Das perfekte Leben - Susanna Beard - E-Book + Hörbuch
NEUHEIT

Das perfekte Leben E-Book und Hörbuch

Susanna Beard

3,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
  • Herausgeber: Jentas
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Heather hat Glück gehabt. Sie hat ein schönes Haus, eine glückliche Ehe mit James Jessop, zwei Söhne, Ben und Harry – und sie hat gerade im Lotto gewonnen. 29 Millionen Pfund!   Natalie hat nie richtig mithalten können, aber sie ist endlich in einer Beziehung, mit Nick. Sie ist mit Heather befreundet, seit sie in der Schule gemobbt wurden. Aber wird Heathers neue Glück ihre Freundschaft verändern?   Das komfortable Leben der Jessops löst sich im Chaos auf. Heather erhält plötzlich anonyme, hasserfüllte Nachrichten. Sie bittet Natalie, mit ihr nach Spanien zu entfliehen, zusammen mit einigen anderen engen Freunden. Doch abseits des Rampenlichts in London wird es immer schlimmer. Dann geschieht das Undenkbare, und Heather erkennt, dass sie niemandem vertrauen kann.   Nicht einmal ihrer besten Freundin. Nichts wird je wieder so sein wie zuvor.   Die von den Medien gefeierte Autorin Susanna Beard hat mit dieser bedrohlichen, spannenden Geschichte über Eifersucht und Misstrauen die Grenzen des psychologischen Thrillers neu abgesteckt.   __   "Eine intensive Spannung, die sich immer weiter aufbaut, bis zu einem elektrisierenden Ende." Kirsten Hesketh   "Wortgewandt und fesselnd – eine beeindruckende Leistung." Shelley Weiner   "Susannas gefühlvoller und zum Nachdenken anregender Roman hat mir gut gefallen – ein mitreißender Thriller." Sam Carrington   "Wortgewandt und fesselnd – eine beeindruckende Leistung." Shelley Weiner   "Ein Psychologischer Thriller, der Sie auf Trab hält." Goodreads–Rezension   ---   Die Thriller-Autorin Susanna ist fasziniert von menschlichen Beziehungen. Überall, wo sie hinkommt, beobachtet sie Menschen und findet Material für ihre Texte. Trotz ihres Lebens als Schriftstellerin hat sie eine abenteuerliche Ader und ist in Australien mit Walhaien geschwommen, in den französischen Alpen in eine Gletscherspalte gestürzt und durch die Kanalisation von Brighton gelaufen – allerdings nicht in dieser Reihenfolge.

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Seitenzahl: 441

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Zeit:10 Std. 1 min

Sprecher:Ute Piasetzki
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Das perfekte leben

Das perfekte Leben

© Susanna Beard 2020

© Deutsch: Jentas A/S 2024

Titel: Das perfekte Leben

Originaltitel: The Perfect Life

Übersetzung: Marietta Winkler von Mohrenfels, © Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2044-5

Published by arrangement with Joffe Books Ltd. and Lorella Belli Literary Agency Limited

---

Für Caroline

DANKSAGUNG

Ein herzliches Dankeschön an Caroline und Tim Plumptre, die mir die wunderschöne Stadt Zahara de los Atunes in Südspanien nahegebracht haben. Ich bin so dankbar für eure Gastfreundschaft – und eure unendliche Geduld angesichts all meiner Fragen.

An alle Leser meiner Werke im Entstehungsprozess, insbesondere Judy Jones, die einen Blick dafür hat, was nötig ist, um meine Bücher zu verbessern, und die Geduld, mehrere Entwürfe zu lesen.

Ich bin Sophie Hannah und ihrem fantastischen Dream-Author-Programm sehr dankbar, das mich dazu inspiriert hat, das Buch so gut wie irgend möglich zu schreiben.

Vielen Dank an meinen Verleger Jasper Joffe, dass er mein Buch angenommen hat, und an Emma Grundy Haigh, Commissioning and Managing Editor bei Joffe Books, für ihren ermutigenden Enthusiasmus und ihre Unterstützung meiner Bücher. Vielen Dank auch an alle anderen Mitarbeiter von Joffe, die an dieser Geschichte mitgearbeitet haben.

Und an alle meine Leser: Danke fürs Lesen!

KAPITEL EINS

Heather

Sie weiß sofort, dass etwas im Busch ist, als sie den Ton hört, der eine eintreffende SMS ankündigt. Er hat eine ganz neue Schärfe: eindringlich, metallisch, wie ein Warnsignal. Sie spürt seine Energie, sein Klang aus zwei Einzeltönen schwebt in der Luft und fordert Aufmerksamkeit.

Sie trocknet sich die vom Spülen nassen Hände ab und geht quer durch den Raum zur Arbeitsplatte, auf der ihr Handy liegt. Sie starrt einen Moment lang auf das Display und versucht, das Gefühl von Schwere in ihrem Bauch zu ignorieren.

Hallo Heather, wir haben am Samstagabend ein paar Leute zum Essen eingeladen – habt ihr Lust, dazuzukommen? Nichts Formelles, nur ein entspannter Abend. Ab 20:00 Uhr. Wir würden uns freuen, euch zu sehen! Victoria und Andrew x

Sie holt sich einen Stuhl vom Küchentisch, auf dem noch die Reste des Familienfrühstücks verstreut sind, lässt sich darauf nieder und starrt auf das Display. Es klingt harmlos. In jeder Hinsicht eine positive Botschaft, unschuldig und freundlich. Aber ihr Magen krampft sich trotzdem zusammen.

Das Misstrauen, ihr neuer bester Freund, hebt warnend den Finger und zwinkert ihr wissend zu.

Ihr kommt nur eine Victoria in den Sinn. Diese Frau, die nie Vicky, sondern immer Victoria heißt, ist die Mutter von Alex, einem Freund ihres älteren Sohnes Ben, der schon oft in ihrem Haus war, um sich in der dunklen, geheimnisvollen Zelle aufzuhalten, die Ben Schlafzimmer nennt. Der Ehemann von Victoria heißt Andrew. Niemals Andy.

Sie wohnen im schicken Stadtteil Hammersmith, wo sich kleine Restaurants und Delikatessenläden Tür an Tür befinden. Ein friedlicher Zufluchtsort, nicht weit von der Hektik ihrer eigenen Straße entfernt, eingezwängt zwischen Shepherd‘s Bush Green und White City. Sie haben sich nur ein- oder zweimal am Rande des Fußballplatzes der Schule getroffen.

Sie erinnert sich, wie sie neben Victoria im Regen stand. Ihre Regenschirme berührten sich, während sie Smalltalk machten und so taten, als würden sie sich amüsieren. Die Frau hatte genau das Richtige an: Lederreitstiefel, einen langen Regenmantel, einen schicken Hut und den größten Regenschirm, den Heather je gesehen hatte. Heather hingegen war vollkommen falsch gekleidet: Ihre Schuhe waren undicht, ihr Mantel hatte keine Kapuze, ihr Regenschirm war ein Fünf-Pfund-Schnäppchen und ließ sich nicht richtig aufspannen. Neben dieser Frau mit ihrem makellosen Make-up und dem dicken, dunklen Pferdeschwanz fühlte sie sich plump und unbeholfen, wie ein Landei neben einer Mode-Ikone.

Auch ihre sozialen Fähigkeiten waren der Situation definitiv nicht gewachsen. Victoria, die feststellte, wie nah ihrer beider Wohnungen beieinander lagen, hatte gefragt, ob Heather und James schon in dem neuen schicken Restaurant am Ende ihrer Straße gewesen waren. Das waren sie nicht, und es war auch offensichtlich, dass Heather noch nie davon gehört hatte. Victorias Augenbraue zuckte ein wenig nach oben. Heather fühlte sich gedemütigt und brachte für den Rest des Tages kein Wort mehr heraus.

Aber das war schon vor Monaten. Vorher.

Sie lässt das Misstrauen zu. In ihrer Situation ist es durchaus klug, vorsichtig zu sein.

Sie liest die Nachricht noch einmal und versucht, sich an den Nachnamen der Frau zu erinnern. Doch weder kann sie sich an ihn erinnern noch daran, ob sie ihn jemals gekannt hat. Außerdem, und das ist noch viel wichtiger, haben nur Heathers engster Freundeskreis und ihre nächsten Verwandten ihre Handynummer.

Die Schule hätte sie sicher nicht herausgegeben. Vielleicht hat Victoria ja ihren Sohn gebeten, sie sich von Ben geben zu lassen, aber auch das wäre ein seltsames Vorgehen. Ein großer Aufwand, um eine Frau zu erreichen, mit der sie einmal im Regen gesprochen hat. Es war nicht einmal ein gutes Gespräch gewesen.

Sie wird James nicht wegen etwas so Trivialem stören. Sie tippt eine unverbindliche Nachricht ein, so neutral es ihr möglich ist: Ich danke Ihnen für die freundliche Einladung. Ich werde heute Abend mit James sprechen und Ihnen Bescheid geben. H. Sie zögert mit der Unterschrift. Die Frau hat sogar einen Kuss geschickt – nun, sie denkt gar nicht daran, einen zurückzuschicken. Sie kennt sie schließlich kaum.

Seufzend schaltet sie das Telefon auf lautlos.

* * *

Sie wandert ziellos in der Küche umher und überlegt, ob sie etwas essen soll. Aber sie ist eigentlich nicht hungrig, und sie könnte das genauso gut nutzen und sich die Kalorien für später sparen.

Ihr Laptop ist immer noch aufgeklappt, als würde er auf Anweisungen warten. Sie spürt, wie sich die Muskeln in ihrem Kiefer anspannen, als sie auf den Link zu Facebook klickt. Sie zuckt zusammen und starrt überrascht auf den Bildschirm. Vierzehn Freundschaftsanfragen.

Heather ist kein großer Fan von Facebook oder anderen sozialen Medien. Zunächst einmal hasst sie es, über sich selbst zu sprechen, und kann sich nicht vorstellen, warum sich jemand für ihre Ferien oder ihr gestriges Abendessen interessieren sollte. Der einzige Grund, warum sie sich überhaupt damit abgibt, ist eine örtliche An- und Verkaufsgruppe, die sehr nützlich sein kann, um alte Spielsachen und Geräte loszuwerden. Seit die Jungs klein waren, fühlt sie sich wie in einer endlosen Tretmühle: Kindersachen kaufen, verkaufen, kaufen und wieder verkaufen. Manchmal fragt sie sich, wie viel Geld sie im Laufe der Jahre für ihre Kinder ausgegeben haben. Es muss ein kleines Vermögen sein.

Um der Gruppe beizutreten, musste sie ein Profil erstellen, was sie auch getan hat. Ihre wenigen Freundinnen und einige Mütter aus der Grundschule hatten sich mit ihr vernetzt, sodass sie insgesamt etwa vierzehn Kontakte hatte.

Sie hat sich noch nie eingehend mit Facebook befasst und schreckt schon vor dem Gedanken daran zurück. Obwohl sie weiß, dass es darum geht, sich in den sozialen Medien zu präsentieren, um zu sehen und gesehen zu werden, fühlt es sich irgendwie falsch an, Fremde zu beobachten, zu sehen, was sie in ihrer Freizeit tun, ihren Gesprächen zu folgen. Aber das hier ist wichtig. Sie muss herausfinden, was da los ist.

Sie überprüft die Profile der Leute, die ihre „Freunde“ sein wollen. Ein Soldat des US-Militärs, der in Connecticut stationiert ist – wie bitte? Sie lehnt die Anfrage ab. Ein gutaussehender Mann namens Jake, dessen einzige Information eine Reihe von Fotos von ihm selbst ist: Er zeigt sein Sixpack, auf einer Yacht in Shorts und T-Shirt, dann in Radfahrerkleidung, seine Sonnenbrille reflektiert eine Berglandschaft. Er sieht wie etwa fünfunddreißig aus. Ernsthaft? Dann eine ominöse Anfrage von einer Jennifer Carter, ein Name, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Heather sieht sich das Foto an, erkennt die Frau aber nicht und scrollt dann weiter nach unten. Als Heimatort der Frau ist Cheltenham angegeben, und sie war auf demselben Gymnasium wie Heather.

Sie klickt auf „Ignorieren“ und geht weiter, wobei ihr Unbehagen von Minute zu Minute wächst. Es gibt drei weitere Anfragen von Frauen, mit denen sie in Cheltenham zur Schule gegangen ist, von denen ihr aber keine bekannt erscheint. Der Rest sind Leute, von denen sie noch nie etwas gehört hat, aber sie leben in London, und den Fotos nach zu urteilen haben sie Kinder im gleichen Alter wie sie. Auf einem dieser Profile sieht sie die Bilder ihrer Freunde und findet eine Person, mit der sie eine Freundin gemeinsam hat. Victoria Ainsworth. Tadelloses Make-up, dichtes, dunkles Haar, das üppig über eine Schulter fällt, strahlendes Lächeln. Dieselbe Victoria, die sie für Samstag zum Essen eingeladen hat.

* * *

Zur Mittagszeit ist es noch viel schlimmer. Mehr als fünfzig Fremde versuchen, mit ihr in Kontakt zu treten, und sie erkennt keinen einzigen von ihnen. Sie lehnt sie alle ab und überlegt einen Moment, ob sie ihr Profil löschen soll. Aber wenn sie das tut, woher weiß sie dann, wann es aufhört? Falls es aufhört. Das Gefühl der Panik in ihrem Magen sagt ihr, dass sie etwas tun muss.

Hat Ben etwas zu Alex gesagt? Irgendjemand muss etwas wissen – und teilt es anderen mit.

Sie sollte Graham Fuller anrufen – er wird wissen, was zu tun ist. Graham ist der Berater von der Lotteriegesellschaft, der sie von Anfang an unterstützt hat. Aber als sie ihr Handy in die Hand nimmt, lässt sie es fast fallen, als sie das Display sieht. Massen von Nachrichten. Als sie das Handy entsperrt, starrt sie entsetzt auf die Anzahl der verpassten SMS und Anrufe. An einem normalen Tag bekommt sie vielleicht ein oder zwei. Sie gehört keinem großen sozialen Kreis an; da sind nur Natalie, ihre Nachbarn Charlotte und Miles, ein Buchclub und ein Sportkurs mit Gruppen auf WhatsApp. In der Schule gibt es nur ein oder zwei Mütter, die sie als Freundinnen bezeichnen würde.

Sie wirft einen Blick auf die ersten paar Nachrichten. Eine bietet ihr eine Investition in Ferienimmobilien weltweit an – „noch in der Entwicklung“ und in „höchstmöglicher Qualität“ fertiggestellt. Andere sind Werbung für „Die Saison“: Wimbledon, Ascot, Henley Regatta und weitere. Sie hat nie auch nur das geringste Interesse daran gezeigt, eines dieser Ereignisse zu besuchen. Sie scrollt nach unten, löscht schnell die Nachrichten, und ihre Finger beginnen zu zittern.

In der letzten, die sie anschaut, bevor sie ihr Handy quer durch den Raum wirft, steht: Reiche Schlampe. Hältst dich wohl für was Besonderes.

KAPITEL ZWEI

Heather

Sie denkt noch darüber nach, als die Haustür zuschlägt.

Das muss einer der Jungs sein.

Das Geräusch von eilig ausgezogenen Schuhen, dann ein Stampfen auf der Treppe.

„Wer ist da?“, ruft sie. Sie weiß, was passiert, wenn sie nicht fragt. Der Eindringling wird weiter in sein Zimmer gehen und die Tür schließen, ohne auch nur ein „Hallo“ in ihre Richtung zu sagen. Das dumpfe Dröhnen der Bassgitarre wird weitere Kommunikationsversuche ihrerseits verhindern.

„Ich bin‘s.“

Ben. Seine Stimme ist tiefer als die seines jüngeren Bruders, rau und monoton. Sie geht in den Flur und schaut die Treppe hinauf, sieht gerade noch seine Füße nach oben verschwinden.

„Hallo, du. Guten Tag gehabt?“, fragt sie, und die Füße halten inne.

„Prima. Hast du meine Fußballschuhe irgendwo gesehen?“ Bens Gesicht erscheint, kopfüber, sein dichtes Haar streicht über das Geländer, als er den Hals reckt, um sie anzusehen.

„Nein. Bitte sag nicht, dass du sie verloren hast.“ Wenn doch, wäre es das zweite Mal innerhalb eines Monats.

„Weiß nicht. Vielleicht sind sie im Fundbüro.“

„Versprich mir, dass du morgen nachsiehst. Hast du am Samstag nicht ein Spiel?“

„Wahrscheinlich.“ Sein Kopf verschwindet, dann seine Füße, und sie kann hören, wie seine Zimmertür zuschlägt, wie sein Rucksack auf den Boden knallt.

Vorbei sind die Zeiten, in denen sie die Jungs von der Schule abholte und sie auf dem Heimweg miteinander plauderten. Sie vermisst diese Nähe – ganz zu schweigen von den weichen Händen in ihren Händen, dem Kuscheln auf dem Sofa vor dem Schlafengehen und den Geschichten, während sie dicht aneinander geschmiegt saßen.

Sie werden älter, und sie verliert sie.

Das Kratzen eines Schlüssels im Schloss unterbricht ihre Gedanken, die Haustür schwingt auf und gibt den Blick auf einen zweiten Jungen frei.

„Hi, Mum“, sagt Harry, wirft seinen Rucksack auf den Boden und zieht seine abgewetzten Schuhe aus, mitten im Flur. „Gibt‘s was zu essen? Ich bin am Verhungern.“

Sie schiebt die Schuhe mit dem Fuß zur Seite. Es ist schwer, mit diesen Jungs mitzuhalten – geschweige denn mit James. Sie scheinen immer nur zu essen, und sie ist ständig am Einkaufen, Kochen und Aufräumen.

„Es gibt reichlich Obst, Harry“, sagt sie zu seinem Hinterkopf, während dieser in Richtung Küche verschwindet. „Wie immer.“

„Ich meine richtiges Essen.“ Seine Stimme ist gedämpft und sie weiß, dass er in den Kühlschrank starrt. Sie folgt ihm in die Küche. „Gibt es Schweinefleischpasteten? Würstchen? Pizzareste von gestern Abend?“

„Nein, Liebling, du hast alles aufgegessen. Ich habe gerade erst eingekauft, aber ich schätze, ich muss noch einmal losgehen.“

Sein rundes Gesicht erscheint hinter der Kühlschranktür, als er sie zuschlägt. Sie bestaunt wieder einmal das Blau seiner Augen, seine langen Wimpern.

„Kannst du dann bitte jetzt gehen? Ich halte nicht bis zum Abendessen durch.“ Er runzelt die Stirn und zieht eine Schranktür auf, in der normalerweise die Kekse aufbewahrt werden. „Die nehme ich mit in mein Zimmer, okay?“ Er schnappt sich eine Packung Schokoladenkekse und ist weg, bevor sie antworten kann, während das vertraute Geräusch seiner Füße auf der Treppe durch das Haus hallt.

„Natürlich kannst du das, Liebling, und vielen Dank, dass du mir angeboten hast, für mich in den Laden zu gehen, das ist so lieb von dir“, sagt sie laut in den leeren Raum, ihre Stimme ein flötender Singsang. „Ich liebe euch auch, Jungs ...“

Manchmal fragt sie sich, ob sie überhaupt bemerken, dass sie da ist.

* * *

Als James nach Hause kommt, ist sie schon halb mit dem Kochen des Abendessens fertig und hört Radio, während sie in einem blubbernden Kochtopf auf dem Herd rührt. Die Waschmaschine surrt, während sie einen weiteren Waschgang beendet, voll mit Fußballsachen, stinkenden Jungensocken und Unterwäsche, und von oben dröhnt der regelmäßige Beat von Rap-Musik mit dem Radio in der Küche um die Wette.

Im Radio wird eine Frau über ihren Beruf als Unternehmensjuristin interviewt. Heather ist vollkommen fasziniert davon, wie diese Frau einen komplexen Fall und ihren Umgang damit beschreibt. Es scheint so interessant, so intellektuell herausfordernd und so weit von dem entfernt zu sein, was Heather selbst aus ihrem Leben macht, dass sie genauso gut einem Marsmenschen zuhören könnte, der seinen Tagesablauf beschreibt. Sie sehnt sich danach, diese Frau zu sein, mit ihren eleganten Kleidern, dem Respekt, den sie bei ihren Kunden und Kollegen genießt, einem schönen, makellosen Haus, einem schnittigen Sportwagen und zweifellos einer Haushälterin. Ihre Stimme ist gedämpft und sexy, aber dennoch gebieterisch – und äußerst selbstbewusst. Heather sieht sie geradezu vor sich: Sie ist sicher schlank, schön, mit gepflegtem, geföhntem Haar und manikürten Nägeln. Ihre Haut leuchtet, ihre Augen sind intelligent und nehmen alles wahr.

Heather ist so vertieft in das Programm, dass sie nicht bemerkt, wie James den Raum betritt. Als er urplötzlich neben ihr auftaucht, erschrickt sie so sehr, dass der Löffel, mit dem sie gerade rührt, nach oben schnellt und die Tomatensoße wie ein künstlerischer Schnörkel über die Vorderseite ihres Hemdes spritzt.

„James, so was darfst du nicht machen! Du hast mich zu Tode erschreckt! O Scheiße, sieh dir nur an, wie ich aussehe ...“ Sie schnappt sich ein Geschirrtuch, macht es am Waschbecken nass und beginnt, die Flecken auf ihrem Hemd zu entfernen.

„Tut mir leid“, sagt James und starrt in den Kühlschrank, wie sein Sohn nur wenige Minuten zuvor. „Haben wir noch Wein?“

„Wenn da drin keiner mehr ist, dann steht welcher im Schrank unter der Treppe. Ich muss mich jetzt umziehen. Und noch kurz in den Laden gehen. Ich gehe gleich, sobald das Abendessen im Ofen ist.“ Sie versucht, die Schärfe in ihrer Stimme zu verbergen.

„Ich spüre eine gewisse Spannung in der Luft.“ James kennt sie so gut. „Hat dich irgendetwas aufgebracht?“

Sie hört auf, an ihrem Hemd herumzurubbeln, das feucht auf ihrer Haut klebt, und der hartnäckige Fleck ist immer noch zu sehen. „Oh nein – jetzt habe ich es noch schlimmer gemacht.“ Sie wendet sich James zu und hält den Stoff von ihrem Bauch weg. „Ich befürchte, die Katze ist aus dem Sack.“

James schließt die Kühlschranktür und sieht sie mit seinen aufrichtigen grauen Augen an. „Wirklich? Wie kommst du denn darauf?“

„Wir haben eine Einladung zum Abendessen von Alex‘ Eltern erhalten. Du erinnerst dich – Victoria und Andrew?“

„Und deshalb glaubst du, dass die Neuigkeit schon bekannt ist? Mir ist klar, dass wir sie kaum kennen, aber vielleicht wollen sie nur freundlich sein ...“

„Es ist nicht nur deshalb. Ich habe eine Menge SMS und verpasste Anrufe erhalten. Mein Telefon war auf lautlos gestellt, also habe ich keine Nachricht beantwortet, und ich traue mich auch jetzt kaum nachzusehen.“

James legt seine Hände auf ihre Schultern. „Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen. Wie auch immer, ich habe nachgedacht. Wir können nicht einfach so tun, als ob es nicht passiert wäre, nicht einmal für ein paar Tage. Wir müssen uns verdammt schnell entscheiden, was wir damit machen wollen, stimmt‘s? Wenn wir uns entschieden haben, wirst du dich sicher besser fühlen.“

„Ich schätze schon.“ Sie schaut auf ihr ruiniertes Hemd hinunter. Der Stoff ist alt und abgenutzt, an der Schulter ist eine Naht aufgegangen und die Bündchen sind ausgefranst. Sie sollte sich ein neues besorgen. Da fällt ihr ein, dass sie sich ein neues, ein wirklich schönes kaufen kann, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob sie es sich leisten kann. Dennoch ist sie sich ziemlich sicher, dass sie sich Gedanken machen wird. Es wird eine Weile dauern, bis sie ihre langjährige Gewohnheit ablegt, Geld zu sparen, wo immer sie kann.

„Hör mal“, sagt James. „Lass uns doch tun, was sie vorschlagen, und Urlaub nehmen, um darüber nachzudenken. Ich dachte an Mauritius oder St. Lucia, irgendwo in der Gegend.“

Darüber kann sie jetzt nicht nachdenken, es ist zu viel. „Können wir beim Abendessen darüber reden? Ich muss jetzt in den Laden gehen.“

Sie stapft die Treppe hinauf, zieht ihr Hemd aus und wirft es in den Mülleimer. Das Fleece-Shirt von gestern muss reichen. Es ist nicht sauber, aber sie geht ja nur zum Laden um die Ecke. Sie wirft einen Blick in den Spiegel an der Innenseite der Schranktür und versucht ihr Haar zu glätten. Die Frau im Spiegel hat ernste braune Augen und einen Schopf gewellten braunen Haares mit silbernen Strähnchen an den Schläfen. Ihr Gesicht ist nackt, kein Make-up verdeckt die dunklen Schatten unter ihren Augen oder hebt die Farbe ihrer Wangen hervor. Sie ist groß und kräftig gebaut, und um ihre Taille ist eine Speckrolle zu sehen, die selbst das unförmige Oberteil nicht verbergen kann. Ihre Beine sind lang, aber ihre Knie neigen dazu, sich zueinander zu drehen. Eine Erinnerung blitzt in ihrem Kopf auf. Schulmädchen können bösartig sein, und harte Worte können ganz sicher verletzen.

Sie wirft ihrem Spiegelbild einen wütenden Blick zu und lässt es dann durch Schließen der Schranktür verschwinden. Sie muss das Abendessen in den Ofen schieben. Wenn sie jetzt geht, kann sie zurück sein, bevor es fertig ist.

* * *

Sie sagt in wohlgesetztem Tonfall, den Blick auf Ben gerichtet: „Alex‘ Eltern haben uns für Samstag zum Abendessen eingeladen.“

Ben schaut erschrocken auf. Sie beobachtet, wie sein Blick wieder auf seinen Teller fällt. Er rutscht unbeholfen auf seinem Stuhl herum. „Wir alle oder nur ihr?“, fragt er. Das ist eine berechtigte Frage. Alex ist sein Freund, und er war schon oft bei ihm zu Hause.

„Nur wir Eltern, glaube ich. Ich habe heute Nachmittag eine SMS bekommen.“

James steht auf und streckt den Rücken. „Was hast du ihnen gesagt?“

„Ich sagte, ich würde dich fragen und mich bei ihr melden. Willst du hingehen?“

„Grundgütiger. Ein Haufen hochnäsiger, angeberischer Leute, die wir nicht kennen. Sie wetteifern miteinander um das größte Haus und den teuersten Urlaub. Lieber würde ich mir die Augen ausstechen.“

Sie lächelt. „Das ist also ein Nein, oder?“

„Und ob es das ist. Sag ihnen, dass ich am Samstagabend ein Bad nehme oder so. Erzähl ihnen irgendwas.“

Ben starrt seinen Vater an. „Das sind die Eltern von Alex, Dad. Du darfst nicht unhöflich sein. Und was ist, wenn Mum hingehen will?“

„Will ich nicht. Ich stimme mit Dad überein. Wir kennen sie gar nicht richtig, und ich bin mir nicht sicher, ob wir das ändern wollen.“

„Das ist nicht sehr freundlich“, sagt Ben. „Was ist, wenn sie euch kennenlernen möchten? Vielleicht wollen sie euch einfach nur integrieren, weißt du?“

James hat dazu nichts mehr zu sagen, sondern verlässt den Raum und geht in Richtung Wohnzimmer.

„Hört mal, Jungs“, sagt sie. „Ich will hier niemanden beschuldigen oder unfaire Vermutungen anstellen, aber ihr habt doch zu niemandem etwas gesagt, oder?“ Wieder blicken zwei Augenpaare, ein Paar dunkel umrandet und weit offen, das andere graublau und wachsam, sie an. Beide schütteln den Kopf.

„Nein.“

„Du hast gesagt, das sollen wir nicht.“

„Auch nicht in den sozialen Medien? Ihr habt auf keinen Fall etwas gesagt, das es verraten könnte?“ Zwei Augenpaare starren sie an, und wieder werden die Köpfe geschüttelt. Doch dieses Mal scheint Ben weniger sicher zu sein. Sein Blick geht zu seinem Bruder, bevor er wieder sie ansieht.

„Ben?“

„Mum, ich war das nicht, aber ...“

Harry fängt an, seine Sachen vom Tisch zu räumen, weil er spürt, dass die Situation gleich schwierig wird. „Mum, ich war das definitiv nicht. Kann ich bitte gehen?“

„Wenn du satt bist, dann ja. Räum so viel wie möglich ab.“

Sie warten schweigend, bis er den Raum verlassen hat. Ben sackt in seinem Stuhl zusammen, die langen Beine unter den Tisch gestreckt, und lässt den Kopf hängen.

„Nun?“

„Ich habe nur gesagt ... Vielleicht habe ich Alex gegenüber angedeutet, dass wir ... mehr Geld haben als vorher.“ Seine Stimme versiegt in einem Gemurmel. Er schnippt Krümel vom Tisch auf den Boden.

Sie atmet tief ein und versucht, die Krümel zu ignorieren, obwohl ihre Hand zuckt. Sie spricht mühsam beherrscht weiter. „Mehr Geld als vorher?“, wiederholt sie. „Hast du es genauso gesagt?“

„Ach, Mum“, sagt er und steht mit einer plötzlichen Bewegung auf, die den Stuhl bedrohlich ins Kippeln bringt. „Ich habe nur gesagt, dass wir uns nie wieder Sorgen ums Geld machen müssen.“ Er nimmt seinen Teller und lässt Messer und Gabel darauf krachen. „Und ich habe möglicherweise gesagt, dass ich zum nächsten Geburtstag ein Auto bekomme.“

Sie schickt einen stummen Schrei in Richtung Decke, als er sich abwendet, um den Geschirrspüler einzuräumen, und hat sich wieder im Griff, bevor er sich zu ihr umdreht. Aber nicht schnell genug. Sie kann das Entsetzen nicht rechtzeitig aus ihrem Gesicht löschen.

„Mum – so schlimm ist das doch nicht, oder? Sie werden es nicht wissen, sie können es nicht anhand dessen erraten haben. Dad könnte befördert worden sein oder ein Verwandter hat dir Geld hinterlassen oder so etwas. Du bist so empfindlich bei dieser Sache. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir es den Leuten nicht sagen sollen. Es wird ohnehin bald offensichtlich sein. Das ist doch gut, oder? Wie können wir uns daran erfreuen, wenn wir ein so großes Geheimnis daraus machen müssen?“

Sie kann es nicht fassen. All ihre Sorgfalt, die vernünftigen Gespräche, die sie geführt haben, die Vereinbarungen, die getroffen wurden, um es geheim zu halten. Und ihr älterer Sohn, auch wenn er erst sechzehn Jahre alt ist – also noch ein Kind – nimmt die Sache immer noch nicht ernst.

Sie reibt sich die Stirn. „Ben. Bitte setz dich.“

Er rollt mit den Augen. „Mum ...“

„Setz dich.“ Sie nickt in Richtung Stuhl.

Er sackt wieder auf den Stuhl.

„Wir haben doch schon darüber gesprochen, Ben. Wir haben als Familie beschlossen, damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, schon vergessen? Aus guten Gründen. Erinnerst du dich?“

Er nickt, schürzt die Lippen und starrt auf die Tischplatte.

„Weil es eine ganze Menge Probleme mit sich bringt. Weil wir ständig um Geld gebeten werden, Bettelbriefe bekommen, weil Freunde und Familie alles Mögliche erwarten. Wir wollen uns etwas Zeit lassen, um zu entscheiden, was wir mit dem Geld machen werden, ohne dass uns das alles in die Quere kommt. Wir wollen und müssen unser Leben nicht ändern. Wir wollen keine Berühmtheiten sein, nicht in die Zeitung oder ins Fernsehen kommen. Verstehst du das?“

„Ich glaube schon. Wenn du es sagst.“

„Ja, das sage ich. Das ist wichtig, Ben.“

„Okay, okay, ich hab‘s verstanden.“ Er steht auf und geht zur Tür.

„Warte mal kurz“, sagt sie. Er hält mit einer genervten Handbewegung inne, mit dem Rücken zu ihr. Jeder Zentimeter seines jugendlichen Körpers sagt, dass er genug hat, dass er dieses Gespräch jetzt beenden möchte.

„Bist du absolut sicher, dass das alles war, was du gesagt hast?“ Sie muss sich sicher sein und auf weitere Auswirkungen vorbereiten.

„Ja, Mum, meine Güte! Kann ich jetzt gehen?“

„Okay. Aber bitte sei vorsichtig.“ Er ist weg, bevor sie den Satz beendet hat.

Sie hat das schreckliche Gefühl, dass das noch nicht das Ende ist.

KAPITEL DREI

Heather

Beim Aufwachen hört sie das Geräusch von fließendem Wasser im Bad und das Rauschen des Londoner Verkehrs auf den Straßen. Nichts hat sich geändert, aber alles ist anders. Dieses Gefühl des Misstrauens lässt sie einfach nicht los. Sie muss herausfinden, ob sie recht hat, und zwar heute, bevor es zu spät ist, sonst könnten sie alle in Schwierigkeiten geraten.

Sie wartet auf das Knarren der Dielen auf dem Treppenabsatz, auf das Geräusch von James‘ Schuhen auf der Treppe, bevor sie aufsteht. Unten in der Küche ist er darin vertieft, die Zeitung auf einem Laptop – ihrem – neben seiner Kaffeetasse zu lesen. Er liest die Wirtschaftsnachrichten aufmerksam, prüft die Märkte und geht dann zu den Hauptnachrichten über. Sie weiß das, weil er ihr jeden Morgen eine Kurzfassung der einzelnen Nachrichten gab, bevor sie ihn bat, damit aufzuhören. Am liebsten hört sie Radio, aber erst, wenn alle weg sind und sie in Ruhe ihre erste Tasse Tee genießen kann.

Mit vom Schlaf geschwollenen Augen kramt sie in den Schränken nach Müsli, Schüsseln und Besteck und knallt in voller Absicht mit den Schranktüren. An den Bewegungsgeräuschen über ihr kann sie hören, ob die Jungs wach sind oder nicht; heute ist es verdächtig still.

„Jungs!“, ruft sie vom Fuß der Treppe aus. „Seid ihr wach?“ Ein dumpfer Schlag und ein Stöhnen antworten auf ihren Ruf. „Wenn nicht, dann steht jetzt auf, sonst kommt ihr zu spät.“ Weitere dumpfe Schläge, und sie kehrt in die Küche zurück, zufrieden, dass sich wenigstens einer von ihnen rührt.

James blickt zu ihr auf, wobei seine Lesebrille ihm einen missbilligenden Ausdruck verleiht.

Er will gerade etwas sagen, als er durch die Ankunft der Jungs in der Küche unterbrochen wird. Der Raum wirkt plötzlich beengt und stickig. Es folgt ein Wirbel von Geräuschen und Aktivitäten: Das Brot knackt im Toaster, Müsli wird in Schüsseln gefüllt, die Kühlschranktür klappt auf und zu, Saftkartons werden auf den Tisch geknallt.

In wenigen Minuten ist es vorbei, und alle drei Männer der Familie sind weg, das letzte „Tschüss!“ hallt unheimlich im leeren Flur wider.

* * *

Ihr Handy, das neben dem Laptop liegt, leuchtet auf. Sie ist erleichtert, als sie Natalies Namen auf dem Display sieht.

„Was hast du heute vor?“ Natalies Stimme ist weit entfernt, im Hintergrund Verkehrsgeräusche. Also ist sie auf dem Weg zur Arbeit – sie arbeitet als Sekretärin in einer örtlichen Grundschule. Sie macht am Nachmittag Schluss und schaut auf dem Heimweg manchmal bei Heather vorbei.

„Heute? Ich habe eigentlich eine ganze Menge zu tun. Ben hat ein Spiel, und ich muss rüber in die Schule ...“ Sie bricht ab, denn sie muss nicht in die Schule gehen, und Ben hat kein Spiel, und sie hasst es, ihre Freundin anzulügen. Aber sie fühlt sich langsam gestresst und ängstlich und möchte heute niemanden sehen, nicht einmal ihre älteste Freundin.

„Oh, schade. Ich wollte gerade einen Kaffee vorschlagen.“

„Heute ist es ein bisschen schwierig. Können wir das verschieben? Ich rufe dich an. Vielleicht morgen.“ Sie fühlt sich schuldig und unglücklich, wie sie so nach Ausreden sucht.

„Okay, dann morgen. Geht es dir gut? Du klingst ein bisschen niedergeschlagen. Machen dich die Jungs verrückt?“

Natalies Leben ist ganz anders als das von Heather. Sie lebt allein in einer kleinen Mietwohnung unweit von Heather und James. Ihre Freizeit verbringt sie im örtlichen Fitnessstudio, bei Sportkursen, oder sie verschlingt mal wieder einen von unzähligen Krimis, die sie sich in der örtlichen Bibliothek ausleiht. Natalie hat nie geheiratet und hat keine Kinder, nur eine Katze namens Diva, die sie abgöttisch liebt.

Natalie ist die Patentante von Ben. Sie hat immer viel Zeit mit der Familie verbracht, aber es fällt ihr dennoch schwer, Heathers Prioritäten zu verstehen. Die Familie steht für Heather immer an erster Stelle – das ist nicht verhandelbar. Aber Natalie hat die Freiheit zu entscheiden, was sie tut und wie sie ihr Geld ausgibt, und bis vor kurzem, als ein neuer Mann in ihrem Leben auftauchte, war sie immer auf der Suche nach Gesellschaft, schlug einen Kaffee, einen Drink, einen Kinobesuch vor. Heather konnte dem als vielbeschäftigte Mutter einfach nicht gerecht werden. Wenn man es recht bedenkt, ist es ein Wunder, dass sie so lange befreundet geblieben sind.

Doch obwohl sie ihre Familie von ganzem Herzen liebt und im Großen und Ganzen sehr dankbar für die Freuden des Mutterseins ist, beneidet Heather ihre Freundin manchmal um ihre Freiheit, um die Möglichkeit, sich am Wochenende hinzulegen, um ihren privaten Freiraum. Sogar um ihren Job. Heather hat ihre heißgeliebte Arbeit im Museum aufgegeben, als Ben auf die Welt kam, und ist nie wieder dorthin zurückgekehrt. Jetzt, da die Jungs älter sind und sich immer weiter von ihr entfernen, vermisst sie ihre Arbeit mehr denn je.

„Nicht mehr als sonst. Nur ein bisschen müde. Ich rufe dich morgen an, okay?“

„Okay, aber vergiss es nicht.“

KAPITEL VIER

Natalie

Das Gebäude, in dem ich arbeite, ist ein imposanter viktorianischer Bau aus rotem Backstein, der sich von dem glatten Asphalt des Spielplatzes erhebt, der wiederum von einem hohen Maschendrahtzaun eingefasst ist. Die Schule liegt eingezwängt zwischen Reihenhauszeilen im Zentrum von Hounslow. Meiner Ansicht nach ist das einzig Schöne an diesem Gebäude, dass es von Kastanienbäumen umgeben ist, die hoch und dicht belaubt sind und seine Hässlichkeit abmildern.

Ich bin die Sekretärin der Schule, oder besser eine von ihnen. Mein Chef ist Schulleiter von tausend Kindern und ist so gestresst, wie man sich das angesichts der enormen Arbeitsbelastung, der täglichen Krisen und der nörgelnden Eltern nur vorstellen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn mag; er behandelt mich wie ein Arbeitstier und wir unterhalten uns kaum, aber ich habe Mitgefühl für ihn. Ich weiß, wie schwer sein Job ist.

Meine Arbeit hier ist nicht gerade aufregend. Es gibt ständig viel zu tun, und obwohl wir zu zweit sind und noch zwei jüngere Verwaltungsangestellte haben, kommen wir kaum durch, weil wir regelmäßig von Kindern, Lieferungen, Anrufen, E-Mails, Eltern und dem Hausmeister unterbrochen werden.

Ich werfe meine Tasche auf meinen Stuhl, hänge meinen Mantel auf und gehe dann in die Küche, um mir einen starken Kaffee zu holen. Dort ist Joanna, die andere Sekretärin, bereits am Werk: Der Kessel fängt geräuschvoll an zu kochen.

„Morgen, Natalie“, sagt sie.

Ich grunze und greife nach einem Becher.

„Also ein starker schwarzer Kaffee für dich.“ Sie lächelt, nimmt mir die Tasse aus der Hand und schraubt ein Glas mit Instantkaffee auf.

„Danke.“

„Wie war dein Wochenende? Bekamst du deinen heißen Mann mal zu Gesicht?“

Joanna ist verheiratet und hat Kinder, und ihr Leben scheint ziemlich alltäglich zu sein: Kinder zur Schule bringen, Soaps im Fernsehen, Kochen für die Familie, Einkaufen mit ihrer Mutter und Promi–Klatsch. Sie hat großes Interesse an meinem Privatleben. Manchmal mag ich das. Ich fühle mich dadurch glamourös und interessant. Solange ich mich tatsächlich mit einem Mann treffe und ihn mag.

„Wir haben den Samstag zusammen verbracht. Wir sind durch die Tate Moderngeschlendert und danach rüber nach Soho und haben dort einen Happen gegessen. Chinesisch.“ Joanna reicht mir eine Tasse, und ich rühre meinen Kaffee um und beobachte, wie die letzten Nescafé-Körner im dunklen Zentrum einen Strudel bilden.

„Oh, klingt toll. Es läuft also gut?“

„Daumen drücken.“ Sie will unbedingt wissen, ob er bei mir übernachtet hat, das merke ich. Ich habe mich über diesen Mann bedeckt gehalten; in der Vergangenheit habe ich zu viel gesagt, bin zu sehr ins Detail gegangen, nur um kurz darauf über die Demütigung berichten zu müssen, fallen gelassen worden zu sein. Ich weiß, dass sie es ihrem Mann erzählt, sie kann nicht widerstehen – das Auf und Ab in meinem Liebesleben scheint ihr großes Vergnügen zu bereiten. Aber dieses Mal habe ich ein gutes Gefühl, und ich werde es nicht durch Übertreibung vermasseln. Ich nehme meinen Kaffee und kehre an meinen Schreibtisch zurück. Ich schalte meinen Computer ein, während Joanna geschäftig im Raum hin und her läuft.

„Hört sich an, als hättest du diesmal einen guten.“

„Mhm“, sage ich.

* * *

Ich habe Nick online kennengelernt, auf einer dieser Dating-Seiten, die behaupten, die ideale, wissenschaftlich getestete Formel für die Liebe zu haben. Natürlich ist das lächerlich, und ich bin mir sicher, dass jeder, der sich anmeldet, weiß, dass es so ist, aber dennoch leben wir in der Hoffnung. Die Websites hingegen leben von unserer Unsicherheit, unserer Einsamkeit und unserer verzweifelten Hoffnung, dass sich die oder der Eine nur für uns hier angemeldet hat.

Meine Dating-Karriere ist, gelinde gesagt, alles andere als erfreulich. Ich habe mehr als einmal den Mut aufgebracht, mich dort zu präsentieren, und sagen wir einfach mal, ich habe es bereut. Auf diesen Websites werden viele Lügen erzählt, das kann ich Ihnen versichern. Veraltete Fotos – und ich meine zehn Jahre oder mehr – oder weggelassene Details: über Ehefrauen, Partner, Freundinnen und seltsame sexuelle Neigungen, auf die ich wirklich nicht eingehen möchte.

Aber Nick scheint anders zu sein. Das dachte ich sofort, als ich ihn in natura sah. Zum einen sieht er aus wie auf dem Foto. Er ist ein junger Achtundfünfzigjähriger, was für mich sehr gut passt. Gut gekleidet, leicht gebräunt, gepflegte Hände. Ich mag saubere Hände bei einem Mann. Außerdem hat er Haare, was bei einem älteren Mann immer ein Pluspunkt ist. Es ist gräulich, aber ziemlich dick und hat diesen schönen Salz-und-Pfeffer-Effekt. Es ist weich, wenn man mit den Händen hindurchfährt, was ich tatsächlich auch getan habe, ja.

Er war einmal verheiratet und wurde vor ein paar Jahren geschieden. Er hat zwei erwachsene Kinder, eines in Australien, das andere in Schottland, die er besucht, wann immer er kann. Er ist witzig und charmant, und er gibt mir ein gutes Gefühl. Er ist Antiquitätenhändler, allerdings ohne Ladengeschäft, sodass ich nicht genau weiß, wie er seine Arbeit macht. Aber sie scheint ihm genügend einzubringen, und er hat viel zu tun, ist ständig auf Reisen, um das eine oder andere Geschäft abzuschließen. Er ist auch ziemlich unabhängig: Er kümmert sich gut um sich selbst, kann gut kochen und ist nicht auf eine Frau angewiesen, die sich um den Haushalt kümmert.

Ich tue mein Bestes, um diesmal nicht zu viel zu unterstellen. Ich habe in der Vergangenheit falsche Annahmen getroffen und wurde schwer enttäuscht; ich habe einen Mann auch schon mit meiner Begeisterung überwältigt. Es ist interessant, wie sehr sich Männer davon abschrecken lassen, wenn eine Frau ihnen zeigt, dass sie ihr etwas bedeuten; man sollte meinen, es würde ihnen Spaß machen, es wäre gut für ihr Ego.

Ich werde darauf achten, dass ich es dieses Mal nicht übertreibe. Ich bin froh, dass ich jemanden gefunden habe, den ich mag, und dass es in die richtige Richtung geht.

* * *

Auf dem Heimweg, immer noch ein wenig enttäuscht über unseren Kaffee, denke ich über Heather und Freundschaft nach. Vor allem darüber, was eine „beste Freundin“ oder ein „bester Freund“ ist.

Manche Leute reden viel über Freunde, aber sie verwenden den Begriff nur sehr locker. Eine „Freundin“, ein „Freund“ kann für sie eine Person sein, mit der sie zusammenarbeiten, oder eine, die sie schon ein paar Mal in der Kneipe gesehen und gegrüßt haben. Eine Online-Verbindung, die mit einem Mausklick zum „Freund“ geworden ist. Freunde von Freunden oder vielleicht Leute, von denen sie eher gehört haben, als dass sie sie persönlich kennen – aber sie nennen sie trotzdem „Freunde“, als ob sie eine besondere Beziehung zu ihnen hätten.

Meiner Meinung nach sind das keine echten Freunde. Für mich sind echte Freunde Menschen, mit denen man im Laufe der Zeit gute oder schlechte Erfahrungen geteilt hat. Sie kennen und verstehen einen. Man hat eine Verbindung zu ihnen, durch Interessen, Werte, Weltanschauung. Geschichte. Es ist eine Form der Empathie zwischen zwei Menschen, die die Gesellschaft des anderen genießen und wissen, dass sie sich gegenseitig vertrauen können.

Ein bester Freund oder eine beste Freundin ist ein Mensch, der all diese Dinge hat und tut – und der einem den Rücken freihält, egal was passiert. Solche Freunde wissen mehr über einen als alle anderen, einschließlich der Eltern und Geschwister, weil sie die Dinge wissen, die man seiner Familie niemals erzählen wird.

Zum Beispiel Heather. Sie ist meine beste Freundin. Man könnte sagen, dass sie meine einzige Freundin ist, und ich schätze, das ist sie auch, im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich habe ich noch andere Freunde, aber Heather begleitet mich schon, seit wir an unserem allerersten Tag in der Oberstufe verängstigte, junge, unschuldige Mädchen mit blasser Haut waren, deren Hals in einem steifen Hemdkragen steckte. Wir sind in diesen schrecklichen, prägenden Jahren zusammen aufgewachsen und haben unsere schlimmsten Ängste und dunkelsten Geheimnisse miteinander geteilt. Und auch ein oder zwei bessere Phasen, nehme ich an. Ich kann mich nicht an besonders viele erinnern.

Wir wissen mehr übereinander als über uns selbst.

Ist es möglich, zu viel über jemanden zu wissen? Oder anders gefragt: Kennen wir einen anderen Menschen je wirklich? Vielleicht hält eine Person immer etwas zurück, ist sich eines anderen Menschen nie sicher genug, um ihm alles – absolut alles – zu geben.

Vielleicht würde man das tun, wenn man verliebt wäre. Vielleicht bin ich zu diesem Schluss gekommen, weil ich noch nie verliebt war: wirklich, zutiefst, von ganzem Herzen in jemanden verliebt, so wie Heather in James, als sie sich zum ersten Mal trafen. Ich habe noch nie den Wunsch verspürt, alles aufzugeben, einem anderen Menschen das Innerste meiner Seele zu offenbaren. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals so zu fühlen. Es muss beängstigend sein, ein großes Risiko, und man muss sich absolut hundertprozentig sicher sein, dass diese Person einen niemals verraten wird. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt jemals bei jemandem möglich ist. Jedenfalls nicht für mich.

KAPITEL FÜNF

Heather

Es geschah vor fast einer Woche, an einem grauen Mittwochmorgen, der so begann wie die meisten anderen Tage auch. Sie war im Supermarkt gewesen, um den Wocheneinkauf zu erledigen, und kam mit Lebensmitteln beladen und erschöpft nach Hause. Haushaltseinkäufe waren eine lästige Pflicht, die sie hasste, und dieser Tag war noch schlimmer als sonst. Sie war mit dem Range Rover zum großen Tesco an der Talgarth Road gefahren, in der Hoffnung, dass der Parkplatz nicht zu voll sein würde. Aber sobald sie durch den Eingang fuhr, wusste sie, dass sie kein Glück hatte. Zwischen den überfüllten Parkplätzen bildete sich bereits eine Schlange von Autos, und jeder Fahrer hielt Ausschau, in der Hoffnung, den nächsten Käufer wegfahren zu sehen und vor allen anderen dessen Parkplatz zu ergattern. Es dauerte ganze zwanzig Minuten, bis sie einen Parkplatz fand, und selbst dann musste sie Verrenkungen machen, um aus dem Fahrersitz zu kommen, ohne ihre Unterwäsche zu zeigen.

Sie verfluchte James dafür, dass er so ein großes Auto gekauft hatte. Sie hatte es nicht gewollt, und das aus gutem Grund: Sie konnte die Größe nicht einschätzen, sie konnte es nicht einparken, und es war zu langsam, zu schwerfällig. Obwohl es alt war und sie es aus dritter Hand gekauft hatten, war es eines dieser Modelle, wie sie wohlhabende Leute kauften. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie reich waren – das war nicht der Fall. James arbeitete als Finanzberater in seinem eigenen Unternehmen, das gerade genug Geld einbrachte, um die Jungs auf eine Privatschule zu schicken (er bestand darauf) und in West London zu leben. Aus diesem Grund lebten sie bescheiden und gingen sorgsam mit Geld um. Für Heather, die zur Sparsamkeit erzogen worden war, stellte das kein Problem dar, aber sie wollte nicht vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht war.

Der Laden war voll von Müttern mit Kinderwagen und kleinen Kindern, die Heather ständig im Weg standen. Ihre lange Einkaufsliste bedeutete, dass sie fast jeden Gang besuchen und dabei mit einem Einkaufswagen zurechtkommen musste, der sich wie ein widerspenstiges Kind verhielt, das bei jeder Gelegenheit nach rechts auswich und sich weigerte, einer geraden Linie zu folgen. Es dauerte Stunden.

Als sie zu Hause die vielen Taschen auspackte, stellte sie fest, dass sie die wichtigste Zutat für das Abendessen vergessen hatte: das Hähnchen. Mittwochs gab es immer Brathähnchen, denn James war ein Gewohnheitsmensch, und obwohl sie sich manchmal danach sehnte, etwas Verrücktes zu kreieren, um ihn zu überraschen, hatte eine regelmäßige Routine auch ihre Vorteile. Wenigstens wusste sie, woran sie war.

Sie war durchaus in dem richtigen Gang gewesen, aber eine Frau mit einem beladenen Einkaufswagen hatte ihr im Weg gestanden, sodass sie nicht an das gewünschte Bio-Hähnchen herangekommen war. Dann war sie abgelenkt worden, während sie darauf wartete, dass die Frau weiterging, und hatte vergessen, zurückzugehen. Sie fluchte. Jetzt musste sie sich noch einmal auf den Weg machen. Zum Glück gab es in der Nähe ihres Hauses einen Metzger: gut, aber teuer. Sie räumte die restlichen Einkäufe weg, schnappte sich ihre Tasche und ihre Schlüssel und verließ das Haus zum zweiten Mal an diesem Tag.

Es war ein Glücksfall, dass er ein Hähnchen in der richtigen Größe hatte, das auch noch aus nachhaltiger Tierhaltung stammte. Ein ganz kleiner Glücksfall an einem frustrierenden Morgen.

Als sie die Metzgerei verließ – das Hähnchen wog schwer in der Einkaufstasche –, hielt sie am Zeitungskiosk nebenan inne, wo sie manchmal Kleinigkeiten einkaufte. Ausnahmsweise wollte sie sich mit einer Zeitschrift und einer Tafel Schokolade belohnen. Wenn sie nach Hause kam, würde sie alles andere ignorieren und sich eine kleine Auszeit gönnen, wie es andere Frauen zu tun schienen.

Sie starrte auf die Süßwarentheke und spürte einen dumpfen Schmerz im Bauch. Sie hatte Mühe, den Drang zu beherrschen, nicht gleich den Inhalt des gesamten Schokoladen-Regals zu kaufen. Es war einer dieser Tage.

Sie nahm eine kleine Tafel und eine Hochglanz-Frauenzeitschrift in die Hand und ging zum Tresen hinüber. Vor ihr kaufte ein Mann ein Lotterielos.

„Wenn ich gewinne, lade ich Sie auf einen Drink ein“, sagte er zu Sanjay, dem Besitzer des Ladens, den Heather seit ihrem Umzug in diese Gegend kannte.

„Ich trinke nicht“, sagte Sanjay und lächelte.

„Gut, okay, dann kaufe ich Ihnen einen Kuchen.“ Er schien entschlossen, dem Mann etwas von seinem imaginären Gewinn anzubieten.

„Danke, sehr freundlich. Was werden Sie mit dem Rest Ihres großen Gewinns machen?“

„Ich werde die Welt bereisen, einen Ferrari kaufen und in einem Schloss in Südfrankreich leben.“ Mit einem Grinsen gab der Mann ihm einen Zehn-Pfund-Schein.

„Mann, da müssen Sie aber ganz schön viel gewinnen“, sagte Sanjay und zwinkerte Heather zu. Er übergab das Wechselgeld und wartete darauf, dass der Kunde ging. Heather legte ihre Einkäufe auf den Tresen.

„Ein Lotterielos für Sie, meine Dame?“, fragte er. „Ferrari? Schloss in Südfrankreich? Es ist ein Jackpot, Sie können also alles haben.“

Heather hatte in ihrem Leben noch nie ein Lotterielos gekauft. Sie kannte die Chancen: Es war wahrscheinlicher, mitten in der Stadt von einem abstürzenden Jumbojet getötet zu werden, als in der Lotterie zu gewinnen. Oder so ähnlich.

Doch an diesem Tag ergriff ein regelrechter Drang von ihr Besitz. In diesem kleinen Moment, in dem sie sich zur Abwechslung einmal selbst verwöhnen wollte, fühlte sie sich anders, fast leichtsinnig.

„Entschuldigung – was ist ein Jackpot?“

„Niemand hat beim letzten Mal gewonnen, also bekommen Sie dieses Geld plus den neuen Gewinn. Insgesamt sind es neunundzwanzig Millionen. Zwei zum Preis von einem, nur zwei Pfund pro Lotterielos. Das ist ein Schnäppchen!“

„Na, dann los. Allerdings würde ich Ihnen keinen Cent für einen Ferrari geben – viel zu auffällig für mich. Was muss ich tun?“

Als sie ging und ihr Wechselgeld in die Spendendose auf dem Tresen warf, fragte sie sich, was bloß in sie gefahren war.

* * *

Erst am nächsten Tag fiel ihr das Lotterielos wieder ein. Als sie in ihrer Tasche nach ihren Schlüsseln kramte, spürte sie das Knistern von Papier in ihrer Hand und zog den Zettel heraus, den sie für eine zerknüllte Quittung hielt. Einen Moment lang war sie verwirrt; die Farbe war für eine Quittung falsch. Aber dann erinnerte sie sich. Ihr allererstes Lotterielos, gekauft aus einer Laune heraus. Sie hatte sicher nichts gewonnen, natürlich nicht. Sie gewann nie etwas, nicht bei der Tombola auf dem Schulfest, nicht bei Verlosungen, nirgendwo, niemals. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie es trotzdem überprüfen sollte. Schon ein Gewinn von zehn Pfund wäre ein Spaß.

Sie hatte Sanjay gefragt, was sie tun sollte, da sie der Lotterie noch nie die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Das war etwas, was andere Leute taten. Idioten, würde James sagen. Menschen, die von Booten und Urlauben und protzigen Autos träumten, wie der Mann, der vor ihr ein Lotterielos gekauft hatte. Sie hatte gedacht, sie müsse die Zahlen auswählen, und als Sanjay ihr das Los mit den schon vorhandenen Zahlen in der Mitte überreichte, kam sie sich etwas lächerlich vor. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte, also fragte sie ihn, und als sich hinter ihr eine Schlange bildete, wurde sie langsam nervös und hörte seinen Erklärungen nur mit halbem Ohr zu.

Hatte er gesagt, sie solle in der Zeitung nachschauen? In der Erwartung, nichts zu finden, gab sie bei Google „Lotterie-Ergebnis diese Woche“ ein. Die ersten Einträge gaben ihr die Antwort.

Zuerst verstand sie nicht, was sie da sah. Lotto? Aber war das dasselbe wie Lotterie? Sie sah sich das Los genau an. Oben stand deutlich: Lotto. Das musste also richtig sein. Sie überprüfte das Datum. Alle Zahlen schienen übereinzustimmen, also musste sie etwas falsch gemacht haben. War dies eine Art Musterlos, das sie in der Hand hielt, und ihr echtes war verschwunden? Sie überprüfte die Zahlen erneut. Sie passten perfekt zusammen – jede Nummer war dieselbe wie die auf dem Bildschirm vor ihr. Sie kramte noch einmal in ihrer Tasche, um zu sehen, ob sich dort noch ein Teil des Loses befand. Nichts.

Sie ging zurück zu Google und klickte auf ein anderes Suchergebnis. Die Zahlen waren genau dieselben. Was war da los? Sie hatte das offensichtlich missverstanden. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz vor vier Uhr war. Um halb fünf musste sie beim Zahnarzt sein. Sie musste sich auf den Weg machen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte.

Später am Abend, als das Abendessen fertig war und die Jungs in ihren Zimmern waren, erinnerte sie sich wieder an das Los.

„James“, sagte sie, „hast du jemals ein Lotterielos gekauft?“

Er schaute sie über seine Lesebrille hinweg an. „Nein, und das habe ich auch nicht vor. Niemand, der bei Verstand ist, würde das tun. Warum?“

„Nun, ich habe gestern eins gekauft, einfach aus Neugier. Und eigentlich nur so zum Spaß“, sagte sie und wich seinem Blick aus. „Jetzt versuche ich, die Ergebnisse zu finden. Ich glaube, ich muss etwas falsch gemacht haben. Könntest du es bitte versuchen und sehen, ob du das gleiche Ergebnis erhältst?“

Er sah für einen Moment genervt aus.

„Komm schon, eine Überprüfung ist es doch wert, oder?“

Er sagte nichts, sondern brummte nur ein wenig, als er sein Handy herausholte und auf dem Display herumtippte.

„Ich glaube, ich habe es“, sagte er. „Das Ergebnis von gestern. Acht, zwölf, einundzwanzig, siebenundzwanzig, neununddreißig, einundvierzig. Mit siebzehn als Zusatzzahl. Hast du gewonnen?“

Sie schluckte. Gab ihm das Los, damit er sich selbst davon überzeugen konnte. Beobachtete, wie ihm der Mund offen blieb und seine Augen sich weiteten, wie er immer wieder von dem Los zum Handy blickte, als würde er das Tennisspiel in Wimbledon verfolgen.

„Da soll mich doch ...“, flüsterte er.

Sie sahen sich ein paar Minuten lang an, obwohl es sich nach viel länger anfühlte. James bewegte sich zuerst und stieß einen langen Atemzug aus. Sie merkte, dass sie beide den Atem angehalten hatten.

„Was?“, sagte sie. „Ist das richtig? Das kann nicht richtig sein, oder?“

„Es sieht ganz danach aus“, sagte er, und sein Gesicht entspannte sich zu einem normaleren Ausdruck. „Hast du eine Ahnung, wie viel es ist?“

„Gib es mir“, sagte sie und streckte ihre Hand aus. „Bist du sicher?“ Sie schloss das Fenster mit der Website und begann von neuem. Die gleichen Zahlen, das gleiche Datum – gestern. Da stand es, genau wie vorher. „Oh mein Gott, James. Glaubst du wirklich, ich habe in der Lotterie gewonnen?“ Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihr Gesicht schlich, und wurde sofort wieder ernst.

„Ja, ich glaube, das hast du vermutlich“, sagte er. „Aber wir sollten uns nicht zu früh freuen, falls doch ein Missverständnis vorliegt. Lass uns mal gucken, was man tun soll, wenn man glaubt, dass man gewonnen hat.“ Er ließ sich das Handy zurückgeben. „Ja, du musst dort anrufen. Oh, und unterschreib jetzt gleich auf der Rückseite des Loses.“

Der Zettel schien so fragil. Sie hielt ihn an den Fingerspitzen, als wäre er glühend heiß, und drehte ihn vorsichtig um. Als sie ihren Namen in das kleine orangefarbene Feld auf der Rückseite schrieb, zitterte ihre Hand.

„Es ist ein bisschen krakelig, meinst du, das macht was?“, sagte sie mit brüchiger Stimme. Dann erinnerte sie sich.

„Was ist los, was geht hier vor?“, sagte James, als sie von ihrem Stuhl aufsprang und die Hände zum Mund führte.

„Neunundzwanzig Millionen. Diese Woche. Er sagte ... der Jackpot ... er beträgt neunundzwanzig Millionen.“

„Oh mein Gott“, sagte er und sprach jedes Wort überdeutlich aus. „Heather, komm her, setz dich zu mir.“ Ihr Körper fühlte sich an wie ein Feuerwerk, das gleich gezündet werden würde, aber sie setzte sich trotzdem auf die Sofakante und krampfte die Hände ineinander, damit sie aufhörten zu zittern. Er legte seine Hände auf ihre. „Wir dürfen uns nicht zu früh freuen. Wir könnten immer noch falsch liegen.“

„Glaubst du, dass jetzt noch jemand da sein wird? Sollen wir es versuchen? Ich glaube nicht, dass ich bis zum Morgen warten kann. Was sollen wir tun? Oh, James, was, wenn es wahr ist? Neunundzwanzig Millionen? Es ist nicht ... Ich kann nicht ...“ Sie konnte kaum noch atmen. Sie begann zu lachen, und dann wollte sie zu ihrem Entsetzen weinen.

„Warte, ich schaue mal nach, ob sie spät geöffnet haben. Wo ist dein Laptop? Ich kann auf diesem Ding nicht richtig sehen.“

Er tippte „Öffnungszeiten der Nationallotterie“ ein, und die Ergebnisse wurden sofort angezeigt. Er klickte auf das erste, und es erschien eine lange Seite mit Text über die verschiedenen Arten von Lotteriespielen und wie man den Gewinn beansprucht. Er scrollte nach unten und starrte einige Minuten lang stirnrunzelnd auf den Bildschirm, während Heather dem Drang widerstand, ihm den Laptop aus den Händen zu reißen.

„Da steht nichts“, sagte er schließlich. „Frustrierend. Aber es scheint so zu sein, dass man das Los zu einem Kiosk bringen kann, um es dort überprüfen zu lassen. Wo hast du das Los gekauft?“

„Beim Zeitungshändler in der Goldhawk Road. Die haben ziemlich lange auf.“

Sie starrten sich gegenseitig mit großen Augen an.

„Gehen wir“, sagte er.

KAPITEL SECHS

Heather

Sie rannten fast den kurzen Weg zum Kiosk. Es war eine seltsam schlurfende Gangart, halb gehend, halb laufend, die Heather zum Lachen gebracht hätte, wenn sie nicht so aufgedreht gewesen wäre. James hielt ihre Hand mit einem Griff, der so stark war, dass die Knochen zusammengedrückt wurden, aber sie sagte nichts, denn das war beruhigend und hielt sie davon ab, in einen unbeholfenen Sprint zu verfallen. Ihr Herz pochte so stark, dass es schmerzte. Mit der anderen Hand in der Jackentasche hielt sie das Los fest, als wäre es lebendig und würde entkommen und die Straße hinunterlaufen, wenn sie es losließe.

Sie war erleichtert, dass keine lange Schlange von Kunden vor dem Schalter wartete. Sanjay war immer noch da. Er lächelte sie an, als sie auf ihn zuging und kaum zu sprechen wagte. Sie zog eine zitternde Hand aus ihrer Tasche und legte das Los mit der Vorderseite nach oben auf den Tresen. Die Zahlen schienen riesig zu sein, als ob sie den Ernst der Lage verstanden hätten.

„Ah – haben Sie etwas gewonnen?“, sagte Sanjay, holte seine Lesebrille unter dem Tresen hervor und hob das Los auf. Beinahe hätte sie es ihm entrissen – aber James‘ Hand lag auf ihrem Arm, und sie konnte den Drang unterdrücken. Sanjay schien sich in Zeitlupe zu bewegen, er schaute auf das Los, dann auf den Automaten links vom Schalter und dann wieder auf das Los. Er drehte ihn um und studierte ihre Unterschrift. Dann reichte er Heather mit ernster Miene den fadenscheinigen Zettel zurück. Sie spürte, wie sich ihre Augen weiteten; sie hielt den Atem an.

James rettete sie. „Und, hat sie gewonnen?“