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Emilia Roig

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Beschreibung

Der bisher persönlichste Text der radikal-ehrlichen Bestseller-Autorin und Denkerin Emilia Roig. Ein hoffnungsvolles Plädoyer für zeitgemäße Formen der Liebe und Fürsorge

Emilia Roig steht für radikale Veränderung. Ob sie das Ende rassistischer Unterdrückung oder das Ende der patriarchalen Ehe einfordert, es treibt sie die Sehnsucht nach Befreiung und Gerechtigkeit. Auch »Lieben« ist ein Plädoyer für mehr Gerechtigkeit, denn die Liebe sollte für alle sein. In einer patriarchalen Gesellschaft aber beansprucht die romantische Liebe alle Aspekte dieser Form der Bindung für sich: Begehren, Eifersucht, Intimität, Abhängigkeit, Zärtlichkeit. In ihrem ersten Essay gewährt uns Emilia Roig tiefe Einblicke in die eigene Biografie und revolutioniert dabei unser Verständnis von der Liebe: als eine transformative Energie, die uns nicht nur mit unserer Familie und unseren Freunden, sondern mit allen Menschen, der Natur und dem Kosmos verbindet. Ihr neues Buch ist eine Einladung zu mehr Solidarität, Empathie und Mut.

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Das ist das Cover des Buches »Lieben« von Emilia Roig

Über das Buch

Der bisher persönlichste Text der radikal-ehrlichen Bestseller-Autorin und Denkerin Emilia Roig. Ein hoffnungsvolles Plädoyer für zeitgemäße Formen der Liebe und FürsorgeEmilia Roig steht für radikale Veränderung. Ob sie das Ende rassistischer Unterdrückung oder das Ende der patriarchalen Ehe einfordert, es treibt sie die Sehnsucht nach Befreiung und Gerechtigkeit. Auch »Lieben« ist ein Plädoyer für mehr Gerechtigkeit, denn die Liebe sollte für alle sein. In einer patriarchalen Gesellschaft aber beansprucht die romantische Liebe alle Aspekte dieser Form der Bindung für sich: Begehren, Eifersucht, Intimität, Abhängigkeit, Zärtlichkeit. In ihrem ersten Essay gewährt uns Emilia Roig tiefe Einblicke in die eigene Biografie und revolutioniert dabei unser Verständnis von der Liebe: als eine transformative Energie, die uns nicht nur mit unserer Familie und unseren Freunden, sondern mit allen Menschen, der Natur und dem Kosmos verbindet. Ihr neues Buch ist eine Einladung zu mehr Solidarität, Empathie und Mut.

Emilia Roig

Lieben

Hanser Berlin

Für Manman-Marraine

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Emilia Roig

Impressum

Inhalt

Über das Lieben

Familie lieben

Lovers lieben

Freund*innen lieben

Natur und Tiere lieben

Kosmos lieben

Literatur

Über das Lieben

Bestimmt kann die Welt gerettet werden von all den Menschen, die auf Liebe bestehen.

Alice Walker

Eine Freundin meinte einmal zu mir: »Du bist in die Liebe verliebt.« Und das stimmt, ich liebe die Liebe so sehr, dass mein ganzes Leben auf sie ausgerichtet ist. Ich denke ununterbrochen über sie nach und sehne mich jede Sekunde nach ihr. Nicht nur bei mir selbst, auch bei anderen lauere ich auf Anzeichen der Liebe, suche nach ihren Spuren und frage mich, ob mein Gegenüber wohl gerade an der Liebe leidet oder ihretwegen aufgeregt und glücklich ist. Alles in der Welt dreht sich um Liebe, und wenn es nicht um Liebe geht, dann geht es um ihre Abwesenheit.

Vielleicht muss ich gleich an dieser Stelle vorwegnehmen, dass ich, wenn ich von der Liebe spreche, bei weitem nicht nur an Liebhaber*innen, Herzklopfen, rote Rosen und Anträge, kurz an die körperliche, seelische und geistige Anziehungskraft zwischen zwei Menschen denke. Liebe ist keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Praxis. Der bewusste, absichtsvolle Akt des Liebens besteht für mich in der Frage, was unsere individuelle Verantwortung unseren Mitmenschen, unserer Umwelt und uns selbst gegenüber ist — und wie wir dieser gerecht werden können. Ich verstehe die Liebe als eine Art DNA allen, auch speziesübergreifenden sozialen Miteinanders. Doch es gibt einige Systeme, die dieser Praxis entgegenwirken, die das rücksichtsvolle und empathische Miteinander sprengen, indem sie Hierarchien einziehen und Verantwortungen missachten. Solche Systeme sind der Kolonialismus, das Patriarchat, der Kapitalismus und ihre Beiprodukte: Rassismus, Sexismus, Ableismus, Klassismus, Misogynie, Trans- und Queerdiskriminierung. Jede Person, die diese Systeme aktiv bekämpft, übt sich in der Liebe. Aktivismus ist Liebe oder umgekehrt, in bell hooks’ oft zitierten Worten aus Alles über Liebe: »Alle bedeutenden Bewegungen für soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft [haben] stets den Wert der Liebesethik betont.« So gesehen ergibt mein eingangs beschriebener außergewöhnlicher Fokus auf die Liebe womöglich mehr Sinn.

Es geht den meisten von uns schon seit einer Weile nicht wirklich gut, weder als Gesellschaft noch im Einzelnen. Kriege, Inflation, Faschismus, Klimakrise und Armut sind sowohl Ursachen als auch Folgen der mangelnden Liebe auf unserem Planeten. Ich bin überzeugt, dass viele der Probleme unserer Zeit Symptom eines beschränkten, verarmten Verständnisses von Liebe sind, als ein privates Projekt, an dem jede Person, die nicht geborgen in einer Beziehung lebt, notwendigerweise gescheitert ist. Doch in den meisten Fällen liegt die große, erfüllende und berauschende Liebe ganz nah — in uns selbst, in unserer Community, in der Natur — und wartet nur darauf, gesehen und genährt zu werden. Über diese große, weitläufige Form der Liebe wird bislang viel zu selten gesprochen, sie heißt nicht mal Liebe, sondern Freundschaft, Solidarität, Empathie oder eben Aktivismus und wird unter diesen Begriffen schnell als zweitrangig an den Rand geschoben. Dem will dieser kleine Essayband begegnen und den Begriff der Liebe ausdehnen über all unsere Vorurteile, Missverständnisse und Versäumnisse hinaus, bis er groß genug ist für das Lieben nicht nur in Beziehungen, sondern auch in der Familie, in Freundschaften, in der Natur und dem Kosmos.

Im 16. Jahrhundert reflektierte Michel de Montaigne in dem Essay Die Übung über ebendiese Gattung, den Essay. Zur großen Erleichterung aller ihm Folgender befreit er das Genre von dem Anspruch der Allgemeingültigkeit und erlaubt sich und anderen, eigene Erfahrungen trotz ihres hohen Grades an Individualität und Subjektivität niederzuschreiben: »Dies ist nicht meine Theorie, sondern meine Erfahrung; dies ist nicht eine Erkenntnis, die ich von anderen, sondern die ich von mir selbst gelernt habe. Trotzdem darf man es mir nicht übelnehmen, wenn ich sie weitergebe; vielleicht kann, was mir hilft, auch anderen helfen.« Dieses Buch ist eine Einladung, gemeinsam mit mir durch meine subjektiven Erfahrungen mit der Liebe, dem Schmerz, der Trauer und Freude zu wandern, sodass nichts davon mehr mir allein gehören möge, sondern Teil eines größeren Ganzen werde. Ich stelle mir vor, wie im Prozess des Schreibens und Lesens meine Gedanken und Gefühle immer größere Kreise ziehen und dabei allmählich die Grenzen zwischen mir und anderen überwinden. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong zeichnet in Sacred Nature diese sich ins Unendliche erstreckende Bewegung auf eindrückliche Weise nach: »Das Überschreiten jedes konzentrischen Kreises markiert einen Moment, in dem ein weiteres Hindernis zwischen uns und anderen überwunden wird. Es handelt sich nicht um einen Prozess, der einmal durchgeführt und abgeschlossen wird, sondern um eine kontinuierliche Bewegung, die uns ermutigt, über uns selbst hinauszuwachsen.« Das Bild der konzentrischen Kreise, die einander bedingen, umschließen und auslösen, ist in zweierlei Hinsicht wegweisend für diesen Text über das Lieben: Es gibt zum einen eine Struktur vor, die im Kleinsten, der Familie, beginnt und im Größten, dem Kosmos, endet. Und es hilft mir zum anderen, Lieben als eine nach außen gewandte Bewegung zu verstehen, die das Potenzial hat, mich mit der Welt zu verbinden. Wenn ich könnte, hätte ich das Buch in immer größer werdenden Kreisen geschrieben. Wer weiß, wie weit sie schwingen würden?

Familie lieben

Vielleicht stimmt es, daß wir nicht wirklich existieren, bis jemand da ist, der uns existieren sieht, und daß wir nicht eigentlich sprechen können, bis jemand da ist, der versteht, was wir sagen; kurz, wir sind nicht ganz lebendig, solange wir nicht geliebt werden.

Alain de Botton

Ich bin in einer sechsköpfigen Familie groß geworden und bin heute nur noch mit einem Familienmitglied in regelmäßigem Kontakt. Die Familie, die ich selbst gegründet habe, ist zu einer Zweierkonstellation geschrumpft, obwohl wir einst zu viert waren. Die Familie ist der Ort, an dem ich Liebe erfahren und gelernt habe. Lange Zeit dachte ich, ohne die Liebe meiner Familie nicht überleben zu können, sie war für mich der wichtigste Quell von Sicherheit und Zugehörigkeit. Und doch ist familiäre Liebe für mich heute nicht nur von Geborgenheit und Vertrauen, sondern auch von Trauer, Brüchen und Verlusten geprägt.

Die erste Liebe (oder ihr Fehlen) prägt uns ein Leben lang. Sie hinterlässt überall Spuren, beeinflusst unsere emotionale und soziale Entwicklung. Die Art und Weise, wie wir von unseren Familienmitgliedern behandelt werden und wie wir mit ihnen interagieren, formt unser Selbstbild und den Platz, den wir in der Welt einnehmen. Diese ersten Erfahrungen mit zwischenmenschlicher Liebe werden sich auswirken auf unsere romantischen und freundschaftlichen Beziehungen. Liebeswunden, die Verletzungen oder Traumata, die wir in der frühen Kindheit durch unerfüllte oder gestörte Liebe erleiden, begleiten uns oft bis ins Erwachsenenalter. Einigen hilft die inzwischen bekannte Bindungstheorie dabei, mit diesen Wunden und dem damit einhergehenden Schmerz umzugehen, denn sie können überwunden und verwandelt werden. Doch ihre Überwindung setzt voraus, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen und der Versuchung widerstehen, sie zu verdrängen. bell hooks schreibt in Alles über Liebe: »Es ist einfacher, den Schmerz angesichts fehlender Liebe zu äußern, als das Vorhandensein und die Bedeutung der Liebe in unserem Leben zum Ausdruck zu bringen.« Es stimmt, dass wir gerade öffentlich, im Austausch mit anderen, eloquenter und geübter über die schmerzhafte Sehnsucht nach Liebe und dem Geliebt-Werden sprechen können als über ihre positive, erfüllende Erfahrung. Meiner Meinung nach sind Schmerz und Liebe aber zwei Seiten einer Medaille: Über die Abwesenheit von Liebe zu sprechen ist zugleich eine Anerkennung ihrer Wichtigkeit. Kein Licht ohne Schatten, keine Liebe ohne Schmerz, oder, wie es der buddhistische Mönch Thích Nhất Hạnh in seinem Buch Ohne Schlamm kein Lotus formuliert: »Die meisten Menschen fürchten sich davor, zu leiden. Doch das Leiden ist eine Art Schlamm, der die Lotusblüte des Glücks zum Erblühen bringt. Es gäbe keine Lotusblüte ohne den Schlamm.« Die längste Zeit stand mir die Angst vor dem Schmerz im Weg und erschwerte mir den Zugang zu einer aufrichtigen, allumfassenden Erfahrung von Liebe. Doch heute glaube ich an die Schatten, an den Schlamm, und so beginne ich diesen Essay mit meinen schmerzhaftesten Erfahrungen, die notwendiger Bestandteil, vielleicht sogar nahrhafter Boden für diese von mir so geliebte, herbeigesehnte, allseits gesuchte Praxis des Liebens sind.

Glücksversprechen

Die Kleinfamilie ist kein neutraler oder gar natürlicher Ort, sie ist eine mächtige gesellschaftliche Norm, die kollektiv aufrechterhalten wird, unter anderem durch das Schweigen darüber, was innerhalb von Familien wirklich geschieht. Sie ist eine Projektionsfläche für eine Vielzahl menschlicher Bedürfnisse wie Sicherheit, Zugehörigkeit, Freude und Beständigkeit: »Familie ist, wo Leben beginnt und Liebe niemals endet«, »Geschwisterliebe währt ewig«, »Deine Familie ist dein Anker«, »Eltern geben ihren Kindern Flügel und Wurzeln«, »Familie ist das wahre Glück des Lebens« — dies sind nur einige der weitbekannten Glaubenssätze, auf denen die Norm der Kleinfamilie beruht. Doch auf wen treffen diese Versprechen tatsächlich zu? Treten wir alle selbstbewusst mit Anker, Flügeln und Wurzeln ausgestattet in die Welt hinaus? Und was sagt es über unsere Familien aus, wenn dem nicht so ist? Was über uns?

Die Autorin Sara Ahmed erklärt in The Promise of Happiness, dass Glück ein Versprechen ist, das uns zu bestimmten Lebensentscheidungen hinführen und von anderen abhalten kann. Glück wird denjenigen prophezeit, die bereit sind, ihr Leben auf die »richtige« Weise zu leben. Glücklich zu sein heißt in diesem Sinne, den eigenen Zustand zu mögen und die Realität so anzunehmen, wie sie ist, ohne Anspruch oder Drängen auf Veränderung. Schwierige Emotionen, Erfahrungen und Zustände, die innerhalb der so gepriesenen und allseits unterstützten Familienstruktur entstehen, verursachen daher häufig eine kognitive Dissonanz, die durch das kollektive Schweigen noch verschärft wird. Jede Abweichung vom Modell der perfekten Kernfamilie verlangt das bewusste oder unbewusste Trauern um ein Vorbild, das uns ständig als ultimatives Glück verkauft wird.

Ich bin in einer Gesellschaft sozialisiert worden, in der Familie bedeutet: Papa, Mama, Kinder. Doch zu anderen Zeiten und an vielen anderen Orten beschreibt der Begriff eine größere Entität, die mehrere Generationen und Grade der Verwandtschaft beinhalten kann. Das Kernfamilienmodell, wie wir es heute kennen, gilt in der westlichen Welt erst seit der industriellen Revolution als primäre Familienkonstellation. Mit zunehmender Verstädterung und der Stärkung kapitalistischer Arbeitssysteme waren nicht mehr die ländlichen Hofgemeinschaften, bestehend aus Großfamilie, Mägden und Knechten, zuständig für die Gesundheit, Versorgung und Verpflegung der Arbeitskraft, sondern die kleine Einheit der Nuklearfamilie. Die Durchsetzung des Kernfamilienmodells hat westliche Normen und kapitalistische Interessen auf Kosten von Gemeinschaftsstrukturen weltweit gefördert. Doch die Kernfamilie verbirgt viele Nachteile, angefangen bei der Tatsache, dass sie für unser Überleben als Spezies schlecht geeignet ist. Wäre die menschliche Gesellschaft immer in Kernfamilien organisiert gewesen, wären wir längst ausgestorben. Zudem ist die Kernfamilie laut Bundeskriminalamt der primäre Ort, an dem Kinder und Frauen Gewalt erfahren. Häusliche Gewalt, Femizide, Kindesmissbrauch geschehen am häufigsten dort, wo Menschen sich am sichersten fühlen sollten. Nicht alle Kernfamilien sind gewaltvoll, aber im Fall von Gewalt sind sie unglaublich schädlich und isolierend. Mama, Papa und die Kinder sind allein, verschanzt hinter den Vorhängen ihrer Wohnung, den Mauern ihres Reihenhäuschens.

Denke ich an Familie, denke ich an den kleinen Kosmos, in den ich selbst hineingeboren wurde. Ich denke an meine Mutter und meinen Vater, an meine zwei Schwestern und meine Halbschwester. Daran, wie wir an Geburtstagen zusammen um den Esstisch saßen und Joyeux anniversaire sangen, wie wir uns zu dritt in die Badewanne quetschten, die Augen fest zugekniffen, und unsere Mutter uns den Schaum aus dem Haar spülte, während unser Vater mit Fotoapparat im Türrahmen stand. Ich sehe uns an den Orten, an denen wir bis zur Trennung meiner Eltern gemeinsam gelebt haben: in einer Erdgeschosswohnung mit Gemeinschaftsgarten, wo wir Kinder stundenlang im Sandkasten spielten, und einige Jahre später, als ich frisch eingeschult war, im »neuen« Haus, ein paar Straßen weiter im selben Pariser Vorort.

Ich hatte eine schöne Kindheit, das sagte ich mir als Heranwachsende und auch als Erwachsene immer wieder. Alle materiellen Bedürfnisse und sonstigen Bedingungen waren erfüllt. Meine Eltern waren zusammen, und ich hatte Geschwister. Damit deckten wir in unserer Gesellschaft bereits zwei der wichtigsten Kriterien für eine glückliche Kindheit. Darüber hinaus lebten wir in einem schönen Haus mit Garten, fuhren regelmäßig im eigenen Auto in den Urlaub und hatten sogar einen Hund. Meine Mutter galt für mich die längste Zeit als perfekt: Sie war aufmerksam, manchmal streng, aber dabei immer liebevoll, gab die besten Küsse der Welt und kochte köstlich. Sie war die Brücke, die uns mit dem Rest unserer großen Familie und der karibischen Kultur verband. Dazu gehörten das Essen, die Musik, die Traditionen und Werte, der Zugriff auf unsere Schwarze Identität und auf eine in Europa fremde Spiritualität. Nur dank ihr überlebte dieses kulturelle Erbe in uns eine weitere Generation, trotz unserer Erziehung fernab der Insel. Wo sie war, da waren Wärme und Zärtlichkeit. Ich wollte ihr so nah wie möglich sein, hielt stets ihre Hand, forderte Hunderte Gutenachtküsse ein und ließ mich nur schwer von ihr trennen. Am liebsten wäre ich mit ihr verschmolzen. In meinen kindlichen Augen war sie die Verkörperung der Liebe, sie hat für uns immer nur ihr Bestes gegeben, und ihr Bestes war alles, was sie war und hatte, denn sie hat sich in der Rolle der aufopfernden Mutter wohlgefühlt und betrachtet bis heute die Mutterschaft als den Aspekt ihres Lebens, der ihr am meisten Glück und Erfüllung gebracht hat. Das Objekt dieser so idealen Mutterliebe zu sein erfüllte mich schon als Kind mit großer Dankbarkeit — und mit großer Schuld. Meiner tiefen kindlichen Liebe haftete eine Art Panik an, nicht zu wissen, wie ich in dieser Beziehung je ein Gleichgewicht des Gebens würde herstellen können. Was hatte ich denn getan, um eine derart perfekte Mutter zu verdienen? Und wer kümmerte sich um sie? Mit einer solchen Mutter aufzuwachsen hat überwiegend Vorteile, aber es hat auch Nachteile, wie ich als Erwachsene, die selbst Mutter geworden ist, feststellen musste. Ihre vorgelebte »Perfektion«, die ich wie auch mein Umfeld an ihrer Aufopferungsbereitschaft und Selbstlosigkeit festmachten, spukte später lange wie ein Gespenst über mir herum. Ständig mahnte mich die Erinnerung an sie daran, dass ich keine ausreichend gute Mutter bin. Ich mag die patriarchale Mutterrolle entlarvt haben, doch das Bild meiner eigenen Mutter sitzt so tief, dass ich mich frage, ob ich jemals ganz frei davon sein werde.

Dann trennte sich meine Mutter nach 23 Jahren Beziehung und vier Jahren Ehe von meinem Vater. Die Scheidung schmerzte uns alle sehr, wahrscheinlich auch deshalb, weil das schöne Bild der intakten Familie zerstört wurde und mit ihm ein gewisses Glück oder die Genugtuung, den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Unser neues Leben zu viert, so enttäuschend es in den Augen anderer auch sein mochte, machte meine Mutter in den meinen zu einer noch besseren Mutter. Ich wusste damals nicht, dass die Grenzen meiner Bewunderung noch nicht erreicht waren. Sie zog drei Kinder allein auf, zwei davon in der Pubertät, und arbeitete Vollzeit als Krankenschwester. Parallel durchlief sie eine schwierige Trauerphase und einen langen, aggressiven gerichtlichen Scheidungsprozess. Ich erlebte mit, wie meine Mutter sich allmählich von einer missbräuchlichen Beziehung befreite und zu sich selbst fand, und verstand, welchen Mut und welche Entschlossenheit sie dafür aufbringen musste. Im Grunde traf sie mit der Scheidung die konsequenteste Entscheidung, die sie als Mutter hätte treffen können. Sie tat, was für uns drei das Beste war — indem sie uns zeigte, dass sie Grenzen hatte, die es zu verteidigen galt.

Eltern wachsen gemeinsam mit ihren Kindern auf, auch wenn Kinder oft das Gefühl haben, dass sich ihre Eltern in einem statischen Zustand von Erwachsensein befinden und keine eigene Entwicklung mehr vollziehen. Meine Mutter ist heute eine andere Person als während meiner Kindheit. In den letzten vierzig Jahren hat sie viel Arbeit an sich selbst geleistet und einen tiefen individuellen und transgenerationellen Heilungsprozess eingeleitet. Blicke ich dieser schönen, zarten und so in sich ruhenden Frau heute ins Gesicht, sehe ich viel mehr als das Abbild der »perfekten Mutter« meiner Kindheit. Jahr für Jahr bin ich von meiner kindlichen Bewunderung und Verehrung zur Realisierung und Akzeptanz ihrer menschlichen Unvollkommenheit übergegangen. Meiner Liebe für sie haben diese Einsichten keinen Abbruch getan, im Gegenteil, sie ist jetzt noch authentischer. Es war die Liebesbeziehung zu meiner Mutter, die mich lehrte, die Idee loszulassen, dass Liebe nur in der Perfektion zu finden ist.