Der beste Freund - Susanna Beard - E-Book + Hörbuch
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Der beste Freund E-Book und Hörbuch

Susanna Beard

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  • Herausgeber: Jentas
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2025
Beschreibung

Jeder hat einen Freund wie Carl. Einen Freund, zu dem man nicht Nein sagen kann. Einen Freund, zu dem man wirklich Nein sagen sollte. Ich habe mir endlich ein gutes Leben aufgebaut. Habe ein schönes Zuhause. Einen festen Job. Und Jason. Der verlässliche, ehrliche, herzensgute Jason – mein Partner. Und mein bester Freund. Ich vertraue ihm bedingungslos. Aber wenn jemand Jason in die Irre führen kann, dann ist es Carl. Sein bester Freund. Und jetzt steht Carl vor unserer Tür. Er bittet um Hilfe. Ich warne Jason, sich nicht einzumischen. Aber Carl hat einen Einfluss auf meinen Freund, den ich nicht verstehe. Und mit einem Mal ist alles, was mir lieb und teuer ist, in Gefahr. Mein Zuhause. Meine Beziehung. Mein Leben. Denn Carl weiß, dass Jason ihm etwas schuldet. Und er wird uns nicht in Ruhe lassen, bis er kriegt, was er will. Ich werde alles tun, um Jason zu beschützen – sogar vor seinem besten Freund. ---   "Ich war so gefesselt von diesem Buch, dass ich es nur so verschlungen habe. Ich fand es unterhaltsam: ausgezeichnet, atemberaubend und außergewöhnlich spannend." – Bücherfreundin Bev "Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen, unglaublich." – HipsterDebbie2 "Wow! Ein Buch, das ich in Windeseile durchgelesen habe und nicht mehr aus der Hand legen wollte ... Eine tolle Geschichte, die so gut ausgearbeitet und erzählt ist. Eine geschickt durchdachte Handlung und sympathische Charaktere ... Ein fantastisches Buch, das ich sehr empfehlen kann" – Nickis Buchblog "Ich wurde von Anfang an in die Geschichte hineingesogen. Man kann sogar sagen, dass ich ein bisschen süchtig nach der Geschichte wurde ... Ich fand 'Der beste Freund' spannend und fesselnd – eine Geschichte, die mich auf jeden Fall in Atem gehalten hat." – Ginger Book Geek

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Seitenzahl: 349

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Zeit:8 Std. 32 min

Sprecher:Ute Piasetzki
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Der beste Freund

Susanna Beard

© Susanna Beard 2023

© Deutsch: Jentas A/S 2024

Titel: Der beste Freund

Originaltitel: The Best Friend

Übersetzung: Kirsten Evers, © Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2058-2

Kein Teil dieses Buches darf ohne Genehmigung des Herausgebers zum Zweck des Trainings von KI-Technologien oder -Systemen verwendet werden.

Published by arrangement with Joffe Books Ltd. and Lorella Belli Literary Agency Limited

Für treue Freunde, überall

Prolog

Die Dunkelheit brach schnell herein, und die Schatten rund um den Garten verbargen mich vor dem Haus. Ich hatte genug Zeit, um meinen Gartenhut gegen eine Baseballkappe und meinen Regenmantel gegen eine dunkle Jacke zu tauschen. Zum Schluss noch ein Paar Lederhandschuhe, und schon war ich ein richtiger Einbrecher. Ich packte die ausrangierte Kleidung in den Rucksack und versteckte ihn unter einem Busch.

Wie erwartet kam genau um sechs Uhr eine Gestalt aus dem Haus. Die Seitentür öffnete sich. Er hielt einen Moment inne, um den Alarm einzustellen – ich hörte eine Reihe von Tönen –, und zog die Tür hinter sich zu. Mit dem zweiten Schloss hielt er sich nicht auf.

Er war ein großer Mann, dessen Bauch über seine Hose hinausragte. Ich konnte an seinem Gang erkennen, dass er alles andere als fit war – er watschelte eher, als dass er ging. Ein grelles Sicherheitslicht ging an, als er die Einfahrt hinunterfuhr, und ich konnte sehen, dass er eine Bomberjacke und schlecht sitzende Hosen trug. Seine Glatze leuchtete im hellen Licht rosa und betonte den Ring aus weißem Haar um seinen Kopf.

Mit dem Licht würde ich mich später befassen.

Ich wartete ein paar Minuten, um sicher zu sein, dass er nicht zurückkam, dann kroch ich aus meinem Versteck. Meine Turnschuhe waren fast lautlos auf dem weichen Gras. Ich ging um das Haus herum und überprüfte es auf Überwachungskameras. Es gab vier. Mit meinem Stock winkelte ich drei der vier vom Haus weg. Die vierte, die hoch oben im obersten Stockwerk angebracht war, würde ich so weit wie möglich meiden müssen. Das Sicherheitslicht war ein größeres Problem – ich musste es ausschalten, konnte es aber nicht erreichen. Am Ende des Gartens fand ich einen Schuppen, der nicht verschlossen war. Ich suchte nach einer Schubkarre oder einem großen Topf, den ich umstoßen konnte, um mich darauf zu stellen, aber stattdessen entdeckte ich eine kleine Trittleiter – genau das, was ich brauchte. Das war leichtsinnig. Niemand, der bei Verstand ist, würde so etwas in einem unverschlossenen Schuppen stehen lassen. Er war faul geworden. Ich nehme an, er dachte, niemand wüsste von dem Geld.

Innerhalb weniger Minuten trat ich ans Licht heran und schlug mit meinem Stock darauf ein. Bei seiner Rückkehr würde er annehmen, dass die Glühbirne durchgebrannt oder das Licht defekt sei. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Dunkelheit nach ein paar Drinks genauer nachforschen würde, war gleich null. Einer anderen Sicherheitsleuchte auf der Rückseite des Hauses widerfuhr dasselbe Schicksal, dann legte ich die Trittleiter genau so wieder weg, wie ich sie vorgefunden hatte, und kehrte in mein Versteck im Gebüsch zurück, wo ich mich zum Warten bereit machte.

Die Zeit verging langsam, aber sie gab mir die Möglichkeit, alle Aspekte zu berücksichtigen. In Anbetracht dessen, was ich vorhatte, bestand keine Gefahr, dass ich einschlief. Mein Herzschlag war bereits jetzt so laut, dass ich Angst hatte, ein vorbeigehender Fußgänger könnte ihn hören. Ich hatte ein paar Stunden Zeit, mich zu beruhigen, bevor er zurückkam. Aber ich blieb wachsam, bereit für meinen großen Moment. Und dann war er da.

Als sich das Tor mit einem Klicken öffnete, ging ich in die Hocke und spähte durch das Laub. Eine dunkle Gestalt wankte die Einfahrt hinunter. Ausgezeichnet. Ich brauchte ihn betrunken, unvorsichtig und so unaufmerksam wie möglich. Er fummelte am Schloss herum und ging hinein, wobei das Licht aus dem Hausflur seine Silhouette erhellte. Eine Reihe elektronischer Pieptöne verriet mir, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war. Damit war die erste Hürde genommen.

Ich schlich mich zur Rückseite des Hauses, wo erst ein Licht, dann das zweite aus dem Inneren heraus schien und die Terrasse beleuchtete. Bei meiner ersten Erkundung hatte ich mir das Wohnzimmer angesehen, und ich war mir ziemlich sicher, dass er sich dort für den Rest des Abends niederlassen würde, hoffentlich mit einem starken Drink zur Hand.

Er machte sich nicht die Mühe, die Vorhänge zu schließen. Ein weiterer Glücksfall. Ich lehnte mich an die Wand und warf einen kurzen Blick in den Raum. Natürlich war der Fernseher eingeschaltet, und ich konnte das Grün eines Fußballfeldes sehen, das mit Spielern übersät war. Das Rauschen der jubelnden Menge drang durch die Fenster zu mir nach draußen. Er lag auf einem großen Sofa, das rechte Bein auf den Polstern ausgestreckt. Ein Arm lag an der Rückenlehne des Sofas, und in seiner linken Hand hielt er ein großes, dickwandiges Glas.

Der Moment war gekommen.

Kapitel 1

Alice

„Hallo, Alice.“

Die Person auf der Türschwelle kommt mir bekannt vor, aber einen Moment lang bin ich verwirrt. Ich blinzle die Gestalt an, die zusammengekauert im Nieselregen steht und mich unter einer dunklen Kapuze hervor ansieht.

„Hast du mich etwa schon vergessen?“

Ich starre. Blaugraue Augen blicken mich an, dunkle Schatten darunter. Eine Schicht Bartstoppeln auf blassen Wangen. Lange Nase, schmale Lippen, ein schiefes Lächeln. Unter der Kapuze des regennassen Mantels kann ich kein Haar erkennen.

„Carl?“

Die Gestalt lacht, ein breites Lächeln verwandelt ihr Gesicht. „Ja, ich bin’s! Da hab ich dich wohl auf dem falschen Fuß erwischt, was?“

„Das hast du. Du bist der Letzte, den ich jetzt erwartet hätte.“ Ich bin wie gebannt von seinem Anblick.

„Willst du mich nicht reinlassen? Es schüttet wie aus Eimern.“

„Ich – natürlich, entschuldige. Komm rein, Jason ist im Wohnzimmer.“ Ich weiche zurück, als er auf die Fußmatte tritt und mit den Füßen aufstampft. Wasser tropft auf den Boden.

„Hier, lass mich deinen Mantel nehmen. Du bist ja völlig durchnässt.“

Ich bin nichtgerade begeistert. Es ist zehn Uhr abends und normalerweise würden wir bald schlafen gehen. Wahrscheinlich sucht er nur ein Bett für die Nacht. Aber ich kann ihn schlecht wegschicken, nicht bei diesem Wetter.

Ich hänge seinen Mantel hinter der Tür auf, wo er weiter auf die Fliesen tropft. „Komm rein.“

Jason sitzt vor dem Fernseher. Ich stecke meinen Kopf durch die Tür. „Du hast Besuch. Es ist Carl.“ Ich versuche, meine Stimme daran zu hindern, mich zu verraten.

„Carl?“ Seine Augenbrauen heben sich. „Der Carl?“

Ich nicke und schneide eine Grimasse.

Jason springt auf und drückt kurz meine Hand, als Carl ins Zimmer kommt. Ich schalte den Fernseher aus, während sich in meinem Kopf unausgesprochene Fragen ansammeln. Was will er um diese Zeit hier? Wird er bleiben? Warum gerade jetzt? Es wird sicherlich einen Grund geben, dass er nach all dieser Zeit wieder auftaucht.

„Was kann ich dir bringen, Carl?“, frage ich. Ich muss mir Mühe geben, nicht mit den Zähnen zu knirschen. „Tee, Kaffee?“

Carl blickt Jason an. „Vielleicht ein Bier?“

„Im Kühlschrank sind welche“, sagt Jason. „Ich nehme auch eins. Danke, Alice.“ Er wirft mir einen dankbaren Blick zu. Er weiß, was ich von Carl halte.

Während ich in der Küche die Getränke vorbereite, höre ich aus dem Wohnzimmer südamerikanische Salsa-Musik. In unserem Haus gibt es immer Musik, dank des besten Soundsystems, das wir uns leisten konnten, als wir hierher kamen.

Ich schließe die Tür für einen Moment, nicht wegen der Musik, sondern weil ich Carl ausschließen will.

Kapitel 2

Alice

Als ich mit dem Tablett zurückkomme, sitzen sie auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Ein überraschter Blick huscht über Jasons Gesicht, als ich mich neben ihn setze. Er weiß, dass ich lieber so wenig Zeit wie möglich mit Carl verbringen möchte.

Ich beobachte Carls Gesicht, während sein Blick durch den Raum schweift. Er nickt anerkennend wegen der Bücherregale und den Bildern an den Wänden.

„Schön habt ihr’s hier. Kinder?“

„Noch nicht“, sagt Jason und lächelt mich an. „Wir sind vor etwa vier Jahren zusammengezogen.“

„Schön, schön.“

Carl fährt sich mit den Fingern durchs feuchte Haar. „Ich musste echt raus aus dem Regen.“ Er springt auf und schreitet zum Fenster, wo die Vorhänge halb zugezogen sind. Er blickt einen Moment lang in die Dunkelheit. „Ja, es regnet immer noch.“ Mich beschleicht der Verdacht, dass er nicht nur des Wetters wegen aus dem Fenster schaut.

„Also, Carl.“ Jason öffnet seine Bierflasche und gießt sich ein. „Was führt dich nach all dieser Zeit hierher?“

„Kann ich nicht mal einfach so einen alten Freund besuchen – Entschuldigung, alte Freunde?“ Er lächelt mich an. Ich erwidere das Lächeln nicht. „Braucht es unbedingt einen Grund?“ Er nimmt einen langen Schluck direkt aus der Flasche.

„Natürlich nicht. Es ist schön, dich zu sehen.“ Jason zögert. „Ich bin einfach überrascht. Wie lange ist es her? Neun, zehn Jahre?“

Carl zuckt mit den Schultern. Er klopft mit den Fingern im Takt der Musik gegen seine Bierflasche. „Ja, mindestens. Es war eine spontane Idee. Ich hatte ein bisschen Zeit, also dachte ich, ich schau mal wieder im alten Revier vorbei, besuche ein paar Freunde und verbringe ein paar Tage bei meiner Mutter.“

„Du hast abgenommen“, sagt Jason.

Mir ist ebenfalls aufgefallen, dass er nicht gut aussieht. Ich frage mich, was mit ihm los ist, dass er so heruntergekommen aussieht. Carl und Jason sind zusammen aufgewachsen, und von den beiden war Carl immer der Robuste, seine große Gestalt strahlte Zuversicht und Gesundheit aus. Neben ihm sah Jason wie sein kleiner Bruder aus – kleiner als er, immer in seinem Schatten. Um fair zu sein, war er auch ein paar Jahre jünger.

Aber jetzt sieht Carl älter aus als er ist, er ist dünn, ein wenig vornübergebeugt, die Hose hängt. Die Haut in seinem Gesicht ist grau, sein einst üppiges Haar stumpf und fettig.

„Ein bisschen. Ich hab wohl etwas zu viel Zeit auf der Überholspur verbracht.“ Carl grinst. Er war immer eine Nachteule, immer derjenige, der die nächste Aktion plante, die nächste Party fand, das geheime Treffen, wo Drogen und Alkohol in Strömen flossen.

„Immer noch derselbe alte Carl also“, sagt Jason. „Was gibt es bei dir Neues? Verheiratet, Partner, Kinder? Arbeit?“

„Nö, nichts davon. Ich warte immer noch auf die große Liebe.“

Jason schnaubt. „Komm mir nicht so – du bist einfach zu gerne Single.“

„Das kann man wohl sagen. Und was die Arbeit angeht, na ja ...“ Carl streckt sich, dünne Handgelenke tauchen aus den ausgefransten Ärmeln seines Pullovers auf. „Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Ich war auf dem Bau, hab als Hilfsarbeiter gejobbt, wisst ihr. Hab ‘ne Zeit lang im Kasino gearbeitet, das war ganz cool. Aber hier unten ist es besser, im Big Smoke. Mehr los, wisst ihr? Ich arbeite für einen Baumchirurgen. Nicht Vollzeit, aber es reicht mir.“

„Klingt gut. Jedenfalls besser als den ganzen Tag drinnen zu sitzen. Ich kann dich mir nicht so recht in einem Büro vorstellen.“

„Gibt es noch mehr Bier, wo das hier herkommt?“ Carl kippt die Flasche, sein Adamsapfel hüpft.

Jason ist an der Reihe, die Getränke zu holen, und lässt mich mit Carl allein. Es herrscht eine kurze, unangenehme Stille. Ich beobachte, wie er wieder aufsteht und nach draußen auf die Straße schaut. „Erwartest du noch jemanden, Carl?“, frage ich.

„Ich schaue nur nach dem Wetter“, sagt er und kehrt zu seinem Platz zurück. Aber irgendwie glaube ich ihm nicht. Jetzt bin ich an der Reihe, zum Fenster zu gehen. Draußen rührt sich nichts. Die Straße glänzt vor Nässe, das orangefarbene Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in den Pfützen auf dem Bürgersteig. Eine Reihe geparkter Autos glitzert durch den Regen. Resolut ziehe ich die Vorhänge zu.

Jason kommt mit dem Bier zurück und reicht Carl eines. „Du bleibst besser hier – bei dem Wetter kannst du nicht wieder raus.“

„Perfekt – danke, Jason. Wenn es nicht zu viel Mühe macht.“ Carl blickt zu mir herüber, aber ich erwidere seinen Blick nicht. So ist Carl nun mal. Er hat gewusst, dass wir ihm ein Bett für die Nacht anbieten müssen.

Jason dreht sich zu mir um. „Alice, möchtest du noch einen Tee?“

„Nein, danke. Ich bin fix und fertig – ich geh schlafen.“ Carl hält sich eindeutig zurück – zweifellos meinetwegen. Die wahren Neuigkeiten erfahre ich später von Jason.

„Sieht man dir gar nicht an“, sagt Carl. „Für mich siehst du ziemlich gut aus.“

„Danke.“ Ich weigere mich, seinen Blick zu erwidern. Mich wird er nicht um den kleinen Finger wickeln, wie er es bei anderen Leuten tut. „Gute Nacht. Ich lass euch beide allein, damit ihr euch in Ruhe unterhalten könnt.“

„Okay, Schatz, wir sehen uns dann oben.“ Jason berührt meine Hand, als ich den Raum verlasse.

„Ja. Nacht, Carl.“

„Nacht, Alice.“

Der Regen trommelt auf das Dach, und die Tropfen rinnen an der Dachluke über der Treppe herunter. Sie lässt tagsüber das Licht herein und umrahmt die Sterne in einer klaren Nacht. Aber nicht in dieser Nacht.

Kapitel 3

Alice

Während ich im Schlafzimmer herumlaufe und mich bettfertig mache, verschlechtert sich meine Stimmung. Dass Carl unangekündigt so spät abends auftaucht, kann nur schlechte Nachrichten bedeuten. Ich schaue wieder aus dem Fenster und frage mich, was da sein soll, aber es bewegt sich nichts. Keine Autos, die im Schritttempo die Straße entlang kriechen, keine zwielichtigen Gestalten, die vor dem Haus herumlungern.

Aber dass Carl nervös war, daran besteht kein Zweifel. Ich frage mich, ob er denkt, dass er verfolgt wird – in diesem Fall steckt er wieder in Schwierigkeiten. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Ich frage mich – und das nicht zum ersten Mal –, wie zwei so unterschiedliche Charaktere so enge Freunde werden konnten. Es schien mir immer unwahrscheinlich, dass sie zusammenpassen. Vielleicht war es ganz einfach Gewohnheit oder ihre gemeinsame Geschichte. Carl und Jason standen sich als Kinder sehr nahe, waren fast wie Brüder. Sie wohnten auf derselben Straße und gingen beim jeweils anderen ein und aus, saßen sogar im Schulbus nebeneinander. Ich ging auf dieselbe Schule, wenn auch nicht in dieselbe Klasse. Und als ich mit siebzehn anfing, mit Jason auszugehen, war Carl natürlich Teil des Pakets.

Anfangs machte es mir nichts aus. Carl war ein bisschen wie ein Clown, liebenswert und lustig – er war gute Gesellschaft. In gewisser Weise war er charmant, und ich mochte ihn. Aber es gab auch eine andere Seite an ihm, die sich mir langsam offenbarte, je besser ich ihn kennenlernte. Ich begann mich zu fragen, warum Jason so loyal einem Freund gegenüber war, der ihn so oft enttäuschte und Abmachungen brach. Er beschwerte sich nie über ihn. Es schien etwas zu geben, das die beiden verband, von dem ich nichts wusste oder das ich nicht verstand.

Einmal fragte ich Jason, warum er sich überhaupt mit ihm abgab. Sein Kiefer spannte sich an, aber er antwortete einfach: „Er ist mein Freund, und ich schulde ihm etwas.“ Aber er sagte nicht, was, und sein Gesicht verschloss sich.

Ich habe nie wieder gefragt.

Seufzend klettere ich ins Bett und bemühe mich, mein Buch zu lesen. Doch meine Gedanken kreisen wieder um Carl und darum, was ihn so unerwartet, so spät am Abend und nach all der Zeit hierher gebracht hat. Ich hoffe, Jason geht der Sache auf den Grund und erzählt mir alles, wenn er endlich ins Bett kommt. Aber ich bin müde, und die gedämpften Stimmen unten murmeln noch lange weiter. Es wird bis zum Morgen warten müssen, was auch immer es ist.

Ich freue mich nicht darauf, Carl morgen zu sehen. Er wird hier bleiben, während wir uns für die Arbeit fertig machen, und es würde mich nicht wundern, wenn er länger bleiben möchte. Ich bin wirklich nicht scharf darauf, dass er überhaupt bleibt – nicht einmal für ein paar Tage. Er hat so eine Art, die Leute dazu zu bringen, für ihn zu sorgen, und das will ich nicht. Zum Glück weiß Jason, wie es mir mit ihm geht. Er wird wissen, dass ich Carl nicht eine Minute länger als nötig hier haben will.

Morgen werde ich dafür sorgen, dass er geht, wenn wir gehen. Wer weiß, was er anstellt, wenn er in unserem Haus sich selbst überlassen ist.

* * *

Am Morgen frage ich Jason, was mit Carl los ist.

„Nichts“, sagt er.

Ich werfe ihm einen fragenden Seitenblick zu.

„Jedenfalls nichts, was er gestern Abend verraten hat. Ich hatte allerdings auch den Eindruck, dass er sich zurückhält. Ich hätte ihn drängen können, aber ich wollte ins Bett. Ich hatte keine Lust, um diese Zeit in eine lange Geschichte über sein kompliziertes Leben verwickelt zu werden.“

„Hm. Es wird etwas geben, das ihn hierher führt, da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich will er Geld.“

„Tja, wir haben keins, also ist das das kleinste Problem.“

Ich lächle. „Genau. Aber, Jason, bitte lass ihn nicht länger bleiben. Eine Nacht ist in Ordnung, aber nicht mehr.“

Er umarmt mich. „Keine Sorge, ich will ihn genauso wenig hier haben wie du. Er wird heute zu seiner Mutter fahren. Und jetzt brauche ich eine Dusche.“

Als ich die Treppe hinunterkomme, steht Carl schon in der Küche und begrüßt mich mit einem fröhlichen „Morgen!“

Ich ringe mir ein schwaches Lächeln ab. „Morgen, Carl. Gut geschlafen?“

„Das habe ich, danke – ein sehr bequemes Bett habt ihr da in eurem Gästezimmer, muss ich sagen. Ich war wie im Koma.“ Carl stützt sich auf der Arbeitsplatte ab und lässt mich um ihn herumgehen, während ich nach Tassen, Besteck und Geschirr für das Frühstück greife. Ich hoffe, Jason ist schnell unter der Dusche. Ich mag es, morgens ruhig und entspannt zu sein und langsam aufzuwachen. Aber heute spüre ich die Verspannungen in meinen Schultern, in meinem unteren Rücken. Carl hat so eine Art, das in mir auszulösen.

„Tee oder Kaffee?“, frage ich. „Normalerweise nehmen wir nur ein paar Toasts und machen uns auf den Weg. Kann ich dir etwas machen?“

„Kaffee bitte. Ja, toll, Toast ist perfekt. Kann ich helfen?“ Er lehnt immer noch am Schrank.

„Setz dich, ich mach das schon.“

Carl setzt sich, gähnt und streckt sich. „Erzähl mal, Alice. Was treibst du so?“

„Ich arbeite im Marketing. In Chiswick.“ Ich stelle Carl eine dampfende Tasse Kaffee und etwas Milch vor die Nase.

„Schön. Macht’s Spaß?“ Er scheint sich für meine Arbeit ungefähr so sehr zu interessieren wie ich für die Hühnerzucht.

In diesem Moment kommt Jason in die Küche und bringt den Duft von Kokosnuss-Shampoo mit, sein blondes Haar ist zurückgekämmt. Es ist dick und wird lang, kräuselt sich jetzt im Nacken und fällt ihm auf einer Seite über das Gesicht. Er ist schlank und adrett, trägt einen blauen Pullover, Jeans und Turnschuhe und sieht immer noch aus wie achtzehn.

„Morgen, Kumpel“, sagt er und klopft Carl im Vorbeigehen auf die Schulter. Er kommt zu mir und küsst mich auf den Kopf. „Hi, du, alles in Ordnung?“

Ich lächle und nicke, drehe mich um und stelle einen Teller mit Toast auf den Tisch. „Bedien dich, Carl, es gibt Butter und Marmelade, Honig und Marmite. Such dir was aus.“

„Wunderbar.“

„Hör zu, ich gehe in zehn Minuten. Soll ich dich irgendwohin mitnehmen, Carl?“ Ich fange Jasons Blick auf. Er nickt mir anerkennend zu – er weiß, dass ich Carl nicht im Haus haben will, wenn wir nicht da sind. Ich bin dankbar, dass er mich versteht, auch wenn er einen Freund hat, der das Gegenteil von sensibel ist.

„Nein, geht schon, danke. Ich gehe später zu Mum.“

„Draußen regnet es in Strömen. Ich fahre heute mit dem Auto zur U-Bahn-Station – ich setze dich ab.“ Jason lässt es wie eine Entscheidung klingen. „Du willst doch nicht schon wieder klatschnass werden, dein Mantel ist gerade erst trocken geworden.“

Carl zuckt mit den Schultern. „Wenn du darauf bestehst ...“

Ich atme leise, aber erleichtert auf.

Kapitel 4

Jason

„Heute Abend Old Fox? Ein paar Bier?“

„Du hast dich wirklich überhaupt nicht verändert“, sagt Jason.

„Ach was. Es wird gut tun, die alte Wasserstelle mal wieder zu besuchen. Ich wette, da hat sich viel verändert.“

„Es ist in Ordnung – das Essen ist nicht schlecht. Es ist viel los, vor allem an Wochenenden.“

Carl zieht eine Grimasse. „Ich hoffe, es ist nicht zu einer dieser trendigen Bars geworden. Ich mochte es irgendwie schmuddelig und altmodisch.“

„Es brauchte ein kleines Update. Jetzt ist es besser.“

„Also, hast du später Lust?“

„Ja, okay, ein Bier. Aber ich bin frühestens um sieben fertig.“

„Sieben? Das ist ein langer Tag. Aber du warst schon immer ein Draufgänger. Okay, ich werde da sein – wenn du dich verspätest, hole ich mir einfach schon mal einen Drink.“

Jason parkt den Wagen. Carl greift nach der Tür und zögert dann. „Dann bis später. Es gibt etwas, worüber ich mit dir reden möchte, also lass uns unter uns bleiben, ja?“

„Sicher.“

Mit einem Winken ist Carl weg und lässt Jason zurück, der sich fragt, was los ist. Es klingt ominös – er will Alice eindeutig nicht dabei haben. Wahrscheinlich mal wieder einer von Carls verrückten Plänen, in die er Jason verwickeln will.

* * *

Es ist schon nach halb acht, als er im Old Fox ankommt. Der Pub ist ruhig, nur ein oder zwei Leute unterhalten sich an der Bar. Carl sitzt zusammengekauert in einer Ecke und studiert sein Handy, ein halbleeres Bierglas steht vor ihm auf dem Tisch. Als er aufblickt, sind das blaue Auge und die Wunde an der Wange kaum zu übersehen.

Jason zieht seinen regennassen Mantel aus und nimmt sich einen Stuhl. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Was ist denn mit dir passiert?“

Carl fährt sich mit dem Finger über die Augenpartie. „Nichts.“

„Nach nichts sieht das nicht gerade aus.“

„Du solltest den anderen sehen.“ Er grinst und kräuselt freudlos die Lippen. „Lass mich dir ein Bier holen.“

„Ein kleines, bitte.“

„Was? Na, aber bitte, da machen wir ein Pint draus.“

„Nein, wirklich, ich kann nicht zu lange bleiben.“

„Alice hat dich ganz schön unter ihre Fuchtel genommen, was?“

Jason unterdrückt einen Stich der Verärgerung. Alice ist nicht so, und Carl weiß das. Aber er hatte schon immer ein Händchen dafür, ihn genau da zu treffen, wo es weh tut.

„Also, worüber wolltest du mit mir reden?“, fragt Jason, als Carl mit den Getränken zurückkommt. Wir können genauso gut gleich zur Sache kommen.

Carls Gesichtsausdruck wird ernst. „Wo du fragst – ich stecke ein bisschen in Schwierigkeiten“, sagt er.

Jason spürt, wie ihm alle Energie aus dem Körper weicht.

„Na los, spuck’s aus.“

Carl wirft einen verstohlenen Blick über die Schulter, obwohl die Tische um sie herum unbesetzt sind. „Ich bin ein bisschen knapp bei Kasse“, sagt er und zeichnet mit den Fingern Formen in den Bierflecken auf dem Tisch nach. Es scheint ihm schwer zu fallen, Jason in die Augen zu sehen.

„Was, der Job mit dem Baumchirurgen hat nicht geklappt?“

„Im Moment gibt es einfach nicht so viel Arbeit. Es ist die falsche Zeit im Jahr. Es gibt vielleicht alle paar Wochen mal einen Job, aber das Geld reicht nicht zum Leben. Ich krieg auch Sozialhilfe.“

Das kommt mir schon eher bekannt vor. „Tut mir leid, das zu hören. Hast du schon etwas Besseres gefunden?“

Carl schüttelt den Kopf. „Ich könnte mir einen anderen Job suchen, um mich über Wasser zu halten. Aber das wäre keine große Hilfe. Ich muss ein Darlehen zurückzahlen.“

„Ein Darlehen? Wofür?“

„Das spielt keine Rolle. Aber es ist eine Menge, und ich kann nicht einfach zur Bank gehen, die würden mir nichts leihen, nicht jetzt. Ich habe kein richtiges Gehalt, keine Ersparnisse, kein Vermögen – nicht einmal einen festen Wohnsitz.“ Carl blickt zu Jason auf.

„Was willst du dann tun?“ Jason kann sich denken, was als Nächstes kommt, aber er will, dass Carl es sagt.

„Hör mal, Kumpel – kannst du mir nicht ein bisschen aushelfen?“ Jason beginnt, den Kopf zu schütteln, aber Carl fährt fort, die Worte sprudeln nur so heraus. „Ich meine nicht, dass du mir deine Ersparnisse geben sollst – falls du welche hast –, aber du hast einen richtigen Job, eine Hypothek. Du könntest problemlos einen Kredit bekommen. Ich werde dir das Geld regelmäßig zurückzahlen, das verspreche ich. Selbst wenn ich mir drei Jobs suchen muss. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

Jason lacht fast. Wenn er eines über Carl weiß, dann, dass er einen früher oder später immer enttäuscht. Er schüttelt den Kopf. „Carl. Kumpel. Ich habe kein Geld. Und Alice auch nicht.“

Ein ungläubiger Blick geht über Carls Gesicht. „Aber – ihr habt doch das schöne Haus, habt beide feste Jobs ...“

„So einfach ist das nicht, Carl.“

Carls Stimme wird leiser, und er beugt sich vor, mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen. „Hör mal, ich frage nicht gerne, und du weißt, ich würde es nicht tun, wenn es nicht wichtig wäre – aber ich brauche das wirklich. Ich brauche deine Hilfe.“

Jason zögert. Er will sagen, dass das nicht in Frage kommt, dass Carl der letzte Mensch ist, dem er oder irgendjemand bei klarem Verstand jemals Geld leihen würde. Alice würde in die Luft gehen. Aber das hat keinen Sinn. Die Wahrheit zu sagen, würde nur zu verletzten Gefühlen führen.

„Ich weiß, dass du es ernst meinst, und ich würde dir ja auch gerne helfen, wirklich. Aber was ich meine, ist, dass wir kein Geld haben. Wir haben lange gespart, um die Anzahlung für das Haus zu leisten. Wir haben beide ein Gehalt, ja, aber die Hypothek frisst alles auf. Wir können uns selbst kaum über Wasser halten. Die Bank würde uns niemals noch mehr Geld leihen. Es ist so schon schwer genug.“

Carl schnaubt und schüttelt den Kopf. „Jason, bitte – ich meine es nicht nur ernst, ich bin verzweifelt. Und es gibt sonst niemanden. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der mir helfen könnte. Wir kennen uns schon so lange, wir sind Freunde. Bitte, ich flehe dich an.“

Jason spürt, wie ihm die Röte in den Nacken kriecht. Er hat noch nie gut mit Konfrontationen umgehen können. Das hier ist zu viel. Carl drängt ihn zu sehr. „Nein“, sagt er. „Ich meine es ernst. Ich kann dir kein Geld besorgen oder leihen. Wenn ich irgendetwas anderes tun kann ...“

Carl starrt Jason einen Moment lang an und wendet dann den Blick ab.

„Hat das da etwas zu tun mit ...“ Jason nickt in Richtung des verletzten Auges. Die violette Schwellung scheint während der vergangenen paar Minuten noch schlimmer geworden zu sein.

Carl weicht seinem Blick aus. „Vielleicht.“

„Wirst du bedroht? Wenn ja, solltest du zur Polizei gehen. Dafür sind die ja da. Und hör zu, Carl, es gibt Möglichkeiten, mit Schulden umzugehen. Ich weiß nicht, wie viel du schuldest oder wem du es schuldest, aber die Bürgerberatung...“

Carl schnaubt. „Bürgerberatung? Polizei? Vergiss es, Kumpel, wir sind hier nicht im Kindergarten. Das hier ist ernst, und es wird nicht verschwinden. Na ja, wie dem auch sei. Ich muss los.“ Er kippt den letzten Schluck Bier hinunter und steht auf.

Jason sieht ihm nach, wie er mit hängenden Schultern davonläuft. An der Tür hält er inne und dreht sich um, mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. „Denk darüber nach, Jason. Du bist mir was schuldig.“

Die Tür zischt hinter ihm zu.

Kapitel 5

Jason

Obwohl er wusste, dass es kommen würde, ist es immer noch ein Schlag in die Magengrube. Es ist das, was ihn all die Jahre dazu gebracht hat, Carl gegenüber loyal zu bleiben. Du bist mir was schuldig. Aber jetzt sind sie erwachsen, alle beide. Es sind Jahre vergangen, seit es ihn das letzte Mal heimgesucht hat, aber die Worte lösen noch immer diese Gefühle der Hilflosigkeit und Unvermeidlichkeit aus, die ihn während seiner Teenagerjahre so vehement verfolgten.

All die alten Gefühle werden wieder wach. Von Carl ging immer eine gewisse Gefahr aus. Jason wusste es damals und er weiß es heute, warum also fühlt er sich so enttäuscht? Vielleicht hatte er, ohne es zu wissen, gehofft, dass Carl jetzt anders sein könnte. Wie dumm von ihm – natürlich hat er sich nicht verändert.

Aber woher kommen diese Schuldgefühle? Es gibt überhaupt keinen Grund für Jason, sich schuldig zu fühlen. Carl tritt nach all den Jahren wieder in sein Leben, und fast das Erste, was er tut, ist, nach Geld zu fragen. Warum hätte Jason etwas anderes erwarten sollen? Er hat seine Lektion früh gelernt. Freunden Geld zu leihen, ist keine gute Idee – vor allem, wenn es sich um Carl handelt. Du wirst das Geld nie wieder sehen.

Aber der Blick in Carls Augen hat ihm gezeigt, dass sein Kumpel dieses Mal in großen Schwierigkeiten steckt. Es hat keinen Sinn, sich zu fragen, was er getan hat – es würde nur Carls Leichtsinn bestätigen, seinen ewigen, unangebrachten Optimismus.

Jason weiß, dass das Gespräch noch nicht beendet ist. Diese Bemerkung, als Carl den Pub verließ – Denk drüber nach –, das ist kein gutes Zeichen. Ganz zu schweigen von dem darauf folgenden Du bist mir was schuldig. Carl kann unerbittlich sein, wenn er etwas will; es kann schwer sein, ihm zu widerstehen. Es ist gut, dass Jason wirklich kein Geld übrig hat. Sonst bestünde die reelle Gefahr, dass er trotz aller Ablehnung nachgibt.

Dunkelheit umschließt ihn, als er die Tür öffnet. Er mag es nicht, in ein leeres Haus zu kommen, aber es überrascht ihn nicht, dass Alice spät kommt. Wahrscheinlich hat sie sich auf dem Heimweg mit Freunden auf einen Drink getroffen, weil sie wusste, dass er nicht pünktlich zurück sein würde. Und das ist wahrscheinlich auch gut so. Alice wird wütend sein, wenn Jason ihr sagt, was Carl will – obwohl er Nein gesagt hat.

Vielleicht wäre es am besten, es ihr gar nicht erst zu sagen.

Kapitel 6

Alice

Ärger macht sich in mir breit, als ich Jasons SMS sehe. Er geht nicht viel aus – er ist ein häuslicher Typ, keiner, der stundenlang mit seinen Freunden im Pub sitzt oder mich fragen lässt, was er wohl macht, wo er bleibt. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn liebe. Er ist zuverlässig, ehrlich und freundlich – und mein bester Freund. Ich vertraue ihm bedingungslos.

Aber wenn jemand Jason in die Irre führen kann, dann ist es Carl – dafür gibt es genügend Beweise.

Es ist bereits fünf Uhr. Ich starre einen Moment lang auf die Nachricht. Draußen prasselt der Regen gegen das Fenster. Der Baum auf der anderen Straßenseite krümmt seine langen Finger zur Seite, als würde er nach jemandem greifen. Der einzige Ort, an dem ich heute Abend sein möchte, ist zu Hause vor dem Kamin und dem Fernseher. Mit Jason an meiner Seite.

Ich seufze und tippe: Okay. Ich werde versuchen, nicht das ganze Abendessen alleine aufzuessen. Bis später X

Ein dumpfer Schmerz macht sich in meiner Magengrube breit, wie eine böse Vorahnung. Obwohl ich versuche, mich wieder an die Arbeit zu machen, fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder dieselbe Seite lese, ohne etwas aufzunehmen. Vielleicht sollte ich für heute Schluss machen und nach Hause gehen. Aber trotz der Anziehungskraft des warmen Sofas bin ich unruhig. Wenn Jason zu spät kommt, sollte ich mich vielleicht auch verabreden.

Da kommt mir eine Idee. Ich schreibe eine SMS: Hi Dawn, hast du in einer halben Stunde Zeit für einen Besuch? Nur ich! X

Die Antwort kommt umgehend: Ja, natürlich! Ich setze den Kessel auf. X

Dawn und ich standen uns schon immer nahe. Obwohl sie praktisch meine Schwiegermutter ist, fühlt es sich nicht so an. Als Teenager ging ich ständig bei ihr ein und aus und blieb oft hängen, um mit ihr zu plaudern. Diese Gewohnheit blieb auch bestehen, als Jason und ich unser Haus um die Ecke kauften. Meine Eltern zogen nach Devon, als meine Schwester und ich vor ein paar Jahren von zu Hause weggingen, und die lange Fahrt dorthin bedeutet, dass ich Dawn öfter sehe als sie.

Ein mit Pfützen übersäter Seitenweg führt zur Hintertür. Ich schüttle meinen Regenschirm draußen aus, die Tropfen bespritzen meinen Mantel. Dawn lässt die Tür immer unverschlossen, wenn sie zu Hause ist. Dieser Teil Londons ist relativ sicher, mit seinen verschachtelten Straßen mit Häusern aus den siebziger Jahren, den grünen Parks und den vorstädtischen Reihen von unscheinbaren Geschäften – ein Mini-Supermarkt, ein Friseur, eine Apotheke, manchmal ein kleines Café. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein, die Immobilienhaie haben die Reize des Viertels noch nicht erkannt: die Nähe zum Stadtzentrum, die ruhige Lage. Die Einheimischen mögen es so und blockieren alle Versuche, das Gebiet zu modernisieren.

Dawn arbeitet halbtags in der örtlichen Bibliothek, in der ich als Kind am liebsten saß und las. Auch dort hat sich nicht viel verändert, abgesehen von den neuen Bildschirmen und moderneren Spielsachen im Kinderbereich. Ich gehe immer noch manchmal dorthin, wenn ich mal einen ruhigen Moment brauche.

„Dawn, ich bin da!“ Ich lehne meinen Regenschirm in die Ecke neben der Hintertür und ziehe meinen feuchten Mantel aus. „Wo bist du?“

Sie erscheint an der Küchentür, ihre Füße stecken in lautlosen Pumps mit Gummisohlen. Sie ist eine kleine Frau Mitte fünfzig mit schulterlangem blondem Haar, das oft zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt ist. „Hallo, Alice – du hast mich überrascht. Ich habe gar nichts gehört. Das muss der Wind sein.“

„Es ist scheußlich da draußen.“ Ich ziehe die vor Nässe dunklen Schuhe aus. Meine Füße fühlen sich feucht an, die Socken kleben an meinen Zehen.

„Komm ins Wohnzimmer, da ist es wärmer. Ich habe das Feuer angemacht. Der Tee steht schon auf dem Tisch.“

„Fabelhaft – du rettest mir das Leben.“

„Ist Jason noch bei der Arbeit?“ Dawn gießt den Tee aus einer Kanne in große Tassen.

„Jetzt gerade ja, ich denke schon. Er geht später noch etwas trinken.“

„Mit Arbeitskollegen?“ Dawn lässt sich mit einer Tasse Tee in der Hand in einen Sessel zurückfallen.

Ich zögere einen Moment. „Mit Carl.“

Ich beobachte Dawns Gesichtsausdruck, als sie ihre Tasse vorsichtig auf einen Beistelltisch neben sich stellt. Obwohl sie schwer zu lesen ist, dauert die Bewegung doch ein wenig zu lange.

„Carl? Von dem habe ich ja schon lange nichts mehr gehört. Wo ist er die letzten Jahre gewesen?“

Ich zucke mit den Schultern. „Er hat sich jedenfalls nicht verändert. Er beschwert sich nie, erklärt nichts. Ich habe keine Ahnung, wo er gewesen ist. Es interessiert mich auch nicht.“

„Du bist also immer noch kein Fan?“

„Nein, das bin ich nicht. Er taucht gestern Abend pünktlich zur Schlafenszeit auf, derselbe alte Carl und – rate mal – bleibt die ganze Nacht. Jason kann ihn schließlich nicht einfach in den Sturm hinausschicken, oder? Jason ist also spät ins Bett gegangen und heute Morgen hundemüde, und Carl ist putzmunter und will sich schön bei uns ausruhen.“

„Ich verstehe.“

„Ich weiß, ich bin nicht sehr großzügig, wenn es um Carl geht, aber ich kann nicht anders. Derselbe alte überfreundliche, absolut unzuverlässige Carl. Ich verstehe nicht, warum jemand auf ihn hereinfällt. Er hat noch nie etwas für Jason getan – außer ihn in Schwierigkeiten zu bringen.“

„Ich weiß, was du meinst“, sagt Dawn. „Aber sie waren gut füreinander, als sie klein waren.“

„Sie waren beide Einzelkinder, nicht wahr? Das muss sie zusammengeführt haben.“

„In der Tat. Es war schön für Jason, ein anderes Kind zum Spielen zu haben, als er klein war. Aber die Dinge haben sich ein wenig verändert, als sie Teenager waren. In diesem Alter muss man sie ihre eigenen Wege gehen lassen, man darf sie nicht zu sehr einschränken. Sie kamen sich näher, und Jason schaute zu Carl auf. Ich nehme an, er war älter, selbstbewusster...“

„Ich wette, Carl hatte in seinem Leben noch nie ein Problem mit seinem Selbstvertrauen“, sage ich.

„Er war sicherlich ein cleverer Junge. Jason fand ihn jedenfalls aufregend.“ Dawn hält inne. „Und ich muss sagen, ich hatte nichts gegen Carl – ich mochte ihn sogar. Er war immer freundlich und höflich, fragte, wie es mir geht, bot seine Hilfe an, wenn er zum Tee kam. Aber ich habe mir immer Sorgen über seinen Einfluss auf Jason gemacht.“

„Das überrascht mich nicht – das hätte ich auch.“

„Er war ein Junge mit zwei Seiten, soviel ist sicher. Auf der einen Seite war er charmant, auf der anderen Seite hatte er diese wilde, abenteuerliche Ader.“

„Ich erinnere mich gut daran. Was er alles angestellt hat! Und Jason wurde so oft mit reingezogen und hat es hinterher immer bereut.“

Dawn seufzt. „In der Tat. Und irgendwann gingen die Abenteuer einfach ein bisschen zu weit.“

„Mir scheint, Carl ist immer ein bisschen zu weit gegangen.“ Aber ich bin neugierig. Vielleicht ist etwas passiert, das die Verbindung zwischen den beiden Männern erklären würde. „Gab es einen bestimmten Vorfall?“

Sie zögert. „Einmal ist einer von Carls dummen Streichen schiefgegangen – sehr schief –, und Jason hat es ausbaden müssen. Aber er wollte nie ein böses Wort gegen Carl hören. Sie waren weiterhin gute Freunde, als ob nichts passiert wäre.“

Ich nicke. Aber ich habe den deutlichen Eindruck, dass mehr hinter dem Vorfall steckt, als sie mir erzählen möchte.

Kapitel 7

Alice

Ein paar Tage lang hören wir nichts von Carl, und ich hoffe insgeheim, dass er wieder weg ist. Aber heute Abend, als wir zusammen im Wohnzimmer sitzen und im Hintergrund Musik läuft, ist Jason ungewöhnlich ruhig und nachdenklich. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass Carl etwas damit zu tun hat. Nachdem Jason mich das dritte oder vierte Mal nicht zu hören scheint, beschließe ich, es herauszufinden.

„Du scheinst abgelenkt zu sein. Beunruhigt dich etwas?“

„Was? Ach, nichts. Nein, nichts. Ich bin nur ein bisschen ... müde, nehme ich an.“ Ich merke, dass er sich nicht konzentrieren kann. Er zappelt schon seit einer halben Stunde herum. Er nimmt sein Handy in die Hand, starrt es einen Moment lang an und lässt es dann neben sich auf das Sofa fallen.

„Hast du nochmal von Carl gehört?“ Ich versuche, die Frage unschuldig klingen zu lassen, und scheitere. Meine Stimme klingt selbst für mich falsch.

Er legt das iPad weg, ein Schatten fällt auf sein Gesicht. Ich kann ihn nicht lesen, und das macht mir Sorgen.

„Ein, zwei Nachrichten“, sagt er. „Er fragt mich dauernd, ob ich mit ihm etwas trinken gehen will, aber das ist nicht mein Ding. Jeden Abend in die Kneipe – aus dem Alter bin ich raus.“

„Er ist also noch da?“ Ich weiß, ich dränge ihn, aber ich muss es wissen. „Wohnt er bei seiner Mutter?“

„Ja, ich glaube schon.“

„Glaubst du es oder weißt du es?“ Mein Herz macht einen warnenden Satz.

Das ist so typisch Carl. Er kommt in die Quere, verwirrt die Leute. In der einen Minute ist er der beste Freund, großzügig und amüsant, in der nächsten geht alles schief. Wenn er da ist, ist nichts normal.

Ich bin überrascht, als Jason aufsteht und zur Tür schreitet.

„Natürlich ist er immer noch da, sonst würde er mich ja nicht auf einen Drink einladen, oder?“

„Aber ...“

„Nichts aber. Ich gehe joggen.“

Ich lasse die Schultern hängen, aber ich halte mich zurück.

Wenige Augenblicke später höre ich seine Füße auf der Treppe.

„Bis später“, ruft er. Die Haustür öffnet und schließt sich wieder.

Ich bleibe einen oder zwei Augenblicke sitzen und bin unglücklich darüber, dass wir es so belassen haben. Das fühlt sich nicht richtig an. Es gibt etwas, das ich nicht weiß, etwas, das zwischen Jason und Carl vor sich geht. Es beunruhigt Jason, und ich muss es wissen.

Mein Blick fällt auf sein Handy. Es ist gegen meine Prinzipien, aber die Angst zwingt mich, es in die Hand zu nehmen, den Code einzugeben und einen Blick darauf zu werfen. Ich erinnere mich daran, dass ich wütend wäre, wenn Jason meine Nachrichten abrufen würde – aber ich zögere trotzdem nur einen Moment.

Komm schon, Jason, du musst mir helfen. C

Jason antwortet: Ich hab dir doch gesagt, ich kann nicht. Es gibt kein Geld.

Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht läuft. Er versucht also, Geld von Jason zu bekommen, und das ist es, was ihn stört. Irgendwie tröstet mich die Tatsache nicht, dass Jason sich weigert.

Wir müssen uns treffen. Du schuldest mir was. Diese SMS kam an, kurz bevor Jason zu seinem Lauf aufgebrochen ist. Es gibt keine Antwort. Was schuldet Jason ihm? Für mich klingt das wie eine Drohung, und ich habe ein mieses Gefühl dabei.

Als Jason nach fast einer Stunde zurückkommt, tropft ihm der Schweiß vom Gesicht, und er steckt den Kopf zur Tür herein. Ich sitze in meinem üblichen Sessel mit einem Buch. Sein Handy liegt auf dem Sofa, wo er es liegen gelassen hat.

„Es tut mir leid, Alice.“

„Was tut dir leid?“

„Die Sache mit Carl. Du hast recht, er ist immer noch da, und er beansprucht viel zu viel von meiner Energie. Wie immer.“

Ich schlucke. „Was will er von dir, Jason? Ich weiß, dass da etwas ist.“

Er seufzt und wischt sich den Schweiß mit einem Handtuch ab. „Du wirst nicht überrascht sein. Er will Geld.“

„Bitte gib ihm nichts.“

„Keine Sorge – ich habe ihm gesagt, dass wir kein Geld haben, und ich habe nicht die Absicht, ihm etwas zu leihen, glaub mir. Aber er besteht darauf, dass ich die einzige Person bin, die ihm helfen kann.“

Ich unterdrücke ein spöttisches Schnauben. „Natürlich tut er das! Ich wette, das sagt er zu jedem, den er kennt, wenn er etwas will. Er manipuliert dich, nutzt deine gutmütige Art aus. Du bist ein anständiger Kerl mit einem großen Herzen, und du willst ihm helfen. Du musst eine klare Ansage machen, sonst lässt er dich nie in Ruhe.“

„Ich habe ihm bereits gesagt, dass ich ihm nicht helfen kann – und zwar in aller Deutlichkeit.“

„Hoffen wir, dass er dir glaubt, obwohl ich nicht darauf wetten würde. Wozu braucht er das Geld überhaupt?“

„Er sagt, er müsse ein Darlehen zurückzahlen, aber ich weiß nicht, an wen. Oder wofür es war. Ich weiß nicht einmal, wie viel er braucht.“

Jason fährt sich mit den Händen durch sein schweißnasses Haar. Ich sehe in seinen Augen, dass in seinem Kopf ein Kampf stattfindet. „Aber?“

„Er scheint verzweifelt zu sein, Alice. Er ist immer noch ein Freund, und ich würde ihm gerne helfen.“

Aus Erleichterung wird wieder Besorgnis. „Aber wie kannst du das tun?“