Kopf hoch, sprach der Henker - Michael-André Werner - E-Book

Kopf hoch, sprach der Henker E-Book

Michael-André Werner

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Beschreibung

Der Vollidiot ist reif für die Insel – Tommy Jaud trifft Bill Bryson Sechs Wochen Irland im Luxushotel, literweise Guinness, mindestens drei willige Stipendiatinnen aus Spanien und endlich mal keine Sorgen um die prekäre Künstlerexistenz? Pustekuchen. Stattdessen: Eine Hotelruine in der irischen Einöde, keine Verbindung zur Außenwelt, kein Fluchtmittel, ein unzurechnungsfähiger Reiseleiter und im Keller ein toter Schwede. Und für Literaturstipendiat Karsten Kühne und seine Künstlerkollegen soll es noch schlimmer kommen...

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Das Buch

Sechs Wochen Irland für lau, Hotel und Verpflegung inklusive – mit diesem Künstlerstipendium hat Karsten Kühne das große Los gezogen. Glaubt er. Doch die Unterkunft ist eine Hotelruine mitten in der irischen Einöde. Es gibt keine Lebensmittel, keine richtigen Betten, kein Internet, keinen Handyempfang, und die Heizung funktioniert nicht. Der Reise­leiter Seamus hat auf jede Frage eine Antwort, allerdings immer dieselbe: »Tomorrow.«

Karsten und seine 23 Künstlerkollegen wollen nur eins: weg. Doch das erweist sich als äußerst schwierig …

Der Autor

Der Berliner Autor Michael-André Werner ist seit vielen Jahren Mitglied der Lesebühne »Die Brutusmörder« und regelmäßig bei anderen Lesebühnen zu Gast. Er hat bisher zwei Romane und unzählige Kurzgeschichten und Zeitschriftenbeiträge veröffentlicht; seine Texte wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Außerdem hat er ein siebenwöchiges Autorenstipendium in Irland überlebt.

Michael-André Werner

Kopf hoch, sprach der Henker

Roman

List Taschenbuch

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Originalausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

1. Auflage November 2014

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung und Titelabbildung: www.buerosued.de

ISBN 978-3-8437-0940-8

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Beim Verfassen dieses Buches kam kein Schaf zu Schaden.

Als Gott die Zeit erschuf, machte er viel davon.

Irisches Sprichwort

Dramatis Personae

Die Deutschen

Karsten Kühne, Nichtkünstler

Burkhard Schenke, Schriftsteller

Inge Riegelein, Autorin und Übersetzerin

Hans Köhler, Lyriker

Gustav Reither, Autor

Die Spanier

Gonzales, Maler

Maria, Malerin

Manuel, Bildhauer

Emilio, Künstler (Kunstrichtung unbekannt)

Carlos, Freund von Emilio (Kunstrichtung unbekannt)

Die Italiener

Paolo, Architekt und Hobbykoch

Enzo, Architekt und Komponist

Natasha, Restauratorin und Malerin

Ricarda, Restauratorin

Francesco, Architekt

Die Iren

Seamus Keegan, Organisator des Projekts, Lyriker

Pavel, Weißrusse, in Irland, um Literatur zu studieren

Richard, Amerikaner, ebenfalls zufällig in Irland, Kamera­mann

Jill, Engländerin, Archäologin, Fotografin

Maighread, Irin, Archäologiestudentin und Zeichnerin

John Richard Alexander O’Dermot, Geist

Die Schweden

Emma, Musikerin, Friedensdienstlerin

Karen, Musikerin, Politologiestudentin und Friedensdienstlerin

Birger, Friedensdienstler, Freund von Karen, Diabetiker

Inge, Friedensdienstlerin, Fotografin und Geschichtsstudentin

Olof, Friedensdienstler und Politologiestudent

19. Tag, Freitag

Ich zog den Reißverschluss der Jacke zu. Ich durfte jetzt nicht zittern. Bei der blauen Grundierung gestern war das egal gewesen, aber jetzt, bei den Wörtern – das musste man alles lesen können! Jedes einzelne Wort. Es war wichtig. Denn ich schrieb mit weißer Farbe und einem dünnen Pinsel Wörter auf den Stuhl und vereinte somit Malerei, Bildhauerei und Literatur. Ich hatte eine neue Kunstform geschaffen, die erste Kunst von einem Nichtkünstler, denn ich war ja Nichtkünstler, vielleicht war das sogar die erste kunstlose Kunst. Dieses mein erstes Werk würde ich Newgarden Mansion nennen, den Titel hatte ich bereits klein hochkant hinten an die Seite der Rückenlehne geschrieben. Ich schrieb alles in Großbuchstaben. Wenn ich fertig war, wäre der ganze Stuhl über und über mit Worten bedeckt, und keins käme doppelt vor. LANGEWEILE hatte ich schon und ZEIT, ABGESCHIEDENHEIT, NATUR, STILLE, GEDULD, und jetzt schrieb ich UNGEDULD, HUNGER, KÄLTE, ANGST, FAULHEIT, TOD. Gonzales war mit der großen Wand fast fertig, große und kleine Gesichter starrten und glotzten mich an, und seit es ihm und Maria vor ein paar Tagen gelungen war, aus den restlichen Eiern, Öl, fein geriebener Erde und Wasser eine braune Farbe anzurühren, hatte er begonnen, die Gesichter, die schon fertig waren, nach und nach mit Augenringen und Falten zu verfeinern.

Es war kalt hier unten. Ich zog die Jacke aus, den Pullover an und die Jacke wieder drüber. Handschuhe fand ich ein bisschen albern – nicht, dass es nicht kalt genug gewesen wäre hier im Keller. Aber ich hatte auch gar keine. Und ich hätte damit ohnehin schlecht den Pinsel halten können, gerade bei der Feinarbeit, die ich eben begonnen hatte. Gestern beim Grundieren hätte ich ohne weiteres ein gutes Paar Handschuhe brauchen können, auch wegen des Kleckerns. Gerade wegen des Kleckerns. Man konnte beim Malen noch so aufpassen, irgendwann kleckerte man, irgendwann hatte man Farbe an den Händen, an den Armen, später entdeckte man sie an Körperteilen, von denen man nie gedacht hätte, sie beim Malen zu gebrauchen. Wo hatte ich immer wieder kleine Farbkleckse bei Sophie entdeckt! Auf dem Rücken, in den Kniekehlen, in kleinen Hautfalten. Irgendwann klebte alles, irgendwann trocknete es, irgendwann konnte man es abbröseln, aber ein bisschen blieb immer zurück. Auch nach Tagen. Nach Wochen. Kunst ist ein schmutziges Geschäft. Aber irgendwann gewöhnte man sich daran, und dann war man wohl – Künstler. So wie Schriftsteller irgendwann Sehnenscheidenentzündung bekamen. Burkhard hatte mal eine, hat er mir gestern erzählt, damals hatte er von Kugelschreiber zu Füllfederhalter und dann zu Computertastatur gewechselt, aber das hatte es nur marginal gelindert. Seine rechte Hand verkrampfe noch immer, und wenn er viel mit der Hand schrieb, wie hier, komme sie sicherlich bald wieder, die Sehnenscheidenentzündung, jammerte er, zumal bei diesem feuchten, kalten Klima. Die Feuchtigkeit sickert in die Haut, legt sich um die Knochen, und alles wird kalt und klamm. Dann kommen die Bakterien, und alles entzündet sich, und die ganze Hand schwillt an. Meine rechte war auch schon leicht dicker als meine linke, wenn ich die beiden nebeneinanderhielt. Das geschulte Auge kann so etwas erkennen.

Heute würde Seamus zurückkommen. Bestimmt. Er hatte es gesagt. Vielleicht machte ich noch einen zweiten Stuhl, ich würde mir einfach einen der halb kaputten aus dem Stuhlhaufen hervorzerren, einen, auf dem man nicht mehr sitzen konnte, und SEAMUS, SEAMUS, SEAMUS, SEAMUS, SEAMUS daraufschreiben, mit roter Farbe. Jetzt schrieb ich erst einmal STRAFE, VERWESUNG und MESSER, dann SCHERE, GABEL und LICHT. So kam eins zum anderen. UNTERGANG, HASS, RACHE. Ja, er würde schön werden, mein kleiner Stuhl. Endlich hatte ich eine sinnvolle Beschäftigung, und mit etwas Glück konnte ich ihn sogar mitnehmen. Seamus hatte uns versprochen, dass er uns die einzelnen Kunstwerke nach der Ausstellung in Dublin nach Hause schicken würde. Wenn nicht, konnte ich so einen Stuhl ja zu Hause noch einmal machen, in Sophies Atelier. Ach nein, das war ja abgebrannt. Da würde ich mir wohl ein anderes Atelier suchen müssen. Mit einer anderen Freundin. Eine andere Freundin mit einem Atelier.

Gonzales kam hereingeschlurft und sagte »Hey«. Jedes Mal, wenn er aufs Klo ging, bedeutete er mir, dass er aufs Klo zu gehen beabsichtigte, indem er »Piss« sagte. Ich sagte dann »Okay«. Wenn er wiederkam, sagte er »Hey«. Gonzales musste sich jedes Mal ducken, wenn er durch die Tür ging. Zugegeben, er war jetzt nicht so riesig, aber die Türen hier im Keller waren ziemlich niedrig, und er ging sowieso immer etwas geduckt, um sich seine wilde, störrische Mähne nicht zu stoßen. Sein breitgestreifter Pullover war voller Flecken. Rasiert hatte er sich auch seit Tagen nicht mehr. Aber wer hatte das hier schon?

»Hey«, sagte ich.

Gonzales hatte mir gestern eine Ecke seines Kellerateliers abgegeben. Gut, sagen wir es so: Er hatte mich nicht weggejagt, als ich den nackten Stuhl dort aufgestellt und Anstalten gemacht hatte, ihn zu bemalen. Vielleicht wollte er einfach nicht mehr allein hier unten sitzen. Ich hockte nun also mit meinem Stuhl neben der Theke.

VERZWEIFLUNG schrieb ich weiter. Hatte ich VERZWEIFLUNG schon? Ich fragte mich, ob ich RAGE schreiben durfte, da ich WUT schon hatte. Ja, dachte ich, Rage ist etwas anderes als Wut. Ah, ZORN! BLUTRAUSCH fiel mir ein und VERHÄNGNIS. VER-Wörter sowieso, diese ganze Kinofilmreihe nach den Romanen von Stieg Larsson. VERBLENDUNG, VERDAMMNIS, VERGEBUNG. Nein, nicht VERGEBUNG. Ich brauchte mehr VER-Wörter! VERBITTE­RUNG fiel mir ein und VERSPRECHEN. VERMASSELN. VERSAGEN. VERWAHRLOSEN. VERHÖREN. VERHÖH­NEN. VERPRÜGELN. VERHUNGERN. VERZICHTEN. VERNICHTEN.

Wenn es wieder Eier gab, konnte mir Gonzales vielleicht ein wenig rote Farbe machen, dann würde ich einen Stuhl weiß grundieren und die rote Farbe wie Blutspritzer auf der Rückenlehne verteilen, dass sie eins der hinteren Stuhlbeine runterliefen. Vielleicht sollte ich einfach richtiges Blut nehmen, dann musste mir Gonzales keine Farbe anrühren. Und vielleicht gab es ja keine Eier mehr. BLUT, schrieb ich.

Gonzales stand auf und schlurfte quer durchs Atelier zur Tür. »Go piss«, sagte er.

»Okay«, antwortete ich und nickte.

Vielleicht sollte ich eine Pause machen. Nach oben gehen, wo es wärmer war, wo es wenigstens ein bisschen wärmer war. Oder mir jemanden zum Kuscheln suchen, wie Hans. Der konnte sich bei jeder Zweiten hier im Bett aufwärmen, hatte Burkhard gemeint. Bett, na ja, Bett war auch lange her.

Nachher kam Seamus. Hatte er gesagt. Hatte er versprochen. Und was Seamus verspricht … Dann würde endlich alles gut. Ja, ich würde mal nach oben gehen.

Draußen dämmerte es. Die Sonne versank hinter den Hecken und Mauern und nahm den goldenen Schein mit, den sie eben noch quer über den Parkplatz geworfen hatte. Ich seufzte.

»Na, nun wird’s aber bald mal Zeit«, brummte Gustav mit Blick nach draußen, obwohl Seamus ja noch nie irgendwie pünktlich gewesen war. Wir standen im Foyer, und auch wenn wir es nicht vorgehabt hatten, so mussten wir es uns doch eingestehen: Wir warteten auf Seamus. – Wir warteten auf Seamus, das klang obszön. Als könnten wir uns nicht beschäftigen. Als wären wir abhängig von ihm. Wir konnten pokern, wie wir es sonst auch immer machten, um uns die Zeit zu vertreiben. Husch, Zeit, weg. Ich wedelte mit den Händen.

»Was tust du denn da?«, fragte Inge.

Die Zeit vertreiben. Husch. »Äh, ich … – die Hände ausschütteln.«

Inge runzelte die Stirn und schaute zu Hans, der eben etwas gefragt hatte. »Also, was zuerst?« Er nahm offenbar eine Diskussion wieder auf, die sie mit meinem Eintreten unterbrochen hatten.

»Die Heizung«, sagten Burkhard und ich fast gleichzeitig.

»Die Sache mit Olof«, meinte Inge.

»Essen«, fügte Gustav hinzu, »hoffentlich bringt er was zu essen mit.«

»Ja, das ist alles wichtig«, meinte Inge, »aber das mit Olof sollten wir ihm schon gleich sagen, nicht irgendwann in zwei, drei Tagen, nach dem Motto: Ach ja, übrigens …«

»First things first«, sagte Hans. »Und das Erste sind Essen und Wärme. Essen kann er vielleicht heute noch besorgen, Heizöl erst morgen.«

»Und das mit Olof können die Schweden machen«, sagte ich. »Ist ja eh irgendwie mehr ihr Problem.«

»Ihr Problem!« Inge wurde laut. »Das ist doch nicht nur ihr Problem. Und deine Wortwahl …«

Jaja … ist zum Kotzen, ergänzte ich im Kopf, ich weiß, das hat Sophie auch immer gesagt. Dann sagte ich »Halt’s Maul!« zu Inge – auch im Kopf.

»Der kommt nicht«, sagte Burkhard. »Der kommt heute nicht.«

»Ach Quatsch. Klar kommt Seamus. Wenn nicht, wäre er ein …«

»Ein dummes Arschloch?«, fragte ich.

»Mindestens.«

»Wieso streiten wir uns eigentlich?«

»Wer streitet?«

»Ich meine nur«, sagte Burkhard, »dass wir gar nicht wissen, was draußen vor sich geht. Vielleicht ist die Maschine aus Paris über dem Kanal abgestürzt. Vielleicht ist er nie losgeflogen. Vielleicht hat ihn ein Zuhälter in der Rue Patisserie abgestochen.«

»Du mit deiner negativen Einstellung.«

So kamen wir auch nicht weiter. Ich schob in meinem Kopf Sätze hin und her, während ich auf dem Tresen mit Newgarden-Mansion-Hotel-Visitenkarten eine Patience zu spielen versuchte. »Seamus, please sit down«, würde ich sagen – oder der, der es ihm sagen würde. »We’ve got something to tell you.« Oder: »Seamus, we have bad news for you.« Oder so was in der Art wie: »Seamus, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht für dich: Das Essen ist alle. Das ist die gute.«

»Wir könnten Strohhalme ziehen«, schlug Hans vor.

»Wir könnten es auch lassen«, brummte Burkhard.

»Wir haben ja nicht mal welche! Wir haben ja nicht mal Strohhalme!«, schrie ich.

»Komm mal wieder runter«, sagte Burkhard.

»Ich bin unten!«, rief ich. »Ich bin ganz unten. Untener geht es gar nicht.«

»Wir brauchen es ihm gar nicht zu sagen«, sagte Burkhard. »Ich meine, er merkt das doch sowieso nicht. Er hat ja auch nicht gemerkt, dass Jill weg ist.«

»Hm.« Wir schwiegen. Burkhard hatte das böse J-Wort gesagt: Jill. Er hatte sie uns wieder in Erinnerung gerufen. Wir hatten Jill seit Tagen nicht mehr erwähnt.

Paolo kam aus dem Speiseraum, der nun schon seit Tagen nur noch Durchgang zur Küche war, wo wir Kaffee machten und Wäsche aufhängten. »Did he come?«, fragte er.

»No. Not yet.«

Paolo rollte mit den Augen und ging in unser ehemaliges Pokerzimmer.

»Dein Vorschlag, Burkhard, stimmt nur unter einer Prämisse«, sagte Gustav langsam. »Nämlich unter der, dass das hier wirklich ein Stipendium für europäische Künstler und Kunsthandwerker ist. Was wir ja nun schon widerlegt haben.«

»Jetzt geht das schon wieder los«, flüsterte Hans und ging kopfschüttelnd in unser Zimmer.

»Ja, geh nur, Hans«, rief Gustav ihm hinterher. »Aber der Wahrheit, welche auch immer das ist, entkommst du ja doch nicht«, fügte er etwas pathetisch hinzu, dann wandte er sich wieder an mich: »Denn wenn wir bei so einer Art irischem Big Brother mitspielen, weiß Seamus sowieso alles, auch was wir ihm nicht sagen, und irgendwann, ganz am Schluss, wird man uns die Frage stellen, warum wir nichts gesagt haben. Und falls das hier ein psychologisches Experiment ist, sowieso.«

»Also, was sollen wir deiner Meinung nach tun, Gustav?«, fragte Burkhard.

»Das ist mir im Grunde völlig gleich, Burkhard«, sagte Gustav, »da ich ja sowieso nicht hier bin.«

»Jetzt fang nicht wieder mit deinem Avatar-Scheiß an!«, schrie Burkhard ihn an.

»Das ist kein Scheiß, Burkhard«, sagte Gustav. »Aber um deine Frage zu beantworten: Wir können ihm ja sagen, Olof sei rausgewählt worden.«

»Ich mach mir Kaffee«, sagte Burkhard. »Will noch jemand Kaffee?«, fragte er in die Runde und schlenderte in Richtung Küche, ohne auf Gustav noch einmal einzugehen.

»Dann gehe ich nach unten, noch ein wenig schreiben«, meinte Gustav und ging auch sogleich.

»Und du?«, fragte ich Inge.

Sie zuckte mit den Schultern. »Lesen?«, und verschwand ebenfalls. Ich war allein.

»Tja«, sagte ich zu mir. »Was meinst du? Soll ich runter, weiter am Stuhl arbeiten?«

»Kann ich machen«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Wir brauchen noch ein paar VER-Wörter.«

»Weißt du«, sagte ich, »ich habe überlegt, für die VER-Wörter einen neuen Stuhl zu beginnen. Nur VER-Wörter. Vielleicht was mit Grün …«

»Aha«, sagte ich, »ver-stehe.« Ich drehte einen der Sessel zum Fenster und setzte mich.

»Scheiße!«, sagte ich. »Der ist ja immer noch nass.«

Ich lachte.

»Ja, witzig«, sagte ich und starrte hinaus. Die Hotellampen gingen an und beleuchteten den Parkplatz. Dann hörte ich von fern einen Motor. Ein Auto. Es kam langsam näher. Ein Gefährt rumpelte über die Schwelle zwischen Straße und Parkplatz, Scheinwerfer eines vorfahrenden Wagens flammten auf. Der Wagen wendete und parkte umständlich in eine imaginäre Parklücke ein, so dass die Lichter direkt dem Haus zugewandt waren und mich blendeten. Ich kniff die Augen zusammen.

»Seamus!«, schrie ich ins Haus. »Seamus is back!«

Hans und Burkhard kamen zurück, Gustav erschien in der Tür zum Treppenhaus.

»Da ist er!«, rief Inge. »Wir sollten die anderen holen.«

Der Motor wurde ausgeschaltet, die Lichter erloschen, eine Autotür wurde zugeworfen, nach ein paar Momenten ging die Haustür auf und Seamus kam hereingepoltert, bepackt mit seiner Reisetasche und einer Plastiktüte.

»Seamus«, sagte Inge, ohne Begrüßung, ohne Vorbereitung, »Olof is dead.«

Aber er hörte ihr gar nicht zu, er ließ sein Gepäck fallen, und seine Stimme klang wütend und irgendwie verzweifelt zugleich. »My house! What have you done to my house?!«

Ach ja, richtig, da war ja noch was.

1. Tag, Montag

Wir stiegen aus dem Bus. Eine Horde müder, kaputter, durchgeschwitzter, stinkender und durchgeschüttelter junger Europäer. Einige von uns waren unterwegs zusammengeknüllt und spärlich mit Jacken zugedeckt im Bus eingenickt und erst hier wieder aufgewacht. Ihre Beine und Arschbacken waren eingeschlafen, und nun humpelten sie benommen und überrascht, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, über den asphaltierten Vorplatz um den Bus herum. Wir waren am Ziel. Newgarden Mansion. Ein ehemaliges Hotel, ein Landhaus aus dem 18. Jahrhundert, leuchtete in der finsteren Nacht. Das Gebäude leuchtete natürlich nicht von selbst, sondern wurde von vier Scheinwerfern angestrahlt. Zwei waren vor dem Haus im Boden eingelassen und beleuchteten die Fassade, zwei waren am Dach befestigt und erhellten den Vorplatz. Die hungrigen und frierenden Europäer holten ihr Gepäck aus dem Bus und schlurften, die Taschen über den Asphalt hinter sich herziehend, zum Haus. Drinnen ließen sie erschöpft jede Tasche, jeden Rucksack, Koffer und Beutel sofort aus den kraftlosen Händen fallen, so dass sich im Nu ein unüberwindlicher Gepäckhaufen bildete.

Da standen wir nun. Im Hotelfoyer. Das sah nun freilich nicht aus wie das vom Ritz-Carlton oder Adlon. Nicht mal, wenn man das Adlon vor zehn Jahren geschlossen und hätte verrotten lassen. Eher wie das Foyer von Fawlty Towers, nur nicht ganz so groß und nicht ganz so gut erhalten – und vor allem nicht ganz so sauber. Links stand der obligatorische holzgetäfelte Empfangstresen. Dahinter hing das Regal für die Zimmerschlüssel, nur leider bar jedes Zimmerschlüssels, dafür aber voller Spinnweben, Staub und leerer Bierdosen. Am Ende des Tresens eine halboffene Tür ins Dunkel. Daneben, über Eck, befand sich die Tür zum Speiseraum, dann ein Stück Wand, dann wieder eine Tür, geschlossen, das war dann schon die Seite, die dem Eingang gegenüberlag. Daneben standen zwei alte Sessel und ein kleiner runder Tisch, auch da war eine Tür. Das gesamte Foyer war geschätzte vier Meter breit, vier Meter lang, darin zwanzig Personen mit Gepäck. Einige hatten sich schon hinter den Tresen verzogen, und die Sessel schienen auch mehr als je eine Person auszuhalten. Seamus war irgendwo da draußen. Ich sah ihn mit dem rauchenden Busfahrer plaudern. Die fünf auf den beiden Sesseln waren eingeschlafen, hier und da murmelte jemand. Ein großer, haariger Südländer mit wilder Frisur trommelte leise auf dem Tresen herum, um wach zu bleiben. Burkhard lehnte im Halbschlaf an der Wand. Endlich kam Seamus herein. Ein älteres, dünnes Männchen in einem grauen Pullover und einem braunen Tweedjackett, dazu trug er eine offenbar zu enge blaue Jeans.

»Okay«, sagte er fröhlich und faltete die Hände. Er hieß uns herzlich willkommen in Newgarden Mansion und meinte, am besten suchten wir uns mal die Zimmer aus. Wir seien sicher müde und sollten erst mal schlafen, der Rest werde sich morgen finden. Die Zimmer seien – er kletterte über das Gepäck und drängelte sich durch die Menschenmenge – dort, und er zeigte zur Tür neben dem Empfangstresen, als würde er sich selbst den Weg weisen, dann stand er schon davor und drückte sie auf. Uns gähnte ein dunkler Gang an. Seamus suchte einen Lichtschalter, fand aber keinen. Einfach hier, upstairs, na, er werde mal vorgehen. Dort, wo der kurze, dunkle Gang endete und die Treppe begann, fand er auch einen Lichtschalter, der eine unverhüllte funzlige Zwanzig-Watt-Birne an der Decke zum Aufflammen brachte. Jetzt konnten wir immerhin einzelne Stufen voneinander unterscheiden. Linker Hand führten ein paar Stufen hinunter in den Keller, wir tappten leise, einer nach dem anderen, hinter Seamus die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Hier, erklärte er uns, und im zweiten Stock seien die Zimmer, wir sollten sie uns aussuchen. Gleich das erste hier an der Treppe sei seins, aber ansonsten sei alles frei, wir sollten nur möglichst darauf achten, dass noch Plätze für weitere fünf Iren blieben, die in zwei Tagen ankommen würden. Aber die Betten müssten eigentlich reichen.

Müssten? Eigentlich?

Die beiden Italienerinnen, die die Etage sofort gestürmt und besichtigt hatten, kamen aufgeregt zurück. Nach einigem Hin- und Herübersetzen wurde klar, weshalb sie so aufgebracht waren. Die Etage hatte – Seamus’ Zimmer eingeschlossen – sieben Räume, oben sah es wahrscheinlich ebenso aus. Machte vierzehn Zimmer. Am Gangende war jeweils eine Art kleine Küche, oben noch eine Kammer, machte netto elf. Wir waren zwanzig, fünf sollten noch kommen, machte fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig durch elf, rechnete ich schnell im Kopf, machte zwei Komma zwei sieben.

»Zweieinviertel, ungefähr«, flüsterte Burkhard hinter mir, er war offensichtlich zum gleichen Ergebnis gekommen. Mindestens zwei pro Zimmer. So viel also zu den Einzelzimmern.

Wo denn die anderen Zimmer seien, fragte einer der Schweden.

Welche anderen Zimmer er meine, fragte Seamus erstaunt zurück.

Na, uns seien doch Einzelzimmer versprochen worden.

Einzelzimmer? Seamus runzelte die Stirn. Davon wisse er nichts.

Der schwedische Organisator habe gesagt, jeder Teilnehmer bekomme ein Einzelzimmer, übersetzte eine junge Schwedin ins Englische, was ihr ins Ohr geflüstert wurde, und die Italiener und Spanier gaben das Gesagte sofort mehr oder weniger geflüstert in ihren Muttersprachen weiter. Ein allgemeines Nicken und zustimmende Rufe hoben an. Offenbar hatte man überall dasselbe Blaue vom Himmel versprochen.

Es gebe ein paar Einzelzimmer, sagte Seamus, aber die würden nicht für alle reichen. Jetzt sollten wir erst mal jeder einen Schlafplatz suchen, wir seien doch sicher alle müde, der Rest werde sich finden. Morgen.

Ich schaute nach oben. Vielleicht gab es dort ja doch noch mehr Platz, dachte ich, auf jeden Fall war es nicht verkehrt ­hinaufzugehen. Hier war es mir jedenfalls zu voll. Burkhard und Gustav folgten mir. Vor uns liefen zwei Italiener oder Spanier die Treppe hinauf, den Rest ließen wir weiterdiskutieren. Oben sah alles genauso aus wie im ersten Stock, nur ein wenig schmutziger. Hier und da schaute ein offenes Kabel aus der Wand. Vor uns lag ein kurzer Flur, der an seinem Ende einen Knick nach links machte. Ich versuchte es im Gang links. An seinem Ende waren zwei Türen, eine direkt vor mir, jemand hatte einen Zettel mit der Aufschrift »Kitchen« drangeklebt. Rechts über Eck von der Küchentür war eine weitere Tür. Ich klinkte sie auf, machte Licht. Ein Dreibettzimmer mit zwei Schränken. Zwei Matratzen fehlten, aber es gab drei Bettgestelle, drei Nachttische mit Deckchen und Nachttischlämpchen. Die Lampe an der Decke war, wie fast überall hier, eine Funzel. Hm, dachte ich, Dreibettzimmer. Das bekam ich natürlich im Leben nicht für mich allein. Dann schaute ich eben mal in die Küche nebenan, vielleicht könnte ich mir da schnell ein Bett reinstellen. In einer Küche wollte ich immer schon mal wohnen. Ich öffnete die Tür – und siehe da, es war gar keine Küche. Es war ein Einzelzimmer mit einem Bett und einem Fenster mit einem Sprung in der Scheibe. Der Raum war eben groß genug für dieses eine Bett und dieses eine Fenster, von Herd und Kühlschrank keine Spur, die beiden hätten auch schwerlich noch reingepasst. Ich zog meine Jacke aus und legte sie aufs Bett. Innen steckte ein Schlüssel in der Tür. Hey, ich konnte mein Zimmer sogar abschließen! Welch Luxus! Ich ging wieder raus und schloss ab. Drei, zwei, eins, meins. Dann zurück zu den anderen. Im Nachbarzimmer standen Burkhard und Gustav und schauten sich um.

»Hallo, Nachbarn«, sagte ich. »Das ist ja schön, dass ihr hier wohnt.«

»Oh, hallo, Karsten«, brummte Gustav erstaunt aus seinem kantigen Gesicht. »Bist du nebenan?«

»Ja.«

»Und, wie ist es?«, fragte Burkhard.

»Klein. Und bei euch?«

»Irgendwas riecht hier muffig«, sagte Gustav missmutig, »und uns fehlen Matratzen.«

»Was ist da?«, fragte ich und zeigte auf eine leicht geöffnete Tür im hinteren Bereich des Zimmers.

»Unser – Badezimmer, glaube ich«, antwortete Gustav.

Ich warf einen Blick hinein: Duschecke ohne Vorhang, ein Klo ohne Deckel, Handwaschbecken mit zwei Hähnen, ein Spiegel. »Hey!«, rief ich. »Luxus! – Ich hab kein Bad«, und ich fragte mich, wo ich mich dann eigentlich waschen sollte. »Wer zieht zu euch? Hans? Inge?«

»Nein«, sagte Gustav, »die Inge hat schon ein Zimmer gefunden, am anderen Ende der Etage.«

»Da ist ’ne Küche nebenan«, sagte Burkhard, »ohne Herd, aber mit Spüle und einem Kühlschrank. – Vielleicht findet Hans was Eigenes, ich meine, zu zweit reicht das hier auch. Wir brauchen nur noch Matratzen.«

»Na dann los.«

Unten herrschte noch immer das Chaos, das wir verlassen hatten. Seamus stand jetzt in der offenen Tür zu seinem Zimmer, als wollte er es gegen den meuternden Mob verteidigen. Im Flur und auf den Treppen standen ein paar Italiener, Schweden und Spanier, unter ihnen Inge und Hans, und versuchten mit ihm zu diskutieren. Der Rest hatte sich im Haus verteilt auf der Suche nach Zimmern, Betten oder wenigstens Matratzen. Ab und zu kam jemand fluchend wieder und mischte sich ein, während ein anderer loszog.

Die Diskussion bestand im Wesentlichen darin, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch immer darauf beharrten, man habe ihnen Einzelzimmer (die es ja nun augenscheinlich nicht gab) und vor allem Betten versprochen. Seamus hingegen meinte, wir sollten uns doch jetzt erst einmal irgendwelche Schlafmöglichkeiten suchen. Und alles Weitere morgen klären. Tomorrow.

»¡Mañana, mañana!«, rief eine Spanierin und ruderte mit den Armen.

Eine kleine Schwedin kam von oben, drängelte sich an mir vorbei und rief: »We are tired! We want to sleep!«

»Yes!«, rief ein anderer, »and we are hungry!«

Das war das Stichwort. Denn natürlich waren wir alle nicht nur müde, sondern wir alle waren auch hungrig. Wir hatten das bislang nur vergessen, weil wir so müde waren. Und jetzt wurden wir wieder daran erinnert.

»Yes, we are hungry!«, riefen die, die Englisch konnten.

Ich schaute von schräg oben in Seamus’ Zimmer hinein. Offenbar war es das sauberste Zimmer im ganzen Haus, es stand ein Schrank drin, das Bett war mit einem Laken bezogen und hatte Bettdecke und Kopfkissen. Seamus schien bemüht, mit seinem Körper so gut es ging gierige Blicke in sein Zimmer zu blockieren, während er zu erklären versuchte, dass und vor allem weshalb nichts zu essen im Hause sei. »But tomorrow …«

Der Rest ging im Geschrei der Müden und der Hungrigen unter.

Dass es zu keinen Handgreiflichkeiten kam, war vor allem einem kurzhaarigen Spanier zu verdanken, der just in diesem Moment ächzend eine Matratze die Treppe heraufwuchtete und dabei wahrscheinlich die spanischen Pendants der Worte »Achtung!« und »Aus dem Weg!« rief, was natürlich kaum jemanden kümmerte, da ja auch kaum jemand Spanisch sprach (abgesehen von den Spaniern und Inge). Stattdessen wurde er aufgehalten und gefragt, woher er die Ma­tratze habe.

»Downstairs. A room. Full of them.«

Nun, so full of Matratzen war der Room zwar nicht, aber es genügte. Fürs Erste. Einige Teilnehmer gingen zweimal, denn sie hatten nicht einmal eine Bettstatt und wollten zwei Matratzen aufeinanderlegen, machten so aus manchem Einzel- ein Zweibettzimmer oder aus einem Zweier ein Dreier. Decken gab es in dem Raum auch: braune mit Brandlöchern, graue, die leicht feucht waren, und dunkelblaue, kratzig und hart wie Bretter, die knirschten, wenn man sie auseinanderfaltete.

Na bitte, meinte Seamus, als alle halbwegs versorgt schienen, als sei das sein Verdienst. Der einzige Grund, dass er nicht sofort gelyncht wurde, war die Müdigkeit aller Beteiligten, die durch die Matratzenschlepperei nur schlimmer geworden war. Was trotzdem niemanden daran hinderte, weiterhin zu schimpfen und zu zetern und weiterzudiskutieren, bis Seamus irgendwann einfach die Tür seines Zimmers hinter sich zuzog und hörbar abschloss.

»Komm«, sagte ich zu Burkhard, »lass uns unsere Sachen holen und schlafen gehen.«

Während wir nach unten gingen, schüttelte Burkhard den Kopf und murmelte: »Unglaublich«, immer wieder: »Unglaublich«.

Wir kramten im Gepäckberg nach unseren Rucksäcken.

»Warte mal«, sagte ich und lief nach draußen, »vielleicht können wir den Bus …« Aber draußen war nichts mehr, bis auf die Festtagsbeleuchtung der Scheinwerfer. Der Platz war leer, in der Ferne glaubte ich die Rücklichter des Busses zu sehen, der eben abbog. Zum Hinterherlaufen war er schon zu weit weg, »… noch kriegen«, sagte ich zu mir und fühlte mich wie die Leute, die erst loslaufen, wenn sich die Türen der U-Bahn bereits schließen und der Zug anruckt. Es begann zu nieseln, und als ich gerade durch die Tür war, goss es bereits. Drinnen stand Burkhard am Fenster und schaute auf den Vorplatz.

»Es regnet«, sagte ich überflüssigerweise, als ich die Tür hinter mir schloss, denn das Wasser lief mir schon aus den Haaren und die Nase hinunter. »Und der Bus ist auch weg«, fügte ich noch überflüssigerweise hinzu.

»Ja«, sagte Burkhard, und wir schauten beide eine Weile nach draußen. Es sah auch irgendwie schön aus, wie der Regen im Licht der Bodenscheinwerfer Fäden bildete, und ich überlegte, wann ich zum letzten Mal solch einen Regen erlebt hatte. Das war bestimmt schon zwei Jahre her, bei Sophie auf dem Balkon. Sommer, knallheiß, draußen schon fast dunkel, wir beide gerade fertig mit Vögeln und standen nackt auf ihrem Balkon, und dann fing es an zu gießen.

»Na komm«, sagte Burkhard, »lass uns nach oben gehen.«

Auch die anderen hatten sich in die Zimmer verzogen. Vielleicht aus Müdigkeit oder weil es nichts zu essen gab. Das Haus stand in der Pampa, war wahrscheinlich meilenweit vom nächsten Pizzaservice entfernt, und um diese Uhrzeit wurde eh nicht mehr geliefert. So erübrigte sich auch die Diskussion, woher man vielleicht doch noch was zu essen bekommen könnte. Vielleicht war den meisten auch wieder eingefallen, dass sie noch Reiseproviant in den Taschen hatten, und in den Zimmern fanden jetzt heimlich Gelage statt, mit Knäckebrot, Ziegenkäse und Parmaschinken. Ein paar Unermüdliche – zwei Schweden und zwei Spanier – standen noch immer im Treppenhaus und unterhielten sich über die unmöglichen Zustände, man konnte meinen, sie stritten, waren aber offenbar einer Meinung, nur eben etwas laut. Neben ihnen stand eine Italienerin und tippte und wischte auf ihrem Handy herum, kopfschüttelnd und wie es aussah mehr und mehr verzweifelnd. Sie sagte etwas zu uns und hielt uns das Gerät hin. Burkhard warf einen Blick darauf, hob die Schulter und sagte: »Well?« Wir gingen weiter.

»Was wollte sie?«, fragte ich.

Burkhard hob die Schultern: »Well? Keine Ahnung. – Wahrscheinlich hat sie keinen Empfang. Oder der Akku ist leer.«

Im zweiten Stock hatte sich ein junger Mann eine Ma­tratze in den Flur gelegt und schlief bereits. Die Tür zu meinem Nachbarzimmer stand offen, Gustav und Hans, der offenbar doch nicht anderswo untergekommen war, machten gerade die Betten. Burkhard ging hinein. »Na dann, gute Nacht.«

Willkommen zu Hause, dachte ich, als ich die Tür meines Zimmers hinter mir schloss. Ich legte meine beiden Rucksäcke auf den Boden und setzte mich aufs Bett. Die Matratze war weich und das Zimmer fast doppelt so breit und doppelt so lang wie das Bett. Hinter der Tür hatte sich eine kleine Nische mit einer Kleiderstange versteckt. An der Decke war eine Schiene für einen Vorhang angebracht, aber natürlich hing da kein Vorhang mehr. Ein irischer Kleiderschrank. Da würde ich meinen Rucksack hineinstellen. Auf dem Boden lag eine alte, ausgetretene, ehemals apricotfarbene Auslegware. Die Wände zierte eine kleingemusterte Blümchentapete bis in Schulterhöhe, dann kam eine fingerbreite rote Borte aus dem Blut der ehemaligen Gäste und dann eine ehemals weiße Wand bis zur Decke. Das Fenster hatte ebenfalls keinen Vorhang und keine Gardine (lediglich eine weitere leere Schiene war vorhanden), aber ich würde in dieser Einöde wohl auch kein Visavis haben, das mir ins Zimmer schaute. Es roch muffig und feucht, aber ich zögerte, das Fenster zu öffnen, um nicht noch mehr Kälte und Feuchtigkeit reinzulassen. Vielleicht regnete es sogar herein. Stattdessen könnte ich die Kälte ja mit Heizen verscheuchen. Ich drehte am Heizungsventil bis zum Anschlag und lauschte. Normalerweise ließ sich dann ein gurgelndes Geräusch vernehmen. Gut, dann andersherum. Nichts. Stille. Gern hätte ich den Heizkörper angefasst, aber der versteckte sich hinter einer fest unter dem Fenster eingebauten Holzverkleidung, die fast nahtlos in das Fensterbrett überging.

Ich holte mein Handy heraus. Tatsächlich, hier oben hatte ich keinen Empfang. Aber ich stellte den Wecker auf neun Uhr und legte das Handy aufs Fensterbrett. Dann kuschelte ich mich unter die muffige Decke. Aus der Matratze stieg ein leicht säuerlicher Geruch auf, sie war durchgelegen, und ich rollte aus jeder möglichen Lage immer in die Mitte. Na gut, dann schlief ich eben in einem Trog.

Ich löschte das Licht, und noch ehe ich die Augen geschlossen hatte, war ich eingeschlafen.

2. Tag, Dienstag

Am nächsten Morgen erwachte ich mit multiplen Schmerzen unterschiedlicher Herkunft, Stärke und Ausprägung. Vorherrschend waren dies Kopfschmerzen vom Weckerklingeln und zu wenig Schlaf. Dazu kamen Rückenschmerzen, die ich auf die schlechte Bettstatt zurückführte, lagen meine Schultern doch höher als mein Brustbein. Außerdem schlafe ich nicht gern auf dem Rücken, da mein Kinn dadurch auf die Brust sackt, ich zu schnarchen anfange und mein Mundraum austrocknet, was sich diesmal aber nicht vermeiden ließ, denn ich rollte immer wieder ins Tal der Matratze zurück. Ich musste etwa seit Schlafbeginn so dagelegen haben. Meine Bettdecke war jedenfalls feuchter als meine Zunge.

Draußen war es hell. Nach der Fahrt durch das trübe Irland gestern hatte ich nicht damit gerechnet, dass es hier ein derart schönes Wetter gab. Strahlender Sonnenschein, so gut wie keine Wolke am blauen Himmel, nur diese kleinen, zarten, federartigen. Und die Sonne schien mir mitten ins Gesicht. Ein bisschen zu sehr, fand ich, versuchte mich wegzudrehen und baute das Kopfkissen als Barriere zwischen uns auf.

Als ich das nächste Mal erwachte, zeigte mein Wecker zehn nach zwölf, draußen war der Himmel grau, und es nieselte. Ich ärgerte mich. Dass das schöne Wetter vorbei war, dass es schon so spät war und dass unten sicher schon das Leben brodelte, ich die Hälfte der Action und das erste im Preis inbegriffene Frühstück verpasst hatte, noch dazu da es wie der ganze Aufenthalt hier ja kostenlos war. Also aufstehen und anziehen. Das Aufstehen bereitete zwar körperliche Mühe und Qualen, aber der Rücken schmerzte nicht mehr so schlimm wie noch drei Stunden zuvor, und nachdem ich mich gereckt hatte und diverse Knochen mit Knack- und Knirschgeräuschen angezeigt hatten, dass sie sich nun wieder an ihrem angestammten Platz befanden, fühlte sich Stehen besser an als Liegen. Anzuziehen brauchte ich mich auch nicht, angezogen war ich ja noch von gestern, nur die Schuhe hatte ich vor dem Einschlafen von den Füßen gestreift und auf den Boden plumpsen lassen. Allerdings hatte ich diese Sachen gestern früh angezogen, war in ihnen durch halb Europa gereist und hatte in ihnen dann noch eine Nacht verbracht. Sicher roch ich inzwischen etwas unangenehm. Ich machte mich auf die Suche nach einem Badezimmer. So was musste es ja in so einem Hotel, wie alt auch immer, auf jeder Etage geben. Gab es aber nicht. Jedenfalls fand ich im ganzen Stockwerk keine Tür mit der Aufschrift »WC« oder »Bath­room« oder einem Schild mit einem Männchen und/oder Weibchen. Vielleicht war ein derartiges Schild auch irgendwann abgeschraubt worden. Ich traute mich jedenfalls nicht, irgendwo zu klopfen oder einfach hineinzugehen. Erst eine halbe Etage tiefer wurde ich fündig: eine Tür, die ich gestern Nacht noch nicht wahrgenommen hatte. Sie trug die beiden leicht erhabenen Buchstaben W und C, die zwar überlackiert worden waren, aber wenn man von schräg unten genau hinschaute und das Licht günstig war, konnte man sie erkennen. Über der Tür befand sich ein kleines Fensterchen mit ein paar schmutzigen, bunten Glasscheiben. Ich trat ein. Tatsächlich, ein Badezimmer. Seit vermutlich mindestens vier Jahren nicht mehr geputzt. Ich hatte keinen Luxus erwartet, nicht nach der Ankunft gestern. Ich hatte keine Toilette erwartet wie in meiner ehemaligen Firma, wo die Wasserhähne zwar nicht aus purem Gold, aber immerhin aus gebürstetem Edelstahl gewesen waren, die Handwaschbecken aus Marmor und die Kacheln in den Firmenfarben Orange und Grün. Aber das hier … Links von mir, zwei Meter entfernt, stand eine alte, stumpfe Badewanne mit Dusche, daneben, also direkt vor mir, eine Kloschüssel ohne Brille, darüber ein kleines Fenster, rechts von mir, der Wanne gegenüber, das Waschbecken mit Spiegel. Alles dreckig, fleckig, schmutzig, angestaubt und schmierig. Handtellergroße Schimmelflecken verschiedener Kolorierung klebten an der Decke. Ich wagte kaum, etwas zu berühren. Am liebsten wäre ich genau in der Mitte stehengeblieben, um von allen Dingen den maximal möglichen Abstand zu halten, aber dazu war ich ja nun auch nicht hier. Sollte ich im ganzen Haus kein anderes Badezimmer finden (ich bezweifelte freilich, dass das in einem besseren Zustand wäre), musste ich im Stehen duschen, mit den Füßen auf dem Wannenrand. Mit Schuhen an oder wenigstens Papier drunter. Da ich das Klo gesehen hatte, meldete sich leider der morgendliche Harndrang. Die Tür ließ sich mittels eines kleinen Riegels verschließen, und ich war sehr froh, dass Sophie es nicht geschafft hatte, mich zu einem Sitzpinkler umzuerziehen. Ich holte meinen Schwanz aus der Hose, er wehrte sich zunächst ein bisschen, dieses Elend mitanzusehen, außerdem war es ihm hier draußen zu kalt, aber was blieb ihm übrig? Als ich spülte, gab der Wasserkasten nur ein kleines Rinnsal lange abgestandener Flüssigkeit von sich. Mein Seufzen hallte von den Fliesen wider.

Dann: Zähne putzen. Am Waschbecken waren zwei Hähne angebracht, einer links, einer rechts. Keine Mischbatterie, nur ein Hahn für warmes, einer für kaltes Wasser oder, wie sich herausstellte, zwei für kaltes Wasser. Ich spürte beim Gurgeln förmlich, wie sich meine Zähne in den Kiefer flüchten und das Zahnfleisch wie eine warme Bettdecke über sich zusammenziehen wollten. Allein es half nichts, da mussten wir jetzt gemeinsam durch.

»Immerhin«, sagte ich zu ihnen, »das Wasser ist nicht gelb oder braun, es schmeckt nicht salzig, ölig, rostig oder nach Algen.« Dann verstummte ich. »O Gott«, sagte ich, »jetzt rede ich schon mit mir selber. – Und jetzt schon wieder.« Ich war noch nicht mal einen Tag hier und führte schon Selbstgespräche. Ich machte, dass ich aus dem Bad kam, zog mich um und ging nach unten.

Ich ging die Treppe hinunter und hoffte, dass unten bereits das Leben brodelte. Es war kurz vor eins. Aber es war leer. Da war gar nichts. Außer der Tatsache, dass Seamus’ Wagen vor dem Haus und ich im Foyer stand, wies nichts darauf hin, dass irgendjemand im Haus wohnte. Das Gepäck war weg. Auch der junge Mann, der im Flur auf der Matratze gelegen hatte, war mitsamt derselben verschwunden, offenbar hatte sich jemand seiner erbarmt und ihn zu sich geholt. Seltsam, das klang irgendwie nicht gut, so tot. Ich schüttelte mich unwillkürlich.

Nun gut, sagte ich mir, dann schaute ich mich mal ein bisschen um. Vom Foyer gingen drei Türen ab. Hinter Tür Nummer eins, die dem Gang vom Treppenhaus gegenüberlag, befand sich ein halbwegs gemütliches Zimmerchen mit einem kleinen Kamin, einem Sofa, zwei Sesseln (einer Garnitur gar), einem Tischchen und – einem alten Fernsehgerät. Von Menschen keine Spur. Der Raum daneben war groß, fast schon ein Saal. Abgewetzte Teppiche, mehrere Sessel, Gardinen, in der Mitte ein großer runder Tisch, auf dem sich ein gewaltiger Berg Bücher stapelte. Sehr gemütlich, aber auch hier war niemand. Wahrscheinlich saßen alle im Raum nebenan, der von diesem Salon durch eine geschlossene, große, hölzerne Schiebetür abgetrennt war. Ich öffnete sie und trat ein. Leere. Stille. Zwei lange Tischreihen mit Stühlen. Der Speiseraum. Dunkle Holzvertäfelung bis zur Kassettendecke wie nebenan und wie auch im Foyer, wohin ich wieder zurückging. Vor die Schwingtür nach draußen hatten die ehemaligen Besitzer eine Art Windfang gebaut, einen Vorbau mit großen Glasfenstern, an dessen Seite eine Tür hinausführte. Draußen regnete es immer noch. Sollte ich wieder nach oben gehen? Auspacken? Sollte ich überall klopfen und alle wecken? Nein, ich musste mich ja nicht gleich am Anfang unbeliebt machen.

Das also war mein erster Tag in Irland. Was für eine Scheiße.

Ich setzte mich in einen der Sessel und wartete.

Das Getrappel kleiner Füßchen auf der Treppe … Ich musste eingeschlafen sein, aber jetzt war ich mit einem Mal hellwach. Karen und Emma, wie sie sich vorstellten, nachdem sie »Hej« gesagt hatten, standen vor mir. Sie kamen aus Schweden, hatten aber dicke Norwegerpullover an oder so was Ähnliches – jedenfalls waren Rentiere drauf und Zopfmuster –, Pullover, die stets zu groß getragen werden, deren lange Rollkragen man bis über den Kopf ziehen kann und die die Busen größer erscheinen lassen. Beide Frauen waren etwas kleiner als ich, beide waren blond. Eine, Karen (oder Emma), etwas ins Rötliche gehend und langhaarig, die andere, Emma (oder Karen), eher kurz und strubbelig. Auch ich stellte mich vor: »Karsten. From Germany.«

Wo denn die anderen seien, fragten sie.

Welche anderen sie meinten, fragte ich zurück. Hier sei nur ich. Nur ich, sie und der Geist im Keller. Ich zeigte zu Boden.

Die beiden starrten mich für einen Moment mit offenen Mündern an wie Goldfische im Aquarium. Aber doch irgendwie süß. Nein, sagten sie, die anderen. Ich sei doch auch gestern mit dem Bus angekommen – wie die anderen.

Ach so, meinte ich, die anderen. Ja, die seien am Vormittag alle wieder abgereist. Auch mit einem Bus. Aber sie hätten einen Zettel dagelassen. Ich tat so, als würde ich ihn in meinen Taschen suchen.

Die beiden waren überrascht, ja entsetzt, und fanden kaum Worte, jedenfalls keine, die ich verstand. Aber ich konnte sie schnell beruhigen: »Just kidding«, sagte ich und lachte. Die anderen schliefen sicher noch, ich hatte jedenfalls heute noch niemanden gesehen.

Vielleicht seien sie in der Küche, meinte die Langhaarig-Rötliche, Karen (oder Emma), erleichtert, dass ich gescherzt hatte. Wo denn die Küche überhaupt sei?

Ich wusste es auch nicht. Aber ich wusste, wo der Speiseraum war. Da dies ein Hotel gewesen war, vermutete ich laut, müsse die Küche ja irgendwo in der Nähe sein, wahrscheinlich gleich nebenan. Und richtig, am anderen Ende des Raumes versteckten sich, gut getarnt, zwei Türen in der Wandvertäfelung. Die erste führte in eine winzige Abstellkammer mit Eimer und Wischmopp, beides allem Anschein nach noch unbenutzt. Die andere führte in einen Gang, der Gang machte einen Knick, links und rechts standen Schränke und Regale voller Teller, Tassen, Gläser und sonstigem Geschirr, große Servierplatten, Saucieren, Kannen, und dann kam die Küche. Und die Küche war auch leer. Menschenleer. Ansonsten war sie eigentlich noch ganz gut in Schuss, dafür, dass sie seit Jahren ungenutzt war. Nicht so schön wie die alte Bauernhausküche aus der Kerrygold-Werbung in meiner Kindheit, aber sie war groß. Gekachelter Boden. In der Mitte ein riesiger Holztisch, und zwischen den beiden Fenstern an der Stirnseite standen zwei turmhohe Kühlschrank-Gefrier-­Kombinationen, beide leer, was aber auch gut war, denn beide waren nicht angeschlossen, die Stecker lagen auf dem Fußboden. Eine der Frauen steckte sie in Steckdosen. Seamus werde ja nachher einkaufen, und dann müssten die Schränke doch kalt sein. An der linken Wand stand ein halbhohes Metallregal, in dessen unterem Teil Teller gestapelt waren, oben gab es noch mehr Tassen und zwei Wasserkocher. Zum Ende der Wand schloss sich die Spüle an: zwei etwa einen Meter tiefe und breite Metallwannen. Dem Fenster gegenüber stand ein Holzregal, flankiert von zwei Hintertüren, beide verschlossen, und an der Wand, der wir als erste ansichtig geworden waren, als wir die Küche betreten hatten, und sie fast gesamt einnehmend stand er: der Herd. Ein altes, emailliertes Monstrum mit acht großen Gasflammen und vier Backröhren, gusseisernem Gestänge und darüber eine riesige Dunstabzugshaube. Was für ein Oschi! Wie würden wir darauf kochen, wer immer von uns kochen würde! Neben dem Herd und fast unscheinbar stand ein weiterer, ein ganz normaler Gasherd. Fast schien es, als würde er sich neben seinem großen Bruder schämen.

Seamus hatte recht gehabt, es war nichts zu essen da, gar nichts, wir konnten uns nicht mal einen Kaffee oder Tee machen. Wir trotteten zurück ins Foyer und warteten. Dann kamen nach und nach die anderen. Einzeln. Zu zweit. Noch müde. Manche gutgelaunt (weshalb auch immer). Der Rest mürrisch. Hungrig. Sie wollten Kaffee. Sie wollten Brot. Sie wollten irgendwas. Rohe Kartoffeln. Egal. Um zwei waren alle beisammen, lungerten im Foyer herum, saßen im Speiseraum, unterhielten sich, langweilten sich. Probierten ihre Handys aus. Fluchten.

»Na«, sagte ich zu Burkhard, der gerade aufgetaucht war, »gut geschlafen?«

»Na ja, gut …« Er zog seine Augenbrauen hoch. »Aber wie ein Stein, ich war ja auch todmüde. Hans sagt, dass Gustav schnarcht, aber ich hab gar nichts mitbekommen. Was passiert jetzt eigentlich? Wo ist Seamus?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Oben, denke ich.«

»Vielleicht sollte ihn jemand wecken«, meinte er.

»Ja«, sagte ich, »vielleicht. Jemand. Geh du doch.«

»Ich? Nö. Geh du doch.«

»Ich?«

Inge kam zu uns. Sie war einen Kopf kleiner als ich, trug einen schwarzen Rock, einen schwarzen Pullover und ein gehäkeltes Schultertuch, ebenfalls schwarz, wahrscheinlich von ihrer Großmutter geerbt, aber es bildete einen schönen Kon­trast zu ihrem langen, blonden Haar. »Guten Morgen«, sagte sie.

»Guten Morgen, Inge!«, sagte Burkhard. »Geh doch mal hoch und weck Seamus.«

»Ich?«, rief sie übertrieben. »Wieso? Geh du doch!«

»Ich?«, fragte Burkhard.

»Oder du.« Sie schaute zu mir.

»Wieso ich?«, fragte ich.

»Die Handys funktionieren nicht«, sagte Inge. »Jedenfalls sagen fast alle, dass sie kein Netz kriegen.«

»Scheiße«, sagte Burkhard.

»Vielleicht ist es nur hier im Haus. Vielleicht stört irgendwas den Empfang. Die dicken Wände …«

Inge schüttelte den Kopf. »Ich hab es gestern beim Ankommen schon draußen probiert, auch ohne Erfolg.«

»Na, wir haben ja sicher irgendwo ein Telefon im Haus«, meinte Burkhard, »so mit Kabel. Seamus muss uns nur zeigen, wo es steht.«

»Wahrscheinlich in seinem Zimmer.«

»Ja, wahrscheinlich. Eins mit ’ner Kurbel.« Er hielt sich einen imaginären Hörer ans Ohr und sagte: »Hallo, Vermittlung …«

Seamus kam gegen halb drei, fröhlich, frisch geduscht und munter, die Treppe herunter. »Good morning«, strahlte er. »What about breakfast?«

Wir teilten ihm mit, dass nichts, aber auch gar nichts im Hause sei, woraus man ein Frühstück zubereiten könne, und er meinte: »Oh, yes. Oh, yes. Yes.«

Kaum hatte sich herumgesprochen, dass Seamus endlich wach sei, kamen auch die anderen aus ihren Zimmern oder wo immer sie sich bis jetzt herumgetrieben hatten, zu uns ins Foyer, und bald herrschte dort ein kuscheliges Gedränge. Die meisten standen, einige hatten einen Platz auf einem der Sessel, der haarige Spanier saß auf dem Tresen, ein paar Frauen hatten sich auf den Boden gesetzt, der Rest stand, so auch Seamus. Es hatte noch kaum jeder einen Platz, da begannen die Italiener: Wie es denn nun weitergehe. Es fehlten Betten, es gebe nichts zu essen. Was mit den Badezimmern sei. Der Heizung. Den Arbeitsräumen. Telefon. Wieso es keinen Handyempfang gebe.

»Yes«, sagte Seamus, »we’ll see. But first …«, er faltete die Hände. »Who is going to cook tonight?« Seamus wirkte wie der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs, der soeben einen, sagen wir mal, Eisberg gerammt hat und der jetzt, da das Schiff schon halb am Untergehen ist, fragt: »Okay, das Eis hätten wir. Wer geht mal eben los und holt den Whiskey?«

Entsetztes Schweigen, dann Geflüster, das soeben Gesagte musste den der englischen Sprache nicht Mächtigen übersetzt werden.

Er müsse, fuhr Seamus fort, heute noch zurück nach Dublin, werde aber vorher schnell in die nächste Stadt fahren und Lebensmittel kaufen. Wir, oder der oder die, die heute Abend für alle kochen wollten, sollten eine Einkaufsliste zusammenstellen.

Was mit der Heizung sei! Mit den Betten! Mit den Handys! Dem Telefon!

Jaja, sagte Seamus, aber zuerst der Einkauf. Er müsse heute noch nach Dublin zurück. Er sprach, als hätten wir ihn beim ersten Mal nicht richtig verstanden. Die Italiener beredeten ­etwas, dann meldete sich ein kräftig gebauter, dunkelhaariger und leicht lockiger Mann, der heute offenbar noch nicht zum Rasieren gekommen war, und sagte: »I. I will cook.«

»Fine, fine«, er solle eine Liste machen, was er brauche, am besten auch für morgen und zum Frühstück und so generelle Sachen wie Tee und Kaffee und so. »All you need.«

»We need beds! We need hot water!«

Ja, er wisse das. Wir würden das alles besprechen. In Ruhe, aber nicht jetzt, jetzt sei er etwas in Eile. Er müsse heute noch nach Dublin – er zeigte zur Tür –, aber morgen komme er wieder her – er zeigte vor sich auf den Boden – mit den anderen Teilnehmern, denen aus Irland. Und wenn dann alle beisammen seien, würden wir über alles reden. »But not today. Tomorrow.«

»Mañana«, flüsterte eine Spanierin ihrer Freundin zu.

»Mañana«, moserte die.

»Okay, who is going to cook today?«, fragte Seamus. Der Kapitän des ungenannten Kreuzfahrtschiffs litt offenbar unter Alzheimer – und weil er vergessen hatte, dass er soeben einen Eisberg gerammt hatte, rammte er ihn gleich noch mal.

»I«, meldete sich der Italiener von eben erneut. »I cook.« Klang seine Stimme leicht gereizt?

Okay, wie denn sein Name sei.

»Paolo«, sagte der Italiener.

»Okay – this …«, meinte Seamus zu uns und zeigte auf unseren Koch, »… this is Paolo. He will cook.«

Sollten wir jetzt applaudieren oder was? Auch Paolo schaute ein bisschen mürrisch und irritiert. Hatte er sich jetzt für die gesamte Zeit als Koch verpflichtet?

»Ich will nicht sechs Wochen lang Pizza essen«, sagte Gustav.

»Du isst doch sonst auch wochenlang Pizza«, meinte Burkhard, offenbar kannten die beiden sich schon länger.

»Die italienische Küche ist sehr vielfältig«, unterbrach Inge. »Fisch zum Beispiel …«

»Bäh, Fisch! Ich esse keinen Fisch.« Gustav verzog den Mund.

Gut, meinte Seamus, nachdem das geklärt sei, gehe er jetzt mal schnell nach oben, sei aber gleich wieder da, Paolo solle draußen auf ihn warten und die Einkaufsliste machen. Dann lief er hinaus.

»Ich fasse es nicht«, sagte Burkhard und fuhr sich über seine roten Haarstoppeln. »Ich meine, hey, was war denn das? ›Ich habe keine Zeit. Das besprechen wir morgen.‹ Ich fasse es nicht. Ich, ich …« Er fand keine Worte.