Ansichten eines Klaus - Michael-André Werner - E-Book

Ansichten eines Klaus E-Book

Michael-André Werner

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Beschreibung

Alexander und Ilka sind ein Paar, das seine Umgebung viel Nerven kostet. Seit Jahren lieben sie sich, was Alexander nicht davon abhält, Ilka immer wieder zu betrügen, was sie dazu bringt, sich immer wieder von ihm zu trennen und dann doch zu ihm zurückzukehren. Das wäre alles kein Problem, wenn sich nicht alle immer beim Theaterklaus treffen würden, um dort über das ewige Hin und Her zu beratschlagen. Denn Klaus, dem die Kneipe gehört, kann es nicht mehr hören. Schließlich hat er seine eigenen Probleme - mit Petra, seiner Freundin, die ganz gern etwas mehr Engagement von ihm sähe. "Klug, lakonisch, lustig. Und ein längst überfälliges Liebeslied auf das zweite Wohnzimmer, in dem der Tresen steht." Uli Hannemann

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Michael-André Werner

Ansichten eines Klaus

Roman

Du fragst: »Wie geht es Deinem Herzen?«

Ich sag: »Es tut fast nicht mehr weh.«

Du sagst: »Ein echter Indianer.«

Und ich sag: »Yippieajee.«

Ulla Rauter, »Cowboy«

HEUTE

»Alexander und Ilka haben sich getrennt«, sagt Petra ein wenig atemlos, kaum dass sie sich gesetzt hat. Sie versucht, ihre Umhängetasche so über die Rückenlehne des Stuhls zu hängen, dass sie gut herankommt, diese aber nicht runterfällt, zieht ihre Jacke umständlich im Sitzen aus und hängt sie über die Tasche. 

»Ach«, sage ich. »Schon wieder.« Die Hallo-komm-rein-was-gibt‘s-denn-so-Wichtiges-Phase haben wir übersprungen. Kaum hatte ich die Wohnungstür geöffnet, kam Petra hereingestürzt, gab mir einen Kuss auf die Wange, rauschte dann in die Küche und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. 

Jetzt rutscht die Tasche von der Lehne, knallt auf den Boden und nimmt die Jacke mit.

»Hast du da Steine drin?«, frage ich und setze mich auf den anderen Stuhl mit Blick zum Fenster.

»Bücher. – Und was meinst du mit ›schon wieder‹?«, sagt Petra. Sie hebt die Tasche auf und hängt sie wieder hinter sich, diesmal über die Jacke.

»Na, schon wieder eben«, sage ich.

Alexander und Ilka haben sich schon öfter getrennt. Dreimal, um genau zu sein, viermal eigentlich. Noch genauer geht es eigentlich nicht. Alexander und Ilka haben mittlerweile eine Beziehung der Heisenberg‘schen Art, irgendwie unscharf also. Oder wie Schrödingers Katze. Vielleicht habe ich auch einfach nur den Überblick verloren. Sie waren manchmal sogar gleichzeitig zusammen und auch wieder nicht oder nichts von beidem und beides. Ich bin also nicht sonderlich überrascht.

»Jaja«, sagt Petra, »aber diesmal ist es endgültig. Denn eigentlich hat sich Ilka von Alexander getrennt. Aber irgendwie in gegenseitigem Einverständnis.«

Dann ist es wirklich ernst, denke ich und irgendwo in meinem Hinterkopf kichert es. Klappe auf, Katze tot.

»Sagt wer?«, frage ich aus Versehen, denn es interessiert mich nicht sonderlich.

»Sagt Ilka«, sagt Petra und bibbert. »Kalt ist es bei dir.« Sie reibt sich mit der linken Hand den rechten Oberarm hoch und runter. Nicht dass es was nützen würde, es soll nur eine kleine Geste des Vorwurfs sein. Wir sitzen in meiner Küche. In meiner Küche ist es immer kalt. Weil die doppelten Altbaufenster nicht mehr dicht halten. Und weil draußen Herbst ist und Abend und ich nicht heize. Oder koche oder backe. Bin ja eh kaum hier. Bin ja meistens unten. Wie jetzt eigentlich auch. Hätte Petra nicht angerufen.

»Willst du hier sitzen?«, frage ich. »Da am Fenster zieht's natürlich.«

»Nee, lass mal«, sagt sie. »Hast du Milch?« Sie steht auf, ohne meine Antwort abzuwarten, geht zum Kühlschrank, holt eine Packung Milch raus, dreht den Plastikverschluss auf, riecht dran, nimmt sich dann eine Kasserole, gießt die Milch rein und macht eine der vorderen Gasflammen am Herd an.

»Hast du Honig?«

»Bist du erkältet?«

»Nee.«

»Nee.«

Ich schaue unterdessen einfach mal aus dem Fenster. Irgendwo in der Ferne wandert langsam ein blinkender Punk über das Schwarz da draußen. Petra kuckt mich an, dann folgt sie meinem Blick zum Fenster.

»Hast ja immer noch die karierten Gardinen dran.«

»Ja.« – Ja, hab ich. Ja, ich habe es seit unserer Trennung nicht für nötig befunden, neue Gardinen aufzuhängen. Nee, die hängen da ja noch länger, noch vor Petra. Soll ich sagen: Ja, aber morgen kommen neue dran? Welche mit Punkten oder Oliven oder … Ich bin ja eh kaum hier. Und wenn, sitze ich mit dem Rücken zum Fenster, da sehe ich die Gardinen nicht.

»Und?«, bringe ich das Gespräch wieder in Gang.

»Und was?«

»Und deshalb kommst du zu mir?«, frage ich Petra. »Nur, um mir zu sagen, dass sich Alexander und Ilka mal wieder getrennt haben?«

»Mal wieder …«

»Ja, mal wieder. Pass auf, dass die Milch nicht überkocht.«

»Jaja. Wem soll ich‘s denn sonst erzählen?«

»Deiner Schwester. Deiner anderen Schwester. Ilkas Schwester. Ulli, Jenni, Birte …«

»Sie heißt Birke.«

»… ja gut, Birke, Rosi, Emma, deinem Mann, deiner Mutter, Jochen und Jimmi, Rolf und Corinna …«

»Jaja, schon gut, ich hab‘s verstanden.«

»Clara …« Obwohl ich gar nicht weiß, ob Ilka eine Clara kennt, aber kennt man nicht immer eine Clara?

»Na, Clara weiß es ja schon. Die ist ja irgendwie der Grund dafür. Und jetzt ist sie – sssssipppp – ab nach Irland.« Petra macht aus ihrer Hand ein Flugzeug, das mit Daumen- und Kleinerfinger-Flügeln Richtung Fenster fliegt, dem blinkenden Punkt hinterher.

»Pass auf die Milch auf, dass sie nicht überkocht«, sage ich.

»Jaja.« Sie nimmt einen Holzlöffel, dreht sich halb zum Herd und rührt.

»Und?«, frage ich nach ein paar Augenblicken etwas lauter ihren Rücken. 

»Was denn?« 

»Du hast angerufen.« Sie hat angerufen vorhin, sie hat gesagt, es sei dringend, es sei wichtig sogar. Es ist nie wichtig. In all den Jahren war es nie wichtig, wenn sie angerufen hat. Es war nett, es war schön, meinetwegen war es lustig oder halbwegs unterhaltsam, aber es war nie wichtig. Jedenfalls nicht so wichtig, als dass sie es mir nicht auch später hätte erzählen können. Oder morgen. Oder nächste Woche. »Du wolltest mir was erzählen. Was Wichtiges. Und jetzt sagst du, Alexander und Ilka haben sich getrennt und dann – piff? Nichts mehr?«

»Nun warte doch mal. Ich mach mir hier gerade meine Milch und pass auf, dass sie nicht überkocht, dann setze ich mich und …«

»Also mit Clara hatte Alexander jetzt auch was?« Ich versuche, meine Stimme gemein klingen zu lassen und betone das ›auch‹, aber Petra geht gar nicht darauf ein.

»Ja«, sagt sie. »Nein.«

»Was, ja, nein?«, frage ich. »Ja. Nein. Abbrechen.«

»Eine Dreiecksgeschichte.«

Ach so, eine Dreiecksgeschichte. Na, mal ganz was Neues, denke ich und starre auf die Gardine. Vielleicht ja was mit Dreiecken, rechtwinkligen, gleichschenkligen. Vielleicht funktionieren Dreiecksbeziehungen ja deshalb nicht, weil der rechte Winkel immer nur bei einem liegen kann und nicht bei zweien, oder gar bei allen dreien. »Außer bei einem gleichseitigen, aber das hat keinen rechten Winkel.«

»Was murmelst du da?« Petra hat sich umgedreht und hält den tropfenden Holzlöffel in die Luft.

»Nichts. Pass auf die Milch auf.«

»Jaja.«

Mir fällt der Satz des Thales ein, irgendwas mit rechtem Winkel. In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Winkel immer hundertachtzig Grad, nee, das klingt irgendwie nicht richtig.

»Weißt du den Satz des Thales noch?«, frage ich Petra.

»Satz des Thales? Nee.«

»Mit dem rechten Winkel im Dreieck.«

»Nee.«

»In einem rechtwinkligen Dreieck …«

»… ist immer ein Winkel der rechtwinklige«, sagt sie. »Nein, ich weiß es nicht mehr. Außerdem hab ich Biochemie studiert. Nicht Mathe.«

»Das hatten wir in der Schule.«

»Du vielleicht.«

»In der achten.«

»Hab ich übersprungen.«

»Gar nicht. Pass auf …«

»… die Milch auf, ist ja gut.« Sie stellt den Herd aus, gießt die Milch in eine große Tasse. »Und du hast keinen Honig? Wirklich nicht?«

»Nee, vielleicht unten.«

Sie geht in die Knie und schaut in einen der unteren Küchenschränke.

»Nein. Unten unten«, sage ich.

»Ach menno!« Sie schmeißt die Tür zu und setzt sich endlich hin. »Also …« Sie zittert wieder und kuckt mich an. »Nee«, sagt sie und zeigt auf mich und sich. Doch tauschen.

Wir tauschen die Plätze.

Dann steht sie nochmal auf und nimmt sich einen Löffel aus dem Besteckabtropfer neben der Spüle.

»Also«, sagt sie gedehnt und rührt in ihrer Milch ohne Honig. Ich weiß gar nicht, was es da zu rühren gibt. »Bei Ilka und Alexander hat es ja in der letzten Zeit ein wenig gekriselt.«

»Gekriselt ist gut! Und in letzter Zeit ist auch gut.«

»Nein, das meine ich nicht. Die beiden waren seit der letzten Trennung und dem letzten Wiederzusammensein ...« Sie macht aus ihren Händen zwei Fäuste und drückt sie gegeneinander. Ich überlege, ob sie nicht besser die Finger verschränken sollte, aber sie redet schon weiter, da muss ich wohl aufpassen. »Ilka war nicht mehr so eifersüchtig, und Alexander machte so was wie eine Therapie oder ging zu einer Selbsthilfegruppe oder so. Ilka wollte da nicht mit rausrücken …«

»Und weil alles so gut lief und langweilig wurde, haben sie sich getrennt. – Ende gut …«

»Hm«, macht Petra, weil sie gerade einen Schluck Milch genommen hat, dazu wedelt sie mit der freien Hand und sagt: »Haaaa, heiß!« Sie gießt ein bisschen kalte Milch dazu. »Wusstest du, dass die beiden seit der letzten Trennung nicht mehr miteinander geschlafen haben?«

»Nein.« Wusste ich nicht. Wollte ich auch gar nicht wissen. Geht mich gar nichts an. Hat mich bislang noch keiner mit belästigt, mit der Information. Hätte ich auch gut drauf verzichtet können. Trotzdem sage ich: »Na, ist doch klar, Alexander …« und stell das mal so in den Raum.

»Seit zwei Jahren«, sagt Petra. »Zwei Jahre ist die Trennung her, und ein Vierteljahr waren sie auseinander. Und sicher haben sie auch schon vor der Trennung kaum noch …«

»Ich hab seit Jahren nicht mehr.«

»Ich hab gestern.« Sie streckt mir die Zunge raus.

Noch eine Information, die ich nicht brauche. Dann höre ich doch lieber die spannende Geschichte von Alexanders und Ilkas vierter Trennung. »Erzähl weiter«, sage ich.

»Ilka wollte, also, sie hat ne Freundin um Rat gefragt …«

»Hoffentlich nicht dich.«

Das ignoriert sie. 

»Und die hat die üblichen Ratschläge gegeben: ›Mach dich rar, mach dich interessant, bring neuen Pep in dein Sexleben …‹ Und Ilka hat das alles gemacht. War weniger zu Hause. Hat sich allein mit Freundinnen getroffen, und dann ging‘s um den neuen Pep. Nachdem die ersten Sachen schiefgegangen sind – sie hat sich als Krankenschwester verkleidet und als Nutte …«

Gott, was für ein Klischee, denke ich und mir fallen innerlich die Augen zu.

»Vielleicht hätte sie es als Lehrerin versuchen sollen, mit Rohrstock.«

»Sie ist doch Lehrerin.«

»Na eben. Oder vielleicht als Schulleiterin. Oder Bildungsministerin.«

»Ilka hat gesagt, Alexander hat gesagt, er findet verkleiden blöd.«

»Wieso? In der Schule war er in der Theater-AG.«

»Was hat das damit zu tun?« Sie schaut mich an, als hätte ich etwas Dummes gesagt. »Na, jedenfalls, ging das schief, und dann haben sie erst mal geredet.«

Ja. Reden hilft immer.

»Und so kamen sie auf die Dreiersache.«

»Wer kam auf die Idee? Kam er auf die Idee?« Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass Petra immer noch nicht merkt, dass ich das ironisch meine.

»Beide. Also eher sie. Glaube ich.«

»Klingt nicht nach Ilka«, sage ich, obwohl ich sie so gut nun auch nicht kenne. »Klingt mehr nach Alexander.«

»Er hatte es in ihrem Gespräch wohl erwähnt, hat Ilka gesagt. Aber nur im Scherz. ›Warum machen wir nicht gleich nen Dreier?‹ Oder so.«

Versuchsballon, schwebt es mir durch den Kopf. Hui. Versuchsballon.

»Aber er hat dann auch sofort zurückgezogen. Nee, nee, er hat dann sofort gesagt, ›hier Scherz und so‹. Nicht ernst gemeint. Aber Ilka fand die Idee zumindest interessant. Und je mehr er gesagt hat: ›Nee, lass mal, war nicht so gemeint‹, umso mehr hat sie das machen wollen. Und dann hat er nachgegeben. Sie meinte: ›zum Wohle der Beziehung‹. Sie haben sich geeinigt.«

»Er hat sie manipuliert«, unterbreche ich Petra.

»Ach.«

»Doch.«

»Meinst du?«

»Das ist klassisch.«

»Nein.«

»Wie aus dem Handbuch.«

»Jetzt hör doch mal auf.«

»Dann erzähl weiter.«

»Du hast mich unterbrochen mit dem Manipulationsunsinn.«

»Das ist kein Unsinn. Und mich wundert, dass du das nicht gemerkt hast.«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

»Ich mein ja bloß, weil Frauen doch sonst so gut manipulieren können.«

»Okay«, sie hebt abwehrend die Hände, »dann erzähl ich eben nicht weiter.« Sie greift mit beiden Händen nach der Tasse und trinkt. Dann setzt sie die Tasse wieder ab. Nimmt sie wieder hoch und trinkt. Und setzt sie wieder ab.

»So!«, sagt sie.

Das hast du jetzt davon, ergänze ich im Kopf. Und dass ich mich entschuldigen soll. Nicht ernsthaft. Aber wenigstens pro forma. Das will sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie will nicht manipulativ sein. Dann erzählt sie eben nicht weiter. Wie und weshalb sich Ilka und Alexander getrennt haben. Obwohl sie extra dafür hergekommen ist und vorher extra angerufen hat. Es ist ja nicht so, dass ich etwas von ihr will. Sie will was von mir. Dass ich zuhöre. Dabei interessiert mich das alles so gar nicht, wieso sich Alexander und Ilka getrennt haben. Mir ist es egal, ob sie mir das erzählt. Außerdem erfahre ich das in zwei Wochen sowieso über drei Ecken oder doch von ihr oder aus der Zeitung oder von meinem Zahnarzt. Oder aus der Zeitung bei meinem Zahnarzt. Mich haben schon die Trennungen eins bis drei nicht interessiert.

Sie nippt wieder an ihrer Tasse, ich schaue durch die halboffene Tür in den Korridor und überlege: Soll ich mir einen Kaffee machen oder ein Bier aus dem Kühlschrank nehmen? Oder soll ich eins von beiden unten trinken. Kann ja nicht mehr so lange dauern, Petra erzählt mir schnell die Ilka-und-Alexander-Trennungsgeschichte zu Ende, und ich kann weg. Andererseits, wenn es sich doch noch hinzieht, vielleicht den Kaffee jetzt schon? Aber das sieht dann so aus, als würde ich mich auf einen langen Abend einstellen, und sie hat noch mehr Zeit, mir alles zu erzählen.

Nee, kein Bier, kein Kaffee.

Ich überlege, warum Schrödinger die Katze so umständlich umbringen wollte. Warum nicht Gift oder ab in den Sack und dann in den Fluss, wie man's früher gemacht hat. Wieso einen Kasten bauen, eine Giftkapsel, eine Mechanik mit Hammer, einen Ionendetektor, eine radioaktive Quelle. Mein Opa hat mir mal erzählt, dass sie im Krieg Katzen mit Knüppeln totgeschlagen und dann gegessen haben. Aber auf so umständliche Weise. Eine vergiftete, radioaktiv verstrahlte Katze, die will ja auch keiner mehr essen.

Petra löst ihr Haargummi, fährt sich ein paarmal mit der rechten Hand durchs Haar und bindet dann alles wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen – alles ganz langsam. Dann nippt sie an ihrer Tasse. Die muss doch schon längst leer sein. Aber wahrscheinlich trinkt sie gar nicht richtig. Trinkstreik. Ich trinke erst wieder, wenn ich weitererzählen darf!

Na gut.

»Na gut«, sage ich, »wenn weiter nichts ist. Ich geh dann wieder runter.«

»Warte doch mal!«, ruft sie, dann schweigt sie wieder und nippt an der Milch.

»Ja, was denn?« Ich stütze mich mit beiden Händen am Tisch auf. Nur, damit sie sieht, dass ich es ernst meine.

»Ich erzähl ja gleich weiter. – Interessiert dich das gar nicht!«

»Nö.«

»Aber das sind doch deine Freunde.«

Das wäre mir neu. »Alexander war in der Parallelklasse«, sage ich. »Wir hatten nur Sport zusammen, zweimal die Woche. Und Ilka …«

»Egal. Also …«, sagt sie und nippt an der Milch. 

Ich sehe wieder raus. Was hatte dieser Schrödinger eigentlich gegen Katzen? Hätte er nicht einen Hund nehmen können oder einen Hamster oder was man sonst so nimmt als seriöser Wissenschaftler. Gab's damals schon Versuche mit Affen?

»Hörst du zu?«, fragt Petra.

Nee, eigentlich nicht.

»Du hast ja gar nichts gesagt.«

»Mann!« Sie nippt wieder. Das wird ein langer, langer Abend – oder ich geh wirklich bald runter. Gut, je früher sie weitererzählt, desto früher sind wir fertig.

»Also?«, sage ich, damit ist sie zufrieden, sie nimmt meine Entschuldigung an und erkennt daran mein Interesse an der Geschichte, das gar nicht da ist.

»Also«, sagt sie. »Wo war ich?«

»Alexander und Ilka haben sich getrennt«, sage ich.

»… ja, jedenfalls hatten sie sich dann geeinigt, von wegen Dreier im Bett zu Therapiezwecken und ihre Wahl, also ihre Wahl, Ilkas Wahl, fiel auf Clara.«

Ich überlege, wer Clara ist und ob ich sie überhaupt kenne und wenn, dann in welchem Zusammenhang. Halbspanierin ist sie, so viel hatte ich mitbekommen, aber sonst?«

»… jedenfalls fand Ilka, dass Clara irgendwie keine Gefahr wäre.«

»Gefahr?«

»Für die Beziehung.«

»Weil Alexander sowieso schon mal was mit ihr hatte?«, überlege ich laut.

»Nein, eben nicht.« Petra verdreht die Augen. »Das ist es ja eben.« Sie hebt die Tasse, stellt sie wieder zurück. »Oder hast du was anderes gehört?«

»Ich? Nein.« Wie soll ich auch was anderes gehört haben? Das Meiste weiß ich von Petra, und wenn ich nicht einmal weiß, wer Clara ist …

»Jedenfalls, waren sie zweimal zusammen im Bett – zu dritt.«

»Schön.«

»Einzelheiten erspar ich dir.«

»Ich danke.« Einzelheiten will ich auch gar nicht wissen. Wahrscheinlich kennt sie auch keine Einzelheiten und will nur angeben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ilka das in aller Ausführlichkeit berichtet hat.

»Dann hat sich Clara in Alexander verknallt.«

»Na, wie das eben so mit Frauen passiert, wenn sie Alexander kennenlernen.« Obwohl mir das immer irgendwie ein Rätsel war.

»Blödmann!«

»Anwesende ausgenommen.« Ich grinse.

»Ich war nicht verknallt, es war nur ...«

»Egal jetzt. Erzähl weiter.«

»Also, Clara verknallt sich in Alexander. Alexander trifft sich ein paarmal mit ihr, nur so. Kaffeetrinken. Das kriegt Ilka mit, weil die beiden natürlich zusammen gesehen werden.«

»Selbst schuld.«

»Na, Alexander will ja offenbar nichts von Clara und denkt deshalb auch nicht daran, sich zu verstecken, aber für Ilka ist das gegen die Spielregeln. Zu dritt im Bett, ja. Aber alleine treffen is nicht. Ilka bricht das Experiment sofort ab. Stellt Clara zur Rede. Die fühlt sich ausgenutzt. Von Alexander, weil er sich mit ihr trifft, und sie ein bisschen knutschen, wie Clara zugibt …«

»… oder behauptet. Erwähnte ich, dass Frauen manipulativ sind?« Petra kuckt streng. »Sein könnten?«

»… wie Clara erzählt, er aber sonst nichts von ihr will, schon gar nicht Ilka ihretwegen verlassen.«

»Hat sie das so gesagt?«

»Ilka? Nee, Clara, die hat sich dann bei Jenni ausgeheult.«

Aha, Clara und Jenni kennen sich, wir kommen der Sache näher. Jetzt ist nur die Frage, wer Jenni ist.

»Na, und von Ilka fühlte sie sich ausgenutzt, weil die sie nur zur Rettung ihres Sexlebens gebraucht hat. Missbraucht! Sie hat Ilka eine ganz schöne Szene gemacht. Vor den Kollegen.«

»Sagt …?«

»Ilka! Ilka hat mir das erzählt. Clara ist dann nach Irland abgehauen. Hat wieder ihren alten Job gemacht.«

»Welcher wäre? Callcenter?«

»Lehrerin für Spanisch und Geschichte.«

Lehrerin. Clara ist Lehrerin. Na, dann ist ja alles klar. Ich nicke. Und versuche mir die Szene vorzustellen, die Clara Ilka gemacht hat. Vor den Kollegen. ›Du bist doch nur mit mir ins Bett gegangen, weil du dein Sexleben retten wolltest.‹ – ›Und du hast dich mit Alexander zum Vögeln getroffen! ‹ – ›Wir haben nur geknutscht! ‹ – Und das im Lehrerzimmer. Die ganzen alten Männer in Cordhosen, Hemden und Pullover stehen mit ihren halbvollen Kaffeetassen wie vom Donner gerührt um die beiden jungen Frauen herum, mit denen sie schon längst was hätten anfangen wollen, hätten sie sich nur getraut oder müssten sie nicht diese Scheiß-Psychopharmaka nehmen, um durch den Tag zu kommen, um nachts schlafen zu können, diese Scheiß-Psychopharmaka, von denen sie keinen mehr hochkriegen. Und zwischen ihnen die Kolleginnen für Deutsch-Geschichte-Erdkunde, die es schaffen, bei H&M einzukaufen und trotzdem auszusehen, wie von C&A eingekleidet. Und denen steht der Mund offen, während ihre halbspanische Spanischlehrerin der jungen Kollegin – der mit dem tollen Ehemann – vorwirft, sie ausgenutzt zu haben, aber letztlich hören doch alle nur Sexleben und ficken, sehen die beiden jungen Frauen, vor allem die mit dem tollen Ehemann, der nicht mal ihr Ehemann ist. Das ist doch alles Klischee, denke ich, es gibt keine alten Lehrer mehr, es gibt nur noch junge in Jeans und T-Shirt und vollbärtig wie in den Siebzigern.

»Und dann hat Ilka mit Alexander Schluss gemacht.«

»Wieso? Ist doch nicht seine Schuld.«

»Hallo?! Er hat sich mit Clara getroffen. Sie haben geknutscht.«

»Behauptet Clara.«

»Na und? Ist er jetzt glaubwürdiger als sie? Und dass er nichts von ihr wollte … Er hätte das doch bestimmt so weiterlaufen lassen. Mit Ilka zusammen. Mit Clara was nebenher. Mit beiden im Bett. So hat er es doch immer gemacht.«

Ja, so hat er es immer gemacht. Bis auf zu dritt im Bett.

»Und jetzt haben sie sich getrennt.« Petra stellt die Tasse hin. So.

»Ich dachte, im gegenseitigen Einverständnis?«

»Na, was soll er schon sagen? ›Sie hat mich verlassen, weil ich schon wieder mit anderen Frauen …‹?«

»Ilka wollte es doch«, sage ich.

»Sag mal, bist du aus Prinzip auf seiner Seite? Nur weil er ein Mann ist? Du kennst doch seine Geschichten.«

»Ich bin nicht auf seiner Seite. Ich meine bloß, es war doch ursprünglich ihre Idee.«

»Vorhin hast du noch gesagt, er hat sie manipuliert.«

»Ja.« Ich seufze.

Wahrscheinlich nimmt er ihr Schlussmachen sowieso nicht ernst. Nach all den anderen Malen. Ich nehme das ja auch nicht ernst. Das ist wie am 31. Dezember zu sagen: Morgen höre ich zu rauchen auf. Und die anderen nicken und denken: Jaja. – Niemand wird diese Trennung ernst nehmen. Niemand aus unserem Bekanntenkreis. Am wenigsten wahrscheinlich Alexander. Vielleicht gerade noch Ilka. In zwei Monaten sind sie wieder zusammen. Pack schlägt sich. Pack verträgt sich.

»Was stierst du denn so vor dich hin?«, fragt Petra.

»Ich denke nach.« 

»Ach. Worüber denn?«

»Du hast mir gerade von der Trennung unserer Freunde erzählt. Da kann man doch mal ins Grübeln kommen.«

»Auf einmal sind's unsere Freunde. Und du kommst ins Grübeln.«

»Ich muss wieder runter.«

»Und ich muss los. Nach Hause. Gregor macht sich bestimmt schon Sorgen.« Und wie auf Befehl leuchtet ihr Handy auf und summt. Sie wirft einen Blick darauf und sagt: »Siehst du.« Sie nimmt es, wischt drauf herum, steht auf und sagt: »Danke für die Milch.« Dann stellt sie die Tasse in die Spüle.

»Ich komme gleich mit runter«, sage ich, als ich die Wohnungstür aufziehe und Petra galant durchwinke. Ein kurzer Griff zur linken Hosentasche – Schlüssel sind da, ich zieh die Tür hinter mir zu.

Wir trampeln das düstere Treppenhaus hinunter. Vor zwei Wochen haben sie die gelben, seit vierzig Jahren nicht mehr geputzten Glasglocken abgemacht und durch nackte 20-Watt-Birnen aus irgendeinem Vorrat ersetzt. Keine Energiesparlampen. Was die Sache nicht eben heller macht. Und letzte Woche haben sie angefangen, den rotbraunen Putz abzuklopfen. Jetzt ist das Treppenhaus graubraun. Und staubig. 

»Aber wenn die beiden wieder zusammen sind«, sage ich, als wir im ersten Stock sind. Bei Rascheike steckt wieder der Schlüsselbund in der Tür. Ich klingle dreimal im Vorbeigehen. Das passiert so einmal die Woche. Aber solange der Schlüsselbund steckt, ist Rascheike zu Hause – »dann reicht es, wenn du anrufst oder ne SMS schickst. Oder einen Brief. Es werden viel zu wenige Briefe geschrieben.«

»Die beiden kommen nicht mehr zusammen«, sagt Petra. »Glaub mir. Das war‘s. Aus. Finito. Ende Geländer.«

»Gelände«, sage ich.

»Wieso Gelände?«

»Es heißt Ende Gelände. Nicht Geländer.«

»Geländer ist aber viel logischer«, meint Petra. »Wenn das Geländer zu Ende ist, ist man unten.«

»Oder oben.«

»Aber wenn das Gelände zu Ende ist«, sage ich, »dann ist auch Schluss.«

»Wieso? Wie kann Gelände zu Ende sein?«

»Na, Abhang, Klippe, Berg. Ende Gelände eben.«

»Ich find Geländer besser«, sagt sie und streicht über die Holzschnecke, die den Abschluss des Treppengeländers bildet. Altbau, irgendwas aus dem vor-vorigen Jahrhundert. Werden sie wahrscheinlich absägen, vielleicht das ganze Geländer durch eins aus dünnen, eloxierten Eisenstangen mit Kunststoffhandlauf ersetzen. »Siehst du.«

»Ja.«

»Na dann«, sagt sie. »Wir können ja mal ins Kino oder so.«

»Du weißt, wo du mich findest«, sage ich und öffne die Haustür. »Einfach hier nebenan.«

»Ja.« Sie küsst mich kurz neben den Mund, dann geht sie nach rechts ab, die Straße runter. Und ich nach links, und in die Eckkneipe gleich hier im Haus. Der Theaterklaus. 

GLEICH DARAUF

Ich ziehe die Tür auf, schiebe den dunkelgrünen Vorhang zur Seite und trete ein, in eine dicke Luft aus Wärme, dem Geruch von Bier und frisch aufgebrühtem Kaffee und dem Herbstschweiß vieler trinkender Menschen. Vor mir, vom Durchgang in die hinteren Räume bis drei Meter zur hinteren Wand – der Tresen. Dahinter in schwach beleuchteten Regalen diverse Alkoholika, ein halber Meter Amaretto, ein halber Meter Campari, ein halber Meter Pernod. Sieht toll aus, bestellt aber kaum jemand. Hier trinkt man Bier. An den Fenstern, dem Tresen gegenüber die Vierer- und Sechsertische. Ich biege nach links und setze mich an den Tisch in die Ecke, zu dem hageren Armin, der allmählich grau wird, und einem fremdem Lockenkopf, der sich nicht vorgestellt hat. Die beiden sitzen noch genauso da, wie ich sie vorhin zurückgelassen habe, nur ein wenig lethargischer, sogar die Flüssigkeitspegel in ihren Biergläsern sind dieselben. Aber wahrscheinlich ist das nur Zufall, die Gläser sind mittlerweile hoffentlich andere.

»Und?«, sagt Armin, als ich mich setze.

Ich ignoriere das, drehe mich zu Rolf um, der hinter der Theke Gläser poliert und bestelle per Handzeichen ein Bier. Rolf nickt.

»Warst ja ganz schön lange weg«, sagt Armin müde.

Ich sehe auf die Uhr. Eine Stunde, eine ganze Stunde hat mich diese Ilka-Alexander-Geschichte gekostet. »Na ja«, sage ich.

»Und, hat sich's wenigstens gelohnt?« Der Lockenkopf grinst. Ich versteh schon, wenn die Ex kommt und mit dir nach oben geht …

»Na ja«, sage ich wieder und Manuela stellt ein Bier vor mich.

Also gut, sage ich es eben, schlafen kann ich auch oben. »Alexander und Ilka haben sich getrennt.«

»Nein!«, ruft Armin, plötzlich wieder hellwach.

»Ach«, sagt Manuela und setzt sich zu uns. Ist nicht viel los heute.

»Wer?«, fragt der Lockenkopf.

»Alexander Nieuwhus.«

»Wer?«, fragt der Lockenkopf noch mal.

»Alexander Nieuwhus!« wird Armin laut. Er schaut zu mir und sagt aufgeregt: »Erzähl es ihm.«

»Du weißt doch auch, wer Alexander ist.«

»Ja. Aber du kennst ihn besser.« Armin schaut zu Manuela.

»Du kennst ihn vielleicht aus dem Fernsehen«, sage ich zu dem Lockenkopf.

»Ich kuck keine Serien«, sagt der.

»Der ist auch nicht aus einer Serie. Er ist Pressesprecher. Bei dieser großen Firma, die früher dahinten die Zentrale hatte, ehe sie wegzog, nach Norden. Da, wo das Theater war.« 

»Da war ‘n Theater?«, fragt Manuela.

»Ja, hier um die Ecke, und dann noch ‘n Stückchen die Straße rauf«, sagt Armin.

»Warum hieß der Laden hier wohl mal Theaterklause«, sage ich. Bevor das E runterfiel »Weil hier ein Theater in der Nähe war.«

Manuela nickt. 

»Darum heißen Kneipen, die bei nem Gericht in der Nähe sind, auch oft: Zur letzten Instanz. Oder bei Kirchen in der Nähe: Abendmahl«, sagt Armin.

»Oder: Letzte Ölung.«

»Ach, ihr redet doch Quatsch«, sagt der Lockenkopf und trinkt sein Bier aus. »Ihr seid doch betrunken. – Wer ist denn nun dieser Alexander Nühus.«

»Also …«, ich hole tief Luft. Es war einmal ein Junge, dessen Urururgroßeltern lebten in Holland, und sie wanderten nach Deutschland aus, wegen Arbeit oder aus Glaubensgründen oder weil dauernd das Wasser über die Deiche der Küste schwappte und ihre Füße nässte. Wahrscheinlich wohnten die Urururgroßeltern zunächst auch nur nahe der deutsch-niederländischen Grenze, wo auch immer die damals entlangführte oder in der nächstgrößeren Stadt, vielleicht Aachen. Vielleicht zogen sie noch ein-, zweimal um in Deutschland, damals noch Preußen oder Kaiserreich, vielleicht gehörte das sowieso alles zusammen, vielleicht zogen sie auch gleich in die Hauptstadt. Vielleicht taten das auch erst ihre Kinder oder Enkel oder aber die Familie zog von Generation zu Generation immer ein Stückchen näher, immer war eine Frau schuld, dass der Erstgeborene die Heimatstadt und seine Eltern verließ und weiter gen Osten ging. Ich weiß es nicht. Irgendwann jedenfalls wohnten sie in Berlin, der Krieg war zu Ende, die Stadt geteilt, der Erstgeborene der Nachkriegsgeneration der ehemaligen Holländer lag mit seiner frischvermählten Ehefrau am Strandbad Wannsee, und als es Abend wurde, ein sehr warmer Sommerabend in jenem Jahr, versteckten sie sich vielleicht in einer der Umkleidekabinen oder bei den Duschen oder Toiletten und kamen erst wieder hervor, als das Bad leer war und sie den ganzen Strand für sich allein hatten. Sie tollten im warmen Sand herum, buddelten sich gegenseitig zur Hälfte ein und wieder aus, sprangen ins Wasser, und als er zu dämmern begann, zeugten sie bei einem für damalige Zeiten wahrscheinlich recht gewagten Liebesspiel, das allerdings niemand sah (weil ja niemand da war – und hätte jemand am Strand gestanden, selbst dann nicht, denn sie zeugten unter Wasser) ihren erstgeborenen Sohn, der dann auch ihr einziger blieb. Dann schwammen sie noch ein Stück, kamen aus dem Wasser, trockneten sich ab, kletterten über einen Zaun, und fuhren mit dem Bus nach Hause zu ihr, wo sie noch zur Untermiete bei ihren Eltern wohnten.

Sieben Jahre später wurde ihr Sohn Jörg eingeschult. Er lernte lesen, schreiben, rechnen, schürfte sich ein paarmal die Knie auf und lernte mit sechs Fahrradfahren, mit sieben schwimmen, mit acht mit Messer und Gabel essen, mit elf Malzbier aus einer Flasche trinken und mit zwölf wechselte er die Schule. Die Grundschule war vorbei, und er kam aufs Gymnasium. 

Dort sahen wir uns zum ersten Mal. Wahrscheinlich. Ich weiß nicht, ob er mich sah oder wahrnahm, ich ihn jedenfalls nicht. In der Grundschule hatten wir Jungs immer zusammen mit den Mädchen Sport gehabt, jetzt in der siebten Klasse wurden wir getrennt. Die obere Sporthalle für die Mädchen und die untere für die Jungs, in sicherer Entfernung, im Keller, drei Stockwerke massiven Altbaus zwischen uns. Oder umgekehrt, alle zwei Wochen wurde gewechselt. Und zusammen mit der Parallelklasse. Die Mädchen der 7b zusammen mit unseren Mädchen und wir zusammen mit den Jungs der 7b. Und darunter war auch Nieuwhus. Jörg Nieuwhus. Nicht, dass wir uns angefreundet hätten, schon gar nicht in der ersten Sportstunde. Neue Schule, neue Mitschüler, neue Lehrer, neue Sporthalle, da will man nicht auch noch neue Freunde haben. Da reichen einem die wenigen, die von der Grundschule mitgekommen sind. Oder die, die man seit zwei Tagen aus der eigenen Klasse kennt. Da muss man sich nicht mit einem von fünfzehn neuen aus der Parallelklasse anfreunden, die sowieso alle doofer sind als die eigenen. Parallelklassen sind immer doof. Weil sie ruhiger sind, weil sie artiger sind, weil sie Streber sind. Und schon nach einer Woche viel weiter als die eigene Klasse. Behaupteten jedenfalls der Mathelehrer und der Englischlehrer: ›Die 7b ist schon viel weiter als ihr, aber die passt ja auch besser auf und ist nicht so chaotisch wie ihr. Aber wartet mal ab, nach dem Probehalbjahr, da wird hier gerodet, die Hälfte von euch wird fliegen. Da seh ich euch dann die nächsten zwanzig Jahre beim Nachhausegehen auf der Straße Laub fegen.‘ Warum sollte man sich also mit denen aus der Parallelklasse anfreunden?

Nieuwhus wurde immer in die andere Mannschaft gewählt, war immer in der Gruppe an dem anderen Gerät und hat auf dem Sportplatz eher Weitsprung als Laufen gemacht. Wir kannten uns. Vom Sehen. Aber wahrscheinlich haben wir in der ganzen gemeinsamen Schulzeit nicht mehr als zwanzig Worte gewechselt. Nicht mal in der Oberstufe. Zwei Jahre im Bio-Leistungskurs zusammengesessen. Und – nichts. Er saß irgendwo hinter mir. Nach dem Abi standen wir alle zusammen in einem großen Kreis im Lehrerzimmer und stießen mit Sekt an. Er stand mir genau gegenüber, hat gelächelt wie immer. Er hat immer gelächelt, sein Lächeln war eingemeißelt in sein Gesicht, gentechnisch einprogrammiert in der langen Ahnenreihe. Wahrscheinlich hatte jede Frau immer nur den lächelnsten der Nieuwhus-Brüder gewählt, er musste gar keine Miene verziehen, um zu lächeln, wahrscheinlich lächelte er sogar im Schlaf, wenn alle Gesichtsmuskeln entspannt waren, es war ein Wunder, dass er nicht den Spitznamen 'der Lächler' bekommen hatte. Ich glaube, er hatte sogar gar keinen Spitznamen bekommen. 

Dann haben wir uns aus den Augen verloren, aber das klingt auch, als wären wir vorher befreundet gewesen.

Ich sah ihn fast zehn Jahre später wieder, in einem Werbespot für Bier, und selbst da hab ich ihn gar nicht gleich wiedererkannt – trotz des Lächelns. Erst ein paar Jahre danach, als er in den Zeitungen auftauchte und ab und zu im Fernsehen, das neue – lächelnde – Gesicht der Firma der Stadt. Da war doch mal dieser Nieuwhus in meiner Schule gewesen, dachte ich, in meiner Parallelklasse. Ja, als Jörg wird man kein wichtiger Mann. Er hatte seinen Namen in Alexander geändert.

»Dieser Typ aus der Bierwerbung«, fällt mir Armin ins Wort, ohne dass ich auch nur Piep sagen konnte. »Der auf dem Berg steht, und da findet er diese Bierflasche. Dingensbräu. Aufm Gipfel isses einsam.«

»Königsbräu«, sage ich, »der Gipfel der Genüsse. – An dir ist auch kein Werbetexter verloren gegangen. Dingensbräu hier, aufm Gipfel isses einsam.« Ich schüttel den Kopf.

»Ist es doch aber!«

Ich greife nach meinem Glas, erhebe es. »Prost. Ich trinke Dingensbräu hier, um meinen Alzheimer zu vergessen.«

Wir stoßen an.

»Und was ist nun mit diesem Bierfritzen?«, fragt der Lockenkopf.

»Der ist Pressechef bei Dingens hier«, sagt Armin.

»Siemens?«

»Quatsch.«

»Vattenfall?«

»Ach halt doch den Mund. – Der hat sich von seiner Freundin getrennt.«

»Sie sich von ihm«, sage ich und schaue zu Manuela hinüber. Sie dreht sich gerade zu Rolf um.

»Aha«, sagt Armin, und die Neugierde blitzt in seinen Augen auf. 

Ich weiß, was du jetzt denkst, denke ich.

»Dann ist da draußen«, sagt Armin langsam, als formte sich der Gedanke gerade erst jetzt Wort für Wort in seinem Kopf, »wieder eine Frau, die solo ist.« Er trinkt sein Bier aus. »Du hast nicht zufällig ihre Adresse?«, fragt er mich.

»Nein«, sage ich, »hab ich nicht.

VOR VIELEN, VIELEN JAHREN