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Der Tote von Binz.
Bei Arbeiten an der Seebrücke in Binz wird eine männliche Leiche entdeckt, die mit einer Ankerkette an einem Pfeiler befestigt wurde. Hauptkommissarin Romy Beccare steht vor einem Rätsel. Erst als die Identität des Toten geklärt ist, kommt sie einen Schritt weiter. Marek Liberth ist durch kleinere Drogendelikte aufgefallen; in seiner letzten Firma, einem Zulieferer für Werften, ist er entlassen worden. Doch gerade diese Firma weckt Romys Interesse. Dort laufen die Geschäfte so gut, dass es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint ...
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Seitenzahl: 448
Der Tote von Binz.
Bei Arbeiten an der Seebrücke in Binz wird eine männlichen Leiche entdeckt, die mit einer Ankerkette an einem Pfeiler befestigt wurde. Hauptkommissarin Romy Beccare steht vor einem Rätsel. Erst als die Identität des Toten geklärt ist, kommt sie einen Schritt weiter. Marek Liberth ist durch kleinere Drogendelikte aufgefallen; in seiner letzten Firma, einem Zulieferer für Werften, ist er entlassen worden. Doch gerade diese Firma weckt Romys Interesse. Dort laufen die Geschäfte so gut, dass es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint.
Über Katharina Peters
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.
Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord«, »Fischermord« und »Schiffsmord« lieferbar.
Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung«, »Toteneis« und »Abgrund« lieferbar.
Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge« und »Todesklippe« lieferbar.
Zuletzt erschien von ihr: »Bornholmer Schatten«.
Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com
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Katharina Peters
Ankermord
Ein Rügen-Krimi
Inhaltsübersicht
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Impressum
Es war ein feuchtkalter Herbstmorgen, tiefgraue Wolken hingen schwer über dem Wasser, der Wind blies ordentlich. Keine halbe Stunde, dann gießt es hier wie aus Eimern, dachte Piet, und ein Lachen flog über sein Gesicht. Das machte ihm nichts aus – ganz im Gegenteil: Schmuddelwetter bedeutete, dass wenige Menschen unterwegs waren, nur die hartgesottenen oder die, denen keine Wahl blieb.
Piet zog den Reißverschluss seiner derben Arbeitsjacke bis unters Kinn und die Mütze tief ins Gesicht – eine dunkelblaue Schirmmütze, ein altes Erbstück von seinem Großvater mit einem aufgedruckten Emblem der DLRG, die er bei jeder Witterung trug und insbesondere dann, wenn er einen Ausflug auf die Brücke unternahm. Er schob die Hände in die Seitentaschen und betrat die Brücke. Dreihundertsiebzig Meter maß die Binzer Seebrücke, nach Sellin die zweitgrößte auf der Insel. Ein stolzer schöner Bau mit einer langen und dramatischen Geschichte, die Piet auswendig hersagen konnte. Sein Urururgroßvater war seinerzeit als junger Zimmermann beim ersten Seebrücken-Bau aus Holz im Jahre 1902 dabei gewesen. Ein fünfhundertsechzig Meter langes Bauwerk war entstanden, um das Anlegen größerer Schiffe zu ermöglichen und den Inselbesuchern, die per Schiff eintrafen, den Landgang zu vereinfachen. Das schmucke Bauwerk wurde nur gut zwei Jahre später bei einem Sturmhochwasser zerstört. Der Neubau erfolgte 1906 und erhielt vier Jahre später den, wie Piet fand, ziemlich hochnäsigen Namen »Prinz-Heinrich-Brücke«.
Das nächste Unglück ließ leider nicht lange auf sich warten – im Juli 1912 kamen siebzehn Menschen ums Leben, als beim Anlegen eines Dampfers ein Balkon unter der Last der zahlreichen Besucher brach und Dutzende von Menschen ins Wasser riss. Wenig später wurde als Konsequenz aus diesem Unglück die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft gegründet, und Piets Urahn war einer der Ersten, der sich ausbilden ließ. Davon gab es sogar noch Fotos, wie Piet sich erinnerte – natürlich in Schwarz-Weiß und nach mehr als hundert Jahren arg verblichen. Während er leicht gebückt gegen den Wind voranschritt, nahm er sich fest vor – zum wiederholten Male, wie er schief lächelnd feststellte –, die Aufnahmen zu scannen und in einer App zu speichern, bevor sie gänzlich vom Licht zerfressen waren und kaum mehr als eine verschwommene Ahnung zuließen. Es wäre schade um die alten Bilder; auch dieser Gedanke war alles andere als neu.
Die Seebrücken verloren verkehrstechnisch zunehmend an Bedeutung, als der Rügendamm in den späten 1930er Jahren eröffnet wurde und der Ausbau des Straßennetzes auf der Insel voranging, spulte er sein Wissen weiter herunter. Aber Touristen erfreuten sich weiter an ihr, Ausflugsschiffe steuerten sie an, und Menschen wie Piet hingen Erinnerungen nach. 1942 war das Bauwerk schließlich eingestürzt – der Zahn der Zeit hatte ihr den Garaus gemacht. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis der Neubau geplant und die Seebrücke schließlich am 21.Mai 1994 eingeweiht wurde. Piets Vater hatte vor gut zwanzig Jahren zu den Arbeitern gehört. Nun war das Prachtstück drei Meter breit, diente als Anlegestelle für Ausflugsschiffe, die Wassertiefe betrug am Brückenkopf etwa vier Meter, und jedes Jahr fand hier das Brückenfest mit Höhenfeuerwerk statt.
Als Piet am Brückenkopf angelangt war, blickte er hinaus auf die aufgewühlte See. Eines Tages werde ich einen Sohn haben und ihm die ganze Brückengeschichte erzählen. Oder einer Tochter. Er atmete tief durch und lächelte zufrieden. Bis dahin würde aber wohl noch etwas Zeit vergehen, bislang war ja nicht einmal eine Frau in Sicht, von Familienplanung ganz zu schweigen. Er wandte sich um und schaute auf den ein paar Meter tiefer gelegten Schiffsanleger, der zurzeit abgesperrt war – dort fanden Sanierungsarbeiten statt, was bei den Wetterverhältnissen sicher kein Zuckerschlecken war. Zwei Arbeiter in Regenklamotten stellten ihre Arbeitsgeräte und Werkzeuge unter einer Plane bereit, einer von ihnen blickte unschlüssig nach oben und musterte mit skeptischer Miene die dichte Wolkendecke, der andere steckte sich mit eingezogenem Kopf eine Zigarette an, ein Dritter machte sich bereits am Treppenabgang zu schaffen. Wie es aussah, würde das Seitengeländer einen frischen Anstrich bekommen. Piet winkte. Der rauchende Arbeiter hob die Hand zu einem flüchtigen Gruß.
Der Mann an der Treppe fluchte leise, als Piet sich auf den Rückweg machen wollte. Er blieb stehen und reckte den Hals.
»Was ist los?«, fragte der Typ mit der Kippe, schnippte seine Zigarette ins Wasser, blies den letzten Rauch stoßweise aus und schlenderte näher.
»Hier ist eine Ankerkette an einem Pfeiler befestigt, knapp unterhalb der Wasserkante.«
»Na und?« Der Raucher zuckte mit den Achseln. »Ich schätze, sie stammt von einem Boot …«
»Ach ja? Schlaumeier. Aber da gehört sie nicht hin – denk mal drüber nach. Außerdem lässt sie sich nicht lösen, und wir müssen später auch noch da unten ran, um die Eisenträger zu kontrollieren.« Er winkte unwillig ab. Offenbar hatte er keine Lust mehr auf langatmige Erklärungen, dachte Piet. »Gib mir mal den Schneidbrenner.«
Piet beugte sich noch tiefer hinunter, während die Arbeiter sich an dem Pfeiler unterhalb der Treppe zu schaffen machten. Die Heizflamme glühte grell auf, ein leises Zischen ertönte. Schließlich hielt der Mann die Kette in den Händen. Plötzlich machte er ein verwundertes Gesicht. »Die klemmt noch irgendwo fest«, meinte er, während er daran zog.
»Vielleicht hängt der Anker …«
»In vier Metern Tiefe im Boden?«
»Warum nicht?«
»Direkt am Anleger? Wieso das denn?«
»Was geht uns das an, wo die Leute ihren Anker werfen? Oder wo sich die Kette verknotet hat?« Der Raucher zuckte mit den Achseln. »Wirf sie doch einfach ins Wasser. Ende der Geschichte. Hauptsache …«
Der Raucher war offensichtlich nicht scharf auf Störungen des normalen Arbeitsablaufs, überlegte Piet, während der Mann mit dem Schneidbrenner einen Moment unschlüssig stehen blieb. »Helft mir mal«, sagte er schließlich. »Wir ziehen das Teil hoch.«
Der Raucher blies die Wangen auf, gesellte sich dann jedoch zu dem tatkräftigen Kollegen. Zu dritt packten sie die Kette und zogen mit vereinten Kräften. Der Raucher wurde langsam rotgesichtig, die beiden anderen hielten sich wacker. Schließlich gab es einen Ruck, die Kette gab nach, und der Raucher fiel auf seinen Hintern. Er fluchte leise, während die Kollegen laut lachten und Piet sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Momente später kräuselte sich die Wasseroberfläche, und es drang etwas nach oben. Die drei Arbeiter erstarrten. Piet runzelte die Stirn. Plötzlich weiteten sich seine Augen.
»Scheiße«, flüsterte der Mann mit dem Schneidbrenner.
Eine Leiche, dachte Piet. Da hing eine Leiche an der Kette.
Romy hatte drei Tage beim Landeskriminalamt in Schwerin verbracht. Ihrer Ansicht nach hätte auch ein Tag gereicht, um sich als leitende Hauptkommissarin auf Rügen gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen landesweiten Dienststellen mit neuen Fahndungsmethoden und aktuellen Erkenntnissen zur Drogenkriminalität zu beschäftigen. Doch Jan war anderer Ansicht gewesen und hatte sich nicht von ihr überzeugen lassen. Da er nicht nur ihr Ehemann – dem sie leicht und forsch hätte widersprechen können –, sondern auch als Leiter des Kriminalkommissariats Stralsund ihr Vorgesetzter war, hatte sie schließlich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen müssen. Seminaratmosphäre war so gar nicht ihre Welt, und sie zählte die Tage und Stunden herunter, bis sie sich wieder auf den Weg machen konnte.
Während der Rückfahrt herrschte unfreundliches Wetter – der Herbst hielt mit stürmischen Winden und Regen Einzug. Sie war dennoch bester Dinge und freute sich auf die Insel. Ihr letzter großer Fall hatte mitten in der Hochsaison für Aufsehen und viel Wirbel gesorgt und beschäftigte immer noch Beamte aus mehreren Behörden, die die Staatsanwaltschaft bei der Vorbereitung der Prozesse unterstützten. Das Team Rügen-Stralsund hatte sich gut geschlagen und eine Auszeit oder zumindest eine Verschnaufpause verdient, fand Romy. Max freute sich, in aller Ruhe seine Datenbanken zu sichten, neue Programme zu testen und seine fachspezifischen Kenntnisse zu ergänzen. In Kürze stand eine Software-Schulung des Teams auf dem Programm.
Kurz vor Stralsund vibrierte ihr Handy, und Jans Konterfei erhellte das Display. Romy aktivierte die Lautsprecherfunktion. »Gib es zu, du kannst es kaum abwarten, mich wiederzusehen!«, rief sie fröhlich.
»Das würde ich glatt unterschreiben«, erwiderte Jan, dann räusperte er sich leise. »Allerdings …«
Romy runzelte die Stirn. »Was ist los?«
»Wo genau bist du?«
»Wenige Kilometer vor Stralsund.«
»Dann komm doch bitte in der Dienststelle vorbei, und wir fahren gemeinsam auf die Insel. Es gibt Arbeit.«
Soweit zum Thema Auszeit. »Schlimm?«
»Ja. Bei Arbeiten an der Binzer Seebrücke ist eine Leiche entdeckt worden, genauer gesagt eine Wasserleiche. Kein schöner Anblick, wenn ich es richtig verstanden habe. Rechtsmedizin und Kriminaltechnik sind bereits auf dem Weg. Mehr weiß ich selbst noch nicht.«
Wasserleichen waren selten ein schöner Anblick, dachte Romy und gab Gas. »Okay, ich beeile mich.«
Brücke und Strand waren weiträumig abgesperrt, als Romy und Jan eine Dreiviertelstunde später eintrafen. Polizeiwagen und andere Behördenfahrzeuge blockierten die Zufahrt. Romy erkannte von Weitem Marco Buhl und seine Leute von der Kriminaltechnik, die am Brückenkopf beschäftigt waren, mehrere Männer in Arbeitskleidung sowie uniformierte Polizisten von der Dienststelle in Binz.
»Ich spreche erst mal mit den Kollegen«, sagte Jan leise und legte Romy kurz eine Hand auf die Schulter.
Sie nickte. »Und ich frage Buhl, ob er schon was sagen kann.«
»Okay.«
Romy hatte selten ein Problem mit dem Anblick von Leichen. Allerdings veränderte sich der menschliche Körper nach dem Tod im Wasser auf frappierende, manchmal schockierende Weise, je nach Länge und anderen Bedingungen des Aufenthalts. Sie blendete die Bilder aus, die ungefragt in ihr hochstiegen, und lief mit forschen Schritten über die Brücke. Der Wind zerzauste ihre Locken.
Buhl sah ihr entgegen, hob eine Hand und wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Der Rechtsmediziner untersucht ihn gerade«, meinte er nach denkbar knapper Begrüßung.
»Ihn? Es ist also ein Mann.«
»Kannst du von ausgehen.«
Romy beugte sich über das Geländer am tiefergelegten Schiffsanleger. Der Leichnam war ausgebreitet auf einer Folie drapiert. Daneben hockte eine Gestalt in weißer Schutzkleidung, stumm in den Anblick des Toten vertieft. Aufgequollene bläulich-weiße Haut, zerfetzte Kleidung, Fresswunden insbesondere in Gesicht und an den Händen, seine Körpermitte wirkte ausgedünnt. Ein Fuß fehlte, am zweiten waren noch Reste eines Schuhs zu erkennen. Romy atmete tief durch. Ein flaues Gefühl stieg in ihr auf. Sie schob es rasch beiseite.
»Unschwer zu erkennen, dass sich die Fische überall bedient haben«, meinte Buhl trocken. »Und es war die hungrige Sorte.«
Romy hob nur kurz eine Braue. Sie war seinen Humor genauso gewohnt wie seine manchmal ruppige und häufig introvertierte Art – andere würden behaupten, dass er abweisend und maulfaul war. »Und sonst so?«
»Die Leiche war mithilfe einer Ankerkette am Brückenpfeiler befestigt, zwei, drei Meter in der Tiefe.«
Romy starrte Buhl entsetzt an. »Er war da unten angekettet?«
»So kann man sagen.« Der Kriminaltechniker hob die Hände. »Wo und wie werden uns die Taucher, die sich da unten gerade umsehen, hoffentlich genauer erzählen können.«
»Aber …?«
»Zurzeit werden Brückenarbeiten durchgeführt. Arbeiter haben die Kette entdeckt und ordentlich an ihr gezogen. Kurz darauf trieb die Leiche nach oben.«
Romy schloss kurz die Augen.
»Ja, die waren auch nicht begeistert.«
»Kann ich mir denken.«
»Willst du erst mal gleich runter zu Möller?«
»Er ist persönlich hier?«
»Das wollte er sich nicht entgehen lassen«, meinte Buhl achselzuckend. »Wasserleichen hat er nicht jeden Tag. Da gibt es viel zu lernen – seine Worte.«
Sie nickte, und Buhl löste das Absperrgitter. Mit Doktor Ulrich Möller hatte Romy meistens telefonisch zu tun. Sie schätzte seine schnellen Analysen und seine charmante Art, und dass sie bei ihm ein Stein im Brett hatte, förderte die Zusammenarbeit ganz erheblich. Er blickte auf, als sie die Treppe hinunterkam. »Hallo, Doktor.«
»Kommissarin Beccare«, er lächelte, als würden sie sich bei einem Spaziergang am Strand zufällig über den Weg laufen. »Ich dachte, Sie wären gar nicht im Hause.«
»War ich auch nicht. Ich bin gerade erst von einer Fortbildung in Schwerin zurückgekehrt – offenbar genau zum richtigen Zeitpunkt. Wenn man so will.«
»Ach so.« Er zögerte, als überlegte er, ob es angebracht sei, etwas Small Talk zu führen.
»Können Sie schon etwas sagen?«, ergriff Romy schnell das Wort, während ihr Blick den Leichnam abtastete. »Buhl meinte, dass die Leiche am Pfeiler befestigt war.«
Möller nickte. »Mithilfe einer Ankerkette.« Er überlegte kurz. »Es ist anzunehmen, dass sich die Kette an einigen Stellen am Körper bereits gelockert hatte – durch starken Wellengang und Fischfraß –, und als die Männer kräftig daran zogen …« Er zuckte mit den Achseln.
Romy biss sich auf die Unterlippe.
»Ich kann mir denken, dass Sie sehr schnell wissen möchten, wie lange der Mann im Wasser war, ob er noch lebte, als man ihn ankettete, woran er genau gestorben ist und so weiter. Aber ich muss Sie bitten, mir etwas Zeit zu lassen – mehr Zeit als sonst. Bei Wasserleichen ist es extrem schwierig, den Todeszeitpunkt zu bestimmen, manchmal ist es gar nicht möglich, und man muss sich auf Schätzungen verlassen. Die medizinischen Einzelheiten unter Berücksichtigung wechselnder Bedingungen in Salzwasser und bei unterschiedlichen Temperaturen und Strömungslagen erspare ich Ihnen.«
»Sie wagen nicht mal einen ungefähren Hinweis?«
Möller lächelte. Er wirkte wenig überrascht, dass sie auf seine Einschätzung mit einer Gegenfrage reagierte. »Ein Mann ist ermordet worden, das dürfte wohl feststehen.«
Romy blies die Wangen auf.
»Ich weiß, dass das nicht gerade hilfreich ist. Halten Sie sich am besten zunächst mal an Buhl. Der Zustand der Kleidungsreste dürfte schneller eine zeitliche Schlussfolgerung zulassen als meine Analysen.«
Romy blickte auf die See hinaus. »Danke, Doktor Möller«, sagte sie schließlich.
»Tut mir leid, wenn ich im Moment nicht mehr dazu sagen kann.«
»Ist ja nicht Ihre Schuld.« Sie hielt seinen Blick fest.
»Allerdings …« Er zögerte und gab sich einen Ruck, als sie ihn weiterhin forschend ansah. »Ich denke nicht, dass das Ganze länger zurückliegt und mitten im Sommer geschehen ist.«
»Die Kette wäre längst entdeckt worden?«
»Ja, vielleicht.« Er wies auf den Oberkörper des Leichnams. »Wenn mich nicht alles täuscht, trug der Mann keine Sommerklamotten – aber auch das muss ja manchmal nichts heißen. Verstehen Sie diese Anmerkung bitte als inoffiziellen Hinweis.«
»Natürlich.«
»Sie hören von mir, Kommissarin.«
»Gut.« Romy machte sich auf den Rückweg. Buhl war beschäftigt, aber sie wusste, dass er sich so schnell wie möglich melden würde. Jan wartete bereits am Wagen auf sie und sah ihr mit fragenden Blicken entgegen.
»Wir haben nicht viel«, erklärte sie. »Abgesehen von einem Mann, der an den Brückenpfeiler gekettet wurde.«
Jan rieb sich über die Stirn.
»Der Todeszeitpunkt kann noch nicht näher bestimmt werden«, fuhr Romy fort. »Möller schätzt inoffiziell, dass das Ganze nicht im Sommer passiert ist. Demnach ist der Mann wahrscheinlich seit einigen Wochen tot …« Sie hielt kurz inne. »Man kann nur hoffen, dass er vorher gestorben ist.« Sie setzte sich hinters Steuer. »Kurze Lagebesprechung in Bergen?«
Jan nickte, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und telefonierte mit Stralsund.
»Warum hat der Täter die Leiche so kompliziert entsorgt?«, fragte Romy nachdenklich, als er sein Handy wieder beiseitegelegt hatte. »Warum dieser Aufwand mit der Ankerkette? Warum hat er sie nicht einfach in die Ostsee geworfen?«
»Das ist eine interessante Frage.«
Wenig später trafen sie in Bergen ein. Im Kommissariat roch es nach frischem Kaffee und Kuchen, Fine konnte also nicht weit sein. Datenexperte Max kam ihnen mit seinem Laptop aus seinem Büro entgegen. »Schön, dass du wieder da bist. Zum perfekt richtigen Zeitpunkt.«
Wie immer: höflich und freundlich, dachte Romy. »Ich freue mich auch.«
Max begrüßte Jan, der sich zunächst am Buffet bediente, und räusperte sich. »Buhl hat die ersten Tatortfotos geschickt«, kam er umgehend zur Sache, während er Platz nahm. »Und die Aussagen der Arbeiter liegen bereits vor.«
Romy begnügte sich nach kurzem Überlegen mit Kaffee, während sie Max’ Erläuterungen lauschte und zwischenzeitlich einen Blick auf die Fotos wagte. Was musste passieren, dass ein Mensch einem anderen so etwas antat? Manchmal nicht besonders viel, wie sie aus zahlreichen Ermittlungen wusste, und oftmals reichte: Habgier, Rache, Hass, Neid.
»Hinweise auf seine Identität gibt es nicht«, erklärte Max abschließend. »Und im Moment kann man nur grob schätzen, was den Todeszeitpunkt angeht. Einige Wochen, weil …«
»Die Kleidung diesen Rückschluss zulassen könnte«, fiel Romy ihm ins Wort.
»Genau – oder besser gesagt: die Kleidungsreste sprechen für eine kühlere Jahreszeit. Womöglich trug er eine Outdoorjacke.« Max schob den Laptop ein Stück beiseite und musterte abwechselnd Romy und Jan.
Einen Moment blieb es still am Tisch. Dann stand Jan auf und holte sich ein zweites Stück Kuchen. Wo isst der Mann das alles hin?, dachte Romy. Das fragte sie sich nicht zum ersten Mal.
»Wie geht es weiter?«, fragte Max schließlich. »Solange wir gar keine Anhaltspunkte haben …«
»Schau dich mal in der Vermisstendatenbank um«, meinte Jan. »Vielleicht gibt es Meldungen, die zu unserer Leiche passen könnten, und sprich dich mit den Stralsundern ab. Dann brauchen wir Zeugenaussagen. Möglicherweise hat jemand etwas Ungewöhnliches auf der Brücke oder an der Strandpromenade bemerkt – vor einigen Wochen, als der Sommer sich verabschiedet hat. Ein Streit oder dergleichen.«
Romy runzelte die Stirn. »Das wird nichts bringen, befürchte ich.«
»Ich auch, aber wir müssen es dennoch versuchen. Also starten wir einen Aufruf und schicken ein paar Beamte los, die Leute befragen – das übliche Prozedere.«
»Und weiter?«
»Warten wir geduldig auf schnelle Ergebnisse von Buhl und Möller, die uns hoffentlich weiterhelfen, und denken darüber nach, warum der Täter so und nicht anders handelte.«
Geduldiges Warten ist meine Spezialität, dachte Romy.
Jan aß die letzten Kuchenkrümel und stand auf. »Ich mache mich auf den Weg.«
Er gab Romy einen Kuss. »Ich brauche den Wagen. Du kommst nachher sicher irgendwie nach Hause, oder?«
»Na klar und notfalls per Anhalter. Bis später.«
Max verzog sich kurz darauf wieder in sein Büro, Romy erledigte einige Telefonate und unterstützte den Kollegen anschließend bei der Recherche – notgedrungen, denn mehr gab es im Moment nicht zu tun.
Im Verlauf des Nachmittags blieb sie immer wieder bei dem Gedanken hängen, warum der Täter sein Opfer nicht in der See bestattet hatte. Im Grunde gab es nur zwei Erklärungen für sein Handeln: Der Ablageort war bewusst gewählt, weil ihm eine besondere Bedeutung zukam, oder der Täter war gezwungen gewesen, die Leiche auf diese Art loszuwerden. Sie trommelte eine Weile mit den Fingern auf die Tischplatte und stand schließlich auf, um zu Max hinüberzugehen.
»Hast du jemals von einem vergleichbaren Fall gehört?«, fragte sie und blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen.
Max schüttelte sofort den Kopf. »Aber ich mache mich gerne mal schlau dazu.«
Romy verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Vielleicht war dem Täter nichts anderes übrig geblieben, als die Leiche auf diese Art zu entsorgen – sozusagen aus einer Notlage heraus.«
Max drehte seinen Stuhl herum. »Worauf willst du hinaus?«
»Womöglich war er mit dem Boot unterwegs gewesen, das seinen Geist aufgegeben hat, oder es gab einen anderen handfesten Grund für diese Vorgehensweise. Die Frage ist nur, wie man an der Stelle weiterkommt.«
Max nickte nachdenklich.
»Streck doch einfach mal deine Fühler aus.«
»Mach ich.«
»Besondere Vorkommnisse, Verkehrsüberwachung und so weiter gehören selbstverständlich auch dazu.«
»Das habe ich ohnehin auf dem Zettel.«
»Wenn jemand eine Panne hatte, könnten wir darauf ein Augenmerk haben.«
»Verstehe.«
Romy ließ sich zwei Stunden später von einem uniformierten Kollegen nach Hause fahren. Sie hatte sich verkniffen, Buhl anzurufen oder Doktor Möller von der Arbeit abzuhalten oder Max mit weiteren Fragen und Vorschlägen zu nerven, um die er sich auch ohne ihren Hinweis kümmern würde. Zufrieden war sie nicht. Natürlich nicht – sie hatten eine Leiche an einem ungewöhnlichen Ort, und das war es. Keinen Namen, kein Motiv, keine Zeugen, geschweige denn einen Ermittlungsansatz, nicht den kleinsten Hinweis, sah man einmal von den Kleidungsresten ab. Die Hoffnung, dass sich jemand auf den Aufruf melden würde und tatsächlich etwas Wichtiges mitzuteilen hatte, schätzte sie als verschwindend gering ein. Niemand vermisste den Mann, der – wahrscheinlich – seit Wochen in der Tiefe der Binzer Seebrücke angekettet war. Das war der Stand der Dinge.
Sie entzündete ein Feuer im Kamin und wartete auf Jan.
Auf der Suche nach Auffälligkeiten war das Zeitfenster ausschlaggebend, in dem sich Ereignisse überschnitten. Legte er einen großzügig bemessenen Rahmen fest, wuchs das Risiko, dass eine zu große Anzahl von Ereignissen und Aspekten ins Blickfeld rückte, die nicht das Geringste mit dem Hintergrund des Tötungsdelikts zu tun hatten. Wählte er allerdings einen zu engen Rahmen, bestand dementsprechend die Gefahr, dass entscheidende Details nicht erfasst wurden.
Max kochte frischen Tee und dachte darüber nach, dass Romys Hinweis auf einen möglichen Bootsschaden gar nicht mal übel war. Die Brücke mit einer Leiche anzusteuern, die man loswerden wollte, war denkbar sinnlos, sofern nicht ein überzeugender Grund dafür vorlag. Inzwischen war es zu spät für eine Telefonaktion, darum legte er sich die Liste mit Werkstätten auf der Insel und in der näheren Umgebung der Hansestadt für den nächsten Tag bereit.
Er ließ den grünen Tee exakt drei Minuten ziehen und süßte ihn mit einer Prise braunem Zucker, bevor er sich an die Netzrecherche machte – zurückliegender Zeitraum zwischen zwei und acht Wochen. Er überflog zig Meldungen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens auf der Insel bis runter zur Hansestadt, wobei er die sozialen Netzwerke einbezog, und blieb nach gut zwei Stunden bei einer Nachricht zur Wetterlage hängen. Erster Sturm vor Rügen kündigt Herbstwetter an.
Max hielt inne und blickte auf den Kalender. Ein Wochenende Anfang September vor knapp vier Wochen. Er kreiste das Datum ein und las den Artikel. Ein Tief hatte sich plötzlich zusammengebraut und für gefährliche Winde vor der Insel gesorgt. Max nickte. Kein schlechter Anhaltspunkt. Dann suchte er mit dem neuen Zeitfenster weiter. Was war an dem Wochenende auf Rügen los gewesen? Als er gegen Mitternacht das Kommissariat verließ, hatte er eine Reihe von Veranstaltungen zusammengestellt – Sport, Theater, andere Events, größere Feiern –, die er am nächsten Tag gemeinsam mit Romy durchgehen würde.
Max war mit der Ausbeute zufrieden.
Bernd Tauber hatte nicht lange gefackelt und zwei Dutzend Bewerbungen abgeschickt. Den neuen Job ergatterte er schließlich in Greifswald. Ein ganzes Stück weg von der Insel, aber das war nicht die schlechteste Idee. Der kleine Tischlerei-Betrieb mit sechs Angestellten und zwei Azubis, der sich auf den Innenausbau von Yachten und Booten sowie Reparaturen spezialisiert hatte, machte einen soliden Eindruck, und die vollen Auftragsbücher waren ein weiteres gutes Argument. Der Verdienst war weniger berauschend, die Aufgaben waren anspruchsloser als im letzten Job, dafür stellte ihm der Meister nach der Probezeit Zulagen in Aussicht und bot ihm Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung an.
Tauber hatte eine Nacht darüber geschlafen und am nächsten Tag zugesagt. Am darauffolgenden Montag war er pünktlich um sieben Uhr im Betrieb. Nach einer Woche war er davon überzeugt, eine gute Wahl getroffen zu haben, nach vierzehn Tagen fühlte er sich rundherum angekommen. Er bezog eine kleine Wohnung in Hafennähe und genoss das Gefühl eines gelungenen Neustarts. Es war nicht der erste in seinem Leben. Bernd Tauber war schwierige Zeiten gewohnt, und er wusste nur allzu gut, wie sich Rückschläge anfühlten. Umso mehr genoss er das Gefühl, dass es nun wieder aufwärtsging.
Der Job auf Rügen, den er hatte aufgeben müssen, war zweifellos der beste gewesen, den er je gehabt hatte. Es hatte alles gestimmt: Geld, Kollegen, Chef und Vorarbeiter. Doch plötzlich war es abwärtsgegangen. Erst hatte es den Kollegen Marek Liberth getroffen. Seine Kündigung war allerdings keine allzu große Überraschung gewesen. Marek hatte einfach nicht kapiert, dass es weitaus klüger war, die Klappe zu halten und seine Nase nicht in Angelegenheiten zu stecken, die ihn nichts angingen – erst recht, wenn es um Belange in der oberen Etage ging und er zudem mit seiner Vergangenheit froh sein konnte, überhaupt einen derart guten Job ergattert zu haben. Tauber kannte keine Einzelheiten, aber er schätzte, dass Marek den Chefs ans Bein gepinkelt hatte, womöglich nicht nur einmal. Schlechte Idee und ausgesprochen schade für und um ihn. Dabei war doch auch bei ihm gerade alles bestens gelaufen – Marek war sogar frisch verliebt gewesen, wie Tauber sich erinnerte, zumindest war es ihm so vorgekommen, ohne dass er Einzelheiten kannte. Marek war nicht sonderlich mitteilsam, aber es sah aus, als hätte er was am Laufen gehabt, darauf hätte Tauber gewettet, so aufgekratzt, wie er oftmals durch die Gegend gelaufen war – Marek war nämlich nicht der Typ, der einen durchweg munteren und fröhlichen Eindruck hinterließ. Eher war das Gegenteil der Fall gewesen.
Dass man Tauber selbst wenig später hinausgeworfen hatte, war eine böse Überraschung gewesen und hatte ihn eiskalt erwischt. Eine Weile hatte er auf dem Gedanken herumgekaut, dass die Chefs ihn womöglich mit Marek in eine Schublade gesteckt hatten, weil sie häufig in einer Arbeitsgruppe waren und auch die Pausen zusammen verbrachten. Schließlich gelangte er zu der Einsicht, dass er daran nichts mehr ändern konnte. Bernd Tauber war kein Typ, der lange grübelte und Geschehnisse infrage stellte, die er ohnehin nicht mehr rückgängig machen konnte. Und je wohler er sich in seiner neuen Umgebung fühlte, desto mehr verblasste seine Zeit auf Rügen, sein Job in Rothenkirchen mit den schicken Yachten und die Schar der alten Kollegen.
Er dachte erst wieder an Marek, als sein Chef in Greifswald ihn nach einigen Monaten fragte, ob er jemanden wüsste, der kurzfristig bei ihm anfangen könnte. Ein Kollege würde nach einem Unfall länger ausfallen, und die Auftragslage war so gut, dass er ohnehin einen weiteren Tischler einstellen wollte. Tauber versprach, sich umzuhören. Noch am selben Abend versuchte er mehrfach, Marek zu erreichen – vergeblich. Unter seiner Handynummer meldete sich nur die Mobilbox. Auf Nachrichten reagierte er auch nicht. Vielleicht hatte er Besseres zu tun.
Am Wochenende besuchte Tauber seine Mutter in Stralsund und fuhr bei der Gelegenheit auch bei Mareks Adresse vorbei. Niemand öffnete. Der Hausmeister, den er zufällig im Flur traf und auf den Exkollegen ansprach, hatte keine Ahnung, wann er Marek das letzte Mal gesehen hatte – vielleicht eine Woche zuvor oder auch zwei –, und es interessierte ihn nicht sonderlich, wie seine Miene verriet. Tauber fuhr wenig später nach Greifswald zurück. Der Exkollege führte längst ein anderes Leben, überlegte er, hatte einen anderen Job, war bei seiner Freundin oder im Urlaub. Von zu Hause aus schrieb Tauber ihm erneut eine Nachricht – das sollte der letzte Versuch sein. Immerhin ging es um einen guten Job. Hi, Marek, ich habe einen Job für dich. Oder hast du längst was anderes? Melde dich mal, Alter. Bernd.
Später setzte er sich mit Pizza und Bier vor den Fernseher, in dem gerade eine Nachrichtensendung lief. Er schnappte sich die Fernbedienung und wollte durch die Programme zappen, als das Stichwort Rügen fiel, und drehte die Lautstärke hoch.
»Wie die Polizei mitteilt, ist die Identität der männlichen Leiche bislang unbekannt«, erklärte eine Reporterin, deren Haar vom Wind zerzaust wurde. Im Hintergrund war eine Seebrücke zu erkennen, die Ostsee schäumte und warf unruhige Wellen auf den Strand. »Sie wurde bei Reparaturarbeiten im Bereich der Binzer Seebrücke entdeckt«, fuhr sie fort, nachdem sie sich kurz zur Seite gedreht hatte. »Was genau geschehen ist, weiß bislang niemand. Die Polizei geht davon aus, dass eine Straftat begangen wurde, die bereits einige Wochen zurückliegt, und bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Wer hat Ungewöhnliches in Binz, im Bereich des Strandes und der Seebrücke sowie in der näheren Umgebung bemerkt? Bitte melden Sie sich bei den Polizeidienststellen in Binz, Bergen oder Stralsund. Sobald wir weitere Einzelheiten erfahren, werden wir die Öffentlichkeit informieren.«
Tauber stellte den Ton leiser, legte die Fernbedienung zur Seite, griff zur Bierflasche und trank einen großen Schluck. Binzer Seebrücke. Plötzlich wurde ihm mulmig. Er stand hastig auf und trat ans Fenster. Könnte es sein, dass Marek richtig Scheiße gebaut hatte? Unsinn! Er zögerte. Und selbst wenn es so war – geht mich das irgendetwas an? Neue Stadt, neuer Job, neues Leben. Misch dich nicht in Sachen ein, die längst gelaufen sind. Er nickte, setzte sich wieder und begann, seine Pizza zu vertilgen. Aber der ganz große Appetit war ihm vergangen.
Romy war nach einer denkbar kurzen Lagebesprechung in Stralsund auf dem Weg nach Bergen und hatte gerade die Rügenbrücke hinter sich gelassen, als Buhl sich meldete. »Schuhgröße dreiundvierzig, eher schlanker Typ – der Jacke nach zu urteilen, genauer gesagt: nach dem, was davon übrig ist. Schätze, der hat drei bis vier Wochen im Wasser gelegen. Vorläufiger Bericht ist unterwegs.«
»Habt ihr euch mal die Ankerkette genauer angesehen?«
»Klar. Nichts Besonderes. Standard bei kleineren Yachten und Motorbooten.«
»Und sonst so?«
»Tja, das war es erst mal.«
Romy atmete tief aus. »Danke, Buhl.«
Als sie in Bergen eintraf, rauschte Fine mit dem Telefon am Ohr und gewichtiger Miene an ihr vorbei, und Max wartete auf sie. Er hatte ein leises Lächeln aufgesetzt, und sie sah ihn erwartungsvoll an. »Sag bloß, du hast eine Idee?«
»Eher einen neuen Rechercheansatz.«
»Du hast den Gedanken mit dem beschädigten Boot verfolgt?«
»Der hat sich womöglich von selbst erledigt.«
»Ach?«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Die Suchanfrage in der Vermisstendatenbank hat keinen Treffer im regionalen Umfeld ergeben – bezogen auf einen Mann zwischen zwanzig und fünfzig. Demnach musste ich einen anderen Ansatz finden – genauer gesagt einen Auslöser, der das Tatgeschehen beeinflusst haben könnte.«
Romy nickte eifrig. Sie hoffte, dass Max nicht noch weiter ausholen würde.
»Es gab vor knapp vier Wochen ziemlich stürmisches Wetter auf der Insel – Anfang September hatte sich ein Sturmtief unerwartet an die Ostküste verirrt. Innerhalb kürzester Zeit wurde es verdammt ungemütlich.«
»Wie das manchmal passiert auf der Insel.« Romy goss sich Kaffee ein. »Ja, ich erinnere mich … Vielleicht hat der Täter seine Pläne ändern müssen.«
»Unter Umständen war er mit der Leiche – oder zumindest mit seinem Opfer – auf dem Boot, als es losging, und entschied spontan, in Binz anzulegen«, meinte Max. »Er dürfte befürchtet haben, dass die Leiche angespült wird, wenn er nicht weit genug rausfährt.«
»Was unter den gegebenen Umständen ja auch gar nicht möglich gewesen wäre.«
»Genau.«
»Und weiter?«
»Wir sollten uns mit dem konkreten Zeitfenster beschäftigen.«
»Ich schätze, du hast längst damit begonnen.«
»Klar.« Max tippte mit dem Stift auf den Tisch. »Für Überwachungsvideos ist der Zeitraum natürlich viel zu lang. Und die offiziellen Polizeimeldungen, auch im Umkreis der Häfen, geben nichts her. Keine Auffälligkeiten oder Besonderheiten, aber es kann nicht schaden, die Hafenmeistereien abzutelefonieren und die Zeugenbefragungen terminlich zu konkretisieren.«
Romy bemühte sich um einen interessierten Gesichtsausdruck. Das klang nach Old-school-Polizeiarbeit, war aber besser als nichts, solange sie keine einzige Spur hatten.
»Außerdem habe ich mal zusammengestellt, was an dem ersten September-Wochenende auf der Insel los war, und das Netz entsprechend durchforstet. Es gab mehrere größere Veranstaltungen – Sport, Partys, Einweihungsfeiern, Theater, Musikaufführungen und so weiter. Vielleicht ist da irgendwas losgewesen, woran sich jemand angesichts des Leichenfunds erinnert.«
Romy seufzte unterdrückt. Weitere Telefonate, dachte sie. Sisyphos lässt grüßen. »Okay. Irgendwo müssen wir ja anfangen.«
»Was ist eigentlich mit Ruth?«, fragte Max im Aufstehen.
Kollegin Ruth Kranold, ehemalige Polizeibeamtin aus Greifswald, die sich vor Jahren aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hatte, stand dem Team seit dem Ausscheiden von Kasper Schneider regelmäßig als Springerin bei aktuellen Ermittlungen zur Verfügung.
Romy winkte ab. »Solange wir im Trüben fischen, müssen wir erst mal alleine klarkommen und notfalls die örtlichen Beamten einbinden – so hat es Stralsund beschlossen –, obwohl ich darauf hingewiesen habe, dass Ruth erheblich dazu beitragen könnte, diesen Zustand schnell zu beenden. Wenn die Identität feststeht und die Mordermittlungen aufgenommen werden können, holen wir sie dazu.«
»Verstehe.«
Wir sind ein gutes Team – Ruth ist ausgeglichen, erfahren, umsichtig und achtet auf Dinge, die mir entgehen und umgekehrt, überlegte Romy weiter, während sie in ihr Büro ging. Aber dieses Argument hatte in Stralsund auch nicht ausgereicht. Andererseits – der letzte gemeinsame Fall hatte gerade Ruth besonders zu schaffen gemacht. Eine längere Pause tat ihr wahrscheinlich ganz gut.
Romy griff zum Telefon, das sie in den nächsten Stunden kaum aus der Hand legte. Gegen Mittag meldete sich der Rechtsmediziner auf ihrem Smartphone.
»Fingerabdrücke konnten wir nicht mehr sichern«, erklärte Möller nach kurzer Begrüßung. »Das spricht übrigens dafür, dass das Opfer länger als zwei Wochen im Wasser lag …«
»Wäre ein Zeitraum von knapp vier Wochen denkbar?«, warf Romy rasch ein.
»Ja, durchaus«, erwiderte Möller.
Romy machte sich eine Notiz.
»Ansonsten haben wir den Zahnstatus sichern können«, fuhr der Rechtsmediziner fort. »Was das Alter angeht, so würde ich den Mann zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig schätzen. Genauer kann ich es zurzeit noch nicht sagen. Wasserleichen sind höchst kompliziert, erst recht wenn Fischfraß vorliegt.« Er räusperte sich. »Aber das habe ich wohl schon zu bedenken gegeben.«
»Haben Sie schon Erkenntnisse zur Todesursache gewinnen können?«
»Nichts, was ich guten Gewissens anführen könnte. Verletzungen im Schädelbereich könnten sowohl auf Gewalteinwirkung als auch auf postmortale Ereignisse zurückzuführen sein – zum Beispiel durch starken Wellengang, der die Leiche bewegt hat, oder auch durch Schiffsschrauben …« Erneutes Räuspern.
»Danke, Doktor.«
»Immer wieder gerne, Kommissarin Beccare.«
Romy legte das Handy beiseite und starrte einen Moment ins Leere, bevor sie erneut danach griff und Jan anrief, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen.
»Warum vermisst niemand diesen jungen Mann?«, fragte sie abschließend.
»Ich tippe auf ein Verbrechen in der organisierten Kriminalität«, meinte er. »Das geplante Grab in der Ostsee würde dazu passen, auch die spontane Änderung, als das Wetter umschlug – sofern ihr richtig liegt mit eurer Vermutung. Ich schätze, dass wir keine Anhaltspunkte finden werden – besser gesagt: Ich befürchte, dass wir es mit Profis zu tun haben, die keinerlei Spuren hinterlassen haben.«
»So schnell sollten wir nicht aufgeben.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
Aber es klingt so, dachte Romy und wusste zugleich, dass der Einwand unsinnig und ungerecht war. Sie war frustriert, andererseits standen sie ganz am Anfang.
»Manche Fälle lösen wir nicht«, fügte Jan hinzu. »Der Leichenfund war reiner Zufall. In wenigen Wochen wäre kaum noch etwas von dem Mann übrig gewesen.«
»Ich weiß. Aber nun haben wir diesen Fall, und ich werde alles unternehmen, um mehr zu den Hintergründen zu erfahren, auch wenn ich dabei nach Strohhalmen greifen muss.«
»Ich weiß, Romy, das tust du immer.«
Sie atmete tief durch. »Bis später.«
Am nächsten Tag fuhr Romy bei strahlendem Herbstwetter über die Insel und klapperte diverse Adressen ab, an denen kleinere und größere Events in allen möglichen Branchen und zu ebenso vielen Anlässen stattgefunden hatten und die Max ihr zusammengestellt hatte. Die Frage nach Vorkommnissen, Streit oder anderen Auffälligkeiten, die vier Wochen zurücklagen, stieß bei den meisten auf Staunen oder Irritation, und niemand lieferte einen Hinweis. Am späten Nachmittag hatte Romy das Gefühl, ihre Fragen nur noch herunterzuleiern und die Antworten zu kennen, bevor sie zu Ende gesprochen hatte – die denkbar schlechteste Voraussetzung für eine Ermittlerin, die stets hellwach und mit hundertprozentiger Aufmerksamkeit bei der Sache sein sollte.
Nach dem Besuch in einer Kneipe in Sassnitz, wo ein großes Kegelturnier stattgefunden hatte, beschloss sie, die Fragerunde mit einem Abstecher im Wirtshaus des Jagdschlosses Granitz zu beenden. Vor einiger Zeit war sie mit Jan einmal dort essen gewesen, und sie erinnerte sich an das urige Gewölbe und die imposanten Wandmalereien in dem historischen Wirtshaus.
Max hatte berichtet, dass dort zum fraglichen Zeitpunkt das jährliche Betriebsfest eines Unternehmens stattgefunden hatte, das im Südwesten der Insel im Gewerbegebiet Rothenkirchen zwischen Rambin und Samtens ansässig war und auf die Sport- und Eventausstattung von großen Luxusjachten spezialisiert war. Die Firma beschäftigte ungefähr dreißig Mitarbeiter. Von der ausgelassenen Feier kursierten zahlreiche Fotos und Videos im Netz; offensichtlich war es hoch hergegangen.
Als Romy eintraf, hatte das Lokal gerade geöffnet; andere Gäste waren noch nicht in Sicht, aber in der Küche herrschte bereits Hochbetrieb. Romy betrat den Schankraum, und wenige Augenblicke später tauchte der Wirt auf – breit und freundlich lächelnd. Ein großer wuchtiger Mann mit Oberarmen, die den Umfang vom Romys Taille übertreffen dürften, und der wie die Faust aufs Auge in das Wirtshaus-Ambiente passte.
Romy zeigte ihm ihren Ausweis, was nicht das Geringste an seiner fröhlichen Miene änderte.
»Aha. Mal was anderes«, sagte er. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Kommissarin Beccare? Einen Espresso?«
»Gerne.«
Der Kaffee war hervorragend. Romy trank einen Schluck und ließ die Atmosphäre einen Moment auf sich wirken, dann fasste sie den Wirt ins Auge. »Vor vier Wochen fand hier eine Firmenparty statt.«
Er nickte sofort. »Sie meinen die Schiffsbauer aus Rothenkirchen?«
»Genau die.«
»Die feiern häufiger hier – Betriebs- und Weihnachtsfeste. Beim letzten Mal haben sie auch noch den Abschluss eines großen Auftrages begossen. Da war dann richtig was los.« Der Wirt hielt inne und warf ihr einen fragenden Blick zu. »Das sind gern gesehene Gäste«, fügte er hinzu und runzelte die Stirn. »Ich hoffe doch sehr, dass …«
»Keine Sorge. Es liegt gegen niemanden etwas vor. Es geht um eine allgemeine Auskunft.« Romy lächelte beruhigend. »Sie haben sicherlich von dem Leichenfund an der Binzer Brücke gehört …«
Der Wirt hob beide Brauen. »Sicher, allerdings … Ähm, Verzeihung, aber Ihre einleitenden Worte klingen eher beunruhigend.«
Romy schüttelte dezent amüsiert den Kopf. »Wir suchen nach Hinweisen, die uns bei der Identifizierung des Opfers helfen können.«
»Sie haben immer noch keine Ahnung, wer das ist?«
»Leider wahr. Auf den Aufruf hat sich bislang niemand gemeldet, und in der Vermisstendatenbank taucht auch keine Person auf, die zum Opfer passen könnte. Inzwischen wissen wir immerhin, dass der Mann um die dreißig Jahre alt ist. Darüber hinaus spricht vieles für einen Tatzeitraum an dem besagten Wochenende, und nun sind wir auf der Suche nach Hinweisen und weiteren Auffälligkeiten in dieser Zeit. Besondere Ereignisse und Veranstaltungen, bei denen viele Menschen zusammengekommen sind, könnten womöglich bei der Fahndung nach seiner Identität helfen.«
»Ach so.« Überzeugt wirkte der Mann nicht. Er blinzelte. »Warum sollte das eine etwas mit dem anderen zu tun haben?«
Weil mein Datenexperte häufig richtig liegt, dachte Romy. »Es ist eine Möglichkeit, bei der wir nach Schnittpunkten und Besonderheiten fahnden, und die Feier in Ihrem Haus gehört dazu – wie Dutzende andere Veranstaltungen übrigens auch«, erklärte sie. »Und natürlich können wir falsch liegen. Der angenommene Zusammenhang stellt lediglich eine Arbeitsthese dar.«
Und da wir keine anderen Spuren haben, die wir verfolgen können, fangen wir einfach mit dieser Vorgehensweise an, ergänzte sie stumm. »Ist Ihnen bei der Feier etwas Besonderes aufgefallen? Gab es vielleicht Streit oder Gespräche, die Ihnen im Nachhinein zu denken geben?«
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Nein. Die waren alle in bester Stimmung.« Er zögerte einen Moment. »Kommen Sie mal mit«, sagte er dann und wandte sich um.
Im Durchgang zu einem weiteren Gastraum war eine Pinnwand mit Dutzenden von Fotos angebracht. Er tippte auf eine Reihe von Schnappschüssen in der Mitte unter dem Datum von Anfang September. »Manchmal werden Fotos gemacht, vor allem bei Geburtstagen und Jubiläen oder anderen besonderen Anlässen. Wir drucken die Bilder dann aus, und die Gäste hängen sie auf. Nach ein paar Wochen, wenn die Wand voll ist, werden sie durch andere Aufnahmen ersetzt. Die Leute haben Spaß an so was.«
Romy blickte auf die üblichen Bilder von Feiernden – beim Essen und Trinken, beim fröhlichen Blick in die Kamera, beim Zuprosten und Lachen. Die Runde umfasste zwei, drei Dutzend Leute, wie sie schätzte, die Männer waren in der Überzahl. Schließlich wandte sie sich wieder dem Wirt zu.
Er hob beide Hände. »Bevor Sie fragen – die Fotos sind nirgendwo gespeichert.«
»Okay.« Sie nickte. »Danke erst mal für Ihre Hilfe.«
»Gerne.« Der Wirt wandte sich um und verschwand wieder in der Küche.
Romy griff nach ihrem Smartphone und aktivierte die Fotoapp.
Die Schiffsbaufirma arbeitete vorrangig für die Stralsunder Werft, und zwar vornehmlich im Bereich des Innenausbaus großer und moderner Luxusjachten. Sie entwarf und baute Fitness- und Eventräume der gehobenen Klasse – dazu gehörten auch Bars und Saunen, kleine Pools, Partyräume. Romy war verblüfft, was Menschen angeblich alles brauchten, wenn sie auf dem Wasser unterwegs waren.
Im Netz fand sich einiges an Informationsmaterial zum Unternehmen, das von zwei Stralsundern geleitet wurde und seit einigen Jahren gut im Geschäft war – so wirkte es jedenfalls, und auch Max’ Recherchen ließen den Schluss zu. Der Betrieb galt als zuverlässig und innovativ und erhielt regelmäßig auch bei größeren Ausschreibungen den Zuschlag. Auffälligkeiten fanden sich nicht.
Bei der Durchsicht der Fotos, die Romy geschossen hatte, ließen sich im Laufe des nächsten Tages alle Partygäste identifizieren; niemand wurde vermisst. Streng genommen bot sich nicht der geringste Anlass, an dieser Stelle weiterzuforschen, Romy stattete dem Betrieb dennoch am späten Nachmittag einen Besuch ab und sprach mit dem Vorarbeiter und einigen Angestellten – ohne Ergebnis. Niemandem war irgendetwas aufgefallen. Sie hatten ein schönes Fest gefeiert, auf dem sich alle prächtig amüsiert hatten – so lautete die durchgängige Aussage.
Als Romy in ihren Wagen stieg, war sie davon überzeugt, dass der Fall im Sand verlaufen würde. Jan hat recht, dachte sie. Wir werden nichts finden – Opfer und Täter stammten aus dem Umfeld der Organisierten Kriminalität, die ihre eigenen Gesetze schrieben, und wenn jemand verschwinden sollte, dann geschah das spurlos, selbst wenn der ursprüngliche Plan spontan geändert werden musste und die Leiche Wochen später wider Erwarten im Mittelpunkt von Mordermittlungen stand.
Max rief an, als sie den Motor starten wollte. »Bist du schon auf dem Heimweg?«
»Nein. Ich wollte gerade losfahren. Was Neues?«
»Vielleicht. Ich habe zu der Firma noch mehr Foto- und Videomaterial im Netz gefunden«, sagte er. »Unter anderem vom letzten Weihnachtsfest, das auch in Granitz stattfand.«
»Und?«
»Dabei habe ich zwei Leute entdeckt, die neu sind – genauer gesagt: zwei Männer, die auf dem Betriebsfest Anfang September nicht auftauchen.«
»Wahrscheinlich sind sie rein zufällig nicht gefilmt worden«, meinte Romy.
»Möglich.« Max zögerte. »Oder es gibt eine andere Erklärung.«
Romy atmete tief aus. »Nun rück schon raus mit der Sprache.«
»Einen von ihnen konnte ich bereits identifizieren: Marek Liberth, Mitte zwanzig, gebürtiger Stralsunder. Mehr habe ich auf die Schnelle noch nicht entdeckt. Kontaktdaten und Fotos sind unterwegs an dich. Ans Telefon geht er übrigens nicht.«
Romy hob eine Braue. »Und der andere?«
»Ihn hat die Kamera nur von der Seite erwischt, und das nicht mal besonders gut. Vielleicht gehört er gar nicht zu der Firma. Ich klemme mich aber dahinter, weil ich es genauer wissen will.«
Romy lächelte. »Gut, dann gehe ich gleich noch mal in den Betrieb.«
Helmut Brock, der Vorarbeiter, sah ihr erstaunt entgegen, als sie wenige Minuten später zum zweiten Mal die Werkhalle betrat. »Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
»Ja. Wenn Sie noch einen Augenblick Zeit hätten, würde ich mich freuen.«
»Klar. Ich wollte gerade eine rauchen gehen und dann Feierabend machen«, sagte Brock und wies auf eine Seitentür, die zu einem kleinen Hinterhof führte. Ein paar Tische und Bänke standen im Schatten einer Mauer neben einem steinernen Aschenbecher, in dem sich Dutzende von Kippen krümmten; eingeklappte Sonnenschirme waren an die Wand gerückt.
»Sagt Ihnen der Name Marek Liberth etwas?«, fragte Romy und zeigte ihm das Foto, das Max ihr geschickt hatte.
Der Vorarbeiter warf lediglich einen flüchtigen Blick darauf. Er nickte und zündete seine Zigarette an. Tiefes Inhalieren, dann nickte er erneut. »Der hat mal hier gearbeitet.«
»Jetzt nicht mehr?« Romy fröstelte und schlug den Kragen ihrer Jacke hoch.
»Nein.« Kopfschütteln. »Vor einigen Monaten hat er aufgehört.«
»Was heißt das genau? Wurde ihm gekündigt?«
»Ich schätze ja.«
»Sie schätzen?«
»Personalsachen gehören nicht zu meinen Aufgaben.«
Romy sah ihn erstaunt an. »Als Vorarbeiter haben Sie nichts mit Personalbelangen zu tun?«
Brock inhalierte noch tiefer und verzog das Gesicht. Die Frage gefiel ihm nicht, dachte Romy.
»Ich meine damit, dass ich nicht die endgültigen Entscheidungen treffe«, betonte er schließlich. »Und auch nicht jeden Lebenslauf genau kenne. Das ist nicht mein Job. Liberth war knapp ein Jahr bei uns. Es passte wohl nicht …«
Romy wartete einen Moment, aber Brock fügte nichts mehr hinzu. Er schnippte seine Asche fort und wischte sich über die Nase. »Hören Sie, ich würde jetzt ganz gerne …«
»Kennen Sie diesen Mann?«, fiel Romy ihm ins Wort und hielt ihm den Schnappschuss des zweiten Mannes unter die Nase.
»Schwer zu sagen – man sieht ja kaum was.«
»Besonders gut gelungen ist das Foto nicht, das muss ich zugeben, aber vielleicht …«
»Nee, damit kann ich nichts anfangen.« Brock schüttelte den Kopf und drückte seine Kippe aus, dann blickte er auf die Uhr. Die Geste war unmissverständlich.
»Vielen Dank«, sagte Romy und ging über den Hinterhof zum Parkplatz. Im Wagen gab sie die Adresse an Jan weiter und machte sich auf den Weg nach Stralsund.
Marek Liberth wohnte in einem Mehrfamilienhaus über einer Bäckerei an der Prohner Straße im Norden der Hansestadt. Als Romy eintraf, wartete Jan bereits auf sie.
»Niemand zu Hause«, sagte er nach einem Begrüßungskuss. »Ich habe eben mit dem Hausmeister gesprochen. Der hat ihn schon eine Weile nicht gesehen und wusste interessanterweise zu berichten, dass letztens schon mal jemand hier war und nach Liberth gefragt hat.« Jan hob rasch die Hände. »Und bevor du fragst: Nein, er weiß nicht, wer das war – jüngerer Typ, der sich nicht vorgestellt hat.«
»Hast du die Fotos von Max erhalten?«
»Natürlich. Der Hausmeister konnte Marek Liberth sofort identifizieren – die andere Aufnahme sagt ihm nichts, kein Wunder … Darüber hinaus besorgt er gerade den Schlüssel und lässt uns in die Wohnung.«
»Dazu konntest du ihn überreden?«
»War nicht besonders schwer. Der Hinweis auf die Mordermittlungen hat ihn brennend interessiert, nachdem er vorher etwas lethargisch wirkte.«
Der Hausmeister trat einen Augenblick später aus der Tür und starrte Romy irritiert an. »Kommissarin Beccare, ich bin leitende Beamtin auf Rügen«, stellte sie sich vor.
»Ach so.« Er nickte beiläufig und reichte Jan einen Schlüssel. »Liberth wohnt ganz oben. Ich begleite Sie gerne …«
»Nicht nötig«, meinte Jan freundlich, aber bestimmt. »Wir bringen Ihnen den Schlüssel so schnell wie möglich zurück.«
»Na schön.« Er zuckte mit den Achseln. »Wie Sie meinen.«
Jan zwinkerte ihm zu, dann eilten sie die Treppe nach oben. Es war stickig in Liberths Wohnung – abgestandene Luft schwallte ihnen beim Öffnen der Tür entgegen – und ausgesprochen chaotisch. Es war unfair, von einer typischen Junggesellenbude zu sprechen, aber der Gedanke durchfuhr Romy, während sie zunächst einen oberflächlichen Blick wagte und Handschuhe anzog. Sie gehörte zugegebenermaßen selbst nicht zu den Ordentlichsten, ihre Mutter würde angesichts offener Schubladen, verstreuter Kleidungsstücke, schmutzigen Geschirrs und zentimeterdicker Staub- und Dreckschicht in zwei winzigen Zimmern aber sehr wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen – und die Flucht ergreifen.
Jan rümpfte die Nase, als er die Tür zur Küche öffnete. Auf der Arbeitsplatte tummelten sich Fliegen über verdorbenen Lebensmitteln, in der Spüle schimmelten Essensreste auf Tellern.
»Wollen wir eine Münze werfen, wer den Kühlschrank öffnet?«, fragte Romy.
»Nicht nötig.« Jan zog die Tür auf.
Liberth war offensichtlich kein Freund von Vorratshaltung, dachte Romy, während ihr Blick das Innenleben musterte – etwas Käse, ein paar Flaschen Bier, Senf, Essig, einige runzlige Tomaten im Gemüsefach.
»Marek Liberth war definitiv seit einigen Wochen nicht zu Hause«, meinte Romy und ging zurück ins Wohnzimmer.
Einen Moment blieb sie mitten im Raum stehen und atmete tief aus. Es war ihr bewusst, dass es noch viel zu früh war, darauf zu spekulieren, das Mordopfer von der Binzer Brücke identifiziert zu haben. Und doch sprach einiges dafür, insbesondere was die zeitlichen Rahmenbedingungen anging. Sie hielt Ausschau nach Ordnern mit offiziellen Unterlagen – Arbeit, Bank, Versicherungen, Ärzte, insbesondere Zahnarzt –, bezweifelte allerdings, dass Liberth diesbezüglich akkurat für Ordnung gesorgt hatte.
Jan entdeckte schließlich im Schlafzimmer einen Ablagekorb, in dem sich diverser Schriftverkehr und jede Menge Zettelwirtschaft angesammelt hatten, darunter etliche Rechnungen, der Wohnungsmietvertrag, zwei alte Lohnsteuerkarten und die Visitenkarte eines Haus- sowie Zahnarztes. »Den sollten wir sofort kontaktieren.«
Romy nickte. Ihr Blick schweifte durch den Raum.
»Was geht dir durch den Kopf?«
»Ich denke darüber nach, ob Liberth immer so nachlässig war oder ob sich hier jemand umgesehen hat.«
Jan runzelte die Stirn.
»Die vergammelten Lebensmittel und das schmutzige Geschirr sind eine Sache, doch die verstreuten Klamotten …« Sie breitete die Arme zu einer raumgreifenden Geste aus. »Außerdem gibt es keinen Laptop, nichts dergleichen. Bisher habe ich jedenfalls noch nichts entdeckt.«
»Wir haben noch nicht gründlich gesucht«, wandte Jan ein.
»Das stimmt.«
»Und das tun wir erst dann, wenn der Abgleich mit dem Zahnstatus eindeutig ist.«
»Das kann aber dauern.« Romy runzelte die Stirn.
»Nicht unbedingt. Ich kenne den Zahnarzt.« Jan lächelte. »Wir kümmern uns sofort darum. Und wenn es gut läuft, haben wir morgen den Beschluss und können Buhl mit seinen Leuten reinschicken. Wie klingt das?«
»Ganz gut.«
»Und juristisch einwandfrei.«
»Ja, auch das.« Romy lief ein weiteres Mal durch alle Räume und schoss einige Fotos, bevor sie die Wohnung verließen und den Schlüssel abgaben. Der Hausmeister sah ihnen erwartungsvoll entgegen. Jan lächelte. »Danke für Ihre Mühe. Wir kommen sehr wahrscheinlich morgen noch einmal vorbei – mit gerichtlichem Beschluss.«
»Ach ja? Ist er …«
»Das wissen wir noch nicht. Bitte sprechen Sie mit niemandem darüber.«
»Natürlich nicht.«
»Wenn Spekulationen verbreitet würden, könnte das unsere Ermittlungen beträchtlich behindern.«
»Schon verstanden.«
»Und es sollte keiner die Wohnung betreten«, fügte Romy noch hinzu.
Das war juristisch nicht hundertprozentig stimmig, aber der Hausmeister wirkte sichtlich beeindruckt. Sie würde allerdings nicht darauf wetten, dass er sich tatsächlich daran hielt, Stillschweigen zu bewahren.
Der Zahnarzt meldete sich am frühen Morgen, als Romy und Jan gerade beim Frühstück saßen. Jan lauschte einen Moment, nickte, beendete das Gespräch eilig und sah Romy an. »Er ist es.«
Dann griff er erneut zum Handy, während Romy sofort Max informierte; wenig später fuhr Jan nach Stralsund, und sie machte sich auf den Weg ins Bergener Kommissariat. Als sie die B 96 hochfuhr, entschied sie sich spontan zu einem Besuch in der Firma. Max würde auch ohne sie umgehend die notwendigen Recherchen anschieben.
Der Vorarbeiter Helmut Brock war nicht zu sehen, als sie die Werkhalle betrat, dafür kam ihr sofort ein groß gewachsener, dunkelblonder Mittvierziger im Anzug entgegen – einer der Geschäftsführer, schätzte Romy, und sie lag richtig. Michael Tuhlkamp bat sie ohne Zögern in sein Büro, nachdem sie ihm ihren Ausweis gezeigt und auf die laufenden Ermittlungen hingewiesen hatte.
»Nehmen Sie doch Platz, Frau …« Er runzelte die Stirn.
»Beccare, Ramona Beccare, Hauptkommissarin aus Bergen«, ergänzte Romy freundlich.
»Ihr Name klingt südländisch, wenn ich das sagen darf.«
»Sie dürfen. Mein Vater ist in Neapel geboren. Ich bin gebürtige Münchnerin.«
»Und dann landen Sie auf Rügen, im hohen Norden – bemerkenswerter Lebenslauf.« Er lächelte und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Kaffee?«
»Danke, nein.«
Tuhlkamp setzte sich ebenfalls. Sein Schreibtisch war ein Prachtstück, wie Romy bewundernd feststellte – glänzendes Walnussholz mit ungewöhnlich schönen Verzierungen. Aktenschrank und Sideboard waren passend dazu gestaltet.
»Das Mobiliar stammt aus unserer Werkstatt«, sagte er mit leisem Lächeln in den Augenwinkeln, als Romy den Blick wieder hob. »Schöne Arbeit, nicht wahr?«
»Unbedingt.«
Er hob kurz die Hände. »Es geht um Liberth, sagten Sie.«
Romy nickte. »Er hat ungefähr ein Jahr hier gearbeitet und ist vor einigen Monaten entlassen worden, wenn ich richtig informiert bin.«
»Das sind Sie.« Tuhlkamp beugte sich vor. Irritation huschte über sein Gesicht.
»Ich war schon mal hier, um mich nach ihm zu erkundigen«, erklärte Romy. »Auf der Suche nach der Identität des Mordopfers in Binz sind wir einem eher vagen Verdacht nachgegangen, doch der hat sich inzwischen bestätigt.«
Tuhlkamp lehnte sich zurück. Er blies kurz die Wangen auf und zog die Brauen hoch. Emotionale Erschütterung sah anders aus, doch Tuhlkamp war durch und durch Geschäftsmann, und kalt ließ ihn die Mitteilung nicht. »Das ist eine schlimme Nachricht«, meinte er schließlich.
Romy nickte. »Können Sie mir etwas zu Marek Liberth sagen?«
Tuhlkamp legte die Fingerspitzen aneinander. »Wir wollten ihm eine Chance geben«, sagte er in ernstem Tonfall. »Wissen Sie, wir beschäftigen neben einigen hochqualifizierten Mitarbeitern immer wieder auch junge Leute, die nicht den einfachsten Lebensweg hinter sich haben – sei es aus familiären, sei es aus anderen privaten Gründen. Liberth ist in einem Kinderheim aufgewachsen und mit kleineren Straftaten, hauptsächlich im Drogenmilieu, auffällig geworden.« Tuhlkamp hob eine Braue. »Und zugelangt hat er auch mal ganz gerne.« Er zuckte mit den Achseln. »Dennoch haben wir es gewagt – er hat die Karten offen auf den Tisch gelegt, das kam gut bei uns an. Außerdem war er ein begabter Handwerker, kreativ und vielseitig, und die Arbeit hat ihm Spaß gemacht. Eigentlich.« Tuhlkamp setzte eine Kunstpause.
»Und uneigentlich?«, fragte Romy.
»Er war leider nicht besonders zuverlässig, und das ist für uns unabdingbar – auch nach der Probezeit. Er hat seine Chance nicht genutzt, und wir haben schließlich entschieden, einen Schlussstrich zu ziehen. Das liegt einige Monate zurück.«
»Danach haben Sie nichts mehr von ihm gehört?«