Die perfekte Nachbarin - Susanna Beard - E-Book + Hörbuch

Die perfekte Nachbarin E-Book und Hörbuch

Susanna Beard

4,3

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
  • Herausgeber: Jentas
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die perfekte Straße Die perfekten Nachbarn Das perfekte Geheimnis Beth wünscht sich nichts sehnlicher, als sich in ihrem neuen Zuhause in einer ruhigen Straße in der Vorstadt endlich so richtig wohlzufühlen. Sich mit ihrer hübschen Nachbarin Oksana anzufreunden. Einen neuen Freundeskreis zu haben. Die Nachbarn zu sich einzuladen. Gemütliche Kaffeetreffen und gesellige Abendessen zu veranstalten. Aber alles hier fühlt sich so verschlossen und abweisend an. Und als Beth eines Tages ihren entlaufenen Hund durch Oksanas Garten jagt, macht sie eine schockierende Entdeckung, die sie dazu veranlasst, sich zu fragen, was für Menschen ihre neuen Nachbarn in Wirklichkeit sind. Ein Mädchen am Fenster. Ein blasses, verzweifeltes Gesicht. Ein behelfsmäßig zusammengebasteltes Schild, auf dem nur ein Wort steht: Hilfe. Wer ist das Mädchen? Was verheimlichen die Nachbarn? Manchmal sind es ausgerechnet die Nachbarn, die uns am perfektesten erscheinen, die am meisten zu verbergen haben. --- Was Leser:innen über Ihr stummer Schrei sagen: »Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen, ich musste einfach wissen, wie es ausgeht!« – Tracy Buchanan »Fesselnd und nervenaufreibend … und führt zu einem elektrisierenden Höhepunkt!« – Kirsten Hesketh »Trägt alle Merkmale eines großartigen Thrillers … Wer sich hier nicht mitreißen lässt, ist selbst schuld.« – Claire Dyer »Präzise und fesselnd – eine beeindruckende Leistung.« – Shelley Weiner »Ich habe Susannas gefühlvolles und nachdenklich stimmendes Buch sehr genossen – ein fesselndes Mysterium.«–- Sam Carrington ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ »Die Schreibweise zieht einen in ihren Bann und lässt einen bis zur letzten fesselnden Zeile nicht wieder los.« – Robyn B. ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ »Gekonnt konstruiert und wunderschön geschrieben; das ist eine Geschichte, die mich so schnell nicht wieder loslassen wird. Sehr empfehlenswert und verdient mit Leichtigkeit seine Höchstbewertung.« – Rezension auf Goodreads ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ »Ich glaube, dies ist das beste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe! Aufgrund der Art und Weise, wie Susanna Beard schreibt, fühlte ich mich, als ob ich mich gemeinsam mit den Charakteren in den Szenen befinden würde. Ich habe alles an diesem Buch geliebt und kann es kaum erwarten, mehr von dieser Autorin zu lesen!« – Rezension auf Goodreads

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Seitenzahl: 400

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Zeit:9 Std. 8 min

Sprecher:Beate Rysopp
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Die perfekte Nachbarin

Die perfekte Nachbarin

© Susanna Beard 2021

© Deutsch: Jentas A/S 2023

Titel: Die perfekte Nachbarin

Originaltitel: The Perfect Neighbour

Übersetzung: Kirsten Henrieke Evers, © Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2046-9

Published by arrangement with Joffe Books ltd. and Lorella Belli Literary Agency Limited

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Für alle Verlorenen, überall

KAPITEL 1

Sofia

Die Haustür fällt ins Schloss. Dadurch klappert die Tür zu meinem Zimmer jedes Mal, obwohl sie abgeschlossen ist. Von draußen, wohlgemerkt, der Schlüssel abgezogen, wie jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe.

Sir fährt los, was bedeuten muss, dass es ungefähr sechs Uhr morgens ist. Ich höre das Knirschen des Kieses, als sein Auto auf das hohe Tor zurollt. Ein Klicken, als es vollständig geöffnet ist, erneutes Knirschen, als das Auto hindurchfährt, dann das leise Summen und Knarren, als es sich hinter ihm schließt. Vom Haus aus kann man die Straße nicht sehen. Jedes Mal, wenn ich am Fenster auf dem Treppenabsatz vorbeikomme, schaue ich nach, ob das Tor geöffnet ist. Aber das ist es nie.

Ich spüre, wie die Anspannung von meinem Körper Besitz ergreift. Gleich wird das Geräusch des Schlüssels im Schloss meiner Tür zu hören sein und Madam in ihrem lauten, harten Englisch sagen: „Los, aufstehen, an die Arbeit“, oder so etwas in der Art. Ich habe nur wenige Minuten Zeit, um meine winzige Toilette aufzusuchen, mir mit einem Waschlappen übers Gesicht zu fahren und mich in Windeseile anzuziehen, bevor ich mit der Arbeit beginnen muss. Zwei Stunden lang kriege ich kein Frühstück, und selbst dann gibt es nur die kalten Reste. Durchweichter, gebutterter Toast, von Knusprigkeit schon längst keine Spur mehr. Mit viel Glück eine halbe Banane, die dort, wo er einen eiligen, letzten Bissen genommen hat, schon ganz braun ist.

Ich habe mich längst an die Routine gewöhnt. Ich gehe eine Etage tiefer zum Schrank auf dem Treppenabsatz und hole den Staubsauger, ein Staubtuch und eine Dose Möbelpolitur heraus. Ich betrete ihr Zimmer. Hier ist alles altmodisch, im traditionellen, schweren russischen Stil gehalten: große Schränke und klobige Kommoden mit gemalten Motiven, ein riesiges Holzbett mit Schnitzereien. Die Möbel sehen alt und abgenutzt aus, vielleicht stammen sie noch aus dem Besitz von Madams Familie. Ich frage mich, wie viel es gekostet haben muss, sie quer durch Europa zu transportieren. Sie müssen ihr sehr viel bedeuten. Selbst die Vorhänge mit ihren aufwendigen Blumenmustern sind hier anders. Das Zimmer steht in starkem Kontrast zum Rest des Hauses: Überall sonst ist die Einrichtung modern, wie in den Zeitschriften, die sie kauft, mit verspiegelten Möbeln, blassen Farben und harten Kanten.

Das Bett ist unordentlich, der seidene Bettbezug fließt auf den Teppich und wirft dort seine Falten, die Kissen sind zerknittert. Ich beuge mich hinüber und streiche das Laken glatt, ziehe es in Form und stecke es an den Seiten unter die Matratze. Ich befördere Bett – und Tagesdecke wieder an ihren angestammten Platz und bringe die Kissen mit einem routinierten Hieb in Form. Als ich sie aufrichte, geben sie ein ergebenes Seufzen von sich. Vom Sofa am Fenster nehme ich die riesigen Samtkissen und ordne sie fein säuberlich der Größe nach am Kopfende des Bettes an. Die Reihenfolge ist wichtig. Madam wird wütend, wenn sie nicht richtig liegen.

Und wenn Madam wütend ist, schlägt sie mich.

Im Badezimmer, das größer als mein gesamtes Schlafzimmer ist, öffne ich den Schrank unter dem Waschbecken und hole das Reinigungsmittel, einen Lappen und eine Toilettenbürste heraus. Leidenschaftlich fluchend mache ich mich an die Arbeit. Wenn Madam Bulgarisch verstünde, würde sie unter den Schwüren ihren eigenen Namen ausmachen können.

Nachdem ich mit dem Staubwischen, Polieren und Staubsaugen fertig bin, schwenke ich das parfümierte Raumspray, das Madam immer bei Harrods bestellt. Es duftet nach süßen Rosen und erinnert mich an zu Hause. Leise schließe ich die Tür hinter mir.

* * *

Ich warte unten in der Eingangshalle. Ich tue so, als würde ich die Bilder abstauben, den Spiegel, den Beistelltisch mit dem übertrieben ausladenden Blumenstrauß. Die Küche darf ich erst betreten, wenn Madam sie verlässt, aber vorher muss ich die Zimmer in der richtigen Reihenfolge putzen.

Madam lässt sich Zeit, sie plappert auf Russisch ins Telefon. Im Hintergrund läuft Popmusik, sodass ich ihre Worte nicht verstehen kann. Obwohl ich Russisch gut lesen kann, muss ich mich immer konzentrieren, um der gesprochenen Sprache folgen zu können, besonders bei der Geschwindigkeit, mit der Madam spricht. Sie wissen nicht, dass ich Russisch spreche; es ist eines von vielen kleinen Geheimnissen, die ich hüte wie einen Goldschatz, in der Hoffnung, sie mir eines Tages zu Nutzen machen zu können. Ich behalte sie für mich und tröste mich an ihnen, wenn es mal wieder besonders schlimm ist.

Meinen Arm kann ich nur ganz behutsam bewegen. Den Bluterguss, wo sie mich gestern zu fest gepackt hat, spüre ich noch immer bei jeder falschen Bewegung.

Natürlich hatte ich nicht die Absicht, den Müll fallen zu lassen, als ich ihn aus dem Abfalleimer in einen Plastikbeutel umfüllte. Ich inspiziere zwar stets alles, was weggeworfen wird – schließlich kann ich nicht riskieren, mir etwas potenziell Nützliches entgehen zu lassen –, aber niemals zu offensichtlich. Normalerweise schaue ich nach, wenn sie nicht im Raum sind, damit sie nicht mitbekommen, wenn ich mir einen leeren Umschlag, einen Zettel oder eine ausgediente Heftklammer unters Hemd schiebe. Diesmal war ich unvorsichtig gewesen – ich hatte nicht gleich bemerkt, wie Madam hinter meinem Rücken wieder durch die Tür geschlüpft war, hatte mich erschrocken und den Müll fallen gelassen, sodass er statt in der Tüte auf dem Boden gelandet war.

„Was machst du da, du dummes Mädchen?“ Ihre kalte Stimme hatte mich wie ein Messer durchbohrt. Zitternd hatte ich mich zu ihr umgedreht.

„Es tut mir leid, Madam, ich wollte nicht ...“

Ihre grün und golden lackierten Nägel waren wie Drachenklauen gewesen, als sie sich in das weiche Fleisch meines Oberarms bohrten und so fest zupackten, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich hatte versucht, mich zu wehren, aber es war mir nicht gelungen, ihrem Griff zu entkommen.

„Du machst das jetzt sauber – du bist ungeschicktes, faules Mädchen.“ Als sie mich endlich losließ, hinterließen ihre Krallen schmerzhafte Einkerbungen in meinem Arm. Ich konnte ihn nicht einmal reiben, um den Schmerz zu lindern – sie stand über mir wie ein Armeegeneral und wartete darauf, dass ich die Sauerei endlich aufräumte. Mit zitternden Fingern bückte ich mich, um den Müll aufzuheben. Darauf schien sie nur gewartet zu haben; sie schubste mich von hinten, sodass ich auf allen vieren landete und mir die Tränen der Demütigung in die Augen stiegen. Aber ich weigerte mich, vor ihr zu weinen. Die Genugtuung wollte ich ihr nicht geben.

* * *

In letzter Zeit habe ich festgestellt, dass sich bei mir kleine Gewohnheiten eingeschlichen haben. Wenn ich ein normales Leben führen würde, wäre das nicht so, aber ich kann nicht leugnen, dass sie mir helfen. Zum Beispiel das Fluchen, wenn ich das Bad putze. Das geschieht jetzt automatisch, und ich genieße diese kleinen Momente der Freiheit, in denen mir die Worte in boshaft bitteren Strömen über die Lippen purzeln wie Erbrochenes.

So feiere ich jeden noch so kleinen Sieg gegen meine Arbeitgeber. Meine Kidnapper, sollte ich wohl eher sagen. Sie werden es vielleicht nie merken, aber die Siege existieren – oh ja, es gibt sie wirklich. Sie warten in dunklen Ecken, drücken sich unter ihren Füßen herum und hängen lauernd über ihren Köpfen.

Die Küche ist jetzt leer. Die Reste des Frühstücks warten darauf, aufgeräumt oder gegessen zu werden, wenn sie nicht bereits zu ungenießbar sind.

In der Kanne wird der Kaffee kalt, aber ich darf ihn nicht aufwärmen, und kalt schmeckt er mir zu bitter. Als ich gerade angekommen war, nahm ich mir, was ich konnte, weil ich nicht wusste, wann und woher meine nächste Mahlzeit kommen würde, aber inzwischen weiß ich, wie es läuft. Ich nehme stets nur kleine Mengen, sorge dafür, leise zu sein und mich nur zu bedienen, wenn Madam auf dem Heimtrainer sitzt oder fernsieht, damit sie das Klicken der Kühlschranktür oder das Klappern des Brotkastens nicht hört. Sie bietet mir nie Essen an, obwohl sie weiß, dass ich es mir aus der Küche nehme. Es ist ihr egal, ob ich esse oder nicht, solange ich mich ruhig verhalte, ihr aus dem Weg gehe und meine Arbeit erledige.

In der Küche muss ich jeden Tag wischen und putzen, spülen und schrubben, bis alles glänzt. Sie wird meine Arbeit später kontrollieren, und es ist eindeutig am besten, wenn ich es von vornherein richtig mache. Sonst gibt es zur Strafe Ohrfeigen oder blaue Flecken auf dem Arm.

Eines Tages hatte ich einen kleinen Fleck auf einer Schranktür übersehen. Er war winzig, wirklich nicht der Rede wert – jeder andere hätte ihn mit Sicherheit übersehen. Aber nicht sie. Sie bekam einen fürchterlichen Wutanfall und schrie und brüllte, sodass mir ein Schauer winziger Speicheltropfen ins Gesicht prasselte, während ich verängstigt vor ihr kauerte.

„Dummes, dummes Mädchen“, schrie sie auf Russisch und beschimpfte mich auf die übelste Art und Weise. „Du dreckige bulgarische Hure, du taugst zu nichts! Du schrecklicher, schleimiger kleiner Wurm – ich sollte dich mit dem Absatz meines Schuhs zerquetschen, wie du es verdienst!“

Mit einer Hand packte sie meinen Arm und ließ die Nägel so fest zubeißen wie immer. Mit der anderen griff sie nach meinem kleinen Finger und lächelte boshaft, während sie ihn drehte, bis sie das ekelhafte Knacken und meinen Schmerzensschrei hörte.

Der Finger ist immer noch gekrümmt, wo er eigentlich gerade sein sollte.

Ich finde kleine Mittel und Wege, um mich an ihnen zu rächen. Ich spucke auf den Lappen, wenn ich die Arbeitsplatte in der Küche abwische. Ich entferne die Spinnweben, aber die größten Spinnen lasse ich da, damit Madam sie findet. Dann lache ich lautlos und schadenfroh in die vorgehaltene Hand, wenn ich sie schreien höre. Ich mache das nicht allzu oft, denn ich werde dafür bestraft, dass ich die Kreatur nicht gefunden und entsorgt habe, aber manchmal ist es mir das wert.

Der Wi-Fi-Router funktioniert nicht mehr so gut. Also hat man mir gesagt, ich solle die Steckdose nie benutzen. Natürlich tue ich es jetzt erst recht. Dinge verschwinden – kleine Dinge, für die ich nicht verantwortlich gemacht werden kann. Frische Schnittblumen welken schnell, obwohl sie reichlich Wasser haben und erst am Vortag angekommen sind. Die Kante eines Teppichs löst sich und bringt Sir zum Stolpern, wenn er die Treppe hinaufsteigt. Einmal hatte seine frisch gewaschene Unterwäsche einen seltsamen Geruch, der sich in der Kommode in seinem Schlafzimmer ausbreitete, bis alles andere darin genau so komisch roch.

* * *

Es gibt noch andere kleine Angewohnheiten. Früher, als ich noch frei war, habe ich meinen Kopf hoch gehalten und den Leuten immer in die Augen geschaut. Jetzt habe ich gelernt, das Kinn zu senken und zur Seite zu schauen. Das mache ich inzwischen sogar, wenn ich allein bin. Es ist Normalität geworden, sich zu unterwerfen, jeglichen Blickkontakt zu meiden. Meine Nägel, einst kräftig und lang, sind bis aufs Nagelbett abgeknabbert, die Fingerspitzen platt und hässlich. Wenn ich hier rauskomme, werde ich mir diese Angewohnheiten umgehend abgewöhnen – das Fluchen, den hängenden Kopf, das Nägelkauen. Aber im Moment sind sie nützlich. Sie dienen einem Zweck.

Ich arbeite von morgens früh bis irgendwann spät abends, oft zwölf Stunden oder mehr. Jeden Tag putze ich jede Ecke und jeden Winkel des Hauses. Jeden Tag wasche ich die Wäsche, ganz egal, wie klein der Haufen im Korb ist. Ich trockne, bügle und lege alles ordentlich zusammen. Und am Ende eines jeden Tages schließen sie mich in mein Zimmer ein. Sie verstecken mich auch, wenn andere Leute zu Besuch kommen. Sie sind schlau. Sie machen keine Fehler. Für mich gibt es keine freien Tage, keinen Lohn, keinen Dank. Ich bin ein Niemand.

Wenn ich allein in meinem Zimmer bin, mich sicher fühle, breite ich meine Schätze vor mir aus und genieße den Anblick meiner Sammlung. Ein kleiner Stapel Briefumschläge, die meisten weiß, aber ein paar davon auch von der größeren, braunen Sorte. Einige Quittungen, die nur auf einer Seite bedruckt sind: die leere Seite ist das, was für mich interessant ist. Eine einzelne, unfrankierte Briefmarke, die ich mit akribischer Sorgfalt von einem zerknitterten Umschlag abgezogen habe. Die letzten zwei Zentimeter eines Bleistifts. Ich brauche einen besseren – einen, der lange hält –, aber ich muss Geduld haben. Eine Tube Feuchtigkeitscreme und eine Tube Handcreme, jeweils mit einem winzigen Rest am Ende der Tube, den man nur mit großem Aufwand herausgedrückt bekommt. Ich werde sie aufrollen, bis ich auch noch den letzten Tropfen Creme herausgequetscht habe. Wenn ich eine Schere hätte, würde ich die Tuben durchschneiden, um mit den Fingerspitzen jeden Tropfen herausfischen zu können. Aber ich habe noch keine Möglichkeit gefunden, eine Schere oder ein Messer zu stehlen, ohne dass es bemerkt worden wäre. Eines Tages werde ich Glück haben, aber dann werde ich sie ganz sicher nicht benutzen, um Cremetuben zu halbieren.

In meiner Sammlung befindet sich auch ein kleiner funkelnder Stein, der aus einem von Madams Hausschuhen gefallen ist. Ich liebe es, ihn mir vors Auge zu halten, das andere zugekniffen, durch ihn hindurch auf das leuchtende Dreieck des Fensters zu starren und das Licht in seinen geschliffenen Winkeln tanzen zu sehen. Ich tue so, als sei er ein kostbarer Diamant, der wahnsinnig viel Geld wert ist. Ich hoffe, sie vermisst ihn. Eine alte Strumpfhose, die ich aus der Mülltonne gerettet habe, könnte eines Tages einmal nützlich sein; sie hat ein kleines Loch, aber man sieht es kaum, und es ist sowieso egal, weil niemand sie jemals zu sehen bekommen wird. Im Winter ist mein Zimmer eisig, und die Strumpfhose hilft zumindest ein bisschen gegen die Kälte. Ich besitze ein paar kaum benutzte Zahnbürsten. Ich habe sie mehrmals gründlich gespült, um auch die letzten Spuren ihrer Vorbesitzer zu entfernen. Meine Sammlung von weggeworfenen Zahnpastatuben ist inzwischen recht ansehnlich. Ich habe immer gut auf meine Zähne geachtet.

Madams Müll ist eine echte Goldgrube. Ich habe Schmirgelpapier zum Nägelfeilen und Wattestäbchen mit je einem unbenutzten Ende. Ich habe Seife und ein wenig Shampoo und Spülung für meine Haare, die jetzt, wo ich keine Gelegenheit mehr zum Haareschneiden habe, richtig lang geworden sind. Mit einem Gummiband binde ich sie mir zu einem Pferdeschwanz zusammen. Am Anfang habe ich noch Tampons aus Madams Badezimmerschrank gestohlen und mich bemüht, sie immer so lange wie möglich zu nutzen, damit sie möglichst lange halten. Aber jetzt, wo ich so abgemagert bin, dass meine Periode ausbleibt, brauche ich sie nicht mehr. Dafür bin ich sehr dankbar.

Was ich wirklich gut gebrauchen könnte, wäre ein Rasierer für meine Achseln und meine Beine. Die sehen aus wie ein Urwald. Und obwohl ich weiß, dass es keine Rolle spielt, da mich sowieso niemand sieht, finde ich die Haare hässlich und unhygienisch. Aber in Madams Müll findet sich nie auch nur die Spur eines Einwegrasierers. Sir benutzt einen elektrischen Rasierapparat, und Madam hat das dazu passende Modell für Damen, was mir rein gar nichts nützt.

Ich habe auch eine Schachtel für Lebensmittel. Ich muss vorsichtig sein, was ich mir aus der Küche stibitze. Manchmal bekommt Madam Besuch von Freunden und kauft abgepacktes Gebäck, verlockend aussehende Kekspackungen und Pralinenschachteln. Aber wenn ich es wagen würde, so etwas zu öffnen, würde sie das ganz bestimmt bemerken, und so wage ich mich nur an die Alltagssachen und muss warten, bis sie alt und fast abgelaufen sind und ganz hinten im Schrank vergessen werden. Viel kann ich in meinem Zimmer sowieso nicht aufbewahren, also lebe ich mehr oder weniger von der Hand in den Mund. Aber wenn es mir ausnahmsweise gelingt, ein Stück Schokolade oder eine Scheibe Käse zu ergattern, nehme ich meinen Schatz mit nach oben und genieße dann den ganzen Tag die Vorfreude darauf.

* * *

Heute will sie, dass ich die Fenster von innen putze. Ich hoffe, wider Erwarten ein offenes Fenster zu finden. Natürlich habe ich das schon oft versucht, aber jedes Fenster hat ein starkes Schloss. Wann immer sie ein Fenster öffnet, achtet sie immer darauf, es danach sorgfältig zu verschließen. Und außer in ihrer Hand habe ich noch nie einen Schlüssel gesehen.

Ich fange ganz oben an. Natürlich nicht in meinem Zimmer. Mein Zimmer ist vom täglichen Reinigungsplan ausgenommen und wird nie geputzt. Zumindest soweit sie weiß.

Es gibt sechs Schlafzimmer und fünf Bäder. Das Hauptschlafzimmer hat vier Fenster, die in viele kleine Glasquadrate aufgeteilt sind. Die anderen haben jeweils ein Fenster, außer das zweite Schlafzimmer, das hat zwei. Jedes Badezimmer hat ein Fenster. Insgesamt gibt es also allein im ersten Stock fünfzehn Fenster. Auf dem Treppenabsatz gibt es ein großes Fenster, wo die Treppe zum Flur hinunterführt, und dann sind da noch all die bodentiefen Fenster im Erdgeschoss. Es ist eine Heidenarbeit, und sie möchte unbedingt, dass alles heute erledigt wird – neben der normalen Reinigung natürlich. Sie bekommt morgen Besuch und gibt gern die perfekte Hausfrau. Ich weiß jetzt schon, dass ich bis zum späten Abend mit meiner Arbeit beschäftigt sein werde.

Es mir leicht machen kann ich auch nicht so recht, denn sie kontrolliert die geputzten Fenster hinterher, indem sie sie aus jedem Blickwinkel genau betrachtet und nach Fingerabdrücken und Flecken sucht, als würde sie einen Tatort inspizieren. Nur in den Gästezimmern reicht ein schnelles Überwischen mit dem Lappen aus. Diese Räume werden nicht so oft benutzt, und die Fenster sind vom letzten Mal Putzen noch sauber. Das bedeutet allerdings, dass ich ein paar Augenblicke länger warten muss, bevor ich von einem Raum in den nächsten gehe, damit sie denkt, ich hätte gründlich gearbeitet.

Ich sprühe und wische und poliere und schwitze, bis mir die Schultern schmerzen. In einem der Gästezimmer auf der Rückseite des Hauses, wo die Fensterscheiben makellos sind, halte ich kurz inne und schaue in den Garten. Ein breiter, gestreifter Rasen erstreckt sich bis zu einem kleinen Waldstück am anderen Ende, wo das Gras länger ist und zwischen den hohen Kastanien und Buchen Wildblumen wachsen. Auf beiden Seiten des Rasens befinden sich Beete mit Sträuchern und Blumen. Ein stabiler Holzzaun, der großflächig mit Efeu bewachsen ist, zieht sich um den gesamten Garten. Es gibt keine Lücke zwischen Zaunlatten und Rasen, und ein Tor gibt es hier auch nicht. Der Vorgarten unterscheidet sich vom hinteren Teil, denn vor dem Haus befindet sich statt Rasen ein breiter Kiesstreifen. Aber auch dort verdeckt ein hoher Zaun den Blick von außen auf den Garten.

Ich habe schon oft versucht zu sehen, was hinter dem Zaun liegt, aber es will mir einfach nicht gelingen, egal wie sehr ich den Hals recke. Es muss ein verschlossenes Tor sein. Dass meine Arbeitgeber irgendetwas dem Zufall überlassen würden, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Während ich noch in den Garten starre und mich dieses nur allzu bekannte Gefühl der Hilflosigkeit überkommt, das mich jeden Tag heimsucht, tritt Matt, der Gärtner, in mein Blickfeld und schiebt eine Schubkarre auf die Mitte des linken Beetes zu. Er schaut zu mir hoch. Hastig mache ich einen Schritt vom Fenster weg und ziehe mich in den Schatten zurück, außer Sichtweite.

KAPITEL 2

Beth

Das Auspacken dauert eine halbe Ewigkeit.

Beth seufzt und fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Wie konnte alles so staubig werden? Schon jetzt sind ihre Hände trocken und grau vor Schmutz, ihre Fingernägel abgesplittert und kaputt, und sie hat gerade mal drei der Kisten für die Küche ausgepackt. Sie hätten für das Auspacken jemanden engagieren können, aber ihr Mann in seiner unendlichen Weisheit hatte es für besser gehalten, das Geld zu sparen. Schließlich würde Beth nicht arbeiten, und sie seien neu in der Gegend. Seiner Meinung nach würde sie in den ersten Wochen also sowieso nicht viel anderes zu tun haben. Sie hätte widersprechen können, aber im Grunde hatte er ja recht. Es ist zwar nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung, aber erledigt werden muss es schließlich, und es ist ihr wichtig, sich nützlich zu fühlen.

Sie umkreist den riesigen Stapel von Umzugskartons in der Mitte des Fußbodens, sammelt das zerknüllte Papier ein, das im Raum verstreut ist, und wirft es in einen bereits leeren Karton, um es später zu recyceln. Es wird Wochen dauern, bis sie den Berg an Verpackungsmüll losgeworden sind, und die Mülltonnen werden nur alle zwei Wochen geleert.

Gott sei Dank war sie so klug gewesen, den Wasserkocher, den Tee und die Tassen im selben Karton zu verstauen und diesen entsprechend zu beschriften. Auf dem Weg durch die Stadt hat sie im Supermarkt eine große Flasche Milch mitgenommen, sodass sie wenigstens eine richtige Tasse Tee trinken kann. Jetzt muss sie nur noch das Radio oder den Fernseher finden, damit sie beim Arbeiten ein wenig Ablenkung hat.

Sie nimmt ihre dampfende Tasse mit zum Fenster und starrt hinaus in den Garten mit seinen langen Rasenflächen und breiten Blumenbeeten. Viel lieber würde sie sofort damit anfangen, den Garten hübsch zu machen, anstatt sich durch diese endlose Enthüllung von Geschirr, Küchengeräten, Büchern und Bildern zu quälen.

In ihrem neuen Zuhause scheint alles fehl am Platz zu sein. Das ist auch nicht verwunderlich, denn schließlich haben sie ein gemütliches viktorianisches Reihenhaus in einem Londoner Vorort gegen dieses fast neue Haus am Stadtrand von Reading ausgetauscht, das wie eine einsame Insel mitten in einem großen, überwucherten Garten steht. Beth ist der Meinung, dass Häuser ihren ganz eigenen Charakter haben, und obwohl sie bei ihrem ersten – und einzigen – Besuch das Gefühl hatte, dass dieses Haus freundlich und ruhig wirkt, ist es noch immer ein Fremder, der sie eher höflich als herzlich empfängt und sich in ihrer Gegenwart noch nicht ganz wohl fühlt. Im Vergleich dazu fühlte sich ihr Haus in Kingston an wie ein alter Pantoffel. Solide, vertraut, gemütlich ausgelatscht und auf ihre wechselnden Bedürfnisse eingehend wie ein alter Freund.

Aber für den Umzug gab es gute Gründe. Adams Firma war von London nach Reading umgezogen, und er konnte das Pendeln einfach nicht mehr ertragen. Das nimmt sie ihm nicht übel – selbst würde sie es sich auch nicht zumuten wollen. Dazu kommt die Tatsache, dass sein Job so viel mehr Geld einbringt als ihrer. Dagegen hatte sie einfach keine guten Argumente vorbringen können. In Kingston war sie glücklich gewesen. Sie hatte ihren Job in der Buchhandlung gehabt, ihre engsten Freunde und die offensichtlichen Vorzüge, dass London nur einen Katzensprung entfernt war. Im Vergleich dazu wirkt Reading schäbig und verschlafen, eine Ansammlung ungepflegter Gebäude, die sich an hohe Bürokästen schmiegen, Schicht um Schicht verspiegelter Fenster, die nichts preisgeben, wie uniformierte Wächter, die mit ausdruckslosen Gesichtern den Pöbel beaufsichtigen. Und obwohl das Haus außerhalb der Stadt liegt, in einer vergleichsweise angenehmen Gegend, in der die verstreuten Überreste der Vorstadt den grünen Ausläufern des eher landwirtschaftlichen Berkshire weichen, fühlt sich hier alles fremd und falsch an.

Sie wendet sich dem unüberwindbar scheinenden Berg von Umzugskartons zu, stellt ihren Becher ab und macht sich wieder an die Arbeit.

* * *

Bis zum Abendessen ist es ihr zu ihrer Erleichterung gelungen, sich durch den Großteil der Kartons zu graben. Die Küche könnte schon beinahe als zivilisiert durchgehen. Die meisten leeren Kartons und Verpackungsmaterialien sind weggeräumt, das Geschirr und die Gläser stehen in den Wandschränken, und auch Töpfe und Pfannen sind verstaut. Im Vorratsschrank stehen bereits ein paar Konserven und Päckchen mit diversen Lebensmitteln, und die Tiefkühlkost ist in den Gefrierschrank geräumt worden. Zum Abendessen gibt es Pizza – für mehr ist sie zu erschöpft. Die Kinder wird es freuen.

Beide sind gerade von ihrem dritten Tag an der neuen Schule nach Hause gekommen. „Mum!“, ruft Abigail vom oberen Ende der Treppe. „Im Schrank ist nicht genug Platz für meine ganzen Sachen! Ich brauche noch eine Kommode ... Mum!“

Abigail ist zwölf Jahre alt und entwickelt sich schnell von einem kleinen Mädchen, das gerne tanzt, zu einer Teenagerin, die mit Stimmungsschwankungen, klobigen Stiefeln und Make-up experimentiert. Und sie hat die bewundernswerte Gabe, sich zu allem, wirklich allem, eine – manchmal etwas militante – Meinung zu bilden. Ihre Lieblingsthemen derzeit sind Gleichberechtigung und Umwelt. Seit sie hier angekommen ist, hat sie ihre Zeit damit verbracht, ihr neues Zimmer, das ein ganzes Stück größer ist als ihr bisheriges, neu einzurichten und umzugestalten. Dass im alten Haus alles ohne Probleme ins Zimmer gepasst hat, versteht sich von selbst.

„Lass es erstmal liegen, Abi. Ich sehe mir das später an“, ruft Beth zurück und zieht eine Tiefkühlpizza aus ihrer Verpackung. Sie starrt sie einen Moment lang an, dann nimmt sie eine zweite aus dem Gefrierschrank: Der sechzehnjährige Tom isst heutzutage für drei, obwohl er so zierlich und schmal ist wie ein Zehnjähriger. Sie gibt noch etwas Käse dazu, schiebt die Pizzen in den Ofen und schneidet dann Tomaten und Gurken in eine Schüssel. Dazu gibt es Knoblauchbrot – wenn sie danach noch Hunger haben, müssen sie halt ein Eis essen. Mehr gibt es nicht. Morgen wird sie einen Großeinkauf machen und sich mit allem eindecken, was sie so brauchen. Dabei wird sie sich die örtlichen Geschäfte mal ansehen und, wenn es die Zeit erlaubt, vielleicht sogar in die Bibliothek gehen.

Wenn sie mit dem Auspacken fertig ist, wird sie sich an die Jobsuche machen. Sie muss bald unter Leute kommen, sonst verliert sie noch den Verstand.

* * *

„Und, Tom? Wie war’s heute in der Schule?“, fragt Adam und wischt sich Ketchup vom Kinn. Die Pizzen verschwinden in einem alarmierenden Tempo, obwohl sich Beth selbst erst ein kleines Stück genommen hat.

Tom kaut unverdrossen weiter, nickt nur und zuckt mit den Schultern. Adam wartet.

Tom schluckt geräuschvoll. „Gut“, sagt er und greift nach einem weiteren Stück Pizza.

„Sehr informativ“, sagt Adam. „Ich hatte mir ehrlich gesagt ein bisschen mehr erhofft, wenn auch nur, um sicher zu gehen, dass deine neue Schule die herausragende Ausbildung bietet, die wir uns erhofft haben, dass du dich gut einlebst und schnell neue Freunde findest. Und dass du dabei vielleicht sogar noch etwas lernst.“ Er hebt die Hände, Handflächen zur Decke, und sieht erwartungsvoll drein die Augenbrauen hochgezogen.

„Ja, ist ja gut, Dad.“ Tom blickt auf, um den Gesichtsausdruck seines Vaters zu prüfen, der sich nicht verändert hat. „Der Chemielehrer scheint ziemlich cool zu sein. Er bringt jeden Tag seinen Hund mit in die Schule. Der heißt Higgins. Ich hab auch schon ein paar Freunde gefunden. Am Wochenende gehen wir zusammen zum Skatepark.“

Adam schaut zu Beth herüber, die versucht, ihn mit einem Blick zu warnen. „Na gut. Damit werde ich mich wohl vorerst begnügen müssen“, sagt er. „Und bei dir, Abi?“

Abis Antwort ist das Gegenteil von Toms – sie erzählt von jeder neuen Freundin, die sie bereits kennengelernt hat, deren jeweiliger Lieblingsmusik und was Abi sonst noch über ihr Leben in Erfahrung gebracht hat. Und für drei Tage ist das schon erstaunlich viel. Beth beobachtet belustigt, wie Adams Blick glasig wird. Sie muss ein Lächeln unterdrücken, als sie anfängt, den Tisch abzuräumen. Er scheint immer noch schlüssige Antworten von seinen beiden Kindern zu erwarten. Aber er bekommt eben nur die Informationen, die sie preisgeben wollen: in Toms Fall sind das ein paar Tröpfchen, bei Abi hingegen ein ganzer Wasserfall.

Das Abendessen ist im Nu vorbei, und die Kinder räumen eilig ihre Teller ab. In einem zeichentrickfilmartigen Gewirr aus Armen und Beinen verlassen sie die Küche. Das Trommeln ihrer Füße auf der Treppe ist das letzte, was von ihnen zu hören ist.

KAPITEL 3

Sofia

Allein in meinem Zimmer hole ich den kleinen Bleistift und einen weißen Umschlag aus ihrem Versteck. Ich achte darauf, das Papier nicht zu zerreißen, als ich den Umschlag entfalte, um daraus ein leeres Stück Papier zu machen. Ich lege es auf eine von Madams alten Zeitschriften, um eine stabile Schreibunterlage zu haben, und beginne zu schreiben.

Seit ich die Möglichkeit zum Schreiben gefunden habe, führe ich jede Woche mein Tagebuch, und der Papierstapel wird immer größer. Einige der Einträge sind sehr kurz, andere etwas länger, wenn mal wieder etwas passiert ist. Der Bleistift hat sich von einem langen, rot-schwarz gestreiften und kaum benutzten Holzstab in diesen Stummel verwandelt, der so abgesplittert ist wie meine Fingernägel. Ich knabbere an den Rändern der Mine, um den nächsten Millimeter freizulegen. Ich muss bald einen neuen finden, oder vielleicht einen Kugelschreiber. Aber die sind in diesem Haus so schwer zu finden wie Goldstaub, denn meine Entführer sind zu dumm, um viel zu schreiben. Madam verbringt Stunden an ihrem Laptop, sieht sich dämliche YouTube-Clips an und bestellt Designerkleidung im Internet. Sir ist kaum hier. Wenn er da ist, verbringt er seine Zeit am liebsten bei geschlossener Tür in seinem Büro oder glotzt den Fernseher an, wenn Fußball läuft.

Das Tagebuchs ist ein Bericht über mein Leben als Gefangene. Ich hoffe, dass es eines Tages dazu beitragen wird, Sir und Madam für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis zu schicken.

Ich weiß nicht, wie hoch man hierzulande für Entführung bestraft wird – ich weiß nur, dass diese Leute es verdienen, sehr lange Zeit hinter Gittern zu verbringen. Während meiner Zeit hier bin ich geohrfeigt, geschlagen und verprügelt worden. Ich werde in einem winzigen, ungeheizten Raum gegen meinen Willen festgehalten. Man behandelt mich wie ein Tier. Ich war sechzehn Jahre alt, als ich entführt wurde. Jetzt bin ich achtzehn, und mit jedem Monat, der vergeht, geht ein weiterer Teil meiner Kindheit flöten, mein Leben ist auf Standby. Gestohlen mir, meinen Eltern, meiner Schwester, meinen Freunden.

* * *

In den ersten Tagen war ich total verängstigt. Ich tat, was man mir sagte, zu ängstlich, um etwas zu sagen oder gar zu widersprechen. Ich dachte, wenn ich nur abwarte und mich ruhig verhalte, wenn ich mich gut benehme, das tue, was man von mir verlangt, und keinen Ärger mache, dann würde sicher bald jemand kommen und mich retten. Meine Eltern machten sich bestimmt Sorgen, weil ich mich bei meiner Ankunft nicht bei ihnen gemeldet hatte. Sie würden die Behörden alarmieren, was zu einer polizeilichen Untersuchung und meiner sicheren Freilassung führen würde. Ich wusste, dass die britische Polizei anständige Leute sind, für ihre Ehrlichkeit bekannt. Die würden mir bestimmt helfen. Ich träumte von gut aussehenden jungen Männern in Uniform, die das Haus stürmen, meinen Entführern Handschellen anlegen und mich in den sicheren Schoß meiner ungeduldig wartenden Familie zurückbringen. Aber als die Tage zu Wochen wurden und nichts passierte – wirklich gar nichts –, begann meine Hoffnung zu schwinden. Ich konnte es mir nicht erklären. Ich sprang nicht mehr auf, hielt vor Aufregung den Atem an und lauschte an der Tür, wenn das Telefon oder die Türklingel läutete. Mit jedem Fehlalarm ließ meine Hoffnung ein wenig mehr nach.

Ich begann zu denken, dass die Polizei ganz einfach kein Interesse an einem jungen bulgarischen Mädchen hatte, das einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Ich war nur eine weitere Vermisste unter vielen.

Es war ja auch alles meine Schuld. Ich war naiv und dumm gewesen. Meine Eltern traf keine Schuld. Sie hatten mich schließlich gewarnt, vorsichtig zu sein. Ich dachte, ich wüsste, was das bedeutet, aber ich war einfach zu selbstsicher gewesen und hatte ihnen nicht geglaubt. Dumm, so dumm.

Anfangs verbrachte ich meine Abende auf dem Bett, weinend oder dösend und unfähig, mich zu bewegen oder zu motivieren. Ich spürte, wie ich langsam, aber sicher alle Hoffnung, mein Selbstvertrauen und jeglichen Mut verlor. Ich verrichtete meine Arbeit wie betäubt und machte mir kaum Mühe, mich zu ernähren. Ich hegte wohl die stille Hoffnung, dass meine Arbeitgeber es bemerken und mir irgendwie helfen würden. Aber Madam reagierte, indem sie mich schüttelte, wenn ich lustlos wirkte, schrie, wenn die Arbeit nicht ordentlich erledigt wurde, und mich mit Ohrfeigen bestrafte, wenn sie mich beim Weinen erwischte.

* * *

Heute habe ich einunddreißig Fenster geputzt, mit den kleinen Glasquadraten, bei denen man fein säuberlich rundherum bis in die Ecken wischen muss. Bei den großen Fenstern komme ich kaum oben an, aber Madam hat eine Trittleiter geholt und mich so lange klettern lassen, bis mir der Arm weh tat und der Kopf schwirrte vor Anstrengung. Das war zusätzlich zu meiner normalen Tagesarbeit, aber als sie bemerkte, dass ich um neun Uhr abends immer noch nicht fertig war und sie mich aus dem Weg haben wollte, entließ sie mich meiner Bügelpflichten. Alles in allem also fünfzehn Stunden Arbeit.

Fast bin ich zu müde zum Schreiben, und der Bleistift ist schon so winzig, dass ich diesen Eintrag kurz halten muss. Ich frage mich, wie ich einen neuen auftreiben soll. Vielleicht kann ich Sirs Schreibtischschublade mit einer Büroklammer öffnen, so wie ich es einmal im Fernsehen gesehen habe. Es wird schwer sein, aber ich bin geduldig. Ich werde es an einem Tag versuchen, wenn sie am Telefon ist, und wenn es mir nicht gelingt, versuche ich es am nächsten Tag nochmal, und am übernächsten. Außerdem könnte ich in der Garage nachsehen, die vom Hauswirtschaftsraum neben der Küche abgeht und durch eine Tür mit dem Haus verbunden ist. Sie ist für mich natürlich nicht zugänglich. Einmal vergaß Sir, die Tür abzuschließen, und ich steckte nur kurz meinen Kopf hindurch, um mich umzusehen. Ich sah einen großen Schrank mit vielen Schubladen. Ich konnte aber nicht hineingehen, weil in dem Moment nach mir gerufen wurde, aber seitdem kontrolliere ich die Tür jeden Tag.

Diese Woche ist schwierig gewesen. Abgesehen davon, dass mein Arm verletzt ist, hat mir Madam eine Ohrfeige verpasst, weil ich nicht schnell genug gearbeitet habe. Zudem ist seit Montag kaum noch etwas zu essen im Kühlschrank. Ich habe mir eine Handvoll gefrorener Erbsen aus dem Gefrierschrank genommen und sie in meiner Hosentasche versteckt, bis ich wieder in meinem Zimmer war. Meine Tasche war durchnässt – zu meinem großen Glück hat sie es nicht bemerkt. Eine Scheibe gefrorenes Brot, die vorne in meiner Hose steckte, hat auch nicht lange gehalten. Als es aufgetaut war, musste ich die zerbröselten Reste in meine andere Hosentasche stecken. Das war alles, was ich am Dienstag zu essen hatte, abgesehen von etwas trockenem Müsli, das ich im Schrank fand. Aber ich habe viel Milch getrunken. Jetzt bekommt sie sie in großen Plastikflaschen geliefert, von denen ich immer ziemlich viel nehmen kann. Ich fülle sie mit Wasser auf, dann merkt sie es nicht.

Matt, der Gärtner, ist der einzige andere Mensch, den ich seit Monaten gesehen habe. Ich wage es nicht, ihn um Hilfe zu bitten. Aber ich beobachte ihn und warte ab, nur für den Fall.

KAPITEL 4

Beth

„Mum, können wir einen Hund bekommen? Bitte?“, fragt Tom mit gedämpfter Stimme, während er in die Hocke geht und sein Fußballtrikot in seine Schultasche stopft. Sie sieht ihm dabei zu und fragt sich wieder einmal, warum sie sich eigentlich die Mühe macht, überhaupt irgendetwas zu bügeln. Vielleicht sollte sie das ändern, jetzt, wo sie im neuen Haus angekommen sind und im Begriff sind, ein neues Leben zu beginnen. Es wäre der beste Zeitpunkt, um neue Gewohnheiten zu etablieren. Sie würde Tom nichts vorenthalten; er würde es wahrscheinlich gar nicht merken. Abi wahrscheinlich schon, aber es ist sowieso an der Zeit, dass sie bügeln lernt.

„Mum?“

„Tom, du bist spät dran“, sagt sie, bereits zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten. Die Kinder morgens aus dem Haus zu bekommen, war schon immer eine Herausforderung, und obwohl es ihre erste Woche an einer neuen Schule ist, warten sie bis zum letztmöglichen Moment, um zu gehen. „Warum fragst du mich ausgerechnet jetzt? Ihr müsst los.“

Sie nimmt ihn an den Schultern und bemerkt, wie sehr er schon wieder gewachsen ist – ganz plötzlich, wie es scheint. Sie dreht ihn zur geöffneten Haustür, die Abi absichtlich offen gelassen hat, als sie ging, ohne auf ihren Bruder zu warten.

Er lässt sich schieben, seine Füße schleifen über den Fußboden. „Aber Mum, überleg doch mal. Du brauchst doch etwas Gesellschaft, jetzt, wo du nicht mehr arbeitest. Und ich gehe auch mit ihm spazieren, versprochen ...“

„Und ihn füttern und erziehen tust du auch, ja? Okay, okay, ich denke darüber nach – aber jetzt geh endlich!“ Tom grinst sie an, und dann ist er weg.

Mit einem Seufzer schließt sie die Tür, lehnt sich von innen dagegen und denkt über den ihr bevorstehenden Tag nach. Es gibt noch immer so viel zu tun und nichts, was die langweilige Aufgabe des endlos erscheinenden Auspackens, Sortierens und Aufräumens zumindest ein wenig unterhaltsamer gestalten würde. Vielleicht kann sie nachher einen kleinen Abstecher in die Stadt machen, einfach um mal ein bisschen rauszukommen.

Ihre Gedanken sind noch immer bei Tom, als sie in den ersten Umzugskarton im Wohnzimmer greift. Er hat Tiere schon immer geliebt, wollte immer ein Haustier haben. Als kleiner Junge gelang es ihm immer wieder, seine Eltern zu diversen Kleintieren zu überreden, darunter einen Hamster, zwei Wüstenrennmäuse (und deren unerwartete Babys – das war eindeutig ein Fehler gewesen) und einige ihrer Meinung nach ziemlich ekelige Stabheuschrecken. Beth und Adam hatten dem Wunsch nach länger lebenden Haustieren wie Katzen und Hunden widerstehen können, als beide berufstätig waren.

Aber jetzt, am neuen Ort, wo sie weder Arbeit noch Freunde hat und außer der Haus – und Gartenarbeit nichts, womit sie ihre Zeit verbringt – jetzt könnte der richtige Moment sein. Ein Hund würde sie sicher dazu bringen, öfter spazieren zu gehen, die Gegend zu erkunden und andere Hundebesitzer zu treffen. Und sie liebt Hunde. Ihre Eltern hatten früher immer einen, und sie vermisst die bedingungslose Liebe, die unbändige Freude, die langen Spaziergänge. Vielleicht wird sie später mit Adam sprechen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er etwas dagegen haben könnte. Auch er liebt Tiere und hat sich bisher nur gesträubt, weil er es dem Hund gegenüber unfair fände, wenn dieser für längere Zeit allein gelassen würde. Wenn er einverstanden ist, kann sie anfangen zu planen, während sie das Auspacken beendet.

* * *

Das Klingeln an der Tür unterbricht ihre Gedanken. Sie hat Türklingeln wie diese immer gehasst, die wie eine Disney-Version von Big Ben klingen. Auch darum wird sie sich kümmern müssen. Früher oder später.

Sie wischt sich die Hände an der Jeans ab und fährt sich damit durchs zerzauste Haar, dann geht sie zur Tür. Auf der Türschwelle steht eine blonde Frau in bunt gemusterten Leggings, das Gesicht kaum erkennbar hinter einem riesigen Blumenstrauß.

„Hallo“, sagt sie mit einem Lächeln und lugt durch das frische Grün. „Ich dachte, Sie mögen vielleicht ein paar Blumen, um das Auspacken ein wenig hübscher zu gestalten?“

„Die sind ja wunderschön! Vielen Dank, wie nett von Ihnen.“ Sie streicht sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr und wünscht sich, sie sähe etwas präsentabler aus, lächelt die Frau an, öffnet die Tür und bittet sie herein. „Es ist alles noch ein bisschen unordentlich, aber kommen Sie doch auf eine Tasse Tee herein. Ich bin übrigens Beth.“

„Hallo Beth, ich bin Karen. Keine Sorge, ich bin gerade auf dem Weg ins Fitnessstudio. Ich bin mir sicher, jemanden, der hier bloß rumhängt und dir über die Schulter schaut, während du versuchst, dich zurechtzufinden, ist das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst. Ich wollte dich bloß kurz willkommen heißen und sagen, dass wir Nachbarn sind. Wir wohnen direkt gegenüber, hinter der großen Hecke.“

Beth schaut zur anderen Straßenseite hinüber. Ein großes Holztor, das auf beiden Seiten von einer dichten Hecke flankiert wird, gibt keinerlei Hinweis auf das Haus, das dahinter liegt. In dieser Straße scheint man Privatsphäre großzuschreiben, oder vielleicht ist es auch die Sicherheit. Schon als sie ankamen, war ihr aufgefallen, dass fast alle Häuser beeindruckende Tore haben, die meisten davon geschlossen. Vielleicht sind diese Leute alle sehr wohlhabend – oder vielleicht haben Beth und Adam bei ihrer Recherche etwas übersehen, und es ist ein beliebter Ort für Einbrecher. Es könnte aber auch sein, dass sie gar nicht wohlhabend sind und die Tore nur dazu da sind, um ebendiesen Eindruck zu vermitteln. All dies geht Beth durch den Kopf, während sie die neue Nachbarin noch lächelnd anstarrt.

„Schön, dich kennenzulernen!“, sagt sie und hofft, dass sie nicht allzu unhöflich gewirkt hat. „Komm doch in einer Woche oder so vorbei, wenn ich mich ein bisschen besser eingelebt habe. Es wäre sicher hilfreich, sich mit jemandem zu unterhalten, der sich hier auskennt.“

Karen sieht aus, als wäre sie um die vierzig, gepflegt, durchtrainiert. Sie verbringt wahrscheinlich viel Zeit im bereits erwähnten Fitnessstudio. Aber ihr Lächeln ist offen und ehrlich und die Blumen tatsächlich wunderschön.

„Großartig. Würde es nächsten Mittwoch gehen? Ich kann allerdings nicht versprechen, dass ich so viel weiß, wie du dir erhoffst. Wir sind selbst noch relativ neu hier, und die Leute scheinen für sich zu bleiben. Ich bin mir nicht sicher, ob außer mir noch jemand vorbeikommen wird, um euch willkommen zu heißen.“

„Sagen wir also Mittwoch – geht morgens? Ich werde sowieso hier sein.“

Als sie die Tür schließt und ihre Nase in den süßen Duft der Blumen taucht, hat Beth zum ersten Mal das Gefühl, dass sie hier vielleicht doch ganz gut aufgehoben ist.

* * *

„Ich habe vorhin eine Nachbarin getroffen.“

Der Septemberabend ist noch warm, als sie auf der Terrasse sitzen und die Vögel beobachten, die in den Blumenbeeten auf Wurmjagd sind.

„Ach ja?“

„Ja, eine nette Frau namens Karen, aus dem Haus gegenüber. Sie hat mir den Blumenstrauß in der Küche mitgebracht.“

„Ah – ich hatte mich schon gewundert. Das war aber nett von ihr. Ist sie reingekommen?“

„Nein, sie war auf dem Weg ins Fitnessstudio. Sie sieht ziemlich fit aus. Wahrscheinlich verbringt sie ihre ganze Freizeit dort.“

„Hat sie dir ein bisschen über die anderen Nachbarn erzählt?“

„Wir haben uns nur kurz an der Tür unterhalten, aber sie kommt nächste Woche zum Kaffee vorbei. Sie hat nur gesagt, dass die meisten Leute hier eher unter sich bleiben.“ Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und versucht dabei die Zitronenscheibe zu meiden, die zwischen den Eiswürfeln schwimmt. „Ich hab nachgedacht. Meinst du nicht, dass wir, wenn alles ausgepackt ist und wir uns eingelebt haben, die Nachbarn auf einen Drink einladen sollten? Um sie ein bisschen kennenzulernen?“

„Vielleicht. Das scheint nicht die Art von Straße zu sein, in der man mal eben so den Nachbarn über den Weg läuft. Du könntest ja Karen fragen, was sie von der Idee hält, wenn sie kommt.“

„Es ist hier wirklich so ganz anders als in Kingston, findest du nicht auch?“ Beth verspürt einen Anflug von Heimweh nach ihrem vertrauten, freundlichen kleinen Reihenhaus, wo die Nachbarn alle Nase lang einfach vorbeikamen, im Sommer gemeinsam gegrillt wurde und man sich regelmäßig im Pub traf. Viele von ihnen waren mit der Zeit gute Freunde geworden, die Kinder zusammen aufgewachsen. Spontane Abendessen, Spieleabende, Kindergeburtstagsparties und gemeinsames Feiern der wichtigen Momente im Leben waren ein wichtiger und geschätzter Teil des Alltags gewesen. All das hatte sich zwar geändert, noch bevor sie weggegangen waren, aber vermissen tut sie es noch immer. Sie versucht, nicht zu sehr darüber nachzudenken.

„Ganz anders“, stimmt Adam ihr zu. Er greift nach ihrer Hand. „Vermisst du es?“

Sie schüttelt den Kopf und stellt überrascht fest, dass sie kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. „Ich bin einfach nur ein bisschen müde, das ist alles.“

„Es ist anders, ja, aber das muss ja nicht unbedingt etwas Schlechtes sein“, sagt Adam und drückt sanft ihre Hand. „Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du erst ein paar Leute hier kennst. Frag Karen, wo sie ins Fitnessstudio geht. Vielleicht kannst du dich anschließen, ein paar Kurse besuchen und so noch mehr Leute kennenlernen.“

„Du hast recht, es ist einfach nur ungewohnt. Ich bin mir sicher, dass ich mich in null Komma nix an alles gewöhnt habe. Aber ich würde mir so gerne einen Job suchen, schon allein, um mein Gehirn am Laufen zu halten.“

„Das brauchst du nicht, das weißt du doch. Wir haben genug“, sagt er. Als er ihren Gesichtsausdruck sieht, fügt er schnell hinzu: „Aber wenn du arbeiten willst, dann musst du natürlich arbeiten. Ganz klar.“

Beth hat die Vorstellung, sich finanziell von jemand anderem abhängig zu machen, noch nie gefallen. Schon als kleines Mädchen war ihr ihre Unabhängigkeit wichtig gewesen, und sie wehrte sich vehement dagegen, ihre Arbeit aufzugeben, als die Kinder kamen. Dann fällt ihr etwas ein. „Tom möchte, dass wir uns einen Hund anschaffen.“

Adam blickt sie an. „Gute Idee, theoretisch. Aber nicht, wenn du einen Job hast – es sei denn, du findest etwas in Teilzeit, oder einen Arbeitsplatz, wo du einen Hund mit zur Arbeit nehmen kannst.“

„Ich weiß. Ich dachte, zuerst kommt der Hund, und wenn er richtig erzogen und an Menschen gewöhnt ist, schaue ich, ob ich einen hundefreundlichen Job finde. In der Buchhandlung in Kingston wäre das kein Problem gewesen.“

„Stimmt. Aber lass dich auch nicht von Tom zu sehr drangsalieren. Er wird sowieso die ganze Zeit mit seinen Freunden unterwegs sein und kein Interesse daran haben, für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen.“

„So hat er das natürlich nicht formuliert. Aber ich weiß, was du meinst. Tatsächlich geht es mir mehr darum, dass ich einen Hund will, nicht nur er.“

Adam sieht sich um. Der Garten ist auf allen Seiten eingezäunt, mit einem Tor zum Vorgarten. Er denkt einen Moment lang nach. „Es wäre schon irgendwie toll, hier einen Hund zu haben“, sinnt er nach. „Der Garten ist perfekt, und auf dem Weg zum Bahnhof hab ich einen Park gesehen. Die Entscheidung liegt bei dir. Wenn du einen Hund willst, dann bin ich dabei. Aber vorzugsweise einen nicht zu großen und aufgeregten. Kleiner ist besser, denke ich ...“

Beth folgt seinem Blick entlang der hohen Zäune, die den Garten auf allen Seiten säumen. Sie sehen aus, als wären sie von jemandem errichtet worden, der ein Höchstmaß an Privatsphäre und Sicherheit anstrebt. Zu beiden Seiten sind weder Gärten noch Häuser einsehbar. Hier wird nicht mal eben über den Gartenzaun hinweg geplaudert.

Vielleicht, denkt sie bei sich, dienen die imposanten Tore auf ihrer Straße weder der Privatsphäre noch der Sicherheit, sondern vielmehr der Geheimhaltung dessen, was sich hinter ihnen verbirgt.

KAPITEL 5

Sofia

Meine Cousine Elena und ich standen uns immer sehr nahe. Als wir klein waren, wohnten wir alle im selben kleinen Dorf in Bulgarien, und unsere Familien lebten von der Landwirtschaft. Wir hatten einen Traktor, einige Ziegen, ein Schwein und ein kleines Stück Land, auf dem wir Gemüse anbauten, das wir auf den Wochenmärkten verkauften. Elena und ich wurden im Abstand von ein paar Monaten geboren. Wir wuchsen zusammen auf und waren auch sonst wie Schwestern. Jeden Tag trafen wir uns vor ihrem Haus und gingen zu Fuß zur Schule, und nachmittags wieder zurück. Wir halfen unseren Eltern, kletterten auf Bäume, pflückten Wildblumen und spielten mit unseren Puppen. Manchmal spielte auch meine kleine Schwester Simona mit uns. Sie war drei Jahre jünger als wir, aber sie liebte es, Zeit mit uns zu verbringen und weinte immer, wenn sie nicht mehr durfte, weil sie ins Bett musste. Unsere Familien waren arm, aber davon wussten wir nichts. Wir waren glücklich.

Und dann, ich war etwa zehn Jahre alt, hatten mein Onkel und meine Tante ein schlechtes Jahr. Mein Onkel war krank und konnte in den Sommermonaten nicht auf dem Hof arbeiten. Zudem herrschte eine schreckliche Dürre. Meine Tante tat ihr Bestes, aber die Kartoffelernte fiel aus. Sie hatten Freunde in England, denen es gut ging – sie hatten dort Arbeit gefunden und schickten immer Geld nach Hause. Meinem Onkel schien das eine gute Idee zu sein, und so reisten sie ab und nahmen meine geliebte Cousine Elena mit. Ich war untröstlich.

Anfangs waren unsere Briefwechsel mein einziger Trost. In ihrer runden, kindlichen Schrift erzählte mir Elena von ihrem neuen Haus in England – mit einer Heizung, die den ganzen Winter über lief, einem Dach, das nicht undicht war, und einem kleinen Garten, in dem im Sommer bunte Blumen wuchsen. Ihr Englisch, sagte sie, werde immer besser. Manchmal schrieb sie sogar ein oder zwei Sätze auf Englisch, und ich tat dasselbe. In der Schule war ich immer gut in Englisch – es war mein bestes Fach.

Das Geschäft meiner Eltern florierte. Wir begannen mit dem Anbau von Sonnenblumen und Tomaten und verkauften sie auf dem Markt für den Export in andere Länder. Mein Handy war nicht das modernste, aber ich war so glücklich darüber, eins zu haben. Elena überredete ihre Eltern, ihr ebenfalls eines zu kaufen, und bald schrieben wir uns ständig SMS. Die Briefe kamen nicht mehr so regelmäßig, worüber ich traurig war, aber ich weiß noch, dass ich mich jedes Mal ein Loch in den Bauch freute, wenn ich das Ping