihn wissen zu lassen, dass er sie nicht ungestraft hier einsperren konnte. Einsperren wie eine Gefangene, während sich der Rest der Animox-Welt auf den Krieg vorbereitete.

»Schade«, sagte der Spionagemeister trocken. »Es war wichtig.«

»Ach ja?«, entgegnete Ariana. »Meiner Meinung nach sollten wir uns momentan lieber darauf konzentrieren, Simon zu finden und das Imperium zu stoppen.«

Aus dem Augenwinkel sah sie einen weiteren Vogel am Fenster vorbeifliegen, so nah, dass sie seine Federn hätte zählen können. Es war ein Goldadler, und für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob Simon endlich begriffen hatte, dass er diese Aufgabe nicht ohne sie und ihre Freunde schaffen konnte. Und sie fragte sich, ob er nach New York zurückgekehrt war, um sich zu entschuldigen.

Aber natürlich war er das nicht. Als Simon sich vor ein paar Tagen an der Seite seines Zwillingsbruders Nolan in einen Wanderfalken verwandelt hatte und den Erben vom Amazonas in den Himmel über dem Regenwald gefolgt war, hatte er nicht einmal zurückgeblickt, und sie rechnete nicht damit, dass er seine Meinung jetzt änderte. Sie hatten so viel zusammen durchgemacht, und trotzdem war er einfach davongeflogen. Ariana war sich nicht sicher, ob sie ihm das jemals verzeihen würde.

Aber sie konnte keinen Goldadler sehen, ohne an ihn zu denken. Sie konnte überhaupt keinen Vogel sehen, ohne an ihn zu denken, und ihre Wut gegenüber dem gesamten Reich wuchs mit jedem Tag.

Der Spionagemeister seufzte. Zu ihrer Überraschung kniete er sich neben den Sessel, in dem sie sich zusammengerollt hatte. Hier hatte sie schon den ganzen Vormittag gesessen, seit sie sich in die Bibliothek geschlichen hatte, um sich vor ihren endlosen Pflichten als Königin zu verstecken. Pflichten, die sie in den letzten drei Wochen vernachlässigt hatte, während sie mit Simon und ihren Freunden den Globus umrundet hatte, um den Soldaten des Imperiums und den blutrünstigen Hütern zu entkommen. Aber natürlich hatte der Spionagemeister sie aufgestöbert, und anstatt zu respektieren, dass sie Zeit für sich brauchte, hatte er so getan, als hätten sie sich genau hier zwischen den hohen Bücherregalen verabredet.

»Majestät«, sagte er. »Ariana. Darf ich frei sprechen?«

Sie wusste nicht, was sie mehr beunruhigen sollte – dass er sie beim Vornamen nannte oder dass er sie beinahe mitleidig ansah. Sie hatten nie darüber geredet, dass er ihr Vater war, denn die Königinnen ihres Reichs wurden immer von ihren Müttern aufgezogen. Aber sein sanftes Verständnis kam für sie dem Gefühl ziemlich nahe, tatsächlich einen Vater zu haben.

»Bitte«, antwortete sie und hasste sich für ihre zitternde Stimme. Als der Spionagemeister ihre Hände nahm, war sie dankbar, dass er keine lange Rede von ihr zu erwarten schien.

»Ariana«, wiederholte er, und seine braunen Augen waren so aufrichtig, dass sie am liebsten den Blick gesenkt hätte. »Ihr kommt in vielerlei Hinsicht nach Eurer Mutter, und sie wäre ungeheuer stolz auf alles, was Ihr zum Schutz unserer Welt getan habt. Die Gefahren, die Ihr auf Euch genommen habt, die Prüfungen, die Ihr bestanden habt, die Verluste, die Ihr hinnehmen musstet …«

Endlich wandte er den Blick ab, und Ariana nutzte die Gelegenheit, um die Tränen wegzublinzeln. Leo Thorns Tod war noch quälend frisch – sie hatten Leo noch nicht einmal beerdigt. Ariana war direkt neben ihm in der Höhle im Amazonasregenwald gewesen, als er seinen letzten Atemzug getan hatte. Es war unendlich schmerzhaft gewesen. Aber beinahe noch schmerzhafter war es zu sehen, wie Simon am Tod seines Großvaters zerbrach. Anders als bei der langen Krankheit ihrer Mutter hatte es keine Vorwarnung gegeben – ein Goldener Pfeilgiftfrosch hatte Leos Haut berührt, und von diesem Moment an hatte er gewusst, dass der Tod nur noch Minuten entfernt war. Trotzdem hatte er alles getan, um sie zu retten. Bis zu seinem letzten Atemzug hatte er gegen seinen sterbenden Körper gekämpft, um für sie da zu sein.

Und nun war Ariana hier, gefangen im Sky Tower, und hatte kaum Luft zum Atmen, geschweige denn um zu tun, was getan werden musste. Leo war als Held gestorben. Und sie selbst war nichts weiter als ein Feigling im Glasturm.

»Ich kann nicht so tun, als wüsste ich, was Ihr durchgemacht habt«, sagte der Spionagemeister nach einer Pause, und Ariana hob widerwillig den Blick. »Aber ich kenne das erdrückende Gewicht der Hilflosigkeit, und ich kann mir vorstellen, wie es sich anfühlt, dass Euer Freund in Gefahr ist und alles, was Ihr erreicht habt, auf dem Spiel steht.«

»Toll«, murmelte sie. »Und warum lassen Sie mich dann nicht hier raus?«

Beim Anblick seines geduldigen, kleinen Lächelns hätte sie schreien mögen. »Weil Ihr nicht nur die mutige Tochter Eurer Mutter seid, die der Gefahr entgegenläuft, während die meisten Menschen vor ihr davonlaufen. Sondern auch die Schwarze Witwenkönigin, Herrscherin über das größte Animox-Reich des Planeten. Auf jeden Menschen dieser Welt kommen zweihundert Millionen Eurer Untertanen, und sie – wir – brauchen Euch, gesund und unversehrt.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ameisen auch ohne mich klarkommen«, brummte sie. »Aber wenn Simon etwas zustößt, oder wenn Wadim die Erben findet …«

»Die Erben scheinen durchaus in der Lage zu sein, auf sich selbst aufzupassen«, entgegnete der Spionagemeister. »Wenn sie wirklich so viel können wie der Bestienkönig …«

»Mehr«, korrigierte Ariana ihn. Es lief zwar ihrer Argumentation zuwider, aber es fühlte sich gut an, ihn zu berichtigen. »Sie können sich in jedes Tier dieser Welt verwandeln. Die Nachfahren des Bestienkönigs konnten sich nur in Tiere verwandeln, deren Kräfte er gestohlen hatte, vor allem also Arten aus Nordamerika.«

Die Lippen des Spionagemeisters wurden schmal. »Und da glaubt Ihr, dass eine einzige Schwarze Witwe etwas bewirken kann?«

»Haben Sie mir nicht genau das seit meinem ersten Tag im Bienenstock beigebracht?« Sie hob herausfordernd das Kinn. »Ein einziger gut gezielter Dolch kann den Verlauf eines Krieges verändern.«

»Aber muss es ausgerechnet Euer Dolch sein?«

Ariana zuckte mit den Schultern. »Kennen Sie einen besseren?«

Der Spionagemeister atmete tief durch, was Ariana als äußerst befriedigend empfand. Er rastete zwar nicht aus, aber sein Geduldsfaden war straff gespannt. »Eure Aufgabe«, sagte er schließlich, »ist nicht, die Welt zu retten. Eure Aufgabe ist es, das Leben Eurer Untertanen zu verbessern. Ihr seid ihre Königin, nicht die Königin der Welt.«

»Die Welt ist mir egal«, sagte sie mit einem Trotz, der sie selbst überraschte. »Mir geht es um Simon.«

Der Spionagemeister seufzte. »Ich verstehe ja, dass Ihr bedrückt seid, weil Mr. Thorn in Gefahr ist …«

»Ich bin nicht bedrückt«, blaffte sie ihn an und riss ihre Hände aus seinen. »Ich bin stinksauer! Wir sind seit zwei Jahren ein Team – wir haben alles füreinander riskiert, wir wären beinahe füreinander gestorben. Und jetzt denkt er, er hätte das Recht, das alles zurückzulassen, als würde es nichts bedeuten? Und wir können ihn nicht mal …«

Sie presste die Lippen zusammen, um den Redefluss zu stoppen, der aus ihr heraussprudelte. Ihre Freunde und sie konnten ihn nicht beschützen, wie sie es unzählige Male zuvor getan hatten. Sie konnten ihn nicht davon abhalten, sein Leben unnötig für andere zu opfern. Diesmal würde er etwas tun, was er nicht rückgängig machen konnte – sie wusste es. Sie wusste es. Und sie konnte nicht mal versuchen, es ihm auszureden.

Der Spionagemeister schien die Stärke ihrer Wut zu spüren, vielleicht waren ihre Augen aber auch so rot, wie sie sich anfühlten, jedenfalls stand er langsam auf. »Ich verstehe«, sagte er und faltete die Hände. »Ich schlage vor, ich lasse Euch einen Moment allein, Majestät. Der Vertrag zwischen Moskitos und Junikäfern muss ohnehin noch überarbeitet werden. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass die fraglichen Klauseln zu Eurer Zufriedenheit angepasst werden.«

Ariana nickte steif, mehr brachte sie nicht zustande, als Tiberius sich verbeugte und endlich aus dem Raum ging, um sie in Frieden zu lassen. Es war jedoch kein erleichternder Frieden. Sorgen wirbelten durch ihren Kopf und vermengten sich mit ihrer Wut und Enttäuschung zu einem Gemisch, das so giftig war, dass es sie innerlich zu zersetzen schien.

Warum hatte Simon das getan? Warum hatte er sie einfach weggeworfen?

»Psst!«

Sie riss den Blick vom Fenster los und entdeckte Jam Fluke im Schatten hinter der Tür. Seine blonden Haare waren frisch geschnitten, und seine Brille spiegelte den strahlenden Maitag auf der anderen Seite des Fensters. Selbst im schummrigen Licht der Bibliothek enthüllten seine Shorts die kreuz und quer verlaufenden Brandnarben an seinen Beinen, die er sich in Australien zugezogen hatte. Sie mussten immer noch wehtun, aber er hatte sich kein einziges Mal beschwert.

»Jam?«, fragte sie, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Stimme zu senken. »Was machst du …«

Er presste einen Finger an die Lippen und spähte durch die offene Tür, als fürchtete er, belauscht zu werden. Wortlos winkte er sie zu sich, und obwohl Ariana nicht in der Stimmung für Versteckspiele war, streckte sie die Beine aus und stand auf.

»Hier ist niemand«, sagte sie, während sie den Raum durchquerte. »Warum …«

»Ist alles in Ordnung?«

Ganz plötzlich stand Malcolm Thorn, Simons Onkel und Alpha des Säugerreichs, in der Tür. Sein langes Haar war zu einem nachlässigen Knoten gebunden, und unter seinen Augen waren dunkle Ringe. Er trug dasselbe graue Hemd wie am Vortag, stellte Ariana fest, und an seinem Gürtel knisterte ein Walkie-Talkie.

»Äh … klar.« Ariana zwang sich, nicht zu Jam hinüberzusehen, der wie versteinert hinter der offenen Tür stand. »Ich wollte gerade hochgehen und etwas essen.«

»Das klingt gut«, erwiderte Malcolm. Er hob die Hand, um sich durchs Haar zu fahren, doch dann fiel ihm ein, dass es zurückgebunden war. »Zia hat gesagt, du hättest das Frühstück ausfallen lassen? Sie wollte dir einen Happen bringen, aber ich habe darauf bestanden, dass sie sich ausruht.«

Er sagte es entschuldigend, als wäre Ariana nicht in der Lage, sich selbst etwas zu essen zu besorgen, und müsste sich von Malcolms hochschwangerer Frau bedienen lassen. Seit sie ihr die Nachricht vom Tod ihres Vaters überbracht hatten, kam Zia Thorn nicht mehr zur Ruhe. Ariana kannte dieses Bedürfnis – den Drang, sich zu beschäftigen und so zu tun, als wäre nicht das Schlimmste passiert, sich mit allem Möglichen abzulenken, nur um nicht mit der Trauer allein zu sein. Aber Zia hatte nur noch eine Woche bis zum Geburtstermin ihres Kindes, und obwohl Ariana sich so zurückgezogen hatte, hatte sie doch bemerkt, dass die Erwachsenen hin- und hergerissen waren zwischen dem Versuch, Zia gewähren zu lassen, und ihrem Wunsch, dass sie sich und das Baby schonte.

»Ich helfe ihr beim Kochen«, schlug sie vor. »Und bringe sie dazu, ein Weilchen die Beine hochzulegen.«

Malcolm seufzte erleichtert. »Großartig. Danke. Isabel und ich haben noch ein Telefonat mit dem General, aber wenn wir fertig sind …«

»Ich schaue, ob ich sie überreden kann, hinterher noch ein Nickerchen zu machen«, fiel Ariana ihm ins Wort. »Na los, geh ruhig, wir kommen schon klar.«

Malcolm sah nicht überzeugt aus, und Ariana merkte selbst, dass das gelogen war. Niemand von ihnen kam klar, seit dieser Wettlauf um die Welt begonnen hatte, und sie bezweifelte, dass sich das heute Nachmittag ändern würde. Aber schließlich eilte er zurück, und Ariana wandte sich Jam zu.

»Würdest du mir jetzt verraten, was …«

Bevor sie ausreden konnte, presste sich eine Hand auf ihren Mund. Ariana reagierte instinktiv. Mit einem schnellen Einziehen des Kopfes und einer fließenden Drehbewegung, die sie geübt hatte, seit sie stehen konnte, schwang sie ihre Angreiferin über die Schulter. Ein Mädchen mit dunklen Locken landete ächzend auf dem Teppich.

»Charlotte?«, fragte Ariana verblüfft. Von allen Leuten im Sky Tower hätte Charlotte Roth, die im Nahkampf fast so geschickt war wie Ariana, es eigentlich besser wissen müssen, als sie so von hinten festzuhalten. Aber als Jam sich zu ihnen gesellte, legte er wieder den Finger an die Lippen, und Ariana war endlich still.

Gemeinsam halfen sie Charlotte auf die Beine. Obwohl Ariana diejenige war, die jahrelang eine Spionageschule besucht hatte, überließ sie es Jam zu prüfen, ob die Luft rein war, bevor sie über den langen Flur huschten. Vorbei an einer Vielzahl von Schlafzimmern, Badezimmern und Büros, bis sie eine Tür erreichten, die ihr besonders vertraut war: die Tür zu dem Zimmer, das sie sich mit Winter teilte.

Jam klopfte rhythmisch gegen das Holz. Nach einem Augenblick hörte Ariana, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und die Tür öffnete sich gerade so weit, dass sie hindurchpassten. Einer nach dem anderen schlüpfte hinein, und sobald die Tür wieder geschlossen war, schob Winter Ariana ihren Rucksack in die Arme.

»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Winter. Ihr dunkles Haar war zum Zopf geflochten und ihr Teint fahl wie immer, obwohl sie bis vor Kurzem an einigen der sonnigsten Orten der Welt gewesen waren. »Unser Flug geht in fünf Stunden.«

»Flug?«, wiederholte Ariana, während sie ihren Rucksack öffnete. Darin befanden sich einige Kleidungsstücke, ihr Kulturbeutel und, was sie am meisten überraschte, ihr Reisepass, den sie hastig durchblätterte. »Woher hast du …«

»Ich habe die Pässe an unserem ersten Abend hier von Malcolm gemopst«, erklärte Charlotte mit ihrem eigenartigen Akzent, der die Sprachmelodie und die Betonung mehrerer europäischer Sprachen zu vereinen schien. »Ich dachte, wir könnten sie irgendwann brauchen.«

Ariana blinzelte ungläubig. »Moment mal – du willst schon wieder abhauen?«

»Wir«, korrigierte Winter. »Wir fliehen aus diesem Gefängnis und suchen Simon.«

»Und nicht nur Simon«, fügte Charlotte vielsagend hinzu, während sie sich ihren abgewetzten roten Rucksack über die Schulter warf. Ihre Augen waren immer noch geschwollen vom vielen Weinen der letzten Tage, und Ariana verstand sofort.

Während Ariana die Tatsache verkraften musste, dass Simon ohne sie losgezogen war, war Charlotte aus einem anderen Grund am Boden zerstört: Jahrelang hatte sie in dem Glauben gelebt, ihr Bruder Beck sei tot, und erst vor wenigen Tagen hatte sie am Amazonas erfahren, dass er noch lebte. Und nicht nur das, sondern auch dass er für den mysteriösen X arbeitete, der Ariana und ihre Freunde auf ihrer Reise von Kontinent zu Kontinent dazu benutzt hatte, die Erben aufzuspüren, bevor der blutrünstige Wadim und die Soldaten des Imperiums sie finden würden. Ariana war momentan alles andere als gut auf Simon zu sprechen, aber sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie Charlotte sich fühlte.

»Wie sollen wir sie denn finden?«, fragte Ariana mürrisch. »Wir haben keine Ahnung, wo sie sind, und Simon will uns offensichtlich nicht dabeihaben.«

»Du kannst nicht ewig schmollen«, bemerkte Jam nüchtern, während er nach seinem Seesack griff.

»Doch, kann ich«, erwiderte Ariana und ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen. »Er hat uns einfach abserviert!«

»Aber doch nur, um uns zu schützen«, sagte Jam. »Willst du ihm das wirklich vorwerfen? Nach der Sache mit Leo hatte er gar keine andere Wahl.«

»Natürlich hatte er eine Wahl«, entgegnete Ariana, und zu ihrem Schrecken kiekste ihre Stimme. »Sie ist nur nicht auf uns gefallen.«

Stille erfüllte das Zimmer. Niemand widersprach ihr, wie auch? Sie hatte ja recht. Aber noch während sie das dachte, konnte sie nicht umhin, einen Blick auf die Narben an Jams Beinen zu werfen. Und auf Winter, die in Anistadt ihre Fähigkeit verloren hatte, sich in eine Schlange zu verwandeln. Sie erholte sich immer noch von dem Gift, das sie im Amazonasgebiet fast umgebracht hätte. Und wenn Ariana ehrlich zu sich war, dann hatte sie Simon ein paar Minuten lang auf einer Kopje in der Serengeti glauben lassen, Wadim hätte sie getötet.

Gut, vielleicht hatte Simon einen Grund gehabt, sie nicht mitzunehmen. Aber in Ordnung war es deshalb noch lange nicht.

»Er hat also die falsche Wahl getroffen«, durchbrach Winters helle Stimme das Schweigen. »Das ist nichts Neues. Wollen wir es ihm diesmal wirklich übel nehmen?«

Ariana hätte am liebsten dagegengehalten, dass die anderen das nicht verstanden, aber natürlich verstanden sie es. Sie waren bei jedem Schritt dabei gewesen. »Er will uns nicht dabeihaben …«

»Das ist mir egal und dir doch auch«, sagte Winter. »Er mag ein Erbe sein, und trotzdem hat er uns bei der Jagd nach dem Greifstab gebraucht, genau wie er uns jetzt braucht, ob es ihm gefällt oder nicht. Er ist erschöpft, und er hat so viele Verletzungen, dass ich sie nicht mehr zählen kann.«

»Er wird sich umbringen, wenn wir ihn nicht finden«, sagte Jam leise und schob sich die Brille auf dem Nasenrücken nach oben. »Das weißt du so gut wie wir.«

Ja, das wusste Ariana. Sie alle wussten es. Und sie begriff selbst nicht, warum sie sich gegen etwas wehrte, worum sie noch vor wenigen Minuten mit dem Spionagemeister gestritten hatte.

»Na schön. Wie wollen wir ihn finden?«, sagte sie schließlich, woraufhin die drei anderen erleichtert aufatmeten.

»Wir folgen den Erben«, erwiderte Charlotte und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hosentasche – die Liste, die die Hüter über alle bekannten Erben auf der Welt zusammengestellt hatten. »Wir haben die asiatischen Erben bisher nicht gefunden. Und wenn man bedenkt, dass Wadim sich die ganze Zeit an uns gehalten hat, besteht eine gute Chance, dass er sie auch noch nicht aufgespürt hat. Das bedeutet, dass er als Nächstes in Asien suchen wird. Und das wiederum bedeutet, dass wir Simon und Nolan auch dort finden.«

»Ach, stimmt ja«, gab Ariana ironisch zurück. »Asien! Wie dumm von mir. Das ist ja nur der größte Kontinent der Welt. Es dürfte kein Problem sein, sie dort aufzuspüren.«

Winter hob Arianas Rucksack auf und drückte ihn ihr überraschend heftig in die Arme. »Sag mal, willst du die ganze Zeit so sein?«

»Arianas Frage ist durchaus berechtigt«, warf Jam diplomatisch ein. »Wir haben uns schon etwas überlegt.«

»Wir werden nach Qiang suchen«, erklärte Charlotte. »Dem asiatischen Hüter. Er ist der einzige Hüter, der noch übrig ist, abgesehen von Wadim.«

»Was weißt du über ihn?«, fragte Ariana, während sie sich endlich den Rucksack aufsetzte.

»Nicht viel«, gab Charlotte zu. Ihr Vater war der europäische Hüter gewesen, bevor Wadim ihn ermordet und seinen Platz eingenommen hatte. »Er ist der dienstälteste Hüter der fünf, aber er blieb meistens für sich. Meine Schwester und mich schien er nicht sonderlich zu mögen.«

»Also noch ein feindlicher Hüter?«, fragte Ariana, und ihr Herz wurde noch ein bisschen schwerer. Nicht, dass sie überrascht war – von den vieren, die ihnen bisher begegnet waren, war die afrikanische Hüterin Fahari die Einzige gewesen, die nicht versucht hatte, die Erben zu töten.

»Davon müssen wir wohl ausgehen«, sagte Charlotte und presste ihr Ohr an die Tür. Einen Augenblick später nickte sie. »Keiner da.«

Der Flur war glücklicherweise leer, und sie schlichen im Ameisentempo Richtung Aufzug – also alles andere als schnell. Als sie an einer Tür vorbeikamen, die einen Spalt offenstand, konnte Ariana Malcolms leise Stimme hören und auch eine Frauenstimme – Isabel Thorn, Simons und Nolans Mutter und Anführerin eben jenes Schwarms, der Ariana und ihre Freunde derzeit wie Gefangene behandelte.

»… das Vogelreich, das Säugerreich und auch das Insekten- und Arachnidenreich halten sich bereit«, sagte Isabel gerade, und Ariana erhaschte einen Blick auf ihren blonden Hinterkopf. »Aber der Reptilienrat erweist sich als schwierig, und der General wird wohl auch keinen Finger krummmachen, da sein Sohn jetzt in Sicherheit ist.«

Jam verzog das Gesicht und sagte tonlos: »War ja klar!« Der General des Unterwasserreichs war sein Vater, und er nutzte Jam gerne als Vorwand für seine Neutralität. Dabei wären Ariana aus dem Stegreif ein Dutzend Gründe eingefallen, warum es die richtige Entscheidung gewesen wäre, wenn sich der General ihrem Kampf gegen das Imperium angeschlossen hätte. Genau genommen war es sogar der einzige Schritt, den er machen konnte. Die nordamerikanischen Animox lebten nicht mehr in Isolation, und wenn Wadim und das Imperium gewannen, würden sie sich als Nächstes die fünf nordamerikanischen Reiche vornehmen.

Säße sie nicht hier fest, hätte sie sich Isabel und Malcolm längst angeschlossen. Schließlich war das ihr gutes Recht als Königin und Anführerin ihres Reichs. Und wenn der General und der Reptilienrat nicht gewillt waren, ihre Truppen zur Verfügung zu stellen, dann wusste sie genau, dass der Spionagemeister über jeden Regierungsbeamten auf dem Kontinent ein paar brisante Informationen besaß. Wenn jemand zwei Reiche erpressen konnte, in den Krieg einzutreten, dann er.

Die anderen bogen um die Ecke, und sie eilte ihnen auf leisen Sohlen nach. Dabei warf sie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete. Ihr bester Freund und gelegentlicher Leibwächter Dev lauerte normalerweise irgendwo in seiner Kakerlakengestalt, aber nach einem unglücklichen Zwischenfall gestern im Atrium, als ein junger Adler ihn versehentlich für einen Imbiss gehalten hatte, hatte er den Tag freigenommen. Zumindest hatte er das behauptet. Bei Dev konnte man nie wissen.

Endlich erreichten sie den Privataufzug des Penthouse. Während sie angespannt warteten, dass sich die Türen öffneten, zog Ariana die dunkelblauen Vorhänge am Fenster neben ihnen zu. »Was ist mit dem Schwarm?«, flüsterte sie. »Wie sollen wir an den Soldaten vorbeikommen?«

»Die sind doch alle draußen«, erwiderte Jam. »Und sie können uns nicht am helllichten Tag und vor menschlichen Zeugen angreifen. Sie können höchstens Alarm schlagen, deshalb müssen wir so schnell wie möglich ein Taxi finden. Sobald wir auf der Straße sind, sind wir im Vorteil.«

Es war nicht der überzeugendste Plan, aber sie hatten schon schlechtere gehabt, und so nickte sie. Die Fahrstuhltür klingelte, öffnete sich und – alle erstarrten. Vor ihnen stand Zia Thorn.

Obwohl es erst Mai war, trug sie T-Shirt und Shorts, ihr rotes Haar war hochgesteckt und ein Walkie-Talkie, das genauso aussah wie das von Malcolm, klemmte an ihrem Hosenbund. Ihre Augen waren geschwollen, aber trocken, und ihr riesiger Bauch stützte drei große Pizzakartons, von denen Ariana augenblicklich wünschte, sie wären noch in der Lobby.

»Hallo, Zia«, sagte Ariana, als niemand anders den Mund aufbekam. »Ist die Pizza fürs Mittagessen? Ich bin am Verhungern.«

»Ja, ist sie«, erwiderte Zia langsam und musterte sie reihum, »aber ihr seht nicht so aus, als hättet ihr vor, zum Essen zu bleiben. Wo wollt ihr hin?«

»Nirgends«, sagte Winter automatisch, aber dann merkte sie, dass ihre Rucksäcke sie verrieten, und sie schluckte. »Wir wollten nur … äh …«

»Wir wollten spazieren gehen«, sagte Jam. »Rüber zum L.A.G.E.R., um unsere Schulsachen abzuholen.«

»So, so.« Zia kniff die Augen zusammen. »Dann habe ich wohl geträumt, als Malcolm und Isabel euch eingeschärft haben, dass ihr den Sky Tower nicht verlassen dürft, schon gar nicht allein.«

Ariana war eine Meisterin der unschuldigen Gesichtsausdrücke, die anderen beherrschten diese Kunst allerdings weniger gut. Während sie beklommene Blicke wechselten, trat sie vor, um den unvermeidlichen Streit zu verhindern. »Zia, wir können nicht hierbleiben. Simon und Nolan sind irgendwo da draußen und das Imperium ist hinter ihnen her …«

»Wisst ihr, wo sie sind?«, fragte Zia. In ihrer Stimme schwang Hoffnung mit.

»Nein«, gab Ariana zu. »Aber wir haben zumindest eine grobe Vorstellung. Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir sie vielleicht noch einholen.«

»Das ist ein ziemlich großes Vielleicht«, stellte Zia fest. »Und ohne einen Erwachsenen …«

Für den Bruchteil einer Sekunde war Ariana sicher, dass Zia darauf bestehen würde, sie zu begleiten, obwohl sie kurz vor der Entbindung stand. Aber Charlotte unterbrach diesen Gedanken, bevor Zia ihn in Worte fassen konnte.

»Meine Mum kommt mit«, sagte sie, und obwohl Ariana nicht wusste, ob Charlotte die Wahrheit sagte, nickte sie bekräftigend.

»Katarina Roth«, fügte sie hinzu. »Sie ist die Anführerin der Ungezähmten. Wir treffen sie am Flughafen.«

Zias Mundwinkel zuckten, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihnen glauben sollte. »Wenn sie zum Flughafen kommt, kann sie ebenso gut hierherkommen. Dann können wir sicherstellen, dass wir alle die gleichen Vorstellungen haben.«

»Dafür ist keine Zeit, Zia!«, sagte Winter und umklammerte mit zitternden Händen ihre Handtasche. »Bitte. Wenn wir sie jetzt nicht aufspüren, kommen sie vielleicht nie mehr zurück.«

In Anbetracht von Leos kürzlichem Tod fand Ariana, dass dies etwas dick aufgetragen war. Zia schluckte mühsam, die Trauer um ihren Vater stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass es Ariana wehtat, sie anzusehen.

»Glaubt ihr wirklich, dass ihr sie finden und nach Hause bringen könnt?«, fragte sie zittrig.

»Wir müssen daran glauben«, antwortete Ariana. Und es stimmte. Sie weigerte sich, eine Zukunft zu akzeptieren, in der Simon nicht vorkam. Sie mussten ihn finden. Ihn und Nolan, bevor das Imperium sie fand.

Zia holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, wobei sie noch einmal von einem zum anderen blickte. Dann, immer noch die Pizzakartons auf ihrem Bauch balancierend, schaltete sie ihr Walkie-Talkie aus.

»Ich kann euch nicht gehen lassen«, sagte sie zu Arianas Enttäuschung. »Und da ich nicht in der Lage bin, euch aufzuhalten, muss ich Malcolm, Isabel und den Schwarm alarmieren.«

»Zia …«, begann Ariana.

»Aber«, fuhr Zia unbeirrt fort, »meine Füße tun schrecklich weh, und ich glaube, ich muss mich erst mal ein paar Minuten hinsetzen, bevor ich Alarm schlagen kann.«

Ariana brauchte einen Moment, um ihre Worte zu begreifen, dann aber schlang sie die Arme um sie und warf dabei fast die Pizzakartons zu Boden.

»Danke!«, sagte sie. »Wir werden sie finden. Alle beide. Wir bringen sie nach Hause.«

Zia umarmte sie mit ihrem freien Arm. »Danke«, flüsterte sie, und ihre Stimme war voller Trauer. »Was auch immer ihr tut, passt auf euch auf, okay? Ihr alle.«

»Machen wir«, versprach Ariana. Doch noch während sie es sagte, überkam sie ein angstvolles Kribbeln. Sie konnten noch so gut aufeinander aufpassen – das hieß nicht, dass ihnen nichts passieren würde.

Endlich verließ Zia den Aufzug, und Ariana und ihre Freunde traten hinein. »Hier«, sagte Zia und reichte ihnen den obersten Pizzakarton. »Salami.«

Zwischen den sich schließenden Fahrstuhltüren konnte Ariana sehen, wie Zia sich in einen Sessel fallen ließ, eine Pizzaschachtel öffnete und ein Stück herauszog.

Die Fahrt nach unten dauerte weniger als eine Minute, aber als sich die Fahrstuhltüren in der Lobby öffneten, war der Pizzakarton leer, und Ariana und ihre Freunde hatten einen Plan. Sie bewegten sich unbefangen, als wäre dies ein ganz normaler Schultag und sie auf dem Weg ins L.A.G.E.R., die Rucksäcke locker über die Schultern geworfen, als wären sie voll mit Büchern und Heften und nicht mit Reisegepäck. Doch wie Ariana erwartet hatte, schafften sie kaum zehn Schritte, bevor der Sicherheitsbeamte – zweifellos ein Mitglied des Schwarms – sie bemerkte.

»He!«, rief er und sprang hinter seinem Marmortisch auf. »Ihr dürft nicht hier runter!«

»Ach nein?«, gab Winter hochnäsig zurück. Und dann, gerade als der Wachmann noch nach seinem Funkgerät tastete, rannten sie los.

Innerhalb weniger Augenblicke waren Ariana und ihre Freunde durch die große Drehtür auf die sonnige Straße gestürmt, und ohne ein Wort zu wechseln, bogen alle nach links ab, auf die nächste belebte Straßenecke zu. Über ihnen hörte Ariana die empörten Schreie des Schwarms von den hohen Gebäuden widerhallen, aber sie machte sich nicht die Mühe, nach oben zu schauen. Sie mussten es nur noch bis zur Ecke schaffen und ein Taxi heranwinken. Sobald sie auf dem Weg zum Flughafen waren, wären sie sicher. Oder jedenfalls so sicher, wie man sein konnte, wenn man den ganzen Himmel gegen sich hatte.

MIIEEP.

Ein hoher Hupton ertönte nahezu in Arianas Ohr, und sie zuckte zusammen. Neben dem Bürgersteig flog die Seitentür eines Lieferwagens auf, und bevor Ariana wusste, wie ihr geschah, streckten sich mehrere Händepaare aus, um sie zu packen.

»He!«, schrie sie und versuchte, sich zu befreien. »Lasst mich los!«

Aber nicht einmal das größte Geschick kam gegen diese Kraft an. Noch dazu war sie überrascht worden. Bevor sich die ersten Köpfe auf der Straße nach ihnen umdrehten, waren sie und ihre Freunde schon in den Lieferwagen gezogen worden. Und als Ariana den Mund öffnete, um zu schreien – die Art markerschütternder Schrei, die selbst abgestumpfte New Yorker nicht ignorieren konnten –, knallte die Tür zu, der Lieferwagen brauste los, und sie wurden nach hinten geschleudert, während ihre Hilferufe im Quietschen der Reifen untergingen.

Erstes Kapitel

Ein Kaleidoskop von Schmetterlingen

Als die rubinrote Sonne über den majestätischen Bergen im Süden Chinas aufging, hätte Simon Thorn am liebsten laut geschrien.

Er und die amerikanischen Erben – sowohl die aus dem Norden als auch die aus dem Süden – waren fast vierundzwanzig Stunden ununterbrochen geflogen, mit ausgebreiteten Flügeln, von einer Strömung zur nächsten. Jeder Knochen in seinem gefiederten Körper tat weh, und er spürte jede einzelne Verletzung, die er sich in den letzten Wochen zugezogen hatte, sogar die, die er als geheilt betrachtet hatte. Aber wenigstens hielten ihn die Schmerzen wach, während sie über die üppige, vom Morgentau glitzernde Landschaft schwebten.

Sie waren schon seit Tagen unterwegs – wie viele genau, konnte Simon nicht sagen. Nachdem ein Privatjet, der angeblich dem mysteriösen X gehörte, sie vom Amazonasregenwald zu einem abgelegenen Flughafen im chinesischen Inland gebracht hatte, hatte der dunkelhaarige Junge namens Beck Roth – ihr Anführer auf dieser scheinbar endlosen Reise – darauf bestanden, dass sie alle die Gestalt von Wanderfalken annahmen, und sie waren gemeinsam losgeflogen.

Das war am Vortag um die Frühstückszeit gewesen. Jetzt, in den frühen Morgenstunden, als sich das scharlachrote Sonnenlicht über die grandiosen Berge und Felsformationen ergoss, die wie Säulen in die Luft ragten, hätte Simon viel darum gegeben, in dem verlockenden Grün landen und sich ausruhen zu können. Und nach den müden Klagen der anderen Erben zu urteilen, ging es nicht nur ihm so.

»Wenn Beck noch einmal vorschlägt, wir sollten Käfer essen«, sagte eine vertraute Stimme neben ihm, »dann rupfe ich ihm die Schwanzfedern einzeln raus, sodass er eine Woche nicht mehr sitzen kann.«

Die Wanderfalken waren optisch kaum voneinander zu unterscheiden, aber die Stimme seines Bruders hätte Simon überall erkannt. »Und ich halte ihn fest«, murmelte er mit zusammengepresstem Schnabel.

»Er wird nicht wissen, wie ihm geschieht.« Nolan lachte. Er war in den letzten Wochen Becks Verbündeter gewesen, und Simon war erleichtert, dass sein eineiiger Zwilling wohl doch nicht ganz auf die dunkle Seite gewechselt war. Oder welche Seite auch immer Beck und X im Krieg gegen das Imperium einnahmen. »Jemand muss mit ihm reden.«

»Auf dich wird er hören«, sagte Simon, doch Nolan schnaubte.

»Nein, wird er nicht. Er hält nichts von Pausen. Oder von Schlaf. Oder von anständigen Mahlzeiten, und er glaubt, jeder, der was davon hält, sei schwach. Das ist das Problem.«

Simon war eine solche Zielstrebigkeit auf erschreckende Weise vertraut – er hatte sie auch bei Sergei Wadim erlebt, dem europäischen Hüter, der das Imperium bei der Jagd und möglicherweise auch der Ermordung aller Erben weltweit anführte. Und egal, auf wessen Seite Beck angeblich stand, Simon war sich nicht sicher, ob es einen großen Unterschied zwischen ihnen gab.

Resigniert schlug er mit seinen schmerzenden Flügeln und schwang sich an die Spitze des Schwarms, wo ein einzelner Wanderfalke flog und wachsam den Blick über das Land unter ihnen schweifen ließ. Beck hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie den Amazonas verlassen hatten, und Simons Geduldsfaden war mittlerweile zum Zerreißen gespannt. Er flog, so nah er konnte, an den Leitvogel heran.

»Wir müssen uns ausruhen«, sagte er bemüht ruhig. »Alle sind erschöpft. Wenn wir nicht bald eine Pause machen …«

»Zu gefährlich«, entgegnete Beck, und seine Stimme verlor sich fast im Wind. »Das Imperium wartet nur darauf.«

»Das Imperium?«, fragte Simon alarmiert und suchte mit seinem scharfen Blick die Baumkronen ab. »Da unten?«

»Wir müssen davon ausgehen, dass sie überall sind«, sagte Beck. »Es ist auffällig genug, dass so viele Falken zusammen fliegen. Wir müssen unser Ziel so schnell wie möglich erreichen.«

Simon zog eine finstere Miene – oder versuchte es zumindest, denn sein Falkengesicht war nicht sonderlich beweglich. Andererseits sah der grau-weiße Wanderfalke schon von Natur aus so aus, als würde er finster dreinblicken. »Wie weit ist es noch?«

»Wir sind schon näher dran, als du denkst, Simon Thorn.«

Das war etwa so rätselhaft wie alles andere, was Beck bisher von sich gegeben hatte – sowohl als Leopard in der Serengeti als auch als Jaguar im Amazonas-Regenwald. Simon seufzte innerlich. »Na schön. Aber ich sage dir, die meisten von uns werden nicht mehr lange …«

In diesem Moment raste Beck ganz plötzlich auf die Baumwipfel zu, und sein Sturzflug war so präzise und sauber, dass Simon einen Moment lang nur staunend zusehen konnte. Aber als die anderen Falken seinem Beispiel folgten, schloss er sich ihnen an. Sein Herz klopfte schneller.

Sie flogen zwischen Ästen und Baumstämmen durch den grünen Wald, der sich wie ein Teppich unterhalb der Bergkette ausbreitete. Insgesamt viermal umkreisten sie die aufragenden Steinformationen, fast so, als wollten sie mögliche Verfolger abschütteln – was, wie Simon vermutete, auch genau der Zweck war. Schließlich, nach einem weiteren ermüdenden halbstündigen Zickzackflug unter dem sicheren Blätterdach, durchbrachen sie die Baumgrenze und landeten einer nach dem anderen am Fuße eines Berges. Die Bergwand war teilweise erodiert, was ihr eine einzigartige Form verlieh, die sich sofort in Simons Gedächtnis einbrannte.

»Wir sind da«, verkündete Beck, nachdem er sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt hatte. Er stand nur wenige Meter vor der steilen Felswand, die so hoch aufragte, dass Simon nicht erkennen konnte, wo sie endete. »Hier ist die Zuflucht.«

Es fühlte sich nicht wie eine Zuflucht an, jedenfalls nicht für Simon. Es fühlte sich wie der gefährlichste Ort an, an dem er je gewesen war. Während er und die anderen Erben zurückwichen, suchte er die Bergwand nach einer schützenden Höhle ab. Aber er entdeckte keinen einzigen Spalt in dem seltsam glatten Gestein.

Klar, wenn man bedachte, dass sie sich alle in winzig kleine Kreaturen verwandeln konnten, konnte es sehr wohl eine Öffnung geben, die nicht sichtbar war. Simon wartete darauf, dass Beck sie weiterführte, aber das geschah nicht. Sie standen alle zusammen unter dem wolkenlosen Morgenhimmel, der jetzt strahlend blau war, und Beck saß seelenruhig im Gras, den Kopf in den Nacken gelegt, den Blick nach oben gerichtet, und wartete.

»Bist du sicher, dass das der richtige Berg ist?«, scherzte Delfina, eine Erbin vom Amazonas, die noch erschöpfter aussah, als Simon sich fühlte. Kein Wunder, schließlich hatte sie nur knapp eine Vergiftung überlebt, die mehrere Mitglieder ihres Stammes getötet hatte, und obwohl sie den größten Teil der Reise über den Ozean geschlafen hatte, bezweifelte Simon, dass dies gereicht hatte, um sie voll wiederherzustellen.

»Geduld«, sagte Beck nur, den Blick noch immer nach oben gerichtet. Einer nach dem anderen verstummte, legte den Kopf in den Nacken und spähte nach einem Anzeichen von … tja, Simon wusste es selbst nicht. Aber seine Gedanken waren vor Müdigkeit benebelt, und er brachte nicht mal mehr Neugier auf. Alles, was er wollte, war ein Nickerchen. Ein langes, erholsames Nickerchen in seinem Bett im Sky Tower in New York, bei seiner Mutter, seinem Onkel und Leo …

Er kappte diesen Gedanken, bevor er ihn zu Ende denken konnte. Es würde nichts Gutes dabei herauskommen, und er war ohnehin schon wie betäubt vor Kummer. Der Rest – das Was-wäre-Wenn, die Selbstquälerei, die endlosen Schuldgefühle, von denen er wusste, dass er sie nie würde abschütteln können – konnte warten.

Sei mutig.

Die letzten Worte seines Großvaters wehten durch sein Bewusstsein, nicht hörbar, sondern eher wie ein greifbares Gefühl – als wären die Silben Formen, die er fassen und betasten und in denen er versinken konnte, obwohl er zugleich vor ihnen zurückschreckte. Sein Mut hatte ihn nicht weitergebracht. Im Gegenteil, er hatte ihn verraten und ihm die Menschen genommen, die er am meisten liebte. Und nach zehrenden Wochen in einem Krieg, der nie der seine gewesen war, hatte er es einfach nur satt.

Hinter ihm schnappte eine Erbin überrascht nach Luft, und Simon drehte sich um. Er konnte nichts Merkwürdiges entdecken, doch dem Mädchen stand der Mund offen, und es starrte mit geweiteten Augen nach oben. Als Simon einen Schritt zurücktrat und seinem Blick folgte, sah er es auch.

Für Simons müden Geist war es eine Wolke aus Farben. Jeder Farbton des Regenbogens vereinte sich zu einer Form, die sich wie eine Einheit in einem undeutbaren Muster auf- und abbewegte, während sie den Berg hinunterflatterte. Erst im Näherkommen erkannte Simon, dass es sich bei den Farbtupfern um Lebewesen handelte.

Um Schmetterlinge – Hunderte von Schmetterlingen in allen erdenklichen Farben, die die Steilwand hinabflogen und direkt auf sie zukamen.

Sie landeten ohne eine Spur von Angst, und ihre hauchzarten Flügel streiften die menschliche Haut der Erben. Ein leuchtend blauer Schmetterling war der erste, der sich auf Simons ausgestreckter Hand niederließ, und er spürte das Kitzeln eines Monarchfalters an seiner Wange. Ein paar Schritte weiter sah Nolan mit offenem Mund zu, wie über ein Dutzend Schmetterlinge auf ihm landeten – auf seinem Haar, seinen Schultern, seinen Armen, sogar auf seinen Beinen und Füßen –, und Simon wusste, dass er genauso aussehen musste. Sie alle waren von Schmetterlingen bedeckt, und einige der Amazonas-Erben lachten hell auf. Nach den anstrengenden Reisetagen konnten sie eine Aufmunterung gebrauchen.

Doch hinter der Farbexplosion erkannte Simon etwas anderes, das sich auf sie zubewegte – etwas, das eben noch nicht da gewesen war.

Einen Tiger.

Simon erstarrte, und mit einem Mal flatterten die Schmetterlinge, die auf ihm saßen, in die Höhe, sodass er der massigen Katze direkt gegenüberstand. Ihre Augen fixierten die seinen, und für einen langen Moment bewegte sich keiner von ihnen. Sie starrten sich einfach nur an, kaum zehn Schritte voneinander entfernt. Und Simon wusste ohne jeden Zweifel, dass dies X war.

»Sie«, platzte er heraus, furchtlos vor Erschöpfung. »Sie haben den Raubstein gestohlen. Sie haben die Erben entführt …«

»Ich glaube, du wirst feststellen«, unterbrach ihn Beck, »dass hier niemand gegen seinen Willen entführt wurde.«

Simon runzelte die Stirn, und nach und nach verschwanden die bunten Schmetterlinge und ihre zarten Körper wurden durch Menschen ersetzt – durch Erben. Einige Gesichter erkannte Simon wieder, von den Kämpfen in Australien und Afrika. Andere – die meisten – waren ihm fremd.

Die asiatischen Erben.

Als er sich in der wachsenden Menge umsah, wurde ihm schwindelig. Es mussten über hundert asiatische Erben aus allen Teilen des Kontinents sein, alle etwa im gleichen Alter wie sein Bruder und er. Einige beäugten ihn und die Amazonas-Erben misstrauisch, andere strahlten die Neuankömmlinge an und freuten sich sichtlich über den Zuwachs.

»Herzlich willkommen!«, zwitscherte ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und herzförmigem Gesicht. Sie hüpfte auf ihren Fußballen auf Simon zu, als würde sie schweben. »Ich bin Vy, und du musst Simon Thorn sein. Wir haben schon so viel gehört von dir …«

»Simon!«

Ein Freudenschrei hallte vom Berg wider, und Simon wirbelte herum und sah ein dunkelhaariges Mädchen auf ihn zustürzen. Es umarmte ihn so fest, dass er keuchen musste, und obwohl eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper wogte, erwiderte er die Umarmung.

»Suki!«, sagte er etwas atemlos. »Du bist hier! Wie bist du …«

»Toll, was?«, fragte sie, als sie ihre Umarmung lockerte. »Ich kann zwar nicht behaupten, dass es besonders witzig war, einen Dingo in unserem Motelzimmer anzutreffen, aber …«

»… wir haben’s überlebt«, schloss ein australischer Junge mit sonnengebleichten Strähnen im Haar, und Simon konnte nicht anders, er grinste, trotz … na ja, trotz allem.

»Kai!«, rief er, und seine Freude war nicht zu überhören. Kai Soren hatte ihn in Australien gerettet, als Wadim ihn mit dem tödlichen Gift eines Blauring-Oktopusses vergiftet hatte, und Simon verdankte ihm sein Leben. »Wir dachten, … weil der Raubstein die Fähigkeiten der anderen lahmgelegt hat, dass …«

»Wir brauchten einen Moment, um mit Suki und Kai allein zu sprechen«, meldete sich Beck zu Wort und trat mit dem Tiger näher. »Da du und deine Freunde so nah wart, war das die einzige Möglichkeit, uns genug Zeit zu verschaffen. Wir mussten sie überzeugen, dass wir nicht ihre Feinde sind.«

Simon drehte sich zu ihm um, und seine Freude über das unverhoffte Wiedersehen mit Suki und Kai wurde durch eiskalte Wut ersetzt. »Ihr habt uns belogen«, zischte er. »Du und X, ihr habt meine Freunde und mich benutzt. Ihr habt uns auf eine wilde Verfolgungsjagd geschickt, die uns fast das Leben gekostet hätte, und … und mein Großvater …« Seine Kehle schnürte sich zu, und er zwang sich, tief durchzuatmen.

»Leo?«, fragte Suki und riss die Augen auf. »Was ist mit ihm? Es geht ihm doch gut, oder?«

Simon schüttelte den Kopf. »Es ist seine Schuld«, stieß er hervor und zeigte auf Beck. »Wäre er offen zu uns gewesen, wäre es vielleicht anders gekommen …«

»Nicht nur dein Leben stand auf dem Spiel, Simon Thorn«, entgegnete Beck neben dem stummen Tiger. »Wir haben getan, was wir tun mussten, um die Erben zu retten.«

»Das macht dich nicht zu einem Helden«, fuhr Simon ihn an. »Du hast unzählige Tiere sterben lassen. Und du hast meine Freunde und meine Familie in einen Kampf geschickt, von dem du wusstest, dass sie ihn nicht gewinnen konnten!«

»Wir haben sie nicht dazu aufgefordert«, gab Beck zurück. »Du hast sie mitgebracht.«

Drückende Stille erfüllte die Luft, und für den Bruchteil einer Sekunde sah Simon nur noch ein weißes Flimmern, als seine Wut alles andere überlagerte. Seine Finger verwandelten sich in Krallen, und einzig die feste Hand, die sich plötzlich um seinen Ellbogen legte, hielt ihn zurück. Nicht physisch, natürlich – schließlich konnte er sich in jedes beliebige Tier verwandeln –, aber es war ein Appell an das bisschen Vernunft, das er noch hatte.

Als das weiße Flimmern nachließ, atmete er geräuschvoll aus. Sein Bruder umklammerte seinen Arm, als ginge es um sein Leben. »Simon«, knurrte Nolan. »Du bringst uns noch um.«

Simon blinzelte. Überall um sie herum standen Erben und beobachteten sie, einige mit interessierten, neugierigen Gesichtern, andere jedoch – vor allem die asiatischen Erben – hatten die Schultern vorgebeugt und die Fäuste geballt, eindeutig kampfbereit.

Er schluckte mühsam. »Wer sind Sie?«, fragte er den Tiger. »Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.«

»Im Gegenteil«, sagte Beck, jetzt ruhiger, als hätte er gemerkt, wie sehr seine Worte Simon getroffen hatten. »Du hast uns auf Schritt und Tritt Steine in den Weg gelegt. Manchmal warst du für uns ein ebenso großer Gegner wie Wadim. Du hast überhaupt kein Recht.«

»Puh, hart«, murmelte Kai, aber Simon hörte nicht hin. Wütend riss er seinen Arm aus dem Griff seines Bruders, und die drei Nahtreihen an seinem Bizeps zogen schmerzhaft an seiner Haut. Er unterdrückte ein Stöhnen, und seine Sicht verschwamm vor lauter zurückgehaltenen Tränen, als er den Tiger weiter anstarrte.

»Wer sind Sie?«

Der Tiger starrte unbewegt zurück, mehr Statue als ein lebendiges, atmendes Wesen. Statt zu antworten, neigte er den Kopf wie zum Zeichen seiner Anerkennung, und dann wurde sein orange-weißer Katzenkörper durch einen schwarz schimmernden Schmetterling ersetzt. Unter Simons wütendem Blick flatterte er gen Himmel und verschwand spurlos im Berg.

Zweites Kapitel

Erbenspiele

Wer war X?

Diese Frage verfolgte Simon schon seit Wochen, aber jetzt, während die Erben am Fuß des Berges durcheinanderwuselten und sich einander vorstellten, konnte er an nichts anderes mehr denken. Sie schien ungeheuer wichtig zu sein, die wichtigste Frage der Welt, obwohl Simon wusste, dass X, wer auch immer es war, nichts daran ändern würde, dass das Imperium kommen würde, um sie alle zu töten.

Das Stimmengewirr wurde lauter, eine Vielzahl von Sprachen mischte sich, und eine Reihe von Erben beäugte ihn neugierig. Aber bevor ihn jemand direkt ansprach, forderte Beck ihre Aufmerksamkeit. Wieder einmal verlangte er von ihnen, sich in Vögel zu verwandeln – diesmal in schwarze Haubenmainas –, und wie eine dunkle Welle glitten sie die steile Felswand empor und schienen im Berg zu verschwinden, genau wie kurz zuvor X.

Nur Simon rührte sich nicht von der Stelle. Er wusste selbst nicht, ob es an seiner Wut auf Beck lag oder an etwas anderem. Vielleicht an der Ahnung, dass er sich durch seine Anwesenheit, durch seine Beteiligung an X’ Plänen mitschuldig machte an dem, was als Nächstes geschah. Es machte ihn zu einem Teil von X’ Armee, und Simon gefiel die Vorstellung überhaupt nicht, die Befehle eines anderen auszuführen – insbesondere von jemandem, dessen Namen er nicht kannte. Und dessen Beweggründe er nicht einmal ansatzweise erahnte.

»Wer ist er?«, fragte Simon seinen Bruder, der neben ihm stehen geblieben war, während weitere Erben den Berg hinaufflogen.

Nolan warf ihm einen spöttischen Seitenblick zu. »Ist der große Simon Thorn doch nicht allwissend?«

Vermutlich lag es an der Erschöpfung, aber diese kleine Stichelei – die Simon zu Hause einfach übergangen hätte – fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. »Leo ist tot«, fauchte er. »Verstehst du das nicht? Das ist kein Spiel!«

»Ich habe auch nicht gespielt«, entgegnete Nolan und sah ihn scharf an. »Ich war damit beschäftigt, die Erben zu retten, falls du es vergessen hast.«

»Du hast mich glauben lassen, du würdest für Wadim arbeiten!«, sagte Simon wütend. »In Australien, in Afrika – du warst mit ihm unterwegs und hast Erben zusammengetrieben …«

»Ich habe die Erben für Beck und X zusammengetrieben«, knurrte Nolan. »Bist du etwa sauer, weil ausnahmsweise mal ich etwas Wichtiges getan habe, während du …«

Er unterbrach sich, als wolle er diesen Gedanken lieber nicht zu Ende führen, und Simon fühlte sich plötzlich ganz hölzern und steif, als hätte sein Körper Wurzeln geschlagen. »Während ich was?«, fragte er. »Während ich was, Nolan?«

»Während du uns im Weg gestanden hast«, sagte sein Zwilling, und seine Worte waren wie Säure. »Du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, mir zuzuhören. Du hast so getan, als wüsstest du es besser, als wäre ich euer Feind …«

»Du hast mit Wadim und den Hütern zusammengearbeitet!«

»Siehst du?«, schrie Nolan so laut, dass sich die übrigen Erben mit großen Vogelaugen zu ihnen umdrehten. »Genau das meine ich! Dir ist egal, dass ich euch in Australien und in Afrika geholfen und dir am Amazonas den Hintern gerettet habe. Du kanntest nicht alle Details, also hast du voreilige Schlüsse gezogen, so wie immer, und plötzlich bin ich der Bösewicht, obwohl du der Grund bist, warum Leo überhaupt dort war …«

Simon hätte nicht sagen können, wie Nolan und er auf dem Boden gelandet waren, aber ihre Fäuste hämmerten aufeinander ein und ihre Arme und Beine bildeten ein einziges Durcheinander. Obwohl er sich weder an die letzten Sekunden erinnern konnte noch daran, wer den ersten Schritt getan hatte, war er doch ziemlich sicher, dass er es gewesen war. Nolan und er hatten sich schon oft gestritten – eigentlich stritten sie ständig. Aber das hier fühlte sich anders an. Wie etwas, das keiner von ihnen zurücknehmen konnte, und als Kai ihn von seinem Bruder herunterzog, war Simon völlig außer Atem und sein Inneres brannte vor Frust und Selbstverachtung. Denn natürlich hatte Nolan recht. Natürlich war das alles seine Schuld. Und jetzt musste er damit leben.

Suki half Nolan aus dem Gras, und er wischte sich die Erde von den heilenden Krallenspuren auf seiner Wange. Seine blauen Augen blitzten. »Geh nach Hause, Simon«, sagte er verächtlich. »Du willst doch sowieso nicht hier sein, und wir brauchen dich nicht. Wir haben dich nie gebraucht. Ich habe dich nie gebraucht.«

Das war nichts Neues – Nolan hatte das, wenn auch mit anderen Worten, im letzten Monat mehrmals gesagt, aber das machte es nicht weniger schmerzhaft. »Ich bin nicht deinetwegen hier«, entgegnete Simon kalt.

»Warum dann?«, fragte Nolan. »Um zu beweisen, dass du es besser weißt als die anderen? Um zu zeigen, was ein echter Erbe ist?«

In diesem Moment hatte Simon keine gute Antwort für seinen Bruder – nur eisige, unnachgiebige Wut. Er war hier, weil die einzige Alternative war, nichts zu tun. Und so verängstigt und erschöpft er auch war, das war keine Option. Nicht, seit Charlotte Roth aufgetaucht war und ihn angefleht hatte, ihr bei der Suche nach ihrer vermissten Schwester zu helfen.

Aber er fand weder die Worte, das zu sagen, noch die Energie, um weiterzusprechen. Und so verwandelte er sich mit einem entschuldigenden Blick zu Kai in einen Haubenmaina, schloss sich der nächsten Welle an, die den Berg hinaufflog, und ließ seinen Bruder stehen. Sie waren auch am Amazonas nicht gerade ein Herz und eine Seele gewesen, aber nach allem, was ihre Familie durchgemacht hatte, hatte Simon doch gehofft – sogar angenommen –, dass sie von nun an im selben Team waren. Offenbar hatte er sich geirrt.

An der Spitze der steilen Felswand befand sich in einem Winkel, der vom Boden aus nicht zu sehen war, eine klaffende Höhle, mindestens zwanzig Meter breit und etwa dreimal so tief. Sie öffnete sich direkt in den Berg, und zwischen dem Höhlenboden und dem steil abfallenden Felsen darunter gab es keine Abgrenzung. Nur Luft und – für jeden, der sich keine Flügel wachsen lassen konnte – den sicheren Tod.

Die Wände bestanden aus natürlichem Gestein, waren aber glatt geschliffen, sodass die Höhle wie von Menschenhand gemacht aussah, und Simon fröstelte in der klammen Luft, als er wieder seine menschliche Gestalt annahm. Von dem Tiger oder dem schwarzen Schmetterling war nichts mehr zu sehen – nur etwa zweihundert Erben, die miteinander herumalberten und alle gleichzeitig zu reden schienen. Auch eine Vielzahl von Vögeln trieb sich hier herum, einige saßen sogar auf den Köpfen oder Schultern von Erben, und außerdem entdeckte Simon ein paar flauschige goldene Äffchen. Er hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, die Felswand hinaufzuklettern, aber zumindest war es beruhigend zu wissen, dass sich die Tiere hier sicher fühlten.

Mit Flügelflattern und Federrauschen tauchten die letzten Nachzügler von unten auf. Während sich einer nach dem anderen zurückverwandelte – auch Kai, Suki und Beck –, hörte Simon ein paar Jungen am anderen Ende der Gruppe kichern. Als er sich umdrehte, um zu schauen, was los war, sah er Nolan mit rotem Gesicht und verzerrter Miene tiefer in den Schatten der Höhle schleichen.

Recht so. Wenn Simon schon unglücklich sein musste, dann war es sein Bruder wenigstens auch.

»Erben!«, rief Beck, der mit seinen fünfzehn Jahren fast einen Kopf größer war als die meisten anderen und in der Menge nicht zu übersehen war. »Ich möchte euch allen etwas sagen. Bitte findet eure Übersetzer.«

Zu Simons Überraschung unterbrachen die meisten Erben sofort ihre Gespräche und teilten sich in Gruppen auf, die sich offenbar nach ihrer Muttersprache richteten. Es gab jeweils mindestens sechs Gruppen von afrikanischen und asiatischen Erben, und nach einer kurzen Diskussion versammelten sich die Erben vom Amazonas um Delfina, die sich erwartungsvoll zu Beck gedreht hatte.

»Er schwingt gern große Reden«, raunte Suki Simon ins Ohr. »Ein ganz schöner Schwätzer.«

Simon brachte ein kleines Lächeln zustande, obwohl er es nicht besonders komisch fand. »Spricht X nie?«, flüsterte er. »Der Tiger, meine ich?«

Suki schüttelte den Kopf. »Ich habe noch keinen Piep von ihm gehört. Und auch sonst scheint niemand etwas über ihn zu wissen«, fügte sie hinzu, bevor Simon fragen konnte. »Was auch immer seine Geschichte ist, er überlässt Beck das Reden.«

»Und das Rumkommandieren«, bemerkte Kai auf Simons anderer Seite. »Wir haben einen richtigen Stundenplan!«

»Herzlich willkommen«, begann Beck mit hallender Stimme. Er hielt inne, und ein Gemurmel erhob sich, als diejenigen, die Englisch verstanden, seine Worte in ihrer Muttersprache wiederholten. »Mein Name ist Beck. Ich danke euch, dass ihr euch auf den Weg gemacht habt, um euch uns anzuschließen, und ich werde euch nicht länger auf die Folter spannen. Es gibt nur einen Grund, warum ihr hier seid – einen Grund, warum wir alle hier sind: um das Imperium zu besiegen und die Bedrohung auszulöschen, die über uns allen schwebt.«

Als er innehielt, um auf die Übersetzer zu warten, erhaschte Simon einen Blick auf ein Mädchen, das allein an der Höhlenwand stand und ein Notizbuch an die Brust drückte. Sie sah jung aus – etwa zwei Jahre jünger als Simon –, und ihr dunkles Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern. Ihre Augen leuchteten selbst aus der Ferne in einem kräftigen Grün, und sie hatte etwas seltsam Vertrautes an sich, das Simon nicht einordnen konnte. Während Beck die Regeln in der Zuflucht erklärte und was sie taten, um sich auf den bevorstehenden Krieg vorzubereiten – tägliches Training und Patrouillen, Zweikämpfe, Gruppenarbeiten, um die effektivsten Tierformen und Verteidigungsstrategien zu finden –, konnte Simon den Blick nicht von ihr lösen. Doch erst als Beck zufällig in ihre Richtung sah und das Mädchen ihm ein kurzes, komplizenhaftes Lächeln zuwarf, setzte Simon die Puzzleteile zusammen.

Unmöglich.

Ohne nachzudenken, ließ er Suki und Kai stehen und schlängelte sich durch die anderen Erben auf das Mädchen zu. Er wagte es nicht, den Blick von ihr abzuwenden, als könnte sie sich in Luft auflösen, wenn er auch nur blinzelte. Entschuldigungen murmelnd drängte er sich mit rasendem Puls durch die Menge.

Das war unmöglich. Unmöglich.

Doch je näher er kam, desto größer wurde seine Gewissheit. Die Haare, die Augen, die Form ihrer Nase und ihres Kinns … Simon war ganz sicher nicht der aufmerksamste Beobachter menschlicher Gesichtszüge, aber jetzt, da er vor ihr stand, hatte er keinen Zweifel.

»Emilia?«