Annabell will nicht - Renée Miller - E-Book

Annabell will nicht E-Book

Renée Miller

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Beschreibung

Annabell weist den Heiratsantrag ihres Lebensgefährten Christian zurück. Warum soll sie heiraten? Dafür gibt es keinen Grund. Und das Gefasel von der Liebe geht der jungen Frau nur auf die Nerven. "Liebe ist eine Erfindung von Trotteln, die ihren Verstand verloren haben", sagt Annabell. Dennoch ist es ihr nicht gleichgültig, als Christian aus der Wohnung auszieht und in einer anderen Stadt sein berufliches und privates Glück sucht. Sie kann ihn nicht vergessen, obwohl sie ihn vergessen will. Christian geht es nicht anders. Auch er möchte nichts mehr mit Annabell zu tun haben und lässt doch nichts unversucht, um an ihrem Leben weiter teilzuhaben.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

1.

Zärtlich streichelte Christian mit der Hand über den nackten Rücken seiner Liebsten. Annabell hatte ihren Kopf auf seine Brust gelegt und genoss mit verschlossenen Augen das sanfte Gleiten seiner Finger entlang ihrer Wirbelsäule. Diese Minuten der Entspannung nach dem intensiven Sex waren für beide zu einem Ritual geworden. Ermattet, aber zufrieden, innerlich noch aufgewühlt und dennoch in wohlige Wärme eingehüllt, hielten sie inne und ruhten in sich, nur den gleichmäßigen Herzschlag des anderen spürend und darauf wartend, dass die Müdigkeit kam, die sie beide in einen tiefen, festen Schlaf versetzen würde.

Das fahle, weiche Licht einer Nachttischlampe trug seinen Teil dazu bei, die Müdigkeit zu fördern. Die beiden würden wahrscheinlich noch vor Mitternacht sanft hinübergleiten in die Welt der wohligen Träume.

Annabell spürte an seinem sich hebenden Brustkorb, dass Christian kräftig einatmete, als wolle er sich auf etwas vorbereiten, von dem sie noch nicht wusste, was es sein sollte.

„Also gut!“

Christian atmete tief aus und pustete dabei einige ihre kurzen, lockigen braunen Haare aus dem Gesicht, die ihm in der Nase kitzelten. „Wollen wir heiraten, mein Schatz?“

Vielleicht hatte er forsch wirken wollen, doch kam die Frage nur äußerst vorsichtig über seine Lippen. Seine sonst so beruhigend wirkende, tiefe Stimme, die seine gewohnte Gelassenheit üblicherweise unterstrich, war zum Krächzen geworden.

Christians Herz pochte spürbar. Sollte sein Vorstoß dynamisch und entschlossen wirken, so war er zum Gegenteil verkommen.

Die Frage wirkte ängstlich. Es schien, als habe Christian Angst vor einer Antwort, die er nicht hören wollte.

Die Antwort war in der Tat nicht, wie er sie sich gewünscht hätte: „Spinnst du?“ Annabell gab sich unbeeindruckt, sie blieb kühl, unaufgeregt, als spräche sie über die Einkaufsliste für den nächsten Besuch im Supermarkt. Sie hatte noch nicht einmal ihren Kopf von seiner Brust gehoben, um ihn anzuschauen. „Rauben dir die Frühlingsgefühle etwa den Verstand? Kaum haben wir Mai, und schon spielen deine Hormone verrückt.“

Sein Herzrasen nahm zu.

„Nein. Bella, ich meine es ernst“, sagte er langsam. Christian wiederholte seine Frage: „Wollen wir heiraten, mein Schatz?“

„Warum sollten wir?“

Wollte sie tatsächlich die berühmte Liste mit den Gründen für und wider aufstellen, um dann zu einem Ergebnis zu kommen? Konnte sie selbst bei dieser Frage nicht ihre Rationalität ausschalten und ihren Gefühlen folgen? Hatte sie überhaupt Gefühle, dieser Kopfmensch mit der drahtigen Figur, dem er scheinbar heillos verfallen war? Ehe er eine Antwort geben konnte, hatte Annabell, für sie schon untypisch, einen Zusatz gemacht: „Ich glaube, du hast deinen Verstand verloren, Herr Doktor.“

„Warum? Das fragst du?“ Trotzt seiner Aufregung bemühte sich Christian, ruhig zu bleiben, auch wenn sein Herzschlag der auf ihm liegenden Frau deutlich vernehmbar das Gegenteil offenbarte. „Weil ich dich liebe, Frau Doktor.“ Wenn es noch kein Lied über die intellektuelle Annabell geben würde, so müsste es für sie geschrieben werden, dachte er.

„Was ist das: Liebe?“ Annabells Stimme blieb sachlich und kühl. Im gleichen Tonfall würde sie wahrscheinlich beim Metzger zwei Steaks oder beim Bäcker ein Paket Schwarzbrot bestellen.

„Liebe ist das, was uns verbindet.“ Christian antwortete mechanisch.

Nach seiner Planung hätte das Gespräch anders laufen müssen, hätte Annabell vielleicht Bedenken geäußert, aber nicht die grundsätzliche Einwilligung verweigert. Die unterbliebene Zustimmung machte ihm zu schaffen, auch wenn er es Annabell gegenüber nicht zugeben würde.

Sollte er die Frage zurücknehmen? Aber sie war im Raum. Zum zweiten Mal; doch anders als bei seinem ersten Antrag war er dieses Mal davon ausgegangen, bei Annabell auf offene Ohren zu stoßen.

Bei seinem ersten Antrag waren sie beide leicht angetrunken gewesen, und sie hatten ihn am nächsten Tag als unpassend und verfrüht bewertet. Aber damals hatte Annabell nicht nein gesagt. Jetzt war ihre Widerspenstigkeit unmissverständlich.

„Aha, Liebe ist als das, was uns verbindet, mein Freund“, sagte sie mit leichten Spott in der Stimme. „Und was verbindet uns?“

Wollte Annabell Tabellen analysieren oder wollte sie mit ihm über Gefühle reden? Offenbar konnte oder wollte sie nicht aus ihrer Haut. In ihrer Welt der Zahlen kamen Gefühle oder gar das Gefühl der Liebe nicht vor. Christian nahm es ihr nicht einmal übel. Sie war so. So hatte er sie kennen gelernt, und so liebte er sie.

„Wir verbringen die meisten Stunden des Tages und die meiste Zeit unseres Lebens zusammen“, antwortete Christian. Er ließ unablässig die Finger über die Wirbelsäule seiner Partnerin tanzen.

Die junge Frau lachte kurz auf. „Kein Wunder, wenn man in einer Firma arbeitet und sich dabei immer wieder unweigerlich über den Weg laufen muss und sich eine Wohnung teilt. Da ist es eine zwangsläufige Folge, dass wir die meisten Stunden des Tages und die meiste Zeit unseres Lebens zusammen verbringen.“

„Eben, weil wir uns eine Wohnung teilen. Das ist eine Folge unserer Liebe. Ich wäre doch nie mit dir zusammengezogen, wenn es zwischen uns nicht die Liebe geben würde.“

„Papperlapapp.“ Annabell benutzte ihr Lieblingswort, das immer zum Einsatz kam, wenn sie grundsätzlich mit einer Aussage oder der Annahme eines anderen nicht einverstanden war und sie eine andere Ansicht, nämlich die ihre, als richtig erachtete. „Wir sind zusammengezogen, weil eine Wohnung billiger ist, als zwei es sind. Das solltest du als Rechenmeister kennen. Das ist reine Praktikabilität, aber keine Liebe, mein Lieber.“ Sie rieb nach wie vor mit ihren Fingern an seinem Ohrläppchen, als sei das Gespräch über eine mögliche Heirat nicht mehr als die kurzzeitige Unterbrechung einer Liebkosung und daher nicht von Belang.

„Wir lieben uns, weil wir gerne und viel miteinander schlafen. Oder anderes herum gesagt: Weil wie gerne und viel miteinander schlafen, lieben wie uns. So einfach ist das.“

Annabell küsste ihn sanft auf die Brust. „Du bist gut im Bett. Ich genieße es. Und du kommst dabei auch nicht zu kurz. Das ist Sex, aber keine Liebe. Das ist ein von der Natur vorgegebener Trieb, der uns leitet. Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.“

Christian seufzte leise. „Mach es uns doch nicht so schwer, meine Liebe. Wie lieben uns, weil wir uns ungeniert vor allen Leuten küssen, so dass jeder erkennen kann, dass wir zusammengehören.“

„Unsinn.“ Annabell rieb ihre Nase an seinem Brustkorb, als wolle sie ein Niesen verhindern. „Küssen macht mir Spaß, ebenso wie das Kuscheln und das Streicheln. Ich mag deine körperliche Nähe. Und außerdem ist Küssen gut für die Gesundheit, habe ich vor kurzem gelesen. Also, ich fördere deine und meine Gesundheit. Das Küssen hat trotz aller Glückshormone einen rein praktischen Wert als gesundheitsfördernde Maßnahme.“

„Willst du mich nicht verstehen oder kannst du mich nicht verstehen?“ Christian fühlte sich immer mehr unausweichlich und ungeschützt in eine Ecke gedrängt, aus der er nicht mehr herauskam „Es ist Liebe zwischen uns, weil wir füreinander da sind und uns gegenseitig helfen, ohne etwas dafür zu fordern.“

„Das, was du gerade beschreibst, macht für mich echte Freundschaft aus“, entgegnete die Frau sachlich. „Und ich bin glücklich, einen Freund wie dich zu haben. Aber Liebe? Liebe ist das für mich nicht.“

Christian wollte immer noch nicht aufgeben. „Weil wir uns ergänzen und vertrauen. Weil wir keine Geheimnisse voreinander haben. Weil wir ...“

„…auch das ist für mich keine Liebe“, fiel Annabell ihm ins Wort. Sie gähnte ungeniert und laut vernehmlich.

„Sondern? Wie würdest du unsere Beziehung nennen. Die ist nach deiner Lesart was?“

„Unsere Beziehung, also unsere Freundschaft, ist eine logische Folge unserer Harmonie. Eigentlich ist das für vernunftbegabte Menschen, wie wir beide es sind, ein Lernprozess von Selbstverständlichkeiten.“ Annabell blieb unbeeindruckt.

Oder war sie schlimmer als ein störrischer Esel? Christian musste sich eingestehen, dass er mit seinem Heiratsantrag bei dieser Frau anscheinend nicht ankam. Annabell zeigte ihre rationale, analytische Seite. Sie hatte auch eine andere, wie er zu Genüge miterlebt hatte. Die ehrgeizige Annabell konnte durchaus temperamentvoll sein, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Wenn sie wie eine Furie auf dem Tennisplatz wegen eines Fehlers oder einer Fehlentscheidung loslegte, hatte es keinen Zweck, dagegen zu halten. Es gelang dann nur ihm, sie wieder einzufangen, wenn er sie umarmte und mit Küssen eindeckte. Dann war sie im Nu wieder beruhigt – bis zum nächsten Fehler oder der nächsten Fehlentscheidung. Dadurch hatten sie schon manches Spiel gewonnen, weil sich die Gegenspieler gar nicht mehr trauten, einen von Annabell knapp hinter die Linie geschlagenen Ball als fehlerhaft zu bewerten. Manchmal hatte Christian den Eindruck gehabt, als seien selbst ihre Temperamentsausbrüche Teil ihres Kalküls, um bei einem Match zu siegen.

„Annabell, was ist denn für dich Liebe?“ Christians Zweifel an sich, an dieser Frau und an seinem Vorstoß wuchsen.

War es überhaupt noch möglich, dass sie seinen Antrag annahm? Und selbst, wenn sie es tat, lag da nicht für alle Zeit die Diskussion wie ein schwerer Schatten über ihrer Beziehung?

„Ich weiß es nicht“, antwortete Annabell nüchtern wie bei einem betriebswirtschaftlichen Problem, dem sie sich langsam annäherte, um es zu analysieren und um Lösungsansätze zu definieren. „Ich kann es dir nicht sagen, was für mich Liebe ist. Ich glaube, ich habe sie noch nicht gefunden, wenn es sie denn überhaupt geben sollte. Deshalb kann ich auch nicht richtig an sie glauben.“

Seine Zweifel wurden immer größer. Ein Schwindelgefühl setzte ein. Christian fühlte sich hundeelend, nicht wie ein Mann, der glücklich und zufrieden gerade erst aus einem Liebesrausch erwacht war. „Dann muss ich also davon ausgehen, dass du mich nicht heiraten willst, weil du nicht weißt, ob du mich liebst.“

Annabell küsste ihn wieder zärtlich auf die Brust. „Nein, mein Schnelldenker, ich will dich nicht heiraten. Für eine Heirat besteht meinerseits im Moment und wahrscheinlich auch in Zukunft keinerlei Anlass.“

Christian sah keinen Grund, seine Enttäuschung zu verbergen. „Du könntest wirklich ohne mich sein? Tatsächlich ohne mich auskommen?“

„Warum sollte ich das nicht können? Ich bin finanziell selbstständig, auf niemanden angewiesen und fühle mich emanzipiert.“ Annabell hob leicht ihren Kopf an und betrachtete sein Gesicht, in dem die Enttäuschung unverkennbar war. Ihre braunen, klaren Augen ließen keine Gefühle erkennen. Er konnte weder ein Flackern noch ein unsicheres Umherwandern in ihnen entdecken. Annabell schien mit sich im Reinen zu sein und die Situation als von ihr vollkommen beherrscht anzusehen. „Das ist für dich keine gewachsene Liebe, obwohl wir jetzt schon seit sieben Jahren zusammen sind und seit vier Jahren eine gemeinsame Wohnung haben?“ Es war Christian unbegreiflich, wie seine Liebste so emotionslos über ihre Beziehung reden konnte.

Annabell schmunzelte. „Du kannst nicht rechnen. Und so was nennt sich Diplommathematiker. Es sind erst sechs Jahre und neun Monate, mein Lieber.“ Sie war und blieb die Statistikerin, selbst in ihrer privaten Beziehung. Annabell zählte nicht Monate und Tage, die ihre Beziehung schon dauerte, um sie als Zeit der Liebe in Erinnerung zu halten, sie zählte sich nüchtern und sachlich wie alle Fakten und Daten, die sich in Statistiken unterbringen und vergleichen ließen.

„Und warum dann unsere gemeinsamen Urlaube? Das Doppel im Tennis, das du nur mit mir spielen kannst, weil niemand sonst mit deiner Spielweile zurechtkommt? Die Radtouren, bei denen niemand unser Tempo halten kann, weswegen du nur mit mir fährst? Und die Kneipenbummel, bei denen du sicher sein kannst, dass ich dich wohlbehalten nach Hause begleite?“ Christian hätte noch mehr Beispiele aufführen können, wie etwa einen Betriebsausflug, bei dem Annabell alle mit ihrem statistischen Wissen nervte und nur er sie auf andere Gedanken bringen konnte, oder der einmalige Kegelabend, bei dem Annabell schon nach dem ersten Wurf besserwisserisch wusste, wer mit welcher Kugel wie viele Kegel erwischt.

Unbeeindruckt beantwortete Annabell seine Frage: „Weil zu zweit alles schöner ist als alleine. Und weil ich weiß, wie du tickst.“ Der leicht genervte Unterton in ihrer Stimme machte Christian deutlich, dass das Gespräch nicht mehr lange dauern würde. Sie würde es abrupt beenden, wenn es sich nach ihrer Überzeugung sinnlos im Kreise drehte und sie sich von einer Fortsetzung nichts versprach.

Schnell warf Christian ihr sein nächstes Argument vor, auch wenn er selbst nicht mehr glaubte, dass er damit bei Annabell punkten konnte: „Und wenn ich nicht ohne dich sein kann und mit dir alt werden möchte? Kannst du dir das nicht vorstellen?“

„Das ist dein Problem, nicht meines. Außerdem will ich nicht alt werden. Darüber mache ich mir genauso wenig Gedanken wie über das Heiraten.“ Annabell lebte in der Gegenwart mit einer klar strukturierten Vorstellung ihrer Zukunft, zu der ein gutes, sicheres Einkommen in ihrem Traumberuf und ein angenehmes Umfeld mit einigen wenigen Freunden gehörte.

Christian stöhnte laut auf: „Und Mutter sein? Willst du wirklich kein eigenes Kind?“ Er selbst konnte sich vorstellen, eine Familie zu gründen, zu der nicht unbedingt nur zwei Kinder gehören mussten. Es könnten auch gerne mehr sein.

Seine eigene Familie diente Christian als erstrebenswertes Vorbild. Seine drei Geschwister und seine Eltern hatten ihm Rückhalt und Geborgenheit gegeben, ihm ein Nest geboten, aus dem er ohne Widerstand davonfliegen und in das er immer wieder zurückkehren konnte, wenn er wollte. Aber er wusste auch, dass Annabell nicht unbedingt seine Auffassung von der Wohlfühloase in einem Familienleben teilte, und er fühlte sich durch ihre Antwort einmal mehr bestätigt.

Annabell hatte die nächste Stufe ihres Unmuts erreicht. Aus dem genervten wurde ein gereizter Zustand. Sie stöhnte ungehalten: „Will ich weder werden noch sein. Die Diskussion hatten wir doch schon einmal und meine Entscheidung steht fest. Hast du das schon wieder vergessen? Da kannst du machen, was du willst, ich werde garantiert nicht schwanger. Ich will kein Kind, geschweige denn sogar Kinder. Das ist mit mir nicht verhandelbar. Punkt!“ In gewisser Weise war ihr Verhalten verständlich. Als wohlbehütetes Einzelkind in einer wohlhabenden Familie war sie aufgewachsen, stets die Prinzessin ihres Vaters, einem Mathematikprofessor, und einer Mutter, die als Fabrikantentochter nie erfahren hatte, wie es sein könnte, ohne Geld in der Tasche über den Tag zu kommen. Annabell kannte es nicht anders, als unbekümmert, von finanziellen Sorgen frei und ohne Verantwortung für Geschwister das Leben zu genießen.

Es fiel Christian schwer, seine nächste Bemerkung über die Lippen zu bringen. Aber es musste sein. So konnte er nicht mehr weitermachen: „Dann ist es wohl Zeit für mich zu gehen und nachzudenken.“

Entweder hatte ihm Annabell nicht zugehört oder sie hatte ihn nicht verstanden. „Tu das, mein Schatz. Geh in dich.“

Sie hob wieder ihren Kopf und schaut ihn freundlich an. „Keine Sorge. Der Frühling und deine Frühlingsgefühle gehen vorüber. In ein paar Wochen ist alles vorbei. Nachdenken ist immer gut.“ Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und lächelte ihn an. „Und jetzt lass uns endlich schlafen. Morgen ist ein anstrengender Tag für mich. Außerdem ist der Schlaf vor Mitternacht bekanntermaßen der gesündeste.“ Schnell drehte sie sich auf die Seite und wandte ihm ihren nackten Rücken zu. Er hörte, wie sie laut gähnte und bestimmend sagte: „Mach bitte das Licht aus, mein Schatz.“

Wortlos tat Christian, wie Annabell ihm auferlegt hatte, und schaltete die Nachttischlampe aus. Noch lange lag er in der Dunkelheit mit im Nacken verschränkten Armen auf dem Rücken und starrte in Richtung Zimmerdecke. Endlich hatte er seine Gedanken sortiert und seinen Entschluss gefasst. Seufzend drehte er sich auf die Seite und langte nach seinem Smartphone auf dem Nachtschränkchen. Mit flinken Fingern aktivierte er die Weckfunktion seines Smartphones. Allzu lange würde die Nacht nicht dauern, dachte er sich, während er wachliegend und aufgewühlt die ruhigen Atemzüge seiner Bettnachbarin vernahm. Er hatte sich seine Zukunft anders ausgemalt, eine Zukunft an der Seite von Annabell. Aber er würde seine Zukunftsplanung wohl überdenken müssen.

Das war ihm in den letzten Minuten schmerzlich bewusst geworden.

2.

„Dass ich das noch erleben darf.“ Freudestrahlend hatte Elisabeth ihre Freundin Annabell umarmt und sie geherzt. „Du verabredest dich mit mir. Sonst bin ich es doch immer, die dich daran erinnern muss, dass zur Freundschaft auch ein regelmäßiger Kaffeeklatsch gehört.“

Annabell lächelte gequält. Sie hatte lange mit sich gerungen und sich dann zu einem Treffen mit ihrer besten Freundin Elisabeth entschieden. Sie kannten sich schon von Kindesbeinen an. Elisabeth war das einzige Mädchen gewesen, das sie zu Hause besuchte und dem es egal war, dass Annabell in einer großen Villa mit einem riesigen Park sorglos aufwuchs, während sie selbst mit ihren Eltern und Bruder in einer kleinen Mietswohnung leben musste. Sie musste sich alles das erarbeiten, was ihrer Freundin ohne eigenes Zutun in die Hände fiel. Aber das war für sie kein Problem und vor allem kein Grund, neidisch zu sein. Elisabeth war es gewesen, die Annabell immer verteidigte, wenn in der Klasse ein Streit wegen eines Jungen ausbrach, sie war nie eifersüchtig gewesen auf Annabells Freunde; und auch Annabell hatte stets zu Elisabeth gehalten, im Liebeskummer ebenso wie im Liebestaumel. Sie hatten nie Geheimnisse vor einander gehabt und sie hatten sich teenagerhaft geschworen, gegenseitig immer füreinander da zu sein.

Nach dem Abitur hatte ihre Freundschaft eine Pause eingelegt, die endete, als sie beide wieder in ihrer Heimatstadt zusammentrafen, Annabell nach dem Studium in London und Stockholm als Diplomstatistikerin bei der renommierten Unternehmensberatung; Elisabeth, die selbst für ihr Studium die vertraute Stadt nicht verlassen hatte, als Lehrerin für Deutsch und Geschichte an einer Gesamtschule. Manchmal hätte Annabell so sein wollen, wie Elisabeth war; quirlig und romantisch veranlagt, ein harmoniebedürftiger Familienmensch, der sie selbst nie war. Wo Elisabeth versuchte, Streit harmonisch zu beenden, führte sie lieber ein Streitgespräch so lange, bis der Gesprächspartner von ihren Argumenten überzeugt war oder er resigniert das Weite gesucht hatte.

Erst bei Christian hatte Annabell das Gefühl gehabt, einen ebenbürtigen männlichen Partner gefunden zu haben, dem sie auch zugestand, einmal Recht zu haben. Er hielt sie fest und ließ ihr gleichzeitig die Luft, um frei atmen zu können. Er war da, wenn sie ihn brauchte, er ließ sie los, wenn sie es wollte, und er ging, wenn sie es wünschte, weil sie wusste, dass er zurückkam. So war es bisher immer gewesen.