Augen-Blicke - Renée Miller - E-Book

Augen-Blicke E-Book

Renée Miller

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Beschreibung

Anna-Karina fühlt sich magisch von Winand angezogen. Winand möchte Anna-Karina nicht missen. Aber sie können und wollen kein Liebespaar sein. Da ist zum einen der Altersunterschied und zum anderen die private Situation: Die geschiedene, alleinerziehende Anna-Karina steht vor der Heirat mit ihrer Jugendliebe. Winand macht deutlich, dass er sich niemals von seiner Frau scheiden lassen werde. Sie genießen die wenigen Augen-Blicke, die sie haben. Und dennoch. Anna-Karina und Winand können nicht ohne den anderen sein und wissen zugleich, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben können. Aber geht es, eine Vertrautheit und Freundschaft zu leben, in der die Liebe keinen Platz haben darf? Und wo keine Liebe stört, gibt es auch keine Eifersucht. Oder doch? Ist wirklich alles gut? Ehe tatsächlich alles gut ist, müssen Geheimnisse geklärt, Irrtümer behoben und Verstrickungen aufgedröselt werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei zwei Gemälde, zwei "Augen-Blicke", deren tatsächlichen Wert Anna-Karina erst erkennt, als es fast zu spät für sie und ihre Liebe ist. Ohne ihre Freundin Christina wäre die Sommerliebe für sie ebenso gescheitert wie für den selbstlosen Winand, der aus Rücksichtnahme auf sein eigenes Glück verzichten will.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1.

„Alles gut? Alles gut!“

Die Frage und die Antwort waren längst zu einem Ritual geworden, ohne das er nicht mehr sein wollte. Wenn er morgens seinen Rechner hochgefahren hatte, ging sein suchender Blick zunächst auf die Namensliste des Nachrichtendienstes; und wenn er dort erkannte, dass Anna-Karina ebenfalls online war, schickte er seine Botschaft an sie auf die Reise. Nicht immer antwortete sie direkt, aber er konnte sich auf ihre Antwort verlassen. Sie würde im Laufe des Tages kommen.

In den meisten Fällen war sie gleichlautend mit seiner Nachricht: „Alles gut? Alles gut!“

Sie brauchten nicht viele Worte, um ihre gegenseitige Vertrautheit zu bekunden. Ihr ging es gut, ihm ging es gut, das machten sie sich mit diesen vier Worten deutlich.

Wenn es die Zeit erlaubte, würden sie sich nachmittags auf eine Tasse Kaffee treffen, abends bei einem Essen in einem Restaurant oder bei einem Spaziergang durch die Natur, wenn Anna-Karina denn einmal alleine und ohne Verpflichtungen sein konnte. Dann redeten sie über die Dinge, die geklärt werden mussten oder bei denen er ihr geduldig zuhörte und sie gerne seine Gedanken aufnahm. Die Probleme mit ihren Kindern, ihre permanente finanzielle Zwangslage, ihre berufliche Unsicherheit, ihre familiäre Situation, ihre gegenseitige Beziehung, die sie ebenso wie er nicht aufgeben wollte. Es gab immer viel zu besprechen; und eigentlich auch zwischen ihnen zu entscheiden. Doch diese Entscheidung schoben sie immer wieder hinaus, weil beide sie gar nicht treffen wollten. Alles war gut, so wie es war – auch wenn es besser sein könnte, und es war auf jeden Fall besser, als gar nichts miteinander zu haben.

Er widmete sich seinen Emails, als der Nachrichtendienst einen Eingang vermeldete. Anna-Karina hatte geantwortet, wie er erfreut feststelle. Schnell klickte er ihre Botschaft an.

Seine Miene verfinsterte sich schlagartig, während er den einzigen Satz las: „Rüdiger hat mir eben einen Heiratsantrag gemacht“, hatte Anna-Karina geschrieben, und ihre Meldung ohne ein sonst übliches Smiley abgeschickt.

Er musste schlucken. Schwindel machte sich in seinem Kopf breit. Sein Puls stieg, er atmete schwer, der Schmerz, der sich in seinem Herzen ausbreitete, war schier unerträglich.

„Rüdiger hat mir eben einen Heiratsantrag gemacht.“

Dieser Satz veränderte in einem einzigen Augenblick alles, sein Leben, Anna-Karinas Leben, ihr gemeinsames Leben. Ihre gemeinsame Zukunft? Er versuchte sich zu entspannen, seine rasenden Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Hatte er nicht damit rechnen müssen? Hatten Anna-Karina und er überhaupt je eine Zukunft gehabt? War es nicht sinnvoll und richtig, dass Rüdiger Nägel mit Köpfen machte und Anna-Karina fest an sich binden wollte? War seine eigene Beziehung zu Anna-Karina nicht nur ein schönes Intermezzo gewesen? Für sie ebenso wie für ihn?

Ihre Beziehung konnte auf Dauer nicht gut gehen. Dazu lebten sie in zu unterschiedlichen Welten. Ihr Versuch, daraus auszubrechen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, wie er bei nüchterner Betrachtung anerkennen musste. Das war ihm ebenso wie Anna-Karina im Prinzip klar gewesen. Doch sie hatten darüber nicht sprechen wollen, das irgendwann unvermeidlich Eintretende verdrängt, verschwiegen.

Sie hatten vielmehr ihre Momente genossen, sich seinen Spruch zu Eigen gemacht: „Genieße den Augenblick, schaue mit Stolz zurück und blicke mit Freude nach vorn.“

Jetzt war offensichtlich der Moment gekommen, an dem er nicht genießen konnte, an dem er allenfalls mit dem stolzen Blick zurück vielleicht die Freude für die Zukunft, für die Zukunft ohne Anna-Karina, finden konnte. Die Vergangenheit, die viel zu wenigen gemeinsamen Stunden, die konnte ihm niemand mehr nehmen. Aus denen konnte er vielleicht einmal die Kraft schöpfen, um zu leben.

Doch in diesem Moment fühlte er sich kraftlos, müde, enttäuscht, verlassen, sinnlos, alt, mit dieser Nachricht war das Leben wieder trostlos geworden; wenngleich er sich damit tröstete, dass andere körperlich und psychisch allemal schlimmer dran waren als er selbst.

Würde es etwa ändern, wenn er in der schönen Erinnerung schwelgen würde?

Der Satz: „Rüdiger hat mir eben einen Heiratsantrag gemacht“ war in der Welt und änderte vieles, wenn nicht sogar alles.

2.

Das erste Mal waren sie sich im Finanzamt begegnet. Er hatte im proppenvollen Wartebereich auf einer Bank gesessen, als Anna-Karina in großer Eile herangekommen war.

Sie stutzte erschrocken, als sie die vielen Menschen erkannte, die dort mehr oder weniger geduldig ausharrten. Seufzend hockte sie sich neben ihn auf den letzten freien Platz auf der Bank, ohne ihn sonderlich zu beachten.

„So ein Mist“, fluchte sie leise vor sich hin, „das kann dauern. Das hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt.“

„Es wird für Sie noch viel länger dauern, als sie glauben, wenn Sie sich nicht eine Nummer ziehen“, meinte er höflich und deutete auf den kleinen Kasten neben der verschlossenen Bürotür. „Ohne Nummer sind Sie bei dieser Behörde eine Null.“

„Danke“, sagte Anna-Karina ungehalten und kam seiner Empfehlung schnell nach. Mit dem kleinen Papierstück in der Hand setzte sich sie wieder hin. Nervös machte sie sich an ihrem Handy zu schaffen.

„In Eile?“, fragte er beiläufig, als wolle er die unergiebige Wartezeit mit einer unverfänglichen Plauderei überbrücken.

„Was geht Sie das an?“, pflaumte sie ihn böse an, ohne den Blick vom Handy zu nehmen..

Beschwichtigend hob er die Arme. „Entschuldigung, wenn ich aufdringlich war. Kommt nicht wieder vor.“ Er lehnte sich zurück und verschloss die Augen, um zu dösen.

Ein Klingelzeichen und das Aufblinken einer Zahl auf einem Monitor über der Tür, aus der ein Mann hinaustrat, weckten die Aufmerksamkeit der Wartenden. Alle stierten sofort auf die Ziffernfolge.

„Oh, nein!“, stöhnte Anna-Karina verzweifelt, als sie die Zahl erkannte. „Da dauert ja mindestens ne Stunde, bis ich dran bin. 20 vor mir und bestimmt jeder drei Minuten.“

„Damit kommen Sie nicht hin“, sagte er in ruhigem, nicht belehrendem Ton. „Hier, nehmen Sie!“ Er hielt ihr sein Zettelchen hin. „Wir tauschen“, schlug er ihr vor. Er habe alle Zeit der Welt.

Instinktiv griff sie zu. Der Zettel trug die Nummer, die als nächste angekündigt werden würde. Sie lachte erleichtert auf.

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Mein Sohn wartet beim Arzt auf mich. Der Lehrer meiner Tochter will in einer halben Stunde mit mir reden. Sie sind meine Rettung. Ich weiß nicht, wie ich das sonst hingekriegt hätte. Heute ist für mich letzter Abgabetermin für die Steuererklärung.“

„Na, na. Nun übertreiben Sie mal nicht, junge Frau.“ Er schmunzelte. „Ein kleines freundliches Lächeln als Dank reicht mir allemal.“

Die Melancholie in seinen blauen Augen fiel ihr als Erstes auf, als sie in sein Gesicht blickte. Ein Mann, knapp über die Sechzig, schätzte sie, graues, kurzgeschnittenes Haar, glatte Haut. Alt, aber längst kein Senior, eher ein sogenannter best ager. Sie lächelte ihn wieder an und freute sich über das frohlockende Aufblitzen in seinen Augen.

Das erneute Klingelzeichen machte ihr deutlich, dass sie an der Reihe war.

„Danke“, sagte sie und erhob sich schnell. Er blickte ihr zufrieden nach und beobachtete, wie ihr Schal, den sie achtlos hineingestopft hatte, aus der Jackentasche fiel.

„Sie haben etwas verloren“, sagte er, nachdem sie wieder in den Wartebereich getreten war. Höflich reichte er ihr den Schal. Die Frau, die er auf Mitte 40 schätzte, war fast einen Kopf kleiner als er. Das wellige, braune Haar fiel ihr auf die Schultern. Ihre Jeans, die in braunen Stiefeln steckten, und die Übergangsjacke waren zwar einfach, aber sauber. Kein ausstaffiertes Modepüppchen, sondern eine Frau aus dem Leben.

„Alles gut?“, fragte er.

„Wie man’s nimmt“, antwortete sie. „Der Beamte hat alles akzeptiert und abgestempelt.“ Sie grinste ihn aus klaren, braunen Augen an. „Ich muss los.“

„Ich weiß, der Arzt und der Lehrer.“ Er griff zur Plastiktasche eines Lebensmitteldiscounters, die er zwischen den Beinen eingeklemmt hatte, und ging zur Bank zurück.

„Winand, was machst du denn hier?“, hörte sie eine tiefe Männerstimme durch den Raum dröhnen, während sie sich entfernte. „Warum wartest du hier und bist du nicht zu mir gekommen?“

Unwillkürlich schaute sie sich um und bekam die Antwort mit.

„Weil ich ein Steuerpflichtiger wie jeder andere bin, der von dir oder einem deiner Kollegen keine Sonderbehandlung erwartet“, entgegnete der freundliche Mann dem ungefähr Gleichaltrigen, der wegen der unter dem Arm geklemmten Akten unschwer als Finanzbeamter zu erkennen war. „Im Prinzip bin ich auch nur eine Nummer.“

3.

Anna-Karina erkannte den Mann zweifelsfrei wieder, der ihr mit gesenkten Kopf auf dem Weg entgegenkam.

Er war mit der geschlossenen Winterjacke zu warm für das frühlingshafte Wetter gekleidet.

„Guten Tag“, sagte sie mit ausgewählter Höflichkeit, als sie sich begegneten.

Geistesabwesend nickte er ohne aufzuschauen und machte mit schnellen Schritten einen großen Bogen um sie.

„Hallo! Geht‘s noch?“, empörte sie sich temperamentvoll. Wenigstens einen Gruß hätte sie schon erwartet. Aber war sie dem Kerl nicht einmal ein einziges Wort wert?

Dieses Verhalten hätte sie nach ihrer ersten Begegnung im Finanzamt nicht angenommen.

Der Mann stutzte, dann drehte er sich um, schaute auf und sah sie an: Mitte 40 vielleicht, strahlende Augen in einem schönen Gesicht mit einem breiten Mund und einer niedlichen Nasenspitze, schulterlanges, welliges Haar.

„Kennen wir uns?“ Er schien zu überlegen. Dann tippte er sich gegen den Kopf. „Natürlich kennen wir uns. Entschuldigen Sie mein schlechtes Erinnerungsvermögen. Finanzamt. Sie hatten es eilig. Stimmt’s?“

Anna-Karina war sich nicht sicher, ob der Mann nur so tat, als müsse er krampfhaft nachdenken oder ob er sie tatsächlich nicht auf Anhieb wiedererkannt hatte.

„Stimmt“, bestätigte sie. „Sie waren mein Retter in der Not.“

„Na, ja“, meinte er abwiegelnd. Er schmunzelte. „Hat sich meine Rettungstat denn wenigstens für Sie gelohnt?“

„Und ob sie das hat.“ Anna-Karina nickte heftig. „Ich habe schon Bescheid bekommen und einen richtig schönen Batzen Geld zurückgekriegt.“

„Das freut mich für Sie, auch wenn mein Beitrag dazu wohl äußerst gering ist.“ Die Melancholie, die ihr sofort aufgefallen war, war in seine Augen zurückgekehrt.

„Und was machen Sie jetzt hier?“, fragte er.

„Sieht man’s etwa nicht?“ Anna-Karina deutete auf die beiden Fotoausrüstungen, die sie über die Schulter gehängt hatte, und auf die Kamera in ihren Händen. „Ich fotografiere.“

„Leichen?“

Sie lachte auf. „Bloß nicht. Ich mache Jagd auf Grabsteine. Für einen Steinmetz. Der braucht die Fotos für eine Broschüre.“

„Sie sind also Fotografin und beruflich hier auf dem Friedhof unterwegs?“ Wieder schlug sich der Mann stöhnend mit der Hand gegen die Stirn. „Was für eine blöde Frage! Ich nehme sie zurück.“

„Akzeptiert. Und Sie haben natürlich recht mit Ihrer Annahme.“ Sie betrachtete ihn prüfend wie ein Modell. „Von Ihnen ließen sich übrigens schöne Motive machen. Sie sind fotogen. Sie haben ein markantes Gesicht und interessante Augen, wenn ich das so sagen darf aus der Sicht einer Fotografin.“ Dass sie seine Augen und sein

Gesicht auch aus ihrer privaten Sicht attraktiv fand, behielt sie für sich.

„Nein, danke.“ Er hob abwehrend die Hände. „Ich mag keine Fotos von mir.“

„Schade.“ Sie sah ihn bedauernd an. Der Mann strahlte in seiner Melancholie eine faszinierende Gelassenheit aus. Er schien mit sich im Reinen.

„Und was machen Sie hier? Verwandtenbesuch?“ Sie biss sich auf die Lippe. Diese unpassende Bemerkung hätte sie am liebsten zurückgenommen.

„Glücklicher Weise nicht“, antwortete der Mann. „Sie erinnern sich an unsere Begegnung im vollen Wartebereich? Nachdem ich Ihnen Ihren Schal gegeben habe, hat mich ein Bekannter, der als stellvertretender Vorsteher im Finanzamt arbeitet, angesprochen.“

„Ja“, bestätigte Anna-Karina, „der Mann, der Sie Winand genannt hat.“ Innerlich pustete sie durch. Endlich war ihr der ungewöhnliche Vorname ihres Gesprächspartners wieder eingefallen war.

Winand schien die Nennung seines Namens überhören zu wollen. „Dieser Mann ist vor zwei Wochen gestorben. Herzinfarkt. Ist gerade mal 62 geworden.“ Er grinste gequält. „Kann mir nicht passieren.“

„Wieso nicht?“ fragte sie spontan. Sie erschrak über sich selbst. Wie konnte sie bloß zum zweiten Mal in einem Gespräch so respektlos sein? Der Tod mit 62 Jahren konnte Winand nicht ereilen, weil er dieses Alter überschritten hatte, so einfach war die Antwort auf ihre Frage gewesen, über die er hinweghörte.

Absichtlich oder unabsichtlich, wurde ihr wieder nicht klar.

„Leider konnte ich nicht an seiner Beerdigung teilnehmen“, fuhr er fort. „Deshalb habe ich meinem Abschiedsbesuch heute gemacht. Hat sich in gewisser Weise ja doch noch gelohnt.“

Winand lächelte entschuldigend nach einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr. „Und jetzt muss ich mich leider schon wieder von Ihnen verabschieden. Die Pflicht ruft. War schön, Sie zu sehen. Ich hoffe, es war nicht das letzte Mal. Sie tun mir gut.“ Er setzte sich wieder in Bewegung.

Anna-Karina sah dem Mann verblüfft nach. ‚Sie tun mir gut‘, das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Was hatte der Mann damit gemeint?

„Winand!“, rief sie ihm nach. Als er sich umdrehte, machte sie schnell eine Fotoserie von ihm.

In gespielter Abwehr hielt er sich die Hände vors Gesicht. Er wollte ihr den Spaß nicht verderben. Die Frau in der leichten Jacke, den Jeans und den Stiefeln gefiel ihm.

Vielleicht gab es ja tatsächlich ein nächstes Mal. Dann würde er nicht so unangenehm auffallen, beschloss er für sich.

4.

Die Steuerrückzahlung musste gefeiert werden. Endlich konnte Anna-Karina ihrer Freundin einmal den Kaffee und das Stück Kuchen spendieren. Ansonsten bezahlte immer Christina die Rechnung, wenn sie sich allwöchentlich im Café zur Plauderstunde trafen. Anna-Karina genierte sich längst nicht mehr, wenn Christina mit den Worten „Ich lade dich ein“ das Portemonnaie öffnete. Die Freundin hatte als festangestellte Redakteurin der Tageszeitung viel mehr Geld im Portemonnaie als sie, die sich und ihre Kinder als freiberuflich Tätige durchs Leben schlagen musste. Sie hatten gemeinsam das Abitur gemacht, dann hatten sich ihre Wege getrennt, ehe sie in dieser Stadt wieder zufällig zusammenliefen. Christina würde die Stadt längst als ihre Heimat bezeichnen, aus der sie nie wieder fort wollte, anders als ihre Freundin, die nichts dagegen hätte, an einen anderen Ort zu ziehen. Feste Wurzeln hatte sie nicht mehr.

Anna-Karina war Christina dankbar, dass sie von ihr mit Fotoaufträgen für die Zeitung versorgt wurde. Dadurch kam zwar nicht viel, aber immerhin regelmäßig und damit kalkulierbar etwas Geld in die stets klamme Familienkasse.

„Jetzt ist sie ausnahmsweise einmal gut gefüllt“, frohlockte sie.

„Du hast ja auch ausnahmsweise keine Fristen verstreichen lassen und keine Säumniszuschläge zahlen müssen“, kommentierte Christina nüchtern und schlürfte an ihrem heißen Getränk. „Das sind vollkommen überflüssige Ausgaben, für die du wegen deiner Schludrigkeit zahlen musst. Sei froh, dass du dieses Mal daran vorbeigekommen bist.“

„Winand sei Dank“, sagte Anna-Karina.

„Hä. Wem sei Dank?“

„Winand, meinem Retter.“ Anna-Karina lachte, während sie in ihrem Obstkuchen stocherte. „Hab ich es dir nicht erzählt? Als ich auf dem letzten Drücker im Finanzamt ankam und ich überhaupt keine Zeit mehr hatte, hat mir Winand seine Nummer überlassen. Da war ich sofort dran. Sonst hätte ich wieder gehen müssen und hätte die Abgabefrist verpasst.“

„Und jetzt bist du Winand ewig dankbar?“ Christina sah ihre Freundin mit einem schrägen Blick an.

„Quatsch. Ich finde es nur komisch, dass ich diesem Mann, der mir bisher in unsere Stadt überhaupt nicht aufgefallen ist, jetzt schon wieder begegnet bin.“

„Im Finanzamt?“

„Auf dem Friedhof.“

„Als Leiche?“

„Blödfrau. Wir sind uns zufällig begegnet.“

„So zufällig, dass du schon seinen Vornamen kennst“, meinte die Journalistin neckisch. „Winand. Wie kann man nur so heißen? Der ist bestimmt so altbacken wie sein Name. Oder handelt es sich etwa um einen gutaussehenden, jungen, kräftigen Mann mit breiten Schultern, an den du dich anlehnen kannst? Ich würde es dir ja von Herzen gönnen.“

„Du bist albern“, tadelte Anna-Karina ihre Freundin milde. „Das ist ein Mann im Rentenalter, höflich und zurückhaltend.“ Mit schönen Augen und durchaus attraktiv für sein Alter, aber diese Bemerkung behielt sie für sich.

„Dann ist das ja genau der Richtige für dich“, kommentiere Christina feixend. „Alt, höflich, zurückhaltend. Dieser Winand geht dir nicht an die Wäsche und trägt mit seiner Rente zu deinem Lebensunterhalt bei.“

„Nein, danke. Ich bin total zufrieden mit dem, den ich habe.“ Anna-Karina ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich derart necken ließ. Zugleich wusste sie, was folgen würde.

„Rüdiger ist nicht der Richtige für dich. Lass es dir von deiner Freundin einmal gesagt sein“, fuhr Christina prompt fort.

„Du bist ja nur neidisch.“ Anna-Karina, die in ihrer alltäglichen, einfachen Kleidung den krassen Gegenpol zur Freundin im Designeroutfit bildete, schob sich den Bissen in den Mund und kaute langsam. Sie schluckte. „So wie damals“, sagte sie genüsslich. „Da bist du ja auch vor Neid erblasst.“

Damals, das war noch zu Schulzeiten gewesen, kurz vor dem Abitur, als Rüdiger Christina hatte abblitzen lassen und sie mit ihm eine Liebschaft begonnen hatte, die eigentlich ewig dauern sollte.

„Ich, neidisch?“ Christina schmunzelte. „Dafür habe ich garantiert keinen Grund. Ich bin rundumversorgt. Der Schaumschläger Rüdiger kann mir gestohlen bleiben. Und du solltest dich auch von dem fernhalten, meine Liebe. Ehrlich.“

Christina hatte alles richtig gemacht, wenn Anna-Karina es beurteilen konnte. Ein fettes Gehalt als Leiterin der Kulturredaktion fürs sorgenfreie Leben und fürs Herz einen Professor, der Chefarzt der Kardiologie an der Uniklinik war.

Eigentlich hatte Anna-Karina allen Grund, neidisch zu sein. Dennoch lästerte sie bissig: „Deine Rundumversorgung steht auf tattrigen Füßen. Dein Kardiologe tut’s nicht mehr lange. Der geht doch stramm auf die Rente zu.“

„Auf die Pension, meine Liebe“, verbesserte Christina sie. „Nicht einmal 15 Jahre älter als ich ist mein Herzblatt, aber er hat die Kondition eines Ausdauersportlers in den besten Jahren. Die 60er von heute sind die 40er von gestern, lass es dir gesagt sein.“

„Dann fühlst du dich als Mittvierziger also wie eine Mittzwanziger, oder?“

„Natürlich. So ein Professor ist ein richtiger Jungbrunnen, kann ich dir nur sagen. Und du? Wenn ich mich nicht vertue, bist du sogar noch einige Monate älter als ich. Außerdem sind wir beide wohl eher Endvierzigerinnen als Mittvierziger. Nicht mehr lange und wir feiern Goldjubiläum.“

„Klar, mit Silberhaar“, kommentierte Anna-Karina, obwohl sie zugeben musste, dass Christinas schwarzes Haar nicht einmal eine Andeutung von Grau enthielt, während sie selbst gelegentlich ein graues zwischen ihren braunen Haaren entdeckte. Sie winkte ächzend ab.

„Ich komme mir jetzt schon vor wie eine alte Frau Mitte

60. Arbeit ohne Ende und ohne Aussicht auf große Einnahmen. Zwei aufmüpfige Kinder und ein verzogener Hund, die versorgt werden wollen. Da bleibt nicht allzu viel Zeit fürs Gemüt.“

„… und mit Rüdiger einen Kerl im Bett, der nicht zu dir passt“, unterbrach Christina sie. „Ich kann dir nur raten: Such dir einen Älteren. Das sage ich dir aus guter Erfahrung. Such dir so einen wie deinen Winand.“

„Erstens ist das nicht mein Winand“, entgegnete Anna-Karina gereizt. „Zweitens weiß ich gar nichts von dem. Drittens will ich überhaupt nichts von dem. Und viertens habe ich Rüdiger.“

„Klar. Du hast lieber einen Spatz in der Hand, von dem du noch nicht mal weißt, ob er dir aus der Hand frisst oder wegfliegt. Ich habe dir immer gesagt: Augen auf bei der Berufswahl. Und Augen auf bei der Partnerwahl. Aber du wolltest nicht auf mich hören.“

„Du bist wirklich nur blöd.“ Anna-Karina hatte keine Lust mehr auf das Gespräch. „Ich muss gehen.“ Sie griff zu ihrer Beuteltasche und kramte nach den Autoschlüsseln. Der sperrige Fotoapparat störte bei der Suche. Unwillkürlich musste sie grinste.

„Wenn du willst, kannst du dir ja mal ein Bild von Winand ansehen. Ist ein Schnappschuss vom Friedhof. Dann siehst du, dass das ein alter Mann ist.“ Geschickt fingerte sie an dem Gerät, bis auf dem Display ein Foto erschien.

„Das ist Winand.“

„Das ist Winand? Na, ja“, meinte Christina abschätzend nach ihrem prüfenden Blick. „Wie mein Professor sieht er nicht gerade aus, das gebe ich gerne zu. Aber für einen Mann in seinem Alter hat sich dein Winand gut gehalten. Du kannst ihn gerne für dich behalten, meine Liebe.“

„Das ist nicht mein Winand. Wie oft soll ich es dir sagen?“ Anna-Karina hatte ihre Stimme angehoben. Ungehalten wollte sie den Apparat wieder in die Beuteltasche zurücklegen.

„Moment mal!“ Christina hielt die Kamera fest. „Den Kerl kenne ich. Ich weiß nur nicht, woher. Kannst du mir das Bild mailen? Der kommt mir so bekannt vor. Das will ich herausfinden.“

„Du kannst mich mal“, sagte Anna-Karina ablehnend. „Die Fotos werde ich heute nirgendwohin schicken, sondern für immer in den ewigen digitalen Jagdgründen versenken.“

„Wie du meinst, meine Liebe. Keine Mail von dir an mich, keine Aufträge mehr von mir an dich. Du hast die Wahl.“

„Du Erpresserin“, zischte Anna-Karina und warf einen Geldschein auf die Tischplatte.

Selbstverständlich würde sie ihrer Freundin den Gefallen tun. Christina war im Laufe ihres Berufslebens so vielen Menschen begegnet, da hatte sie bestimmt auch einmal diesen unbekannten Winand getroffen.

„Der Mann hat wahrscheinlich vor Jahren bei einer Versammlung zufällig neben dir gesessen und dich mit einer Knoblauchfahne eingenebelt“, lästerte sie zum Abschied.

„Vielleicht. Aber vielleicht gibt es ja eine ganz tolle Geschichte über deinen Winand.“

5.

Winand hatte lange mit sich gerungen, ob er tatsächlich einen Abend außerhalb des Hauses verbringen wollte, doch dann hatte er sich zum Besuch des Sinfoniekonzerts im Stadttheater entschieden. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen wurden sämtliche Sinfonien von Ludwig van Beethoven aufgeführt, die Neunte zum Abschluss, davor jeweils an einem Abend zwei andere. Er hatte sich für das erste Konzert entschieden, an dem die Erste und die Zweite auf dem Programm standen.

Seine musikalische Liebe hatte immer Beethovens Sinfonien gegolten. Jahrelang hatte er auf Konzertbesuche verzichtet, dieses Mal wollte er sich den Genuss, den das renommierte Orchester unter der Leitung eines weltberühmten Dirigenten einstudiert hatte, mindestens an einem Tag nicht entgehen lassen. Die zwar immens teuren, aber dennoch begehrten Eintrittskarten waren schnell vergriffen. Er hatte Glück gehabt, für das Auftaktkonzert noch ein Ticket für einen Platz zu ergattern, zwar ganz außen fast am Ausgang, aber immerhin. Er würde sich den Abend von niemandem vermiesen lassen. Er hatte ihn sich verdient, auch wenn er ohne Maria kam.

Niemand würde es ihm verübeln, wenn er alleine in Konzertsaal erschien. Andererseits, wer sollte ihm sein Erscheinen ohne Begleitung verübeln? Es kannte ihn fast niemand mehr in dieser großen Stadt; zu lange hatte er zurückgezogen gelebt. Da war jemand wie er schnell vergessen, was Winand keinem Mitmenschen nachtragen würde. Die meisten wussten wahrscheinlich gar nichts mehr von seiner Ehe, nichts von seinem Schicksal. Der Rückzug ins Private vor rund einem Jahrzehnt war seine alleinige Entscheidung gewesen, mit allen ihren beruflichen und privaten Konsequenzen.

Er hatte damals die aus seiner Sicht einzig richtige Entscheidung getroffen, nicht ahnend, dass dieser Rückzug schon fast zehn Jahre andauern würde. Die lange Dauer war für ihn kein Grund, nachträglich den Entschluss zu bereuen.

Mit verschlossenen Augen und tief in seinen Sitz zurückgelehnt lauschte der Mann verzückt den letzten Tönen des vierten Satz der ersten Sinfonie, der so fulminant mit dem Einsatz des gesamten Orchesters und zugleich so beschwingt endete. Er mochte diese Sinfonie, die schon in Kindestagen sein Interesse an der klassischen Musik im Allgemeinen und an Beethoven im Besonderen geweckt hatte. Im Nachhinein dankte er seinen Eltern, dass sie ihn damals zu den Schlosskonzerten mitgenommen hatten.

„Schlafen Sie immer bei Konzerten?“, flüsterte ihm eine kehlige, weibliche Stimme ins Ohr. Eine Haarsträhne, die ihm in der Nase kitzelte, zerstörte seine Konzentration vollends. Ein angenehm riechendes Parfüm breitete sich aus und lenkte ihn vollends von dem Musikerlebnis ab.

Er blickte in die tiefbraunen Augen der Fotografin, die sich neben ihn in den Gang gehockt hatte. Das Gesicht war so nahe, dass er der Frau auf den Mund hätte küssen können.

Er rappelte sich auf. „Wenn ich so geweckt werde, wie eben von Ihnen, dann würde ich nichts anderes mehr tun wollen, als bei Konzerten einzuschlafen“, sagte er amüsiert.

„Welches Instrument spielen Sie denn hier bei dieser großen Show?“, fragte er interessiert, während er sich mühsam erhob.

Anna-Karina deutete auf ihre Ausrüstung. „Die Knipsine. Eine Mischung als Klarinette und Violine.“ Sie lachte ihn an, während sie an seiner Seite im Pulk der vielen Besucher ins Foyer schritt. „Ich mache Aufnahmen für das Theater und für die Zeitung.“

„Aber jetzt machen Sie wie alle eine Pause. Darf ich Sie auf ein Glas Sekt einladen?“ Fragend betrachtete Winand die muntere Frau, für die die Arbeitskleidung offensichtlich aus grobkarierter Bluse und in braunen Stiefel gesteckte Jeans bestand. In ihrer derben Kleidung wirkte sie ein wenig unpassend zwischen den festlich gekleideten Konzertbesuchern.

„Ich bin zum Arbeiten hier, nicht zum Vergnügen“, kommentierte sie seine aufmerksame Musterung. „Und Alkohol während der Arbeitszeit ist bei mir absolut verpönt, mein Herr.“

„Schade“, sagte er langsam. Er schmunzelte. „Ich dachte, es bereitet Ihnen ein Vergnügen, mich hier zu wecken.“

Anna-Karina lachte. „Der Punkt geht an Sie.“ Sie schüttelte den Kopf und ließ das gewellte Haar wirbeln. „Leider kann ich Ihre Einladung zu einem Glas Sekt nicht annehmen. Ich kann eh nicht mehr bleiben, weil ich noch zu einem weiteren Termin muss. Und meine Familie wartet auf ihre Ernährerin und Erzieherin.“

Sie musterte Winand ungeniert. „Und außerdem würde ich an Ihrer Seite aussehen wie ein zerrupftes Huhn neben einem eleganten Schwan.“

Nichts erinnerte bei Winand an den alten, einfach gekleideten Mann, der ihr im Finanzamt und auf dem Friedhof begegnet war. Das hellblaue Hemd unter dem anthrazitfarbigen Sakko, die gutgeschnittene Jeans und die glänzenden, schwarzen Schuhe hatten Winand zu einer schlanken, ansehnlichen Erscheinung gemacht. „Sie sehen gut aus, mein Herr, wenn ich das einmal in aller Bescheidenheit bemerken darf.“

„Dürfen Sie. Aber bei weiten nicht so gut wie Sie, Werte. Bei mir macht vielleicht die Kleidung den Mann, Sie wären selbst in einem löchrigen, alten Kartoffelsack attraktiv.“

Er lächelte melancholisch. „So ist halt das Leben …“

„ … das Sie heute Abend ohne mich fortsetzen müssen“, unterbrach ihn Anna-Karina salopp.

„Also ohne Sie und ohne ein Glas Sekt für Sie?“ Falls Winand tatsächlich enttäuscht sein sollte, ließ er es sich nicht anmerken. „Schade.“

„Ich habe wirklich keine Zeit“, versicherte sie durchaus bedauernd.

„Vielleicht ein anderes Mal. Die Einladung zum Sekt bleibt bestehen.“ Der Mann grinste fast schon unverschämt. „Ich werde Sie und sie garantiert nicht vergessen.“

Anna-Karina überlegt kurz. Der Mann hatte es verdient, sich noch einmal mit ihr zu treffen.

„Warten Sie, da könnte es eine Möglichkeit geben“, sagte sie auffordernd. „Übernächsten Sonntag, da bin ich bei einer Vernissage im Schloss. Das kennen Sie vielleicht?“

Er nickte kurz. „Kenne ich selbstverständlich. Wer kennt unser Schloss nicht? “

„Dort können Sie mir dann ein Glas Sekt spendieren.“ Anna-Karina schaute sich um und entdeckte Christina in Begleitung ihres Partners.

„Da ist meine Chefin. Der muss ich noch kurz Bescheid sagen, dass ich hier den Abflug machen.“ Sie wunderte sich nicht, dass als Reaktion auf ihr Winken nicht nur ihre Freundin, sondern auch deren älterer, elegant gekleideter Begleiter, mit dem Anna-Karina noch nie zusammengekommen war, zurückwinkte. Das musste der Medizinmann sein.

„Ich muss dann mal“, sagte sie mit vorgetäuschter Zerknirschtheit zu Winand und drückte ihn leicht am Arm. „Bis bald.“

Als sie sich hastig umdrehte, rannte sie beinahe in einen Mann hinein, den sie erst beim zweiten Blick als den Bürgermeister erkannte.

Doch der hatte überhaupt kein Auge für sie. Mit ausgestreckten Händen näherte sich der Erste Bürger der Stadt Winand.

„Was für eine Freude, Sie hier zu sehen, Herr Doktor Wielandt!“

Anna-Karina stoppte für einen Moment in ihrer Bewegung. Wieso kannte der Bürgermeister Winand? Dr. Winand Wielandt?

Der Mann wurde immer mehr zu einem großen, durchaus attraktiven Fragezeichen. Winand hatte offensichtlich gute Beziehungen zu einem hohen Tier im Finanzamt gehabt, und auch der Bürgermeister schien sichtlich begeistert davon, ihn in der Öffentlichkeit begrüßen zu können.

„Dr. Winand Wielandt, was bist du bloß für ein Mann?“, fragte sich Anna-Karina laut, als sie sich in ihr kleines, altes Auto setzte, um zum nächsten Termin und danach endlich nach Hause zu ihrer Familie zu fahren.

Christina würde sicherlich bei ihrer Recherche über diesen Mann fündig werden.

Anna-Karina schüttelte sich ungläubig und betrachtete sich im Rückspiegel. „Mein liebes Ich, hast du wirklich keine anderen Sorgen?“

6.

Auf dieses Wochenende hatte sie sich schon seit Tagen gefreut. Wolfgang übernachtete bei einem Kumpel aus seiner Jahrgangsstufe, Theresa besuchte ihren Vater und Rüdiger war rechtzeitig von einer Dienstreise zurückgekehrt.

Endlich hatten sie wieder ein paar Tage nur für sich.

Doch irgendwie konnte sie die Zweisamkeit nicht genießen. Die vertraute Intimität wollte sich einfach nicht einstellen.

Lag es an Rüdiger, der fahrig und abgespannt wirkte, oder lag es an ihr selbst? Hatte sie zu viel gearbeitet und sich mit zu vielen Dingen beschäftigt, die sie gedanklich nicht ablegen konnte?

Anna-Karina wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie in den letzten Nächten immer nur von einem Mann geträumt hatte; einem Mann, dem sie erst dreimal bewusst begegnet war, von dem sie nichts wusste außer seinem Namen und der viel zu alt für sie war: Dr. Winand Wielandt.