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Funkenschlagend und spannend bis zum finalen Kurzschluss – der neue Roman von Wolf Haas
Franz Escher wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest er ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo. Elio sitzt im Gefängnis und wartet auf die Entlassung. Er hat so viele Leute verraten, dass er um sein Leben fürchtet. Aus Angst liegt er nachts wach und liest ein Buch. Es handelt von Franz Escher. Der wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt.
Wolf Haas' neuer Roman zündet ein erzählerisches Feuerwerk: Was beginnt wie zwei halbwegs übersichtliche Lebensgeschichten, verwirbelt sich zu einem schwindelerregenden Tanz - mit einem toten Handwerker, familiären Verstrickungen und vielen ungelösten Geheimnissen, funkenschlagend und spannend bis zum finalen Kurzschluss.
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Seitenzahl: 280
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Franz Escher wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest er ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo. Elio sitzt im Gefängnis und wartet auf die Entlassung. Er hat so viele Leute verraten, dass er um sein Leben fürchtet. Aus Angst liegt er nachts wach und liest ein Buch. Es handelt von Franz Escher. Der wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt.Wolf Haas' neuer Roman zündet ein erzählerisches Feuerwerk: Was beginnt wie zwei halbwegs übersichtliche Lebensgeschichten, verwirbelt sich zu einem schwindelerregenden Tanz — mit einem toten Handwerker, familiären Verstrickungen und vielen ungelösten Geheimnissen, funkenschlagend und spannend bis zum finalen Kurzschluss.
Wolf Haas
Wackelkontakt
Roman | Hanser
Franz Escher wartete immer noch auf den Elektriker, als er mit dem Puzzle fertig war. Vorsichtshalber schaute er nach, ob er versehentlich die Klingel abgestellt hatte. Da seine Garderobenstange oberhalb der Sprechanlage montiert war und seine Jacken und Mäntel das rote Kontrolllicht der Stummschaltung verdeckten, vergaß er manchmal tagelang, die Klingel wieder einzuschalten. Wenn ihm das passierte, machte er sich jedes Mal Gedanken, ob er schon anfing vergesslich zu werden. Mit der Sprechanlage war aber alles in Ordnung — er befand sich nur in der üblichen Warteschleife, auf deren Umlaufbahn man von nicht aufkreuzenden Handwerkern geschickt wurde.
Escher war kein übertrieben ungeduldiger Mensch, aber er mochte es nicht, wenn er zu viel Muße hatte und anfing, über sein Leben nachzudenken. Sein Hirn ging dann überflüssigen Fragen nach wie jener, ob sein Leben anders verlaufen wäre, hätte er einen anderen Namen gehabt. Dabei war es über dreißig Jahre her, dass ihm sein Name dieses Geburtstagsgeschenk bescherte, das ihn für sein restliches Leben beschäftigen sollte.
Zu seinem 19. Geburtstag hatte er ein paar Leute eingeladen. Seinen besten Freund Andi, drei Schulkollegen, das Paar aus der hellhörigen Nachbarwohnung, das er lieber einlud, bevor sie sich beschwerten, sowie seine Proseminar-Partnerin Daniela und deren bezaubernde WG-Mitbewohnerin. Escher war stolz darauf, dass es ihm beim Aussprechen seiner Einladung an die Proseminar-Partnerin gelang, wie nebenbei zu ihrer stillen Freundin zu sagen, sie könne gern auch kommen, falls sie nichts Besseres zu tun habe. Um sie ging es ja eigentlich, doch mit dem Nebenbei-Trick linderte er die Schmach der zu erwartenden Abfuhr.
Als diese verschlossene Person dann tatsächlich seine Wohnung betrat (im Lauf des Abends erfuhr Escher, dass sie Martine mit e hieß, weil ihre Mutter Französin war), überreichte sie dem Geburtstagskind ein in Seidenpapier gewickeltes Geschenk.
Nach all den Jahren erinnerte er sich immer noch genauer an die Situation, als ihm lieb war. Er hatte das Päckchen sehr sorgfältig geöffnet, ohne sich bei Martine durch Zerreißen des schönen Papiers als gefühlloser Grobian zu disqualifizieren, aber doch entschlossen genug, um bei ihr einen ausreichend zupackenden Eindruck zu machen. Schließlich hatte er das ganze Fest nur ihretwegen eingefädelt. Eschers Herangehensweise an die einfachsten Dinge des Lebens war derart umständlich, dass er schon das Veranstalten eines kleinen Geburtstagsfestes als »einfädeln« empfand. Dabei hatte ihm sein bester Freund Andi versichert, dass diese Halbfranzösin scharf auf ihn war. »Sie steht auf dich«, waren Andis Worte. Escher aber schätzte seine Chancen, dieser bezaubernden Erscheinung im Fall eines perfekten Zusammenwirkens von Alkohol und guten Gesprächen später an die Wäsche gehen zu können, auf maximal fünf Prozent.
Als Escher das Geburtstagsgeschenk mithilfe eines Stanleymessers, dessen scharfe Klinge die Klebestreifen mit chirurgischer Präzision durchtrennte, ohne das Papier zu verletzen, und einer schwungvollen, aber nicht zu torrerohaften Ziehbewegung vom Geschenkpapier befreit hatte, grinste Andi ihm begeistert zu und sandte ermunternde Augenbrauensignale aus seinem eifrig nickenden Kopf. Für Andi war hiermit der letzte Beweis erbracht, dass die scheue Martine scharf auf Escher war. Warum sonst hätte sie sich so ein nettes Geschenk überlegt? Auch für die anderen Geburtstagsgäste war es eine klare Angelegenheit. Schließlich war nicht nur Martine die Anmut in Person. Auch Eschers kräftige Statur konnte sich sehen lassen, und der Spitzname »Neandertaler«, den ihm ein zu schnelles Wachstum, eine kaum zu bändigende Lockenpracht und seine hohen Wangenknochen eingebracht hatten, war ihm seit Jahren nicht mehr zu Ohren gekommen. Sogar Eschers legendäre Langsamkeit konnte als Tiefsinn und Umsicht missinterpretieren, wer sich gerade auf der schiefen Bahn der hormonellen Betrachtungsweise befand.
»Ein Puzzle!«, sagte er mit einem blöden Gesichtsausdruck und starrte das zum Vorschein gekommene Päckchen ungläubig an. Er war nicht ganz sicher, ob er sich verarscht fühlen sollte. Schließlich war er kein kleines Kind mehr, was wohl mit dem 19. Geburtstag hinlänglich bewiesen war. Aber er ließ sich nichts anmerken. Es gelang ihm, dem allgemeinen Verhaltenskodex für Geschenkannahme entsprechend seinen Ausruf nicht enttäuscht klingen zu lassen, sondern ihm eine freudig überraschte Note zu geben: »Ein Puzzle! Hey cool!«
Martine, die zur Fremdscham neigte, hoffte, dass er es bald schnallen würde, aber Escher stand auf der Leitung. Er sah die Enttäuschung in ihren Augen, kam aber einfach nicht dahinter, und sagte vorsichtshalber noch einmal: »Cool! Ein Puzzle!«
Sonst war er gar nicht so beschränkt. Im Gegenteil. Auf der Uni saß er in jedem Theorieseminar und war bei seinen Professoren als unerbittlicher Haarspalter gefürchtet. Hatte er aber Interesse an einer Frau (noch Jahrzehnte später wusste er die Telefonnummer von Martines WG auswendig) und wollte sich von seiner besten Seite zeigen, sank sein IQ ins Bodenlose. Er hielt die Schachtel in der Hand und begriff nichts. Allerdings war er alarmiert von Andis Reaktion, dessen Augen ihn triumphierend, ja fast ekstatisch anblitzten, während er die Zähne wie ein wohlmeinender Menschenfresser fletschte. Schließlich riss Andi die Geduld, und er half seinem Freund auf die Sprünge. Genervt von Eschers Begriffsstutzigkeit klopfte er mit dem Zeigefinger auf den Kartondeckel, der das Bild zeigte, das es zusammenzusetzen galt.
»Escher!«, rief er. »Das ist super — Escher!«
Und endlich fiel auch bei Escher der Groschen. Martine hatte sich doch tatsächlich die Mühe gemacht, ein auf seinen Namen abgestimmtes Geburtstagsgeschenk zu bringen. Ein Puzzle des berühmten Täuschungskünstlers Escher, in dessen Bild zwei Hände sich auf verblüffende Weise gegenseitig zeichneten.
»Das ist aber nett«, sagte Escher. »Tausend Teile! Wo hast du denn das gefunden?«
Um seinen Fauxpas wiedergutzumachen, leerte er das Puzzle sofort auf den Boden aus und zwang seine Gäste, die tausend Teile gemeinsam zusammenzusetzen. Da es sein Geburtstag war, spielten sie mit, aber niemand war so begeistert bei der Sache wie er. Das Festessen verkümmerte zum Selbstbedienungsbuffet inklusive mehrmaliger Ermahnungen des Gastgebers, die Puzzleteile nicht mit Schmierfingern zu verunreinigen. Escher versank so in dem Spiel, dass er gar nicht richtig bemerkte, wie die Zeit verging und wie die ersten Gäste sich nach Mitternacht gähnend verabschiedeten. Am Schluss waren nur noch Andi und Martine da und krochen mit Escher zwischen den Puzzleteilen über den Boden.
Doch auch die zwei letzten Gäste erhielten von Escher nicht viel Aufmerksamkeit. Es entging ihm, dass Martine, über den immer vollständiger werdenden Bildfragmenten kniend, sich so nach den verstreuten Teilen streckte, dass sich ihre ohnehin nicht zu übersehenden Vorzüge zwischen das Geschenk und den Beschenkten drängten. Die Art, wie sie mit raubvogelhafter Anmut über dem entstehenden Bild schwebte, hätte nur einen komplett arglosen Menschen an eine Yogaübung erinnert. Immer wieder streifte sie statt der im Entstehen begriffenen, gezeichneten Hände die lebendigen, nicht mehr zu langen, sondern wohlproportionierten Finger des Geburtstagskindes, indem sie ihm ein Puzzlestück zuschob oder entriss. Es nützte aber alles nichts. Escher hatte nur noch Interesse an dem Gestalt annehmenden Kartonbild aus tausend Teilen. Zwei Hände, die sich gegenseitig zeichneten, ein Wahnsinn, der sich mit zunehmendem Alkoholgenuss zum metaphysischen Erlebnis steigerte.
Schließlich zog Martine enttäuscht mit Andi ab, und Andi fragte ihn am nächsten Tag, ob es für ihre Freundschaft ein Problem sei, dass er sie abgeschleppt hat.
»Naja«, sagte Escher etwas betreten. »Das war eigentlich nicht der Plan.«
Denn wie die meisten Menschen wollte auch er sich nicht so ohne Weiteres die Chance entgehen lassen, sich ungerecht behandelt zu fühlen.
Dann aber besann er sich und schüttelte den Kopf: »Ach was. Freut mich für dich«, sagte er. »Stell dir vor, um halb acht in der Früh bin ich mit dem Puzzle fertig geworden. Ich hab mir gleich das andere bestellt.«
»Was für ein anderes?«
»Das hinten auf der Schachtel abgebildet war. Der Turmbau zu Babel.«
Der Turmbau zu Babel blieb dann jahrelang trotz einer Vielzahl von Neuanschaffungen sein Favorit und wurde im Grunde erst von der Madonna mit dem langen Hals abgelöst.
Für das Warten auf den Elektriker hatte er aber keines seiner Highlights verschwendet. Nicht die Madonna mit dem langen Hals, nicht das Begräbnis des Grafen von Orgaz, nicht die Zehntausend Märtyrer, nicht die Enthauptung des Johannes und schon gar nicht das Selbstbildnis im konvexen Spiegel. Man musste wie bei Lieblingssongs aufpassen, ihren Reiz nicht durch zu häufigen Einsatz zu mindern. Ausgerechnet Die große Welle vor Kanagawa, die er weniger wegen der weltweiten Verkitschung geringschätzte, als wegen der Tatsache, dass sie nur 500 Teile hatte, lag fertig zusammengebaut auf seinem Parkettboden. Vielleicht war sein Griff ins Regal auch unbewusst davon gesteuert gewesen, dass die Große Welle irgendwie zum Elektrikerbesuch passte, da doch der Strom in seinem Land immer noch großteils aus der Wasserkraft stammte.
Jetzt aber war die Große Welle fertig und der Elektriker immer noch nicht da. »Im Lauf des Vormittags« — auf eine konkretere Zeit für den Besuch ihres Kollegen hatte die Frau am Telefon sich nicht festlegen wollen. So etwas bedeutete stundenlanges Warten, garniert mit der von Minute für Minute zunehmenden Befürchtung, dass man letzten Endes umsonst gewartet haben und der Handwerker gar nicht auftauchen würde. Um nicht noch ungeduldiger zu werden, griff Escher nach dem Buch, das er am Abend begonnen hatte.
Er las schon lange nur noch eine Art von Büchern, diese aber mit einer Leidenschaft, die fast mit seiner Puzzlesucht mithalten konnte. Bücher über die Mafia. ’Ndrangheta, Cosa Nostra, Camorra, er fraß die Bücher regelrecht. Sachbücher, Romane, historische Studien, was ihm aus diesem Feld unterkam, verschlang er mehr oder weniger kritiklos. Die berüchtigten Familien kannte er besser als seine eigene, die diese Bezeichnung kaum verdiente. Der neue Roman handelte von einem jungen Nachwuchskriminellen im Aspromonte, den die Polizei zum Kronzeugen umgedreht hatte. Siebenundzwanzig hochrangige Mitglieder der ’Ndrangheta wanderten im Gefolge seiner Aussagen für Jahre und Jahrzehnte ins Gefängnis. Die Polizei hatte versprochen, ihn als Gegenleistung unter Zeugenschutz zu stellen und ihm eine neue Identität in einem fremden Land zu geben.
Das erste Kapitel, das Escher vor dem Einschlafen gelesen hatte, war eine erschütternde Aufzählung der Gewalttaten, zu denen der Kronzeuge aussagte. Seit dem zweiten Kapitel zitterte Escher um das Leben des jungen Häftlings. Er hieß Elio, doch seit er so schön sang, nannten die Zeitungen ihn Luciano. In vier Tagen sollte er aus seiner Hochsicherheitszelle entlassen werden und seinen alten Namen für immer ablegen. Ein neues Leben in Deutschland war für ihn organisiert, das war der Deal. Es war der Lohn für seinen Verrat.
Doch je näher sein neues Leben kam, umso tiefer wurde Elios Überzeugung, dass sie ihn kurz vor seiner Entlassung umlegen würden. Obwohl er in der sichersten Zelle im sichersten Gefängnis des Landes saß, rechnete er fest mit seiner Hinrichtung. Er wusste, wie sie arbeiteten. Sie hatten überall ihre Leute. Polizei, Gefängnis, Gericht. Es war klar, dass sie ihn als Rache für die siebenundzwanzig Bosse, die er ans Messer geliefert hatte, auslöschen mussten.
Selbst dem deutschen Drogendealer, den der Untersuchungsrichter ihm in die Zelle gesetzt hatte, damit er seine zukünftige Sprache lernen konnte, traute Elio nicht über den Weg. Sven, der Junkie mit der Junkiestimme, war der einzige Freund, den er hatte. Das schloss nicht aus, dass er ihm in der Nacht die Kehle durchschnitt. Sven zitterte so, dass er kaum seinen Löffel halten konnte, aber er würde es schaffen, ihm im Schlaf ein Messer in den Bauch zu stoßen. Seit Elios Entlassungstermin feststand, erlaubte er sich nur noch einzuschlafen, wenn nicht der geringste Zweifel bestand, dass die Schlaftablette seinen Zellenkumpel in die tiefsten Knastträume versenkt hatte. Und nie schlief Elio in einer anderen Haltung ein als mit seiner rechten Hand an der Zahnbürste, die er mit einer Rasierklinge präpariert und in der Matratze versteckt hatte.
Der Untersuchungsrichter hatte es Elio als staatliche Fürsorge und großes Privileg verkauft, dass er von dem Junkie Deutsch lernen konnte. Wahrscheinlich war es sogar ehrlich gemeint. Im Lauf der Jahre hatte der Untersuchungsrichter das Vertrauen des jungen Kronzeugen gewonnen. Bis zum Prozess hatte er Elio so gut wie alle Wünsche erfüllt und alles in die Zelle geschmuggelt, was sein wichtigster Zeuge sich wünschte. Einmal hatte er ihm sogar ein Foto von seiner orangen Laverda 750 gezeigt, die er seit seinen Tagen als Student in Rom besaß. Es war dasselbe Modell, auf dem sie Elios Cousin Dino an einer Ampel erschossen hatten. Der Untersuchungsrichter verstand mehr von Motorrädern, als Elio gedacht hätte. Der junge Häftling genoss diese vertrauten Gespräche, in denen er kurz alles andere vergessen konnte. Doch sobald alle Aussagen des Kronzeugen vor Gericht dokumentiert waren, hatte sich das Verhalten des Untersuchungsrichters verändert. Seine Besuche wurden selten, und er verhielt sich kühl gegenüber dem nutzlos gewordenen Zeugen. In den letzten Tagen hatte er sich überhaupt nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich ist es besser für Falcone, wenn ich tot bin, dachte Elio.
So wie man Fußballern die Namen früherer Legenden gab, hatten die Zeitungen seinen Untersuchungsrichter nach dem berühmten sizilianischen Mafiajäger Falcone getauft. Eigentlich waren es nicht die Zeitungen, die ihm diesen Spitznamen gegeben hatten, sondern die Bosse selbst, denen die Zeitungen gehörten. Der vermeintliche Ehrentitel war eine unmissverständliche Drohung. Bald nannte ihn jeder nur noch Falcone, nach dem sizilianischen Volkshelden, der im großen Prozess von Palermo Hunderte Schuldsprüche gefällt hatte, bevor Totò Riina ihn in seinem Fiat Croma zusammen mit seiner Frau und drei Leibwächtern in die Luft sprengte.
Elio erschrak, weil er im Nachdenken über die Gründe für Falcones verändertes Verhalten kurz eingeschlafen war. Er konzentrierte sich wieder auf das Buch, das ihm helfen sollte, so lange wach zu bleiben, bis Svens Schnarchen laut genug war. Das Buch war ein Geschenk von Sven. Es war auf Deutsch, und Elio entzifferte Seite um Seite mithilfe eines Wörterbuchs, das Falcone ihm gebracht hatte. Es handelte von einem Typen, der Escher hieß wie irgendein anderer Typ, der ebenfalls Escher hieß. Escher wartete schon den halben Tag auf den Elektriker. Bei seinem Versuch, in der Firma nachzufragen, war Escher nur in die Warteschleife geraten. Während er der Warteschleifenmusik zuhörte und sich mit der Möglichkeit anfreundete, so für den Rest seines Lebens zu sitzen, läutete es endlich an der Tür.
»Elektro Janko«, sagte ein Mann mit Schirmkappe in die Sprechanlage.
Wegen der Kappe konnte Escher im Kamerabild nicht viel von seinem Gesicht sehen. Er sperrte die Wohnungstür auf und wartete auf den Besucher. Obwohl es einen Lift gab, hörte er ihn die Treppe heraufstapfen. Als er mit gesenktem Kopf die letzten Stufen erreichte, sah Escher, dass in die blaue Kappe der zweizeilige Schriftzug »Elektro Janko« rot eingestickt war. Durch die Zweizeiligkeit hatte man die graphische Möglichkeit genutzt, die gleichlautenden Endbuchstaben von »Elektro« und »Janko« zu einem einzigen, sich über beide Zeilen erstreckenden »O« zusammenzufassen. In diesem großen Kreis hatte man überdies ein Blitzsymbol untergebracht, wodurch der malträtierte Buchstabe komplett vom Bild aufgesogen wurde und das menschliche Auge nur noch imstande war, »Elektr Jank« zu lesen.
Vielleicht war es diese verunglückte Kappenstickerei, die das Gesicht darunter so besonders ausgewogen erscheinen ließ. Der kurze, dunkle Vollbart, der ein auffällig blasses Gesicht einrahmte, und die ausgesprochen schönen, dunklen Augen, die Escher ernst anblickten, ließen ihn an die Gesichter der Hirten und Heiligen auf einigen Gemälden denken, die er als Puzzle besaß. Auf eine zurückhaltende und doch selbstbewusste Art sagte der Besucher: »Grüß Gott. Elektro Janko. Ich bin wegen der Steckdose da.«
Ohne lang zu fragen, ob er die Schuhe ausziehen solle, tat er es einfach und folgte Escher in die Küche. Kurz ließ er sich seine Aufgabe erklären. Die Steckdose über der Küchenplatte hatte einen Wackelkontakt. Im Lauf der Zeit war die Keramikfassung in mehrere Teile zerbrochen und schließlich ganz zerbröselt. Schon seit Jahren lebte Escher mit diesem gefährlich aussehenden Provisorium und hatte zunehmend ein flaues Gefühl, wenn er den Stecker herauszog. Das war nämlich das Problem. Mehrmals am Tag musste er den Wasserkocher und die Kaffeemaschine umstecken, weil es nur die Einzelsteckdose gab. Doch erst, als auch noch ein nervender Wackelkontakt dazugekommen war, hatte er endlich den Elektriker bestellt.
»Ist das eigentlich gefährlich, oder schaut es nur so kriminell aus?«, fragte Escher.
Der Elektriker hob als Antwort nur die Augenbrauen etwas an. Escher glaubte, eine gewisse Geringschätzung in der wortlosen Antwort zu spüren, als würde sich bei einem Kunden mit so einer Steckdose jede Erklärung erübrigen. Er wusste aber auch, dass er zu sehr dazu neigte, sich verachtet zu fühlen, eine alte Krankheit, für die er sich selbst verachtete. Deshalb nahm er den Elektriker vor sich in Schutz. Der war eben ein introvertierter Typ. Bodenständig. Redete nicht viel, machte aber alles ordentlich. Auch seine Bewegungen, mit denen er die Werkzeugtasche öffnete, hatten eine elegante, schnörkellose Art. Der Mann war Escher sympathisch. Schwätzer hatte er noch nie leiden können.
Dabei ging die Wortkargheit nicht notwendigerweise mit der Profession des Handwerkers einher, wie Escher erst unlängst hatte erfahren müssen. Der fette Mann vom Thermenservice hatte ihn mit privaten Geschichten behelligt. Frau! Geliebte! Hahahaha! Hinterher hatte der vom Plaudern verausgabte Volksredner vergessen, den aus der Therme geschabten Schmutz mitzunehmen. Escher musste den im Eimer hinterlassenen Ruß selbst in den Müllraum bringen. Der Elektriker war ein anderes Kaliber. Er strahlte eine stille Kompetenz aus. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er war jünger als Escher, aber doch schon jemand, der einiges auf dem Buckel haben konnte.
»Wahrscheinlich hat Ihnen das die Kollegin, mit der ich telefoniert habe, schon gesagt«, unterbrach er das Schweigen des Elektrikers. »Ich brauche nicht nur eine neue Steckdose. Ich brauche hier drei Steckdosen statt einer.«
Der Elektriker nickte und fragte Escher, wo sich der Sicherungskasten befinde, deutete aber gleichzeitig schon Richtung Vorraum. Natürlich wusste er aus Erfahrung, wo der Sicherungskasten normalerweise war. Vermutlich hatte er ihn schon beim Hereingehen gleich neben der Tür, oberhalb der die Sprechanlage verdeckenden Jacken wahrgenommen. Escher überlegte, warum er wohl trotzdem danach fragte. Vielleicht war es eine Art Höflichkeit, und es erschien ihm zu besitzergreifend, wenn er sich in der Wohnung sofort zurechtfand. Schließlich war er hier nicht zu Hause. Nachdem der Elektriker die Sicherung im Vorraum herausgedrückt hatte, entfernte er die Reste der alten Steckdose und erklärte seinem Kunden, dass man eine Dreiersteckdose hier nur über Putz montieren könne.
»Schön schaut das nicht aus«, sagte der Elektriker. »Aber sonst müssten Sie stemmen lassen.«
»Mich stört das nicht«, sagte Escher. »Mich stört nur jetzt der Wackelkontakt. Und dass ich immer umstecken muss. Entweder ist der Wasserkocher eingesteckt oder die Espressomaschine. Man braucht immer das andere, das gerade nicht eingesteckt ist. Und einen Toaster hab ich ja auch noch.«
Der Elektriker nickte und begann seine Arbeit.
Um ihn in Ruhe arbeiten zu lassen, ging Escher in das Wohnzimmer, ließ aber die Tür zur Küche offen. Auf dem Boden lag Katsushika Hokusais Große Welle. Dieses Bild machte ihn aggressiv. Er hatte sogar einmal das Buch Waves. A very short introduction auf Englisch studiert. Seither verstand er viel von Wellen, aber immer noch nichts von dem Bild. Die Frustration, dass er es nie begreifen konnte, weil es aus einer anderen Welt stammte, wandte sich in Escher gegen das Bild selbst. Während er die Welle in die Schachtel zurückräumte, hörte er aus dem Nebenzimmer, dass der Elektriker einen Anruf bekam. Das Handy läutete aber nicht, sondern eine als Klingelton heruntergeladene Musik ertönte. Bevor Escher den Song erkennen konnte, hatte der Elektriker das Gespräch schon angenommen. Er sagte nur: »Ja, okay, passt. Verstehe. Bis nachher.«
Dann war es wieder still. Escher legte sich auf sein Sofa und las an der Stelle weiter, wo das Auftauchen des Elektrikers ihn unterbrochen hatte.
Um Mitternacht dachte Elio, dass es jetzt nur noch drei Tage bis zu seiner Entlassung waren. Sven schlief tief, aber noch nicht tief genug. Kurz nach zwei, als Elio endlich dem Schlaf nachgeben wollte, hörte er Schritte auf dem Gefängnisgang. Er erstarrte, als hätte er das Scheintodmedikament geschluckt, für das der Untersuchungsrichter sich besonders interessiert hatte, weil der Boss der Bosse damit aus dem sichersten aller Gefängnisse entkommen war. Das Aufsperren der Eisentür war so laut, dass Svens seelenruhiges Weiterschnarchen vollkommen unglaubwürdig wirkte. Elios rechte Hand krampfte sich um den an die Rasierklinge geschmolzenen Zahnbürstengriff. Ein einzelner Mann, dessen Gesicht in einem Vollvisierhelm versteckt war, betrat die Zelle.
Der Junkie schnarchte.
Elio versuchte, sich schlafend zu stellen, war aber zu gelähmt, um einen einzigen tiefen Atemzug zu schaffen.
Der nächtliche Besucher kam langsam näher und blieb vor seiner Pritsche stehen. Sein weißer Astronautenkopf beugte sich in der Dunkelheit über Elios Gesicht.
»Wach auf, Elio«, flüsterte der Helm. »Ich bin’s.«
Elio fuhr zusammen. Diese Stimme erkannte er beim ersten Wort. Was machte der Untersuchungsrichter mitten in der Nacht in seiner Zelle?
»Falcone?« In einer normalen Situation hätte Elio niemals gewagt, den Untersuchungsrichter Falcone zu nennen. »Was machen Sie denn hier?«
Falcone hatte sich schon vor einer Woche von ihm verabschiedet und ihm den Tag genannt, an dem er entlassen würde, um sein neues Leben unter einem anderen Namen zu beginnen. Was Elio nicht wissen konnte — auch dieser falsche Entlassungstermin war Teil der Sicherheitsmaßnahmen für den Kronzeugen. Genauso wie Elios Selbstmord, den die Wachleute schon in dieser Nacht gemeldet hatten.
Unter dem Arm hielt Falcone einen zweiten Vollvisierhelm.
»Setz den hier auf.«
Falcone hatte den wenigen Eingeweihten gegenüber darauf bestanden, dass er selbst den kleinen Elio, der ihm im Lauf der Monate und Jahre ans Herz gewachsen war, mit dem Motorrad zum Bahnhof in Lamezia bringen würde. Keine einzige Person sollte Mitwisser über den genauen Zeitpunkt sein. Falcone wusste, dass er den Zeugen nur auf diese Weise lebend aus dem Gefängnis bringen konnte.
Mit dem Helm in der Hand folgte Elio dem Untersuchungsrichter aus der Zelle und aus dem Gefängnistor. Vor dem Tor wartete Falcones orange Laverda 750. Erst als er die Straße unter seinen Schuhen und die Nachtluft auf seiner Haut spürte, konnte er glauben, dass es kein Traum war.
»Wohin fahren wir?«, fragte er den Untersuchungsrichter und setzte den Helm auf.
»Zuerst zum Friedhof«, sagte Falcone, ohne sich nach Elio umzudrehen, der sich hinter ihn auf die Maschine setzte. Er trat den Motor an. Elio wunderte sich, dass die Laverda nicht in die Luft ging. Niemand hatte einen Sprengsatz versteckt, und der Motor schnurrte gutmütig. Obwohl der Richter sanft und routiniert losfuhr und es mit der Geschwindigkeit nicht übertrieb, hielt Elio sich ängstlich fest. Nach den Jahren im Gefängnis wäre ihm schon die Geschwindigkeit einer Vespa zu viel gewesen.
Auf dem Friedhof gingen sie zu einem kleinen Grab. Falcone beleuchtete den Weg mit seiner Taschenlampe und lenkte schließlich das Licht auf die Inschrift des Grabsteins:
Elio Russo 2.5.1981—11.6.2002
»Heute ist der 11.6.2002«, sagte Elio.
Falcone nickte. »Du hast dich umgebracht«, sagte er.
»Auf welche Weise?«
»Geht dich nichts an. Privatsache.«
»Aber meine Privatsache.«
»Nein, du bist Marko Steiner.«
Es fiel Elio nicht leicht, sich von seinem Namen zu verabschieden. Seine Großmutter hatte immer gesagt, er heiße Elio nach dem Sonnengott Helios, weil die Sonne niemals untergeht. Und obwohl die Sonne jeden Abend unterging, gefiel ihm diese Geschichte. Als Falcone die Taschenlampe ausschaltete, konnte man den Namen immer noch im Mondlicht lesen. Auch die Sterne schienen während der drei Jahre im Gefängnis größer geworden zu sein. Es war die Stunde vor der Morgendämmerung, in der die Hitze des Tages ein wenig nachließ. Elio war tot, und Marko Steiner lebte.
Ein paar Momente blieben die beiden behelmten Friedhofsgeister noch vor dem Grab stehen und starrten die Inschrift an. Dann bekreuzigten sie sich und stiegen wieder auf das Motorrad. Langsam gewöhnte Elio sich an die Geschwindigkeit. Er versuchte, in der Dunkelheit die vorbeiziehenden Steindörfer zu erahnen. Es war das letzte Mal, dass er durch diese Landschaft fuhr, die er bisher kaum verlassen hatte.
Am Bahnhof von Lamezia überreichte der Richter dem Kronzeugen das Kuvert mit seinen neuen Papieren.
»Eineinhalb Jahre jünger bist du jetzt auch. So hast du die Hälfte deiner Knastzeit schon wieder hereingebracht«, lachte der Untersuchungsrichter.
Marko nahm seinen Helm ab und gab ihn dem Untersuchungsrichter zurück.
»Ich wünsch dir alles Gute«, sagte Falcone. »Jetzt fängt dein neues Leben an. Du bist ein guter Junge.«
Kurz umarmte er seinen besten Zeugen, dessen Frisur vom Helm zerdrückt war wie das Fell eines neugeborenen Kalbes. Dann fuhr er laut knatternd davon.
Auch die Zugtickets waren in dem Kuvert. Der Zug sollte um 5:55 Uhr losfahren, stand aber um 6:15 Uhr immer noch da. Marko Steiner wartete darauf, dass jemand einsteigen und ihn erschießen würde. Um 6:30 Uhr stand der Zug immer noch im Bahnhof. Marko horchte auf die Schritte und Stimmen vom Bahnsteig und das Türenschlagen aus den anderen Waggons. Von hinten näherten sich eilige Schritte. Der Bursche ging aber, ohne ihn zu beachten, an ihm vorbei. Um 6:40 Uhr hatte ihn immer noch keiner erschossen. Schließlich sagte eine plärrende Lautsprecherstimme etwas Unverständliches durch, und kurz darauf fuhr der Zug mit einem Ruck los.
Kaum, dass er sich etwas entspannt hatte, kam der Schaffner in den Waggon, und Marko nahm das Ticket aus Falcones Kuvert.
»Sind Sie Marko Steiner?«
Marko wurde es siedend heiß, als der fremde Schaffner, der ein fast violettes Feuermal unter seinem linken Auge hatte, seinen neuen Namen aussprach.
»Warum?«, fragte er zurück.
»Das Billett ist auf diesen Namen ausgestellt.«
»Ja, natürlich«, antwortete Marko erleichtert.
»Sie dürfen hier nicht sitzen, Herr Steiner! Sie sitzen in der ersten Klasse!«
»Das hab ich übersehen.«
»Übersehen? Sie müssen sich in die zweite Klasse setzen!«
Marko nahm seinen Rucksack und setzte sich in einen fast leeren Waggon der zweiten Klasse. Er schlief kurz ein und wurde von einem Kaffeeverkäufer geweckt, der ihn mit kalten Schlangenaugen anstarrte. Im ersten Moment hielt Elio ihn für Fausto Grigoletto, bis ihm einfiel, dass Fausto wegen Elios Aussage lebenslang im Gefängnis saß. Fausto hatte zwei Brüder, die sich der Verhaftung entzogen hatten. Der Kaffeeverkäufer erschoss ihn aber nicht, sondern freute sich, dass der Passagier ihm einen Doppio abkaufte. Da Elio nicht wusste, wie er seine Gedanken in den Griff bekommen sollte, holte er Svens Buch aus dem Rucksack und versuchte, ein bisschen zu lesen.
Vom Wohnzimmer aus belauschte Escher die Arbeitsgeräusche des Elektrikers. Er überlegte, ob er sich höflichkeitshalber kurz bei ihm blicken lassen sollte. Bevor er dazu kam, läutete aber jemand an der Tür. Er ging zur Sprechanlage, und obwohl auf dem Bildschirm niemand zu sehen war, rief Escher: »Hallo?«
Wahrscheinlich war es ein Paketbote oder Zettelverteiler, der überall geklingelt hatte und inzwischen längst im Haus war.
»Hallo?«, rief Escher noch einmal und blickte in das leere Kamerabild, das einen bizarren Ausschnitt der Straße zeigte. Er fragte sich, ob er die Klingel stumm schalten sollte, damit es zu keinen weiteren Störungen kommen konnte.
Manchmal drückte Escher diese friedenstiftende Mute-Taste versehentlich, wenn er eigentlich die Tür öffnen wollte. Statt auf den blauen Türöffner steuerte dann sein Finger auf den darunterliegenden weißen Knopf und stellte die Klingel ab. Wegen des ausbleibenden Surrens und des aufleuchtenden roten Kontrolllichts der Mute-Taste fiel ihm der Fehler meistens gleich auf. Diese Fehlleistung lag aber nicht nur an seinem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, sondern auch an der mangelhaften Farbsymbolik der Schalter. Die ganze Sprechanlage war weiß, nur der Türöffner war blau. Eigentlich war es also sehr einfach, den richtigen Knopf zu drücken. Der Designer der Anlage hatte wohl gedacht: deppensicher. Dieser unbekannte Designer war Eschers persönlicher Feind. Da das gesamte Kästchen weiß war, stellte der blaue Druckknopf, mit dem man die Tür öffnete, eine ins Auge stechende Ausnahme dar. Diese Klarheit wurde aber durch eine zweite Besonderheit neutralisiert. Das Aufleuchten des roten Lichtpunkts bei Aktivierung der weißen Stummtaste war ein noch stärkeres Signal als die blaue Farbe des Türöffners. Diese doppelte Ausnahme (blaue Türöffnungstaste, rot flammender Lichtpunkt neben der Stummtaste) führte dazu, dass man die Farbsymbolik erst recht verwechselte. Oft war man ja gerade an der Sprechanlage in einer an Panik grenzenden Eile. Damit der Bote nicht davonlief, musste man zur Sprechanlage rennen und die Angst unterdrücken, es könnte eine unangenehme Überraschung an der Haustüre auf einen warten. In so einer Situation konnten blaue und rote Punkte in der geistigen Verkabelung die Kontakte tauschen, und man drückte in der Eile die Stummtaste, statt die Tür zu öffnen.
Jetzt aber wäre es ein Fehler gewesen, die Klingel abzustellen. Womöglich musste der Elektriker zwischendurch etwas aus seinem Wagen holen, bei der Rückkehr würde er läuten, und Escher ihn nicht hören. Als er den Hörer einhängte, fiel sein Blick auf den offenen Sicherungskasten oberhalb der Sprechanlage. Von den vielen schwarzen Sicherungsschaltern tanzten zwei aus der Reihe — statt oben, waren sie unten. Mit einem klack hatte der Elektriker sie nach unten geknipst und so den Stromfluss unterbrochen.
Vielleicht war Escher in Gedanken noch bei den zwei Druckknöpfen der Sprechanlage. Vielleicht lag es auch nur an einem allgemeinen Ordnungsbedürfnis, oder an einer Unruhe seiner Finger, deren Bereitschaft, den Türöffner zu drücken, nicht zum Einsatz gekommen war. Oder sein an 1000 Puzzlestücke gewöhntes Hirn legte nach den nur 500 Teilen von Hokusais Großer Welle einen Übersprung hin. Vielleicht war es auch eine Mischung aus all diesen Faktoren, die Escher in diesem Moment bewog, gedankenlos die beiden Sicherungen hinaufzuschieben.
Im selben Moment hörte er ein leichtes Klacken in der Küche. Dieses lakonische Geräusch erzeugte der auf die Arbeitsplatte fallende Schraubenzieher. Das laute Rumpeln drang nicht sofort an Eschers Ohren, sondern mit einer kurzen Verzögerung. So lange brauchte der Körper des Elektrikers, um auf den Boden zu sinken. Ohne die weiße Tür des Sicherungskastens zu schließen, stürmte Escher hinüber und entdeckte den reglosen Körper auf dem Boden.
Obwohl er es mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, wie die Sicherung vor dem Rumpeln wieder hinausgesprungen war, ging er vorsichtshalber noch einmal zum Sicherungskasten zurück, um sich zu überzeugen, dass es wirklich so war. Er wollte sich nicht auch selbst noch einen Schlag holen. Erst dann wandte er sich dem still daliegenden Elektriker zu. Die Kappe lag neben seinem Kopf. Die Augen starrten leblos aus dem schönen Gesicht. Escher fiel jetzt auch ein, an wen dieses Gesicht ihn erinnerte. Nicht an einen Hirten oder Heiligen, wie er zuerst gedacht hatte, sondern an das Porträt eines Mannes, das von dem Künstler Parmigianino gemalt und von Escher schon oft zusammengesetzt worden war.
Seine Wiederbelebungsversuche fielen etwas halbherzig aus. Er war noch nie der Typ gewesen, der glaubte, Tote aufwecken zu können. Der kurze Vollbart, dessen Mund nicht mehr atmete, kam ihm jetzt wie aufgeklebt vor. Escher erinnerte sich an den Erstehilfekurs, den er bei der Führerscheinprüfung absolviert hatte. Davon war ihm hauptsächlich die Warnung hängengeblieben, dass man bei der Herzmassage aufpassen musste, dem Patienten nicht das Brustbein zu brechen und ihm so den Rest zu geben. Außerdem war er überzeugt, dass der Elektriker schon tot war. Dem Toten auch noch das Brustbein zu brechen, erschien ihm als grausamere Tat als die Tötung des Lebenden, die er ja unabsichtlich und (vom leichten Widerstand der Sicherungsschalter abgesehen) unspürbar aus der Ferne vollzogen hatte.
Bald ließ er den Elektrikerkörper in Frieden und überlegte seine nächsten Schritte. Wen sollte er anrufen? Den Notarzt? Die Polizei? Elektro Janko? Und sollte er erzählen, wie es sich zugetragen hatte? Oder sollte er sich dumm stellen, damit die Schuld automatisch auf den Elektriker selbst fiel? War es denkbar, dass ein professioneller Elektriker vergaß, die Sicherung herauszudrücken? Es war schwer vorstellbar, aber angesichts der Tatsachen wohl auch kaum zu leugnen. Niemand würde ihn seiner unerklärlichen Schandtat verdächtigen.
Es widerstrebte ihm aber auch, dem Elektriker die Schuld an seinem Tod in die Schuhe zu schieben. Vielleicht hatte es versicherungstechnische Nachteile für seine Witwe. Der Ehering am Finger des Toten war nicht zu übersehen. Escher überlegte, welche Konsequenzen es für ihn haben konnte, wenn er bei der Wahrheit blieb. Womöglich würde man ihn in die Psychiatrie stecken. Dass er nicht hundertprozentig sicher war, ob der Elektriker ihm nicht zugerufen hatte, er solle die Sicherung kurz hineindrücken, würde man erst recht gegen ihn verwenden.
Er sah nicht ein, warum er sich wegen eines tragischen Versehens dieser staatlichen Maschinerie ausliefern sollte. Es wäre eine brutale Strafe für etwas, das er nicht absichtlich getan hatte. Und den Elektriker machte es auch nicht mehr lebendig.
Ein plötzliches Zucken riss ihn aus diesen Überlegungen. Wie ein Defibrillator mit Ladehemmung vibrierte das Handy kurz in der Brusttasche der blauen Arbeitsjacke, auf die ebenfalls der Name »Elektr Jank« gestickt war. Da kein Klingelton folgte, vermutete Escher, dass nur eine Textnachricht gekommen war. Sie weckte zwar den Toten nicht, gab aber Escher den Impuls aufzustehen. Als hätte er stundenlang auf dem Boden um das Überleben des Elektrikers gekämpft, wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Er stützte sich am Fensterbrett auf und schaute eine Weile aus dem Küchenfenster.
Sein Vater hatte ihm eingetrichtert, in schwierigen Situationen niemals eine überstürzte Entscheidung zu treffen. Bis zehn zählen, bis hundert zählen, bis tausend zählen. Auf den nächsten Morgen warten. Je schwieriger eine Situation, umso wichtiger war das Warten. Jedes Unglück vergrößerte sich durch voreilige Entschlüsse und unbedachte Entscheidungen.
Escher war froh, dass er sich jetzt an den Rat erinnerte. Um in Ruhe nachdenken zu können, stellte er die Klingel ab und ging ins Wohnzimmer hinüber. Sein Blick blieb an dem Buch hängen, das aufgeschlagen auf dem Sofa lag. Escher machte aus Prinzip keine Eselsohren in Bücher, Zettel zum Einlegen waren aber nicht immer zur Hand. Meistens legte er die Bücher einfach auf die aufgeschlagene Seite, was dazu führte, dass seine Bücher mit der Zeit immer stärker aufschnabelten. Vielleicht war das eben erlebte Unglück der Grund für das schlechte Gewissen, das er zum ersten Mal im Leben für diese Achtlosigkeit empfand.